Junge Wilde - Barbara Natterson-Horowitz - E-Book

Junge Wilde E-Book

Barbara Natterson-Horowitz

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Beschreibung

Erwachsenwerden: Lernen von der Natur

Ambitionierte Tiger Mom oder gelassene Panda Mom – was können wir wirklich aus dem Tierreich lernen, wenn es um das Thema Erwachsenwerden geht? Vor allem eins: Das Pubertier ist überall! Die „schwierige Phase“ zwischen Kindheit und Erwachsensein hält Pinguineltern, Wale und Wölfe auf Trab. Barbara Natterson-Horowitz und Kathryn Bowers, Spezialistinnen auf dem Gebiet der artenübergreifenden Forschung, schildern erstaunliche Beobachtungen, von aufmüpfigen Hyänen, draufgängerischen Gnus und nesthockenden Adlern. Sie alle brauchen Übung und Erfahrung, um selbständig zu werden und ihr Überleben zu sichern. In Zeiten von überhitzten Erziehungsdebatten hält dieses Buch an zu Gelassenheit, Geduld und Nachsicht mit Heranwachsenden und gibt Eltern und Lehrern Grund zur Entspannung. Nature Writing mal anders!

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Erwachsenwerden: Lernen von der Natur

Ambitionierte Tiger Mom oder gelassene Panda Mom – was können wir wirklich aus dem Tierreich lernen, wenn es um das Thema Erwachsenwerden geht? Vor allem eins: Das Pubertier ist überall! Die »schwierige Phase« zwischen Kindheit und Erwachsensein hält Pinguineltern, Wale und Wölfe auf Trab. Barbara Natterson-Horowitz und Kathryn Bowers, Spezialistinnen auf dem Gebiet der artenübergreifenden Forschung, schildern erstaunliche Beobachtungen, von aufmüpfigen Hyänen, draufgängerischen Gnus und nesthockenden Adlern. Sie alle brauchen Übung und Erfahrung, um selbständig zu werden und ihr Überleben zu sichern. In Zeiten überhitzter Erziehungsdebatten hält dieses Buch an zu Gelassenheit, Geduld und Nachsicht mit Heranwachsenden und gibt Eltern und Lehrern Grund zur Entspannung. Nature Writing mal anders!

Barbara Natterson-Horowitz ist Gastprofessorin am Institut für menschliche Evolutionsbiologie in Harvard. Außerdem ist sie Professorin für Medizin und Kardiologie an der University of California, Los Angeles, wo sie das Programm für Evolutionsmedizin mitbegründet hat. Zusammen mit Kathryn Bowers hat sie den New-York-Times-Bestseller Zoobiquity geschrieben. Ihr TED-Talk über artenübergreifende medizinische Forschung hat Millionen Zuschauer erreicht.

Kathryn Bowers ist Wissenschaftsjournalistin und hat an der University of California erzählerisches medizinisches Schreiben und vergleichende Literaturwissenschaft unterrichtet. Sie ist Future Tense Fellow von New America in Washington, D.C.

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Barbara Natterson-Horowitz und Kathryn Bowers

Junge Wilde

Was uns der Blick in die Tierwelt über das Erwachsenwerden lehrt

Aus dem Amerikanischen von Susanne Warmuth

Die Originalausgabe erschien 2019unter dem Titel Wildhood. The Epic Journey from Adolescence to Adulthood in Humans and Other Animals bei Scribner, Simon & Schuster, Inc., New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.Copyright © der Originalausgabe 2019 Barbara Natterson-Horowitz und Kathryn Sylvester BowersCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020Penguin Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenKarten/Fotos: Oliver UbertiUmschlaggestaltung: Favoritbüro, MünchenUmschlagabbildungen: © filadendron/Getty Images, © Life On White/Getty Images; © MECKY/Getty Images; © WAYHOME studio/ShutterstockSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-23158-3V001www.penguin-verlag.de

Unseren ElternIdell und Joseph NattersonDiane und Arthur Sylvester

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Teil ISicherheit

1Gefährliche Tage

2Die Natur der Angst

3Kenne deine (Fress-)Feinde!

4Der selbstbewusste Fisch

5Schule des Überlebens

Teil IIStatus

6 Die Zeit der Bewertung

7Die Regeln von Gruppen

8Privilegierte Geschöpfe

9Der Schmerz des sozialen Abstiegs

10Die Macht der Freundschaft

Teil IIISex

11Tier-Liebe

12Begehren und Zurückhaltung

13Das erste Mal

14Zwang und Zustimmung

Teil IVSelbstständigkeit

15Weggehen lernen

16Für seinen Lebensunterhalt sorgen

17Ganz allein

18Zu sich selbst finden

Epilog

Dank

Glossar

Anmerkungen

Anmerkung zu den Illustrationen

Index

Prolog

Unser Plan, dem Wesen der Adoleszenz auf den Grund zu gehen, entstand 2010 an einem kalten kalifornischen Strand. Wir standen auf einer Düne und sahen hinaus auf den Pazifik, genauer: auf eine Stelle, die den seltsamen Spitznamen »Dreieck des Todes« trägt.

Der faszinierende Bericht eines Meeresbiologen hatte uns an diesen Ort gezogen. Das Dreieck des Todes, so erzählte er, habe seinen Namen wegen einer Horde besonders tödlicher Bewohner: Weiße Haie. In dieser Gegend hielten sich Hunderte dieser riesigen Raubfische auf, und sie seien so berüchtigt für ihre Gefräßigkeit, dass selbst andere hier lebende Tiere gelernt hätten, ihnen aus dem Weg zu gehen. Entlang der gesamten Küste Kaliforniens wachsen üppige Wälder aus Seetang oder Kelp, nur nicht im Dreieck des Todes, so dass ein Tier, das sich dummer- oder unglücklicherweise an diesen Ort begibt, nirgends eine Möglichkeit zum Verstecken findet. Das Gewässer ist so heimtückisch, dass selbst die Wissenschaftler, die hier arbeiten, nicht aus ihren Booten steigen.

Aber das, so der Biologe weiter, war nicht einmal das Interessanteste. Gegen jede Intuition und unter großer Gefahr für Leib und Leben begibt sich ein bestimmtes Tier regelmäßig in das Dreieck des Todes: der Kalifornische Seeotter. Allerdings nicht jeder Seeotter. Nur eine ganz bestimmte Gruppe vergnügt sich in der Todeszone, und es sind nicht die erfahrenen ausgewachsenen Tiere. Auch ganz sicher nicht die kleinen Welpen. Nein, die armen Irren, die immer wieder rausschwimmen in das eisige, öde, von Haien bevölkerte Todesdreieck sind die Heranwachsenden. Ein paar von ihnen kommen zwischen krachenden Kiefern und aufwirbelndem Blut zu Tode. Die meisten aber nicht. Diese Heranwachsenden mit dem Hang zum Nervenkitzel tauchen wieder auf, mit hart erkämpfter Erfahrung, mit neu gewonnenem Selbstvertrauen und mit mehr Wissen über die See, als sie als von den Eltern behütete, abhängige Jungtiere besessen hatten.

Zu dieser Zeit schrieben wir an unserem ersten Buch Zoobiquity (deutsch: Wir sind Tier), das die uralten und aufschlussreichen Verbindungen zwischen der Gesundheit von Menschen und Tieren untersucht. (Wir arbeiten als Team: Barbara ist Gastprofessorin am Fachbereich für Evolutionsbiologie des Menschen in Harvard und Professorin für Medizin in der Kardiologischen Abteilung der University of California in Los Angeles, UCLA. Kathryn ist Wissenschaftsautorin mit einem Abschluss als Verhaltensbiologin. Zusammen haben wir für Harvard und UCLA Kurse entwickelt und unterrichtet.) Als wir so dastanden und zum Dreieck des Todes hinausschauten, traf es uns wie ein Schlag: Diese jugendlichen Otter erinnerten uns stark an ein paar Teenager, die wir kannten. Auch sie riskierten eine Menge, brachten sich in Gefahr und taten schreckliche Dinge, denen ihre Eltern entwachsen waren. Nachdem wir eine Weile aufs Meer hinausgesehen hatten, gingen wir den Strand entlang, über eine Düne und dann auf eine Nehrung, wo sich uns eine völlig andere Szenerie darbot.

In einer vor der schaumgekrönten Brandung geschützten Bucht paddelten ein paar Kajakfahrer langsam durch das ruhige Wasser. Diese schmale Bucht in einem Areal namens Moss Landing ist ein Meeresschutzgebiet und ein hervorragender Platz, um Tiere zu beobachten, auch Seeotter. Die Großfamilien der jugendlichen Seeotter, die es ins Dreieck des Todes zieht, kommen hier zum Fressen, zum Entspannen und zur Kontaktpflege zusammen.

An diesem Tag waren ein paar Dutzend dieser schlanken Tiere unterwegs, dümpelten auf dem Rücken vor sich hin oder schraubten sich spritzend durchs Wasser. Es sah aus wie eine offene Schwimmstunde in einem Freibad, Jung und Alt vergnügte sich im Wasser. Ältere Tiere schwammen gemächlich vor sich hin und ließen die in Gruppen herumtobenden Jugendlichen nachsichtig gewähren. Wir sahen, wie Seeotter nach Seeigeln tauchten und lernten, deren Schale zu knacken, wie sie sich paarweise oder in Gruppen Scheinkämpfe lieferten und wie sie probierten, sich an der Nase zu packen, was zum Verhaltensrepertoire bei der Paarung gehört. Obwohl die ganze Situation nach sorgloser Entspannung aussah, sollten wir gleich merken, dass es sich in Wirklichkeit um eine Otterschule reinsten Wassers handelte.

Plötzlich brach vor unseren Augen ein Riesenchaos aus. Das Wasser schien förmlich in Gischt zu explodieren, als einige Seeotter in Höchstgeschwindigkeit vom einen Ende der Bucht zum anderen schossen. Was ist passiert?, fragten wir unseren Biologen. War es ein Hai? War ein Räuber in die flache Bucht geschwommen?

Nein, sagte der Biologe und zeigte auf eines der Kajaks, das Boot ist zu nah rangekommen. Aber schaut, die haben sich nicht alle erschreckt. Und tatsächlich, eine kleine Gruppe von Ottern trieb lässig und völlig ungerührt weiter im Wasser. Wie die grauen Haare auf ihrem Kopf zeigten, handelte es sich um erfahrene Alttiere, die wussten, was gefährlich ist und was nicht. Die Schreckhaften, die die Flucht ergriffen hatten, waren die Heranwachsenden, die den Unterschied zwischen einem Weißen Hai und einem Sea-Ghost-Kajak noch nicht kannten.

Erst nahe an die Haie heranschwimmen und dann vor einem Plastikboot flüchten: Diese unerfahrenen Jugendlichen waren einerseits zu wagemutig, andererseits zu vorsichtig. Aber wir beobachteten auch, dass sie intensiv Kontakt zu ihren Altersgenossen suchten, sexuelle Verhaltensweisen ausprobierten und sich abmühten, sich selbst etwas zu essen zu organisieren. Die Parallelen zu unserer eigenen Spezies und sogar zu unserer eigenen Jugendzeit waren bemerkenswert.

Wie so oft, seitdem wir mit der Erforschung der Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier begonnen haben, dachten wir, dass wir das Verhalten der Otter vielleicht vermenschlichten, dass wir in das possierliche Treiben dieser wilden Säugetiere zu viel hineindeuteten. Vom Anbeginn unserer gemeinsamen Tätigkeit an war es uns wichtig zu vermeiden, menschliche Eigenschaften auf andere Arten zu projizieren, denn das halten wir für eine zentrale Gefahr in der wissenschaftlichen Arbeit. Doch je mehr wir über die Arbeit in anderen Feldern – Neurobiologie, Genomik oder molekulare Phylogenie eingeschlossen – erfuhren, desto klarer wurde uns, dass die Gefahr, die tatsächlichen und nachweisbaren Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier (sowohl auf der körperlichen als auch auf der Verhaltensebene) zu leugnen, vielleicht die größere war. Die wahre Gefahr, so erkannten wir, war nicht der Anthropomorphismus, die Vermenschlichung, sondern sein Gegenteil – das, was der Primatologe und Verhaltensforscher Frans de Waal als »Anthropodenial« (das Leugnen menschlicher Eigenschaften) bezeichnet.1

In unserer Arbeit haben wir Behauptungen zur Einzigartigkeit des Menschen vielfach widerlegt. Wilde Tiere können tatsächlich »menschliche Krankheiten« bekommen: Herzversagen, Lungenkrebs, Ess-Störungen und Süchte. Sie können Schlaflosigkeit und Angstzustände entwickeln. Manche essen zu viel, wenn sie unter Stress stehen, anderen verschlägt es den Appetit. Keineswegs alle sind heterosexuell. Manche sind Angsthasen, andere Draufgänger. Fast immer, wenn jemand behauptete, etwas gebe es nur beim Menschen, stellten wir fest, dass das nicht stimmt.

Und hier, in dem Gewässer vor uns, gab es eine weitere frappierende Parallele. Alle Tiere durchlaufen eine Teenagerphase, selbst wenn die von einigen wenigen Tagen bis zu vielen Jahren dauern kann. Jungen und Mädchen werden nicht über Nacht zu Männern und Frauen. Und der Übergang vom Fohlen zum Hengst, vom »Joey«, dem extrem unreifen Beuteltierjungen, zum Känguru, vom Seeotterwelpen zum gestandenen Seeotter geht ebenso allmählich, ebenso bestimmt und ebenso außergewöhnlich vor sich. Alle Tiere brauchen Zeit, Erfahrung, Übung und Niederlagen, um zu reifen Erwachsenen zu werden.

Der Tag am Dreieck des Todes hat uns einen ersten Eindruck von der Adoleszenz im Tierreich gegeben. Und nachdem wir sie dort entdeckt hatten, begannen wir, sie überall zu sehen.

Eine neue Sichtweise

Es war, als hätte man uns – buchstäblich – die Augen geöffnet. An unserem Sehvermögen hatte sich nichts geändert, aber an unserer Wahrnehmung. Vor uns tat sich ein ganz neues Verständnis dafür auf, was es bedeutet, erwachsen zu werden. Vogelschwärme, Walfamilien, Jugendcliquen, unsere eigenen Kinder, sogar unsere Erinnerungen an uns selbst als Teenager und junge Erwachsene sahen danach ganz anders aus.

In den darauffolgenden Jahren konzentrierten wir unsere Forschungsarbeit auf Tiere in dieser Übergangsphase: körperlich schon zu weit, um noch als »juvenil« bezeichnet zu werden, aber noch nicht erfahren genug, um als »reif« zu gelten.

Als wir eine Gnuherde beim Überqueren eines krokodilverseuchten Flusses beobachteten, bemerkten wir, dass die ersten, die ins Wasser gingen, große, schlaksige Heranwachsende waren.2 Sie waren impulsiv, unerfahren, hatten keine Vorstellung von der Gefahr und sprangen übermütig hinein. Die klügeren Alten dagegen hielten sich zurück und querten den Fluss erst dann, als die Krokodile damit beschäftigt waren, die Jungen zu jagen.

In Manhattan, Kansas, sahen wir mit eigenen Augen, wie eine von zwei jungen erwachsenen Hyänen die andere drangsalierte, obwohl sie gleich alt und gleich groß waren. Um eine klare soziale Hierarchie zu errichten, braucht es nicht mehr als zwei junge Individuen.

Eine Gruppe von kulleräugigen Mongozmakis näherte sich uns, als wir die Dschungelanlage im Duke Lemur Center in Durham (North Carolina) besuchten, und zu unserem Entzücken kam eines der Tiere direkt auf uns zu: Nacho, ein junges Männchen, dessen Furchtlosigkeit für uns mindestens so niedlich war, wie sie für das Tier selbst hätte gefährlich werden können – wären wir keine Wissenschaftlerinnen, sondern Wilderer gewesen.

Wir hörten zu, als verwaiste wilde Wölfe das Heulen lernten und sich ihre jaulenden, brüchigen jungen Stimmen veränderten. Wir sahen, wie heranwachsende Pandas lernten, Bambus zu schälen, ein erster Schritt, um sich endlich selbst zu ernähren. An einem außergewöhnlichen Nachmittag beobachteten wir Herden von Wildpferden, Breitmaulnashörnern und Grevyzebras; dabei achteten wir besonders auf die Heranwachsenden in diesen Herden und sahen, wie sie sich gebärdeten und herumschubsten, um ihren Platz in ihrer jeweiligen Gruppe auszufechten.

Nicht alle unsere Forschungsunternehmungen waren gleichermaßen erfolgreich. Die heranwachsenden Präriebisons im Prince Albert National Park in Saskatchewan, Kanada, nahe dem Polarkreis ließen sich jedenfalls nicht blicken, obwohl wir auf der Suche nach ihnen zwanzig Meilen durch Feuchtgebiete und Stechmückenschwärme gewandert sind. Auch der Jungbär, dessen warmen Kot wir auf unserem Weg entdeckten, blieb unsichtbar. Etwas besser erging es uns, als wir der Spur eines jungen Berglöwen in Los Angeles folgten; bei einer Rast öffnete unser Führer eine Fotofalle am Weg und zeigte uns, dass der Puma nur wenige Stunden zuvor just an der Stelle, an der wir uns gerade befanden, entlanggeschlichen war.

Ein weltumspannender Stamm

Biologen wissen schon lange, dass Tiere – menschliche und andere – zwischen Kindheit und Erwachsenenalter Veränderungen erfahren, sowohl körperliche als auch verhaltensbezogene. Doch die Risikobereitschaft, das Verhalten in sozialen Gruppen, das Ausprobieren auf sexuellem Gebiet, das Verlassen des »Nests«, um sein Glück zu machen oder sich selbst zu finden, ganz zu schweigen von Angst und Stimmungsschwankungen, romantischen Gefühlen und aufwallenden Emotionen – selbst die verrücktspielenden Hormone und das sich rasch verändernde Teenagergehirn –, das alles kommt doch sicher nur bei Menschen vor? Nein, tut es ganz und gar nicht, wie wir gelernt haben.

Die Erfahrungen der einzelnen Heranwachsenden unterscheiden sich zwar in den Details – einige werden überwältigend sein, andere tragisch, die meisten werden irgendwo dazwischen liegen – , doch als wir die Phase der Adoleszenz über die Arten hinweg betrachteten, trat ein universeller Aspekt zu Tage. Egal um welches Tier es sich handelt, egal wo auf der Erde oder in welcher erdgeschichtlichen Epoche es lebt(e), jedes einzelne Individuum muss sich in dieser Phase vier zentralen Herausforderungen stellen. Diese Herausforderungen erfolgreich bewältigt zu haben, ist unserer Meinung nach die Definition für »Reife«.

In dieser Zeit haben Heranwachsende – seien es nun Pinguine, Hamster, Lachse, Wale oder Menschen – in gewisser Weise mehr miteinander gemeinsam als mit ihren reifen Eltern oder ihren unreifen jüngeren Geschwistern. Sie teilen, was Andrew Solomon als eine »horizontale Identität« bezeichnet hat.3 In seinem Buch Far from the Tree (deutsch: Weit vom Stamm) vergleicht Solomon vertikale Identitäten (die zwischen einer Person und ihren Vorfahren) mit horizontalen Identitäten (die zwischen Gleichaltrigen oder Gleichgestellten, mit denen man bestimmte Eigenschaften, aber keine familiären Bande teilt). Wenn man Solomons Konzept auf andere Spezies erweitert, dann – so unsere Vorstellung – teilen alle Heranwachsenden eine horizontale Identität: die vorübergehende Mitgliedschaft im weltumspannenden Stamm der Adoleszenten.

Dieses globale Abenteuer und die Art und Weise, wie erfolgreiche Heranwachsende es absolvieren, ist das Thema dieses Buches. Unsere These: Die menschliche Adoleszenz ist tief in unserer wilden tierischen Vergangenheit verwurzelt. Die Freuden, die Leiden, die Tragödien und der Sinn des Ganzen lassen sich durchaus erklären; evolutionär gesehen sind sie höchst sinnvoll.4

Erwachsenwerden auf dem Planeten Erde

Im Frühjahr 2018 boten wir unseren Studenten an der Harvard University zum ersten Mal den Kurs »Coming of Age on Planet Earth« (Erwachsenwerden auf dem Planeten Erde) an, der auf den Forschungsarbeiten zu diesem Buch beruhte. Am ersten Kurstag baten wir die Studenten, sich ihre Rucksäcke zu schnappen und uns ins Peabody Museum zu folgen, vorbei an den Vitrinen mit den Kachina-Puppen und den hoch aufragenden Maya-Stelen, in die Tozzer Library für Anthropologie. Dort erwartete uns, auf einem Pult auf einem langen Holztisch drapiert, eine Erstausgabe von Margaret Meads Coming of Age in Samoa (deutsch: Kindheit und Jugend auf Samoa).5 Wir erklärten unseren Studenten, dass Margaret Mead 1925, im Alter von 23 Jahren (nach heutigen Maßstäben selbst noch adoleszent), den im Südpazifik gelegenen Inselstaat Samoa bereiste, um die Adoleszenz in einer anderen Kultur zu studieren und so die von modernen amerikanischen Jugendlichen besser zu verstehen. Meads vergleichende Methode veränderte das Forschungsgebiet Anthropologie von Grund auf, insbesondere ihr Augenmerk auf die Kultur und nicht die Biologie als den Einfluss, der menschliche Individuen und Gesellschaften in erster Linie formt. Obwohl Mead später (unfairerweise, wie viele sagen) dafür kritisiert wurde, dass sie Methoden anwandte, die manchmal eher auf Eindrücken als auf Daten beruhten, bleibt sie eine führende intellektuelle Kraft für das Verständnis der menschlichen Entwicklung, insbesondere der Adoleszenz, im 20. Jahrhundert.

Das wissenschaftliche Interesse an der Adoleszenz hatte im späten 19. Jahrhundert der amerikanische Psychologe G. Stanley Hall entfacht, der auch den aus der Literatur stammenden deutschen Begriff »Sturm und Drang« (englisch: storm and stress) für die Beschreibung dieser Lebensphase entlehnte.6 Im 20. Jahrhundert erklärten Psychoanalytiker, darunter Sigmund und Anna Freud, Erik Erikson und John Bowlby, die Probleme in Kindheit und Jugendalter würden von Einflüssen der Umwelt hervorgerufen, während der kognitive Psychologe Jean Piaget dafür plädierte, dass eine Kombination aus biologischer Reifung und Umwelteinflüssen das Gehirn von Heranwachsenden formt.7 Der Nobelpreisträger Nikolaas Tinbergen, seines Zeichens Ornithologe und einer der Begründer der Tierverhaltensforschung, erkannte tierische Wurzeln in der menschlichen Entwicklung. Zu dieser Zeit wurde die Adoleszenz oft als eine Art Übel angesehen: Die davon Betroffenen wurden studiert, als hätten sie eine Krankheit, die sie so unruhig, so rebellisch, so unbesonnen und unglücklich machte.

Das änderte sich mit Fortschritten in der Neurobiologie in den 1960er Jahren.8 Die Arbeiten von Marian Diamond zur Plastizität des Gehirns und von Robert Sapolsky zur Koevolution von sozialer und emotionaler Gehirnentwicklung veränderten den Blick auf die Adoleszenz von einem spannungsgeladenen Zustand mit unveränderlichen Eigenschaften zu einer dynamischen Phase, die für die normale Entwicklung von zentraler Bedeutung ist. Frances E. Jensen, Sarah-Jayne Blakemore, António Damásio und andere fanden heraus, wie das Zusammenspiel von Genetik und Umwelt bei Heranwachsenden so bemerkenswerte und erschreckende Aspekte der Adoleszenz zuwege bringt wie Risikobereitschaft, Suchen nach neuen Reizen und Einfluss der Altersgenossen. Linda Spear, eine Entwicklungspsychologin, untersucht den Zusammenhang zwischen dem adoleszenten Gehirn und dem Temperament. Judy Stamps, eine Evolutionsbiologin, erforscht, wie die Umwelt – sei sie physisch oder sozial – die Geschicke von Heranwachsenden prägt. Der Psychologe Jeffrey Arnett hat den Begriff »emerging adult« (»der im Entstehen begriffene Erwachsene«) populär gemacht und hebt auf den mächtigen Einfluss der modernen Kultur bei der Prägung adoleszenter Erfahrungen ab. Und die Arbeiten des Psychologen Laurence Steinberg zur Neurobiologie der Adoleszenz erhellen nicht nur diese für Eltern und Erzieher turbulente Zeit, sondern sie stellen auch die Frage, ob jugendliche Straftäter genauso hart bestraft werden sollen wie reife Erwachsene.

In der Tradition dieser Denker, vor allem aber inspiriert von Margaret Mead, verwenden wir in unserer Forschung, in der Lehre und in diesem Buch den vergleichenden Ansatz. Dabei gehen wir jedoch über den Vergleich zwischen Menschen hinaus, um die wesentlichen Herausforderungen der Adoleszenz speziesübergreifend zu untersuchen. Wir konzentrieren uns nicht auf die 200.000-jährige Geschichte unserer Art, sondern betrachten vielmehr die 800 Millionen Jahre alte Geschichte tierischen Lebens auf der Erde.

Pubertät in der fernen Vergangenheit

Die Begriffe »Adoleszenz« und »Pubertät« werden manchmal nebeneinander verwendet, als seien sie Synonyme, doch obwohl sie miteinander zu tun haben, handelt es sich um zwei verschiedene Dinge. Die Pubertät ist der biologische Prozess, der die Fortpflanzungsfähigkeit eines Tieres einleitet; er wird von Hormonen angestoßen. Pubertät beschreibt eine rein körperliche Entwicklung: Unter anderem kommt es zu einem Wachstumsschub, und Eierstöcke und Hoden beginnen, die Produktion von Eizellen beziehungsweise Spermien aufzunehmen. Weiße Haie kommen in die Pubertät. Krokodile kommen in die Pubertät. Dasselbe gilt für Pandas, Faultiere und Giraffen. Sogar Insekten kommen in die Pubertät (bei ihnen ein Teil der Metamorphose). Jeder adulte Neandertaler hat die Pubertät durchlaufen, genau wie Lucy, die berühmte Hominide der Art Australopithecus afarensis, deren 3,2 Millionen Jahre alte Knochen im heutigen Äthiopien gefunden wurden. Auch bei den Dinosauriern hat die Pubertät zugeschlagen. Das wissen wir von Jane, einem 67 Millionen Jahre alten T.-rex-»Teenager« aus Montana. Den Paläontologen zufolge, die ihr Skelett ausgruben (und ihr den Namen gaben), starb sie, noch ehe ihre Pubertät beendet war.9

Die Abfolge der biologischen Vorgänge während der Pubertät ist bemerkenswert konstant, obwohl sich die Details von Art zu Art unterscheiden. Bei Hummeln und Straußen, bei Ameisenbären und Zwergponys sind es dieselben Hormone, die den Prozess hochfahren.10 Fast identische Hormone bringen ihn bei Schnecken, Neunaugen, Krebsen, Garnelen, Austern und Muscheln zum Laufen.11

Die frühen Vorfahren von Vögeln und Säugern, Fischen und Weichtieren und die verwirrende Vielfalt fast allen weiteren Lebens tauchten schlagartig vor 540 Millionen Jahren, während der sogenannten Kambrischen (Arten-)Explosion, auf der Erde auf. Doch die Pubertät ist sogar noch älter. Sie kommt bereits im Lebenszyklus einer der ältesten irdischen Lebensformen vor, den einzelligen Protozoen. Protozoen gibt es noch heute, und einer ihrer Vertreter, Plasmodium falciparum, gelangt über den Stich einer Stechmücke ins Blut von Menschen. Dort treibt der noch unreife Organismus zunächst herum, ohne groß Schaden anzurichten, doch sobald er seine protozoische Pubertät durchlaufen hat,12 wird er zu einer der Haupttodesursachen für Menschen weltweit: Plasmodium falciparum ist der Erreger der Malaria.

Obwohl man beim Stichwort Pubertät meist an die geschlechtliche Entwicklung denkt, betreffen die Hormonwirkungen alle Organsysteme des Körpers. Das Herz wächst und erhöht die Leistungsfähigkeit des Herz-Kreislauf-Systems dramatisch.13 Die Lungenkapazität vergrößert sich, was jungen Athleten mehr Ausdauer verleiht (und Asthmatikern mehr Anfälle beschert). Das Skelett wächst in die Länge und ermöglicht den schlaksigen Beinahe-Erwachsenen eine unerhörte neue Beschleunigung; allerdings steckt das rasche Knochenwachstum auch hinter dem erhöhten Vorkommen von Knochenkrebs in diesem Alter. Die Schädel vergrößern sich von Kinder- auf Erwachsenengröße, und das lässt sich nicht nur bei Menschenkindern beobachten, sondern ist auch von Dinos bekannt. Die Kiefer verändern ihre Form ebenso wie die in ihnen sitzenden Zähne. Tatsächlich sind Weiße Haie erst dann zu ihren tödlichsten Bissen in der Lage, wenn sie die Pubertät abgeschlossen haben.14

Bei der in der Pubertät stattfindenden körperlichen Transformation handelt es sich um einen uralten Prozess. Doch um erwachsen zu werden, muss ein junges Lebewesen eine zweite Phase durchlaufen. Eine, in der Körper und Verhalten zusammenwirken. Sie dient dazu, zu lernen, wie ein reifes Mitglied der Gruppe denkt, handelt, fühlt. Es ist eine Zeit, in der entscheidende Erfahrungen gemacht werden, in der man Informationen von Mentoren aufnimmt und in der man sich an Gleichaltrigen, Geschwistern und Eltern ausprobiert.

Diese Phase ist die Adoleszenz, und sie dauert so lange, bis ein reifer Erwachsener aus ihr hervorgegangen ist. Für eine Art, die reife Erwachsene und nicht nur körperlich ausgewachsene Individuen produzieren will, ist die Adoleszenz unverzichtbar. Das Streben nach Reife durch Erfahrung ist der universelle Sinn der Adoleszenz in der Natur.

Auf diesem Weg kann es zu verblüffenden Innovationen kommen. Einer der berühmtesten Fossilienfunde der letzten Jahrzehnte ist ein Fisch namens Tiktaalik, den der Paläontologe Neil Shubin von der University of Chicago ausgegraben hat.15 Diese 375 Millionen Jahre alte Kreatur trägt einen Schlüssel zu unserer evolutionären Vergangenheit bei sich: vier kleine Gliedmaßen, die sowohl als Flossen wie auch als Beine dienen können. Die vier Körperanhänge belegen, dass Tiktaalik in einer der grandiosesten Geschichten des Lebens auf der Erde eine Vorreiterrolle spielte – dem Übergang vom Wasser ans Land.

Neil Shubin stellte fest, dass die Tiktaalik-Fossilien noch etwas anderes enthüllen. Die gefundenen Exemplare kamen in verschiedenen Größen vor, manche hatten die Länge eines Tennisschlägers, andere die eines Surfbretts. Das kann nur eines heißen: Diese uralten Fische wuchsen und wurden erwachsen. Und während dieses Prozesses waren die frisch pubertierten Tiktaalik-Individuen, genau wie Heranwachsende heutzutage, besonders verletzlich; ihnen fehlte nicht nur die Größe, sondern auch die Erfahrung im Umgang mit Räubern oder Beutegreifern, Konkurrenten, Sexualität und bei der Nahrungssuche. Verwundbarkeit und Unerfahrenheit bringen jüngere Tiere regelmäßig in heikle Situationen. Wir schrieben Shubin an und fragten, ob er es für möglich hielte, dass die Heranwachsenden unter den Tiktaaliks diejenigen waren, die den Weg ans Land als Erste beschritten. Er hielt das für plausibel und schrieb zurück: »Tiktaalik war ein Tier mit großen fleischfressenden Erwachsenen; die standen sehr weit oben in der Nahrungskette. Aber die juvenilen Stadien waren der Gefahr ausgesetzt, von anderen Tieren gefressen zu werden, und könnten davon profitiert haben, sich zeitweise an Land zu begeben. Auch könnte es für kleinere Fische leichter gewesen sein, sich an Land zu bewegen als für größere, zumindest am Anfang der Entwicklung.«

Selbst wenn es sich hier nur um eine Vermutung handelt, passt es doch zu allem, was wir über Risiko- und Erkundungsverhalten von Heranwachsenden quer durch Raum und Zeit wissen. Heranwachsende gehen an und über die Grenzen, weil sie es müssen. Sie finden neue Wege zum Überleben. Und wenn sie das tun, können sie die Zukunft schaffen.

Das »Teenager«-Gehirn

Zu den Organen, die während der Pubertät und der Adoleszenz radikale Veränderungen erfahren, gehört das Gehirn. In dieser Umbruchphase sind »Teenager«-Gehirne die reinsten Baustellen: deutlich verschieden von den Kinderhirnen, die sie einmal waren, und deutlich verschieden von den Erwachsenenhirnen, zu denen sie noch werden sollen.16

Jedes Gehirn legt Erinnerungen an, aber das Gehirn Heranwachsender ist besonders gut darin, riesige Mengen davon abzuspeichern, Erinnerungen, die uns als Menschen formen und die darauf Einfluss nehmen, wie wir uns für den Rest unseres Lebens der Welt stellen. Psychologen bezeichnen die besonders tiefen und lang anhaltenden Erinnerungen, die in dieser Zeit (beim Menschen etwa zwischen dem 15. und dem 30. Lebensjahr) angelegt werden, als reminiscence bump (»Erinnerungsbuckel«).17

Die Impulsivität von Heranwachsenden, ihre Experimentier- und Entdeckerlust und ihre Unreife beim Treffen von Entscheidungen scheint mit dem Zentrum für die Steuerung von Handlungen im Gehirn in Verbindung zu stehen, insbesondere mit dem präfrontalen Cortex, der erst spät in der Gehirnentwicklung reift. Dass sie am liebsten mit Gleichaltrigen zusammen sind und sogar, dass sie häufig mit ihren Eltern über Kreuz liegen, lässt sich ebenfalls auf die einzigartige adoleszente Neurobiologie (in Bereichen, die mit Gefühlen, Gedächtnis und Belohnung zu tun haben) zurückführen. Ebenso die Stimmungsschwankungen von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt. Auch die Anfälligkeit für Substanzmissbrauch, selbstverletzendes Verhalten und psychische Erkrankungen kann dem noch in der Entwicklung befindlichen Gehirn zugeschrieben werden, das seine Transformation erst mit Mitte zwanzig, manchmal sogar erst Anfang dreißig abgeschlossen hat.

Über die Mysterien des menschlichen Teenager-Gehirns ist in den letzten Jahrzehnten viel geschrieben worden, und die Forschung hat uns geholfen zu verstehen, warum sich Heranwachsende so verhalten, wie sie sich verhalten. Doch diese weltbewegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse lassen eine noch viel größere Enthüllung weitgehend außer Acht: Die Gehirne und das Verhalten anderer Tiere unterliegen während der Adoleszenz ebenfalls einschneidenden Veränderungen.

Adoleszente Vögel besitzen eine Hirnregion, die – ebenso wie der sich entwickelnde präfrontale Cortex bei Menschen – den jungen Tieren dabei hilft, Selbstkontrolle zu erlangen.18 Die Gehirne von heranwachsenden Orcas und Delfinen wachsen weiter, wenn diese die körperliche und sexuelle Reife erreicht haben, genau wie unsere eigenen.19 Und die sich verändernden Gehirne von adoleszenten anderen Primaten oder auch kleinen Säugetieren stecken hinter Neigungen wie Lust am Risiko, Geselligkeit und Spaß am Ausprobieren von Neuem.20 Selbst heranwachsende Reptilien weisen zwischen der juvenilen und der adulten Lebensphase charakteristische neurologische Verschiebungen auf,21 dasselbe gilt für heranwachsende Fische.

Unabhängig davon, ob unser Körper mit Haut, mit Schuppen oder mit Federn bedeckt ist, ob wir uns gehend, fliegend, schwimmend oder kriechend fortbewegen, wir teilen eine gemeinsame Biologie, die unser erwachsenes Selbst aufbaut und ausgestaltet. Dieses Buch spürt der Universalität der Phase zwischen Kindheit (englisch childhood) und Erwachsenenalter (englisch adulthood) nach; darum haben wir uns entschieden, sie wildhood (in der Übersetzung: Wilde Zeit) zu nennen. Indem wir die Tierwelt über mehrere Hundert Millionen Jahre Evolution betrachten, können wir die Aspekte der Adoleszenz, die für eine bestimmte Tierart oder die menschliche Kultur einzigartig sind, von denen trennen, die auf dem Planeten Erde die Norm darstellen.

Die vier Kernkompetenzen fürs Leben

Die wichtigste Erkenntnis aus unserer Forschungstätigkeit war diese: Die vier grundlegenden Herausforderungen der Wilden Zeit sind für alle Individuen an der Schwelle zum Erwachsenwerden dieselben, sei es eine Fruchtfliege in der Obstschale auf Ihrer Küchenarbeitsplatte, ein brüllender Löwe in der Serengeti oder eine 19-Jährige, die versucht, Uni, Job, Freunde, Beziehungen oder andere Aufgaben unter einen Hut zu bringen. Und um diese zentralen Fragen geht es:

Wie sorge ich für meine Sicherheit?

Wie bewege ich mich in sozialen Hierarchien?

Wie kommuniziere ich auf sexueller Ebene?

Wie sorge ich für mich selbst?

Jeder dieser vier Herausforderungen müssen sich Tiere während ihres ganzen Lebens stellen, in der Zeit der Adoleszenz und den ersten Erwachsenenjahren geschieht das allerdings zum ersten Mal und normalerweise ohne die Unterstützung oder den Schutz der Eltern. Die Erfahrungen der Wilden Zeit, kombiniert mit den Kompetenzen, die die Heranwachsenden erwerben, während sie diese Situationen durchleben, haben entscheidenden Einfluss darauf, wie es ihnen später als Erwachsenen ergehen wird.

Gefahren vermeiden. Seinen Platz in Gruppen finden. Lernen, mit dem anderen Geschlecht umzugehen. Selbstgenügsamkeit und zielgerichtetes Handeln entwickeln. Diese Fertigkeiten sind universell – weil sie das Überleben junger Tiere fördern, die sich in die wilde Welt hinausbegeben.

Sicherheit. Status. Sex. Selbstständigkeit. Diese vier Begriffe bilden auch den Kern menschlicher Erfahrung und stellen die Grundlage für Tragödien, Komödien und menschliches Streben dar.

Für ein adoleszentes Tier können auf dem Weg zum Erwachsenendasein tausend Dinge schiefgehen. Doch wenn alles gut verläuft und ein reifer Erwachsener entsteht, heißt das immer dasselbe: Während seiner Wilden Zeit hat dieses Individuum die vier Herausforderungen bewältigt und in jeder »Disziplin« Kompetenzen entwickelt. Die Individuen sind nicht einfach nur älter geworden, sie sind gereift. Das Abenteuer Wilde Zeit wurde seit mehr als 600.000 Jahren von unzähligen Tieren unternommen. Wir glauben, dass das uralte Erbe dieser gesammelten Erfahrungen als moderner Leitfaden dienen kann, um gut in die Erwachsenenzeit hineinzugelangen.

Erwachsenwerden in einer digitalen Welt

Wie wir sehen werden, entwickeln Tiere um diese vier Kernkompetenzen herum etwas, das wir in Ermangelung eines besseren Begriffs als »Kultur« bezeichnen wollen. Sogar innerhalb einer bestimmten Tierart können kulturelle Eigenschaften von Region zu Region und von Gruppe zu Gruppe unterschiedlich sein, genau wie in menschlichen Kulturen ständig Veränderungen auftreten.

Dennoch gibt es einen Bereich, in dem sich Menschen tatsächlich von ihren tierischen Verwandten unterscheiden: Menschliche Teenager müssen heute nämlich zwei verschiedene Welten durchwandern, um erwachsen zu werden, einmal die reale Welt, in der wir leben, und einmal die digitale, die sich online abspielt.

Die vier Kernkompetenzen fürs Leben gelten sowohl online als auch offline. Allerdings können die beiden Welten beziehungsweise Kulturen grundverschieden sein, was dazu führt, dass viele moderne Teenager in zweifacher Weise erwachsen werden müssen.

Beispielsweise müssen soziale Tiere – von Fischen im Schwarm bis zu Schülern, die in ihre Klassenzimmer eilen – lernen, in den Hierarchien unter ihresgleichen einen Platz zu finden (wir gehen in Teil II ausführlich darauf ein). Eine Möglichkeit ist, die »Gesellschaft von ranghohen Tieren« zu suchen. Dieser Begriff leuchtet jedem, der jemals in einer Schule, in einer Firma (oder Behörde) war oder ein Sozialleben pflegt, unmittelbar ein: Man kann seinen eigenen Status verbessern, indem man sich mit den mächtigeren, einflussreicheren Leuten sehen lässt. Wir werden den faszinierenden Details, wie das in Tiergruppen funktioniert, später tiefer auf den Grund gehen, aber wir denken auch an die heutigen menschlichen Teenager und die Zahl der zusätzlichen Hierarchien, die das Internet in ihr Leben bringt. Wann immer sie Zeit mit Multiplayer-Games oder in den sozialen Medien verbringen, werden sie bewertet, zugeordnet und in Ranglisten gesteckt – manchmal unbemerkt, manchmal offen – , ebenso wie all die anderen Nutzer dieser Plattformen. Stellen Sie sich vor, wie Ihr Status steigen würde, wenn ein Sport- oder Popstar sich positiv über Sie äußerte. Und stellen Sie sich vor, wie niederschmetternd und erniedrigend es wäre, von einem Idol bloßgestellt zu werden.

Eltern und andere ältere Menschen haben reichlich Erfahrung, um Heranwachsende und junge Erwachsene durch die reale Welt zu geleiten. Aber noch hat niemand sein ganzes Leben in der digitalen Welt verbracht. Die vier Kernkompetenzen können dabei helfen, dieses neue Terrain in leichter einzuschätzende Kategorien einzuteilen, denn für die Herausforderungen aus dem realen Leben gibt es Online-Entsprechungen: Wie schütze ich mich vor Trollen und Übeltätern? Wie bewege ich mich in virtuellen Hierarchien? Wie drücke ich meine Sexualität aus? Wie baue ich ein digitales Selbst, eine digitale Identität auf, und wie halte ich sie aufrecht?

Warum sprechen wir von »Wilder Zeit«?

In unserem Kurs »Erwachsenwerden auf dem Planeten Erde« machen wir immer eine kleine, informelle Umfrage: Wer sich selbst für eine Heranwachsende beziehungsweise einen Heranwachsenden hält, bitte die Hand heben! Dann bitte die Hand heben, wer sich für erwachsen hält. Unsere Studenten sind zwischen 18 und 23 Jahre alt, aber noch nie hat jemand bei einer der beiden Fragen die Hand gehoben, ohne zu zögern.

Wenn Heranwachsende den Begriff »adoleszent« nicht für sich selbst verwenden, wie soll man diese Wesen dann nennen, die ganz (oder beinahe) ausgewachsen sind, aber noch nicht voll ausgereift? Die zwar über eine beeindruckende Körpergröße, aber ausgesprochen wenig Erfahrung verfügen, die vielleicht geschlechtsreif sein mögen, deren Gehirne zur Reife aber noch viele weitere Jahre benötigen werden?

Der Begriff »adolescentia« taucht erstmals in mittelalterlichen Schriften aus dem 10. Jahrhundert auf und beschreibt dort einen religiösen Wendepunkt in den Jugendjahren von Heiligen.22 Abgeleitet ist er von dem lateinischen Wort für »aufwachsen«: adolescere. In Nordamerika betrachteten die Mitte des 16. Jahrhunderts in Neuengland lebenden Puritaner dieses Alter als chusing time (Zeit der Wahl), in der man die Unbeschwertheit der Kinderzeit hinter sich ließ und eine Erwachsenentätigkeit aufnahm; die Menschen in dieser Lebensphase wurden allgemein als youth (Jugend) bezeichnet, der Begriff adolescents kam erst Ende des 19. Jahrhunderts in Gebrauch.23

Halbstarke, Rocker, Beatniks, (Post-)Hippies, Blumenkinder, Teeny-Bopper, 68er, Blueser, Punks, Popper, Yuppies, Skinheads, Emos, Generation X – das sind nur einige der Begriffe, die im 20. Jahrhundert auf junge Leute in speziellen kulturellen Kontexten angewandt wurden. Das Wort »Teenager« tauchte in gedruckter Form erstmals 1941 in einer Kolumne der Zeitschrift Popular Science Monthly auf und ging schon bald in den allgemeinen Sprachgebrauch über.24 Selbst heute, fast achtzig Jahre später, wird »Teenager« immer noch häufig gleichbedeutend mit »adoleszent« verwendet, obwohl das wissenschaftlich nicht mehr korrekt ist, seitdem Neurowissenschaftler herausgefunden haben, dass die Entwicklung des adoleszenten Gehirns vor dem 13. Lebensjahr beginnt und bis weit nach dem 19. Lebensjahr anhält. In der letzten Dekade konnte man Menschen dieser Altersgruppe noch als »Millennials« bezeichnen, doch mittlerweile sind die meisten Millennials aus der Junge-Erwachsenen-Phase herausgewachsen. In Nordamerika haben wir oft die unzutreffende Bezeichnung »kids« (Kinder) gehört, sogar von den Heranwachsenden selbst, aber für jemanden in den letzten Highschool-Jahren klingt das einfach zu jung.

Wir suchten weltweit nach einem treffenderen Begriff, gleichermaßen anwendbar für menschliche und nichtmenschliche Lebewesen in dieser Phase, ein Wort, das die uralte Verbundenheit widerspiegeln würde. Manche Begriffe waren zu technisch (preadults: Vor-Erwachsene, emerging-adults: werdende Erwachsene, dispersers: das Nest Verlassende), andere klangen abwertend oder gar beleidigend (sub-adults: Unter-Erwachsene, immatures: Unreife), aber es gab auch sehr poetische (fledglings: flügge Vögel, deltas: eine Kaste in Aldous Huxleys Schöner neuer Welt, oder elvers: eine Bezeichnung für adoleszente Aale). In anderen Sprachen fanden wir solche Perlen wie das japanische Wort seinenki (Schössling, Sprössling) oder das russische lischnie tscheloweki (wörtlich: überflüssige Menschen, gemeint sind Leute, die zu nichts zu gebrauchen sind beziehungsweise auch selbst nichts Rechtes mit sich anfangen können), doch wir hatten Hemmungen, einen Begriff aus einer Sprache über den einer anderen zu stellen.

Nachdem wir eine Weile nach einem Wort für die Individuen in dieser Phase gesucht hatten, kamen wir auf die Idee, dass es vielleicht sinnvoller wäre, der Phase selbst einen Namen zu geben. Der Begriff sollte den Zeitraum beschreiben, in dem Biologie und Umwelt zusammenwirken, um unabhängig von der Artzugehörigkeit reife Individuen zu formen. Er sollte art- und kulturneutral, nicht an ein bestimmtes Alter, ein körperliches Merkmal, einen Gesetzesparagraphen oder einen sozialen Zusammenhang gebunden sein. Und er sollte die Verletzlichkeit, das Spannende, die Gefahr und die Möglichkeiten dieser besonderen Lebensphase einfangen. Für unser erstes Buch hatten wir den Begriff Zoobiquity geprägt und als Titel gewählt (deutsch: Wir sind Tier), in dem das griechische Wort für »Tier« und das lateinische Wort für »überall« steckt. Für das vorliegende Buch haben wir wieder einen neuen Begriff kreiert und als Titel verwendet. Um die Unwägbarkeiten dieses Lebensalters einzufangen und den gemeinsamen tierischen Wurzeln Rechnung zu tragen, entschieden wir uns für wild. Dem fügten wir das altenglische Suffix hood hinzu, das einerseits einen Zeitraum (wie in childhood: Kindheit, Kinderzeit), andererseits eine Gruppe von Personen (wie in neighborhood: Nachbarschaft, knighthood: Ritterschaft) bedeuten kann, um damit die Mitgliedschaft im weltumspannenden Stamm der Heranwachsenden auszudrücken. Die Lebensphase nach der Kinderzeit (childhood) und vor der Erwachsenenzeit(adulthood) wurde folglich von uns zur wildhood erklärt (in der Übersetzung »Wilde Zeit« für die Phase und »Junge Wilde« für die Heranwachsenden).

Ein interdisziplinärer Ansatz

Die wissenschaftlichen Belege, die wir hier zusammengetragen und zusammengefasst haben, sind das Ergebnis von fünf Jahren Arbeit an den Universitäten von Los Angeles und Harvard. Weil sich unsere Forschung an der Schnittstelle von Evolutionsbiologie und Medizin abspielt, setzen wir bewährte Methoden aus beiden Disziplinen ein: Wir entwickelten umfangreiche systematische Übersichten zur vergleichenden Adoleszenz und nutzten die Ergebnisse, um sogenannte phylogenetische Bäume zu erstellen. Für systematische Übersichtsarbeiten (englisch: systematic reviews) werden sehr zielgenaue Internetrecherchen in großen wissenschaftlichen Datenbanken in aller Welt durchgeführt, die dank der Fortschritte in der Such-Technologie in den letzten zwanzig Jahren immer bessere Ergebnisse liefern. Phylogenetische Bäume sind grafische Darstellungen der evolutionären Beziehungen zwischen verschiedenen Arten, das können einfache Familienstammbäume, aber auch komplexe Computermodelle sein, die Tausende von Datenpunkten enthalten. Aber wir haben auch im Feld gearbeitet und adoleszente Tiere in ihrer natürlichen Umgebung oder in Schutzgebieten rund um den Globus beobachtet. Und wir haben Interviews mit Fachleuten für menschliche Adoleszenz, Wildbiologie, Neurobiologie, Verhaltensökologie und Tierwohl geführt.

Wir glauben, dass unsere Forschung weit reichende Bedeutung für ganz unterschiedliche Gruppen besitzt. Darum haben wir uns entschlossen, sie in einer Art und Weise zu präsentieren, die sowohl für Wissenschaftler als auch für andere Interessierte informativ ist. Quellennachweise für einzelne Textstellen werden als Endnoten im Anhang des Buches aufgeführt. Ein erweitertes Literaturverzeichnis, mit Links zu unserer Forschungsarbeit, Quellen- und anderem interessanten Material, ist online für alle verfügbar, die als Eltern, Lehrer, Erzieher, Trainer, Betreuer, Ärzte oder Arbeitgeber mit Heranwachsenden zu tun haben, und nicht zuletzt für die jungen Leute selbst.

Wir schreiben im Amerika des frühen 21. Jahrhunderts und das spiegelt sich in unserer Arbeit wider; wir behaupten nicht, die Besonderheiten der Erfahrungen eines jeden Heranwachsenden zu verstehen. Davon abgesehen hatten wir noch eine sehr persönliche Motivation für dieses Buch: Während der gesamten Zeit hatten wir als Eltern Kinder im Adoleszenzalter zuhause. Kathryns Tochter war 13, als wir begannen, Barbaras Tochter und Sohn waren 16 und 14. Alle drei sind jetzt natürlich älter, aber Mütter von heranwachsenden jungen Menschen zu sein, gab uns einen unschätzbaren praktischen Vorteil: Wir konnten die Wilde Zeit ganz aus der Nähe beobachten. Nach Reisen zum Polarkreis, nach Chengdu, nach North Carolina oder an den Golf von Maine kamen wir nach Hause zu unseren eigenen kaum zu bändigenden Teenagern und behielten das komplexe, wenn auch flüchtige Wunder dieser Lebensphase stets vor Augen.

Eine allgemeine Suche

Das Büro im Museum für Vergleichende Zoologie in Harvard, wo wir den größten Teil dieses Buches geschrieben haben, hat eine verborgene Verbindung zu einer anderen Welt. Geht man eine bestimmte Treppe hinauf und wendet sich dann nach rechts statt nach links, gelangt man ins Peabody Museum, eine Einrichtung, die sich der Erhaltung des kulturellen Erbes der Menschen widmet. Manchmal waren wir so vertieft in unsere Arbeit, dass wir in der einen Welt aufstanden und uns in der anderen verloren. Auf der einen Seite das Vermächtnis der vergleichenden Zoologie, von den Dinosauriern bis zur Molekulargenetik. Auf der anderen Gegenstände, die Jahrtausende menschlichen Erfindergeistes, menschlicher Beharrlichkeit, Zusammenarbeit und Liebe bezeugten. Beide Seiten – Zoologie und Anthropologie, Tier und Mensch – spiegeln die Diversität des Lebens auf unserem Planeten wider.

Je öfter wir diese symbolische Schwelle überschritten, desto besser erkannten wir die Zeichen der Adoleszenz in Stücken des Peabody Museums, so wie wir sie erkannten, wenn sie uns in der Tierwelt begegneten. Wir spürten die innere Verbindung, ja fast eine Art Zuneigung zu diesen Artefakten des Erwachsenwerdens. Ob es nun eine Rüstung von einer winzigen Insel im Pazifik war oder der goldene Schmuckanhänger eines Jugendlichen aus dem Mittelamerika des 5. Jahrhunderts, eine Decke, die bei den Lakota-Indianern für die Brautwerbung verwendet wurde, oder die Schneeschaufel eines Inuit – diese Gegenstände waren wie die Bögen einer Brücke, die diese ebenso einzigartige wie universelle Lebensphase verbinden.

In der sogenannten Coming-of-Age-Literatur (englisch: coming of age, erwachsen werden) sind junge Leute auf der Suche. Sie sind zuhause rausgeflogen oder hauen nach einem Streit ab und stürzen sich ins wilde freie Leben. Sie sind gefährlich unvorbereitet, was manchmal zum Schreien komisch ist und manchmal böse Folgen hat. Bei ihren Abenteuern außer Haus müssen sie Übeltäter und Betrüger abwehren. Sie treffen Freunde und lernen, Feinde zu erkennen. Vielleicht verlieben sie sich auch. Und sie lernen, alleine klarzukommen – sich Essen zu besorgen, ein Zuhause aufzubauen, und am Ende der Geschichte müssen sie sich meist entscheiden, ob sie sich der Gemeinschaft anschließen wollen, in der sie geboren wurden, oder ob sie ihre eigene begründen.

Wir wollen unsere Wissenschaft in die Coming-of-Age-Geschichten von vier wilden Tieren verpacken, Tiere, die von Biologen monate- und jahrelang beobachtet und verfolgt wurden. Unsere Protagonisten sind keine Menschen, aber sie sind alle Heranwachsende. Ursula, ein Königspinguin, kam auf der vor der Antarktis gelegenen Insel Südgeorgien zur Welt, wo sie auch aufwuchs; schon am ersten Tag nach der Trennung von ihren Eltern fällt sie beinahe einem monströsen Beutegreifer zum Opfer. Shrink ist eine Tüpfelhyäne im Ngorongoro-Krater in Tansania; als er die streng hierarchische Hyänenvariante der Highschool durchläuft, muss er mit Mobbing zurechtkommen, schließt aber auch Freundschaften. Salt ist ein weiblicher Buckelwal, der nahe der Dominikanischen Republik geboren wurde und jeden Sommer im Golf von Maine verbringt; als die junge Walkuh mit sexuellem Begehren konfrontiert wird, lernt sie, wie man mitteilt, was man von einem Partner will und was nicht. Und schließlich begegnen wir Slavc, einem europäischen Wolf, dem nach dem Verlassen seiner Heimat viel Schreckliches, aber auch Schönes widerfährt. Fast wäre er verhungert, ertrunken, vor Einsamkeit gestorben, aber irgendwann gelingt es ihm, erfolgreich zu jagen und eine neue Gemeinschaft zu finden.

Wir erzählen die Geschichten dieser vier wilden Tiere in einer sehr persönlichen Weise, damit das Drama, das jedes von ihnen auf seinem Weg von der Jugendzeit in die Erwachsenenzeit erlebt, greifbar wird. Nichtsdestoweniger beruht jedes Detail, über das wir in den Geschichten schreiben, auf GPS- oder Satellitendaten, Daten aus Senderhalsbändern, wissenschaftlicher Fachliteratur, veröffentlichten Berichten und Interviews mit den beteiligten Forscherinnen und Forschern.

Obwohl Millionen Jahre der Evolution sie trennen, gibt es eine Verbindung zwischen diesen vier Individuen – und uns – durch die gemeinsamen Erfahrungen und Herausforderungen der Wilden Zeit.

Ob sie in den heimtückischen Gewässern der Antarktis, in der tansanischen Savanne, in einer schimmernden Bucht in der Karibik oder im Dreieck des Todes durchlebt wird, die Wilde Zeit zieht sich durch die gesamte Natur bis hinein in unser menschliches Leben. Sie beeinflusst und manchmal bestimmt sie auch unser Schicksal als Erwachsene. Die Wilde Zeit ist das gemeinsame Erbe aller Lebewesen auf der Erde, ein uraltes, weiterhin gültiges Vermächtnis, das jederzeit in Anspruch genommen werden kann.

Teil I

Sicherheit

In ihrer Wilden Zeit sind Menschen und andere Tiere noch »naiv«, unerfahren, im Umgang mit Prädatoren (Beutegreifern oder, allgemein gesprochen, Feinden). Ihre Unerfahrenheit zieht Angreifer und Betrüger an, die sie als leichte Beute betrachten. Ein Training, bei dem Heranwachsende lernen, Individuen mit bösen Absichten zu erkennen und abzuwehren, kann ihr Leben retten und ihnen mehr Selbstsicherheit auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben geben.

Ursulas gefährliche Tage

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Gefährliche Tage

Etwa 1600 Kilometer von der Antarktis entfernt, erhebt sich die Insel Südgeorgien aus dem Atlantischen Ozean. Wenn Sie am 16. Dezember 2007 dort gewesen wären, hätten Sie einen Schlüsselmoment im Leben eines jungen Königspinguins namens Ursula miterleben können. An diesem Sonntag kehrte Ursula ihren Eltern den Rücken. Zusammen mit einer Schar quäkender Jungpinguine, die genauso aussahen wie sie, watschelte sie hinunter zum Strand. Dann sprang sie unvermittelt ins kalte Wasser und schwamm, so schnell sie konnte und ohne zurückzublicken, weg von zuhause.

Bis zu diesem Moment hatte sich Ursula nie weiter als hundert Meter vom Nest entfernt. Sie hatte nie in der Brandung gespielt. Nicht ein einziges Mal hatte sie versucht, im offenen Meer zu schwimmen. Ursula hatte sich noch nie selbst Nahrung beschafft. Bis zu diesem Augenblick hatten sich ihre Eltern um die Mahlzeiten gekümmert (und sie ihr schon vorverdaut direkt in den geöffneten Schnabel gewürgt).

Als flauschiges Küken hatte Ursula frostigen Temperaturen und heftigen Winden unter dem Gefieder ihrer Eltern widerstanden.1 Verteidigt von Mama und Papa hatte sie die Angriffe von Skuas überlebt, furchteinflößende räuberische Seevögel, die kleine Pinguine zerreißen, um ihren eigenen Nachwuchs zu füttern. Wie alle Königspinguine hatte die kleine Ursula eine Geheimsprache mit ihren Eltern, Rufe, die nur diese drei miteinander teilten. Königspinguine kümmern sich ein ganzes Jahr um ihre Jungen, und in dieser Zeit ist die kleine Familie ein eingeschworenes Trio. Mama und Papa sorgen zu gleichen Teilen für ihr Kind und wechseln sich bei Pflege, Essensbeschaffung und Wachdienst ab.

Doch vor Kurzem war eine Veränderung eingetreten. Ursula hatte das weiche bräunliche Daunenkleid der Küken abgeworfen. Die für Erwachsene typischen glatten, schwarz-weißen Federn begannen zwischen den Resten ihres Kindergefieders durchzubrechen. Ihr quietschendes Gepiepse vertiefte sich zu dem brummigen Tröten, das Pinguinkolonien klingen lässt wie riesige Kazoo-Orchester ohne Dirigent.

Aber Ursulas Transformation war nicht nur körperlich. Auch ihr Verhalten änderte sich plötzlich. Die Unruhe packte sie und sie begann, sich immer weiter von ihren Eltern zu entfernen. Tagsüber schloss sie sich mit anderen Heranwachsenden zu schnatternden Pinguingangs zusammen. Für die Nervosität, die sie befallen hatte, gibt es einen wissenschaftlichen Namen: Zugunruhe.2 Dieses Phänomen wird an Vögeln, Säugern und sogar Insekten erforscht, die kurz vor dem Aufbruch zu langen Wanderungen, zum Beispiel in weit entfernte Sommer- oder Winterquartiere, stehen. Schlaflosigkeit – aufgrund von Verschiebungen beim Wachmacherhormon Adrenalin und dem Schlafhormon Melatonin – ist eine häufige Begleiterscheinung der Zugunruhe von Tieren. Ein Mensch würde die bei der Zugunruhe auftretenden Gefühle vielleicht als Aufregung, Furcht vor dem Unbekannten und Vorfreude beschreiben.

Bis zu diesem Sonntag im Dezember war Ursulas wachsende Wanderlust noch von dem Drang im Zaum gehalten worden, abends in die sichere Gesellschaft von Mama, Papa und dem Rest der Kolonie zurückzukehren. Aber heute war es anders. In ihrem tollen neuen Frack, aufgeputscht von Adrenalin und umgeben von ihrer wuseligen Clique näherte sich Ursula dem Wasser. Schulter an Schulter wälzte sich die Schar drängelnder Heranwachsender vorwärts, den Blick aufs Meer gerichtet, kaum einmal zurück. Sie waren keine Küken mehr, aber auch noch nicht ganz erwachsen, und jetzt standen sie an der Schwelle zum großen Unbekannten.

Wie menschliche Heranwachsende, die flügge werden und sich in die große weite Welt aufmachen, musste sich auch Ursula vier Prüfungen stellen. Sie musste schnell lernen, sich selbst mit Nahrung zu versorgen, und sichere Plätze zum Ausruhen suchen. Sie musste lernen, sich in der sozialen Dynamik ihrer Gruppe zurechtzufinden. Sie musste lernen, wie Partnerwerbung funktioniert und wie man mit potenziellen Geschlechtspartnern kommuniziert. Und all das ohne ihre Eltern, allein, mitten im offenen Meer.

Aber keiner dieser Meilensteine eines Pinguinlebens könnte stattfinden, wenn Ursula nicht am Leben wäre. Die erste große Prüfung ist, am Leben zu bleiben. Wenn das nicht klappt, ist die Zukunft eines jungen Lebewesens zu Ende, noch ehe sie begonnen hat. Und Ursulas erste Herausforderung war, dem Tod ins Auge zu blicken – und zu überleben.

Für die adoleszenten Pinguine, die alljährlich von der Insel Südgeorgien in die Welt ziehen, ist der erste Tag weg von Zuhause im wahrsten Sinne des Wortes eine Frage von oben schwimmen oder untergehen. Wie adoleszente Tiere überall auf der Welt, sind die jungen Pinguine unerfahren und unvorbereitet. Sie merken nicht, dass Prädatoren gefährlich sind, bis es zu spät ist. Selbst wenn sie die Gefahr bemerken, wissen sie oft nicht, was sie tun sollen. Ihr fehlendes Knowhow und der fehlende Schutz durch die Eltern macht Heranwachsende zu Zielscheiben. Sie sind leichte Beute par excellence.

Ursulas erste Erfahrung im Wasser sollte gleichzeitig ihre erste Begegnung mit dem sein, was sich darunter verbarg. Und das war monströs. Überall, wo Pinguine brüten, lauern vom Ufer entfernt Raubtiere mit Kiefern so groß, dass sie leicht einen Basketball schlucken könnten.3 Stellen Sie sich vor, wie diese mächtigen Kiefer, mit Zähnen besetzt, die denen eines Tigers ebenbürtig sind, auf den tennisballgroßen Kopf eines Pinguins zurasen. Sie gehören zu einem der besten Jäger der Erde, dem Seeleoparden. Der Seeleopard ist ein stromlinienförmiges, 500 Kilogramm schweres Muskelpaket und ein hervorragender Pinguinjäger. Mit kühler Präzision schnappt er sich die Vögel und schlägt sie wieder und wieder auf die Wasseroberfläche, dass die Federn nur so fliegen. Eine grausige Vorstellung, und ein Seeleopard verputzt zehn und mehr Pinguine in einer Mahlzeit. Wie ihre Namensvettern aus der Katzenfamilie sind Seeleoparden Lauerjäger, was bedeutet, dass sie im Verborgenen auf Beute warten. Sie platzieren sich wie Unterwasserminen entlang der Küstenlinie oder pirschen gerade so außer Sichtweite entlang der Kanten von Eisschollen. Manchmal tarnen sie sich als Treibgut, lassen sich regungslos von den Wellen tragen und können ihre arglosen Opfer umso leichter überraschen. Alle heranwachsenden Pinguine, Ursula eingeschlossen, müssen diesen potenziell tödlichen Gassenlauf durchmachen und überstehen. Wenn sie nicht ins Wasser springen, können sie nicht voll und ganz erwachsen werden. Aber wenn sie es nicht schaffen, die Seeleopardenphalanx zu durchbrechen, dann wird der erste Tag vom Rest ihres Lebens zugleich ihr letzter sein. Hinter die Linie der Seeleoparden zu gelangen, ist ein absoluter Härtetest für die Pinguine, im wahrsten Sinne des Wortes »hopp oder top«.

Wenn Sie in diesem entscheidenden Moment vor Ort gewesen wären, hätten Sie vielleicht bemerkt, dass Ursula und zwei ihrer Freunde ein Accessoire besaßen, das sie von ihren anderen Altersgenossen unterschied. Auf ihrem Rücken trugen sie mit schwarzem Band befestigte winzige Sender, die dafür programmiert waren, die bislang unbekannten Informationen zu übermitteln, wohin die Pinguine an dem Tag und in den Wochen, nachdem sie das Nest verlassen haben, gehen. Die überraschenden Ergebnisse sollten alles, was Biologen bislang über Pinguinverhalten wussten, in ein ganz neues Licht rücken. An dem internationalen Forschungsprojekt unter der Leitung von Klemens Pütz, dem wissenschaftlichen Direktor des in Zürich ansässigen Antarctic Research Trust, wirkten Wissenschaftler aus Europa, Argentinien und von den Falklandinseln mit.4 Ein Teil des Stiftungsvermögens stammt von Ökotouristen, die als Dank für ihre Spende den mit Sendern ausgerüsteten Tieren Namen geben durften.

Darum wissen wir, dass am Sonntag, den 16. Dezember 2007, ein Pinguin namens Ursula ins südliche Polarmeer sprang. Die Signale aus ihrem Sender zeigten ganz genau, wie sie zuvor zum Strand gewatschelt war. Von den acht Pinguinen, die das Team von Klemens Pütz auf der Insel Südgeorgien markiert hatte, brachen an diesem Tag drei in Begleitung einer Schar von Altersgenossen auf: Ursula, Tankini und Traudel.

Wie Abiturienten nach ihrer Abschlussfeier waren Ursula und ihr Jahrgang – die südgeorgische Königspinguin-Klasse von 2007 – körperlich ausgewachsen und bereit zum Start ins Leben. Doch ganz wie ihre menschlichen Gegenstücke hatten sie wenig Erfahrung mit der echten Welt da draußen und waren noch unreif, was ihr Verhalten angeht.

Plötzlich tauchten sie. Eine kurze Biegung ihres Rückens, ein Schlag mit den Flügeln, und Ursula stieß geradewegs in die Gefahrenzone vor, das Revier der Seeleoparden. Das Einzige, was ihre Pinguineltern und die Biologen, die sie besendert hatten, tun konnten, war dabeizustehen und zuzusehen, wie sie davonschwamm.

Von Natur aus verwundbar

Von den Tausenden jugendlicher Königspinguine, die Jahr für Jahr in die von Seeleoparden kontrollierten Gewässer springen, kommen viele nicht wieder lebend heraus.5 Manchmal liegt die Überlebensrate gerade mal bei vierzig Prozent. In anderen Jahren ist sie höher, doch die genauen Zahlen sind schwer zu berechnen. Ganz gleich, wie hoch sie im Einzelfall sind, die ersten Tage, Wochen und Monate bergen für Pinguine, die gerade flügge geworden sind, extreme Risiken.

Zu erkennen, wie gefährlich das Leben für heranwachsende und gerade ausgewachsene Tiere auf dieser Erde ist, ist ernüchternd. In der Wildnis verunglücken, ertrinken, verhungern aus dieser Altersgruppe mehr als aus der Gruppe der Erwachsenen.6 Sie haben weniger Erfahrung und werden von ihren älteren, größeren Gruppenmitgliedern in gefährliche Situationen gebracht. Von Beutegreifern werden sie bevorzugt angegriffen und getötet.

Wenn Heranwachsende der Spezies Mensch das Nest verlassen, haben sie zum Glück nicht die erschütternd hohe Sterberate (Mortalität) von Königspinguinen.7 Aber dennoch kommen traumatische Verletzungen und Todesfälle unter jungen Erwachsenen sehr viel häufiger vor als unter älteren. Zwischen der Kindheit und der Adoleszenz erhöht sich die Sterberate in den Vereinigten Staaten um 200 Prozent.8 Fast die Hälfte der Todesfälle unter Heranwachsenden sind die unbeabsichtigten und tragischen Folgen von Unfällen – Autounfällen, Stürzen, Vergiftungen, Ertrinken, Schusswaffengebrauch.

Heranwachsende fahren schneller Auto als Erwachsene und sie sind im Allgemeinen draufgängerischer.9 In ihrer Altersgruppe ist die Kriminalitätsrate am höchsten, und die Wahrscheinlichkeit durch Mord und Totschlag umzukommen, ist bei ihnen fünfmal höher als in der Gruppe der Über-35-Jährigen. Nicht Kleinkinder, die die Finger in die Steckdose stecken, oder Erwachsene, die in der Elektroindustrie arbeiten, erleiden die meisten tödlichen Stromunfälle, sondern Heranwachsende. Junge Menschen zwischen 15 und 24 sterben häufiger durch Ertrinken als Kinder und Kleinkinder unter fünf Jahren. Verglichen mit anderen Personengruppen kommt es bei Heranwachsenden häufiger zu Suiziden, psychischen Störungen und Suchterkrankungen. Und die Wahrscheinlichkeit, sich bis zur Bewusstlosigkeit oder gar zu Tode zu saufen, ist bei jungen Erwachsenen wesentlich höher als bei älteren.

Zwar gibt es Unterschiede zwischen sozialen Schichten und geografischen Regionen, aber global betrachtet, tritt die Hälfte aller Neuerkrankungen an sexuell übertragbaren Krankheiten bei Heranwachsenden auf. Für sie ist auch die Gefahr sexueller Übergriffe am höchsten. Die Haupttodesursache für 15- bis 19-jährige Mädchen weltweit stellen immer noch schwangerschaftsbedingte Komplikationen dar.

Die Adoleszenz kann grauenhaft sein, aber die biologischen Vorgänge, die für die Gefahren und die Verwundbarkeit mitverantwortlich sind, regen auch zu Kreativität und leidenschaftlichem Tun an, wie Robert Sapolsky, der Stanforder Neurowissenschaftler und Evolutionsbiologe, in seinem Buch Behave (deutsch: Gewalt und Mitgefühl. Die Biologie des menschlichen Verhaltens) anschaulich erklärt:10

Adoleszenz und frühes Erwachsenenalter sind die Lebensabschnitte, in denen die Wahrscheinlichkeit am größten ist, dass man tötet, getötet wird, sein Zuhause für immer verlässt, eine Kunstform erfindet, am Sturz eines Diktators mitwirkt, ein Dorf »ethnisch säubert«, sich um Bedürftige kümmert, drogenabhängig wird, außerhalb seiner Gruppe heiratet, die Physik verwandelt, einen scheußlichen Modegeschmack entwickelt, sich bei Freizeitaktivitäten das Genick bricht, sein Leben Gott widmet, eine alte Dame beraubt oder die Überzeugung gewinnt, die ganze Geschichte habe darauf hingearbeitet, diesen Moment zum bedeutendsten, gefährlichsten und verheißungsvollsten zu machen, der von einem verlangt, sich zu engagieren und etwas zu verändern.

Von naiv bis risikobewusst

Ursula hatte natürlich keine Ahnung, was sie da draußen erwartete. Und selbst wenn, hätte sie in ihrem jugendlichen Leichtsinn vielleicht geglaubt, es werde ihr schon nichts passieren. Aber eigentlich sind alle Königspinguine naiv, wenn sie sich auf den Weg machen. Wir verwenden das Wort »naiv« hier mit Absicht und ohne Wertung, denn es ist ein Begriff, der in der Wildbiologie einen bestimmten Entwicklungsstand kennzeichnet: Jungtiere, die zum ersten Mal das Nest oder den Bau verlassen, sind unerfahren, ahnungslos, auch im Umgang mit Fressfeinden oder Prädatoren (daher lautet der englische Fachterminus predator naïve).11

Für eine junge Gazelle bedeutet das, dass sie nicht weiß, wie ein Gepard riecht und wie er sich bewegt. Für einen jungen Lachs bedeutet es, dass er nicht weiß, dass Kabeljaue in der Nacht langsamer jagen und sich auf ihren Geruchssinn und ihr Gehör verlassen, um ihre Beute aufzuspüren. Tagsüber, wenn sie etwas sehen können, schlagen sie schneller zu. Seeotter sind in diesem Sinne naiv, bis sie zum ersten Mal auf einen Weißen Hai treffen, und Murmeltiere, wenn sie selbstvergessen vor ihrem Bau herumtoben, obwohl sich Kojoten in der Nähe aufhalten. Für kleine westafrikanische Diana-Meerkatzen äußert sich die Unerfahrenheit im Umgang mit Fressfeinden darin, dass sie noch nicht zwischen den Geräuschen unterscheiden können, die jagende Adler, Leoparden und Schlangen verursachen. Sie können nicht abschätzen, ob ein Angriff von oben, von unten oder von einem Ast kommt.

Dieselbe Art der Naivität findet man auch bei Heranwachsenden der Spezies Mensch, wenn sie ohne Erfahrung in die Welt hinaus ziehen. Sie erkennen Gefahren noch nicht. Aber selbst wenn sie sie erkennen, wissen sie oft nicht, wie sie damit umgehen sollen. Diese Unerfahrenheit kann für junge Menschen genauso tödlich enden wie für junge Pinguine.

Einem in diesem Sinne naiven Teenager, der zu einer Party aufbricht, oder einem jungen Erwachsenen, der in eine neue Stadt umzieht, lauert kein Seeleopard am Strand auf, aber die Gefahren, denen er oder sie begegnen kann, sind nicht weniger tödlich: ein Auto, das ins Schleudern kommt, ein Aufnahmeritual mit Alkoholexzess, eine depressive Phase oder ein übergriffiger Erwachsener.

Es erscheint geradezu paradox, dass die verletzlichsten und am wenigsten vorbereiteten Individuen in die riskantesten nur denkbaren Situationen hineingeraten. Doch tödlichen Gefahren ausgesetzt zu sein, während man noch nicht ganz ausgereift ist, ist für Heranwachsende und junge Erwachsene, egal welcher Spezies, völlig normal. Das gilt für die junge Meeresschildkröte, die sich gleich nach dem Schlüpfen ins Meer stürzt, ohne ihren Eltern je begegnet zu sein, ebenso wie für den Afrikanischen Elefanten, der zwölf Jahre lang von seiner mehrere Generationen umfassenden Großfamilie aufgezogen wurde. Jedes Tier verliert irgendwann den elterlichen Schutz und muss sich selbst der gefährlichen Welt stellen. Um zu überleben, muss es seine Feinde kennenlernen. Damit steht jede und jeder Heranwachsende vor dem Paradox: Für Erfahrung braucht man Erfahrungen. Anders herum formuliert: Wenn du sicher leben willst, musst du Risiken auf dich nehmen. Und klar ist auch, manche Risiken kann man nicht auf sich nehmen und aus ihren Lektionen lernen, wenn die besorgten Eltern zu nahe dran sind.

Für Menschen stellt dieses Paradox einen Horror der Elternschaft dar. Eltern können ihre Kinder nicht immer vor Gefahren schützen, sie können sie manchmal nicht einmal vor ihnen warnen. Und dass sich die Heranwachsenden durch risikoreiches Verhalten offenbar unnötig in Gefahren bringen, stresst Eltern noch zusätzlich. Ob nun Sechstklässler zusammen mit ihren Freunden das dünne Eis auf einem Teich testen oder Schülerinnen der Mittelstufe, zurechtgemacht wie 22-Jährige, versuchen, in einen Nachtclub zu kommen, Heranwachsende bringen sich häufig mit Absicht selbst in Gefahr, sehr zum Schrecken und manchmal auch zur Verzweiflung ihrer Eltern. Die Gefahren, denen sie sich aussetzen – draufgängerisches Autofahren, Alkohol- und Drogenmissbrauch, ungeschützter Geschlechtsverkehr – , verschlägt Erwachsenen manchmal die Sprache. Selbst wenn die Risiken, die die jungen Leute absichtlich eingehen, etwas banaler sind, wie ein Lagerfeuer mit Freunden im Wald oder heimlich mit jemandes Motorrad fahren, das ist der Stoff, aus dem die elterlichen Sorgen und nächtlichen Ängste bestehen. Die Gefahren der Welt nicht zu kennen, ist das eine für ein Kind. Aber zu wissen, dass etwas gefährlich ist, es zu unterschätzen und es bewusst näher an sich herankommen zu lassen, ist etwas ganz anderes. Heranwachsende geraten nicht nur aus Versehen in Schwierigkeiten, sie stellen sich ihnen vielmehr breitbeinig in den Weg – was manchmal komisch, manchmal ärgerlich und manchmal tragisch ist.

Das Verhalten scheint unerklärlich zu sein und dem Überlebensinstinkt sogar zuwiderzulaufen. Evolutionär gesehen erscheint es wenig sinnvoll, sich Risiken auszusetzen, die tödlich ausgehen könnten. Und doch ist dieses merkwürdige Verhalten nicht auf Heranwachsende der Spezies Mensch beschränkt, man findet es überall in der Tierwelt.12 In der Adoleszenz verspotten Fledermäuse räuberische Eulen, und Erdhörnchen hüpfen um Klapperschlangen herum. Nicht ausgewachsene Lemuren klettern auf die dünnsten Äste und adoleszente Bergziegen erklimmen die höchsten Felsvorsprünge. Weit weg von ihren Eltern schlendern junge Gazellen auf hungrige Geparden zu, und heranwachsende Seeotter schwimmen hinaus zu den Weißen Haien.

Die Erforschung der Lebensgeschichten dieser Tiere enthüllt vielleicht, dass das scheinbar unlogische Verhalten im Gegenteil dazu beiträgt, dass sie länger leben, besser zurechtkommen und mehr Nachwuchs haben. Bezogen auf das Risikoverhalten lautet die erste Frage also: Gehen andere Tiere in der Adoleszenz Risiken ein? Und dann: Was bringt ihnen das Eingehen von Risiken in der Adoleszenz?

Evolutionsbiologen werden in dieser Herangehensweise eine Anwendung von Nikolaas Tinbergens berühmten »vier Fragen« erkennen. Tinbergen, ein niederländischer Verhaltensforscher, der im Jahr 1973 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhielt, war der Auffassung, man könne tierisches Verhalten nicht vollständig verstehen, wenn man es rein mechanistisch oder mit dem Alter, in dem es stattfindet, erklären wolle. Ihm war es immer wichtig, Verhalten artenübergreifend zu betrachten und seinen biologischen Nutzen zu ermitteln. Für das menschliche Verhalten ist es hilfreich, zwischen den Risiken zu unterscheiden, in die sich Teenager aus Naivität begeben, und solchen, die sie gezielt aussuchen. Beide bringen Nutzen für die Zukunft, wenn man sie überlebt. Wenn Sie am Ende von Teil I angekommen sind, werden Sie den Unterschied verstehen. Sie werden verstehen, warum dieser Lebensabschnitt bei allen Spezies so gefährlich ist. Und, was entscheidend ist, Sie werden verstehen, warum das Eingehen von Risiken für mehr Sicherheit kein Paradox ist. Genau genommen ist es für Heranwachsende und junge Erwachsene aller Tierarten auf der Erde absolut notwendig.

Doch um darüber reden zu können, wie man für die eigene Sicherheit sorgt, müssen wir uns zunächst zu den Wurzeln des Schreckens begeben. Diese Wurzeln sind tief in der uralten Verbindung von Körper und Geist verankert. Die Geschichte der Sicherheit beginnt damit, dass wir die Natur der Angst verstehen.