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Kaana – Wagen und Reiter Es mag sein, dass es Welten gibt, die auf eine andere Art geschaffen wurde, als die unsere. Doch es mag sein, dass auch dort Menschen und Tiere leben, die den unseren sehr gleichen. Das Hiron – Gebirge dient einem ganz besonderen Menschenschlag als Heimat. Jäger, Krieger und Handwerker und einer von ihnen ist Joshara. Josharas Kunst ist durch das Eisen, den Stahl und die Esse begründet und das macht ihn selbstbewusst. So legt er sich eines Tages mit seinem Clansvater an und muss kurz darauf fliehen. Er beschließt hinaus aus den Bergen ins grüne Land zu fliehen, dorthin wo die Wagen der Sippen durch das Meer aus Gras ziehen, wundervolle Pferde züchten, ihre Rinder hüten und ununterbrochen Krieg einander und gegen die Städte führen. Dort erhofft er sich als Schmied eine Zukunft, denn die Reiter der Sippen, die sich ob ihrer Traditionen Kentauren nennen, haben möglicherweise einen hohen Verschleiß an guten Waffen. Nichts bedeutet dem Volk der Steppe mehr, als vollendete Reitkunst und die perfekte Beherrschung ihrer Waffen. Josharas Flucht führt ihn zum Wagen der 4. Sippe, die unter der Führung Kazars einen verzweifelten Kampf darum führt, die verloren gegangene Ehre wieder zu gewinnen. Joshara gelingt, was nie zuvor jemandem gelungen ist. Er wird ein Teil der Steppe, er wird in die 4. Sippe aufgenommen und entwickelt sich zum Reiter und Krieger. Sein Weg führt in bis in das legendäre Kampfspiel Bus-Ka-Shi wo er bis unter die besten Reiter der Steppe gelangt. Erst ganz am Ende findet er in Kazars Sohn Joel doch noch seinen Meister und Bezwinger.
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Seitenzahl: 544
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Band 1
Impressum
Texte: © Copyright by Rudolf Jedele
Umschlag:© Copyright by Rudolf Jedele
Verlag:HCC UG (haftungsbeschränkt)
Parkstraße 5387439 Kempten
Druck:epubli ein Service der
neopubli GmbH, Berlin
ISBN 978-3-****-***-*
Printed in Germany
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Hiron - Gebirge ragt als ein gewaltiges Massiv auf, das sich mit seinen schneebedeckten Gipfeln bis in die Wolken des Himmels erhebt und einen schier unüberwindlichen Grenzwall zwischen das Land im Süden und das Land im Norden legt.
Aus der Ferne betrachtet ein unwirtliches Land, schroff und abweisend und jeder Art von Leben scheinbar feindlich gesinnt. Doch wenn man, von Süden oder Osten kommend, die ersten Pässe erst einmal überwunden hatte, entdeckte man, dass es zwischen diesen Bergriesen sehr wohl auch angenehme Plätze gab und jede Menge Leben. Angepasstes Leben zwar, starkes Leben, aber auch Leben im Überfluss.
In den Tiefen der wasserreichen Täler standen dichte Wäldern die hauptsächlich aus Eichen, Buchen, Ahorn und Espen bestanden, dort lebte jede Art von Hoch- und Niederwild, die man sich nur vorstellen konnte und auch an Raubzeug war kein Mangel. Die Bären waren riesig, die Wölfe groß und stark. Der silberne Löwe bot in seiner Geschmeidigkeit einen prächtigen Anblick.
Die Bäche und Flüsse waren voll von Fischen, aber auch Krebse und Reptilien gab es im Überfluss.
Die Vielzahl der Vögel war beeindruckend, ebenso ihre Farbenpracht.
Stieg man höher, wurde aus dem Laubwald erst Mischwald, dann Nadelwald und je höher man kletterte, desto niedriger und spärlicher wurde der Bewuchs. Auch die Welt der Tiere veränderte sich, je höher man stieg. Die Raubtiere wurden weniger und das Tierreich wurde mehr und mehr und bis hinauf ins ewige Eis von Mufflons und Steinböcken, von Gämsen und wilden Ziegen beherrscht.
In den Tälern und auf den unteren Hängen lebten aber nicht nur Tiere und Pflanzen, hier gab es auch Menschen. Nicht viele und sie lebten in kleinen Gemeinschaften, in Clans, weit verstreut in Höhlen und aus Holz und Stein gebauten Hütten, die ebenfalls eher Höhlen als richtigen Häusern glichen.
Auch die Menschen waren dem Leben in den Bergen bestens angepasst. Selten mehr als mittelgroß, schlank und drahtig und von oftmals geradezu unfassbarer Zähigkeit. Vor allem aber waren sie bei aller Drahtigkeit mit großer Kraft ausgestattet.
Die Menschen der Berge hatten schwarzbraunes bis schwarzes Haar und sie alle sahen einander auf den ersten Blick sehr ähnlich. Erst, wenn man genauer hinsah, erschlossen sich einem die durchaus vorhandenen individuellen Unterschiede.
In den Bergen lebte man im Wesentlichen von der Jagd und man musste wohl weit laufen, ehe man irgendwo bessere Jäger fand, als bei den Clans der Berge. Die Menschen Hirons lebten abgeschieden von allen Handelsplätzen der bekannten Welt und hatten vermutlich gerade deshalb in mancherlei Bereichen die Handwerkskunst auf ein erstaunlich hohes Maß entwickelt. Insbesondere ihre Waffen für Jagd und Kampf waren von allerbester Qualität, aber auch alle Werkzeug und wundervoller Schmuck kam aus den Werkstätten der Clans.
Der Handel mit der Außenwelt wurde fast ausschließlich vom Anführer eines Clans – dem Clansvater – übernommen und zumeist war dieser Clansvater ein Mann ohne nennenswerte eigene Fertigkeiten. Doch als wichtigster Händler eines Clans waren seine Funktion und damit auch seine Position im Laufe der Generationen so wichtig geworden, dass er unverzichtbar schien. Aus dieser Unverzichtbarkeit aber schöpfte ein Clansvater auch Macht und nicht immer wurde die Anhäufung von Macht auch zum Wohle eines Clans eingesetzt.
In seltenen Fällen konnte es geschehen, dass ein besonders begabter Handwerker oder Künstler seine Erzeugnisse auch selbst auf den Markt brachte, was von seinem Clansvater aber immer nur ungern gesehen oder – wenn möglich - auch unterbunden wurde. Doch manche waren stur genug sich durchzusetzen und so kamen ab und zu auch etwas Aufklärung und neue Impulse in den Bergen an.
Die Rollen der Geschlechter waren ganz klar verteilt. Männer gingen auf die Jagd oder übten ein Handwerk aus und versorgten so die Familie. Frauen waren in ihrer Entfaltung auf den heimischen Bereich begrenzt und man sah es nicht gerne, wenn sich eine Frau oft und lange außerhalb ihres Heims aufhielt. Die Gefahr, dass eine Frau außerhalb ihres Heims entführt wurde, war einfach zu groß.
Ebenso waren die Formalien der Bindungen von Männern und Frauen aneinander ganz klar geregelt. In den meisten Clans war das Verhältnis von Männern zu Frauen so ausgewogen, dass man beinahe von einem eins zu eins – Verhältnis ausgehen konnte. Aus diesem Grund war es für einen Jäger oder Handwerker üblich, nur eine Frau zu haben und mit dieser auch monogam und wenn möglich treu zusammen zu leben. Selten hatte eine Familie mehr als zwei Kinder. Wer drei hatte galt als vermögend, wer mehr als drei Kinder aufziehen konnte, denn nannte man reich. Töchter waren wertvoller als Söhne, denn Töchter brachten eine Mitgift, während Söhne nur Kosten verursachten.
Ein Mann und eine Frau taten sich nur selten aus Liebe zusammen und wenn, dann war es meist der Mann, der solche Gefühle empfand. Man tat sich zusammen, weil man hoffte gemeinsam leichter zu leben, als allein. Deshalb bildeten die meisten Paare Nutzgemeinschaften du zum Nutzen gehörte nun mal auch die Fortpflanzung und zur Fortpflanzung der Sex. Gefühle wie Zuneigung waren dazu nicht unbedingt erforderlich.
Die Regeln des Zusammenlebens waren uralt und von den Ahnen aus dem Tiefland, der Steppe mitgebracht worden.
Joshara war auf der Flucht. Er floh vor seinen eigenen Leuten, er floh aus seinem eigenen Land und aus seinem bisherigen Leben. Er floh in eine ungewisse Zukunft und das Ziel seiner Flucht war durch eine nahezu vergessene Legende bestimmt worden.
Joshara war ein echter Mann der Berge. Seine Heimat war das Hiron – Gebirge, doch nun war er auf der Flucht und im Begriff die Welt, in der er geboren worden war, für immer zu verlassen.
Niemand wusste zu sagen, was nördlich des Hiron – Gebirges lag, man kannte nur das Land im Süden. Dort lag zunächst Kaana, die Steppe.
Ein weites, fruchtbares Grasland, von zahllosen Bächen und Flüssen durchzogen, durchbrochen von kleinen Hainen und ausgedehnten Wäldern, die Heimat zahlloser Wildtiere, die in riesigen Herden und starken Rudeln, aber auch als wilde und gefährliche Einzelgänger das Land durchwanderten.
Ein Land, das von einem regenreichen Frühjahr, einem langen und heißen Sommer, einem milden Herbst und einem klirrend kalten und sturmreichen Winter genauso geprägt wurde, wie von seiner Unnahbarkeit gegen alles, was nicht Kaana war.
Die Steppe begann am Fuß des Hiron – Gebirges. Im Osten begrenzte die Wüste von Zeparana die Steppe, im Süden war es der mächtige Strom Maron. Im Westen aber endete Kaana im Nirgendwo, denn niemand war jemals so weit gereist, dass er das Ende der Steppe erreicht hätte. Man munkelte, dass dort ein gewaltiges Wasser lag, ein Ozean, in dem sich fürchterliche Ungeheuer tummelten und von dem man allein schon deshalb besser weg blieb.
Die Steppe wurde beherrscht vom Volk Kaana, den Reitern der Steppe.
Josharas Ziel war es, von den Bergen hinab zu steigen, die Steppe zu erreichen und sich dem Volk Kaana anzuschließen, denn die fast vergessene Legende besagte, dass vor unendlich langer Zeit die Bewohner der Berge aus der Kaana herauf gewandert waren, um eine neue Bestimmung zu finden. Die Wurzeln der Bergbewohner lagen also in der Steppe.
Joshara hatte sein Nachtlager unter einer ziemlich weit auskragenden Felswand aufgeschlagen, die ihm ein wenig Schutz vor der Witterung bot. Obwohl der Winter schon fast zu Ende war und der Fön und damit der Beginn der Schneeschmelze jeden Tag eintreffen konnten, schneite es seit Tagen wie verrückt und Joshara war sogar froh um diesen Schnee. Verfolger waren hinter ihm her und diese würden sich schwer tun, seiner Spur zu folgen, wenn ständig Neuschnee darüber lag. Zum ersten Mal seit mehr als dreißig Tagen hatte Joshara an diesem Abend ein kleines Feuer angezündet und nun brieten zwei, auf Stecken gespießte, magere Kaninchen über der Glut. Die lieben Tierchen waren ihm praktisch in die Hände gesprungen und Joshara hatte einfach nicht nein zu diesem Zufall sagen können. Er wagte es ein Feuer zu machen, denn er war sich sicher, dass nur noch eine der beiden Verfolgergruppen hinter ihm her war und er war sich auch sicher, dass sein Vorsprung mehr als einen Tagesmarsch betrug.
Neben den Kaninchen stand ein kleiner Topf auf der Glut und in diesem Topf brodelte heißes Wasser, in das Joshara Moosbeeren, Flechten und ein paar dürre Blätter von Sträuchern geworfen hatte, um sich eine Art Tee zu brauen.
So genoss er an diesem Abend einen dreifachen Luxus, wie er ihn seit Beginn seiner Flucht nur selten hatte genießen können.
Der Tee war fertig, Joshara schöpfte sich einen Becher voll ab und stellte den Becher zum Abkühlen in den Schnee neben sich, dann beobachtete er weiterhin, wie die beiden Kaninchen langsam zu garen begannen.
Wie jeden Abend holte ihn die Erinnerung ein, sobald sein Körper etwas zur Ruhe kam.
Eigentlich war Josharas Leben in ganz geregelten Bahnen verlaufen. Er war als Sohn eines angesehenen Jägers im Clan der Wolfshöhle aufgewachsen und hatte sich, ungeachtet aller Warnungen in die schöne Tochter des Nachbarclans verliebt. Azawa zählte zu den schönsten jungen Frauen des Clans und es war ihm tatsächlich gelungen, sie zu seiner Gefährtin zu machen. Mehr noch, er schaffte es mit ihr – welch ungebührliche Fruchtbarkeit – drei wundervolle Töchter zu zeugen. Töchter aber waren in den Clans der Berge ihr Gewicht sozusagen in Gold wert.
Joshara war also reich gewesen. Märchenhaft reich sogar. Doch trotz seines Reichtums hatte er nie abgehoben. Er war ein würdiger Sohn seines Vaters als Jäger geworden. Einer der besten Jäger seines Clans, doch weit mehr als die Jagd, hatte ihn schon immer alles interessiert, was man aus Metall herstellen konnte, deshalb hatte er auch das Handwerk des Schmiedes erlernt. Schon in jungen Jahren hatte man von ihm als dem besten Schmied gesprochen, der jemals den Menschen der Berge geboren worden war. So war aus Joshara schon sehr früh ein weit und breit geachteter und geschätzter Mann geworden, dessen Wort man auch außerhalb seines Clans hörte. Ein Mann und ein Künstler des Schmiedehandwerks, dessen Ruf sogar bis hinunter in die Wüstenstadt Zeparana gedrungen war. Als derart geachteter und wichtiger Mann war er auch bereits zweimal in der Stadt gewesen, doch ein drittes Mal, so sagte er immer wieder, zog es ihn nicht dorthin.
Josharas Leben war immer gut gewesen, doch das änderte sich grundlegend, als er eines Tages auf der Suche nach Erzen durch die Berge gestreift war und eine Entdeckung machte. Eine Entdeckung, die einfach so vieles, fast alles über den Haufen warf, was ihm in seinem bisherigen Leben wichtig gewesen war. Er fand einen Gesteinsbrocken, der keinem Material glich, das er bis dahin in den Händen gehalten hatte. Ein etwa faustgroßer Brocken, der ihm durch Zufall in die Hände geraten war. Schon das Gewicht des Steins sagte ihm, dass es sich wohl um metallhaltiges Gestein handeln musste, um Erz. Er untersuchte den Brocken näher und erkannte, dass sich ungewöhnlich viele dünne Adern durch den Stein zogen, die – obwohl eigentlich von einem ungewöhnlichen rotbraun - sehr rasch einen silberhellen Glanz bekamen, wenn man ein wenig daran herum kratzte.
Joshara tat nach einigem Überlegen mit dem Stein das, was er auch mit jedem anderen Erzbrocken getan hätte:
Er warf ihn am Abend in sein Feuer und hoffte, dass die Glut die unterschiedlichen Materialien des Erzes trennen würde.
Seine Überlegung war richtig gewesen, denn am nächsten Morgen fand er in der Asche die Schmelze eines silbern glänzenden Metalls, das bedeutend härter war, als alles, was er je zuvor in seinen Händen gehalten hatte. Joshara hatte das Eisen entdeckt.
Joshara war, wie es sich für einen guten Handwerker geziemt, sofort von seiner Entdeckung begeistert. Er sammelte eine größere Menge von den rotbraunen Steinen, die an dieser Stelle reichlich herum lagen und machte sich auf den Weg nach Hause. Er schmolz das Erz und trennte Mineralien und Metall voneinander und hielt zwei Tage später einen doppelt faustgroßen Klumpen reinen Eisens in seiner Hand. Ohne zu zögern begann er das Material als Schmied zu sehen und versuchte es zu bearbeiten. Nach einigen Tagen und vielerlei Experimenten hatte er es geschafft, aus einem Teil des Metallklumpens eine Messerklinge zu formen und dann, als er diese neuartige Klinge geschärft hatte, besaß er ein Messer, das allen anderen Messern, die er bis dahin aus Bronze und Messing hergestellt hatte, bei weitem überlegen war.
Joshara war begeistert von seiner Entdeckung und zugleich wurde ein einsamer Mann aus ihm.
Zwei Jahre lang sprach er mit niemand über seine Entdeckung und auch nicht über die damit verbundenen weiteren Erfindungen. Er versuchte und experimentierte immer weiter und dann, nach gut zwei Jahren - Joshara war mittlerweile knapp über zwanzig Sommer alt – hatte er gelernt, wie er durch heißeres Feuer und die Beigabe von Mineralien immer besseres Eisen machen konnte und er nannte dieses Eisen ab sofort Stahl. Danach begann er diesem Stahl andere Metalle beizumischen und nun konnte er harten und spröden Stahl herstellen oder auch weicheren und geschmeidigen Stahl, ganz nach Bedarf. Er lernte, dass man weichen Stahl besser schärfen konnte, als harten und dass der harte Stahl die Schärfe besser hielt als der weiche. Aber in vielen Fällen stellte eine Verbindung aus hartem und weichem Stahl die optimale Lösung dar.
Am Ende seiner Experimentierzeit besaß er eine Reihe von eisernen Waffen und Werkzeugen. Er hatte mehrere Messer, darunter ein wundervolles Jagdmesser dessen Klinge fast eine Elle lang war, zwei ebenso lange Speerspitzen, zwei Dutzend Pfeilspitzen, eine Axt und ein prächtiges, langes, gerades und zweischneidiges Schwert geschmiedet. Dazu einige äußerst effektive Werkzeuge, von einer hauchdünnen und extrem spitzen Nadel beginnend bis zu einer stabilen Zange, mit der man auch weiß glühende Metallteile aus der Schmiedeesse holen und zur Bearbeitung auf den Amboss legen konnte.
Der Stahl, so hatte er entdeckt, war weitaus härter und zugleich viel zäher als Bronze je sein konnte. Stählerne Klingen konnte er viel dünner ausschmieden und danach so scharf schleifen, dass er seinen Bart mit ihnen rasieren konnte, ohne auch nur einen einzigen Kratzer in seiner Haut zu hinterlassen. Doch wenn er unachtsam war, schnitt er sich mit diesen Klingen und die Schneide durchtrennte seine Haut und sein Fleisch so schnell und so tief, dass er rasch lernte, seine Waffen nur noch mit allergrößter Vorsicht zu benutzen.
Er zeigte niemand, was er in seiner Werkstatt hergestellt hatte. Er bewahrte das Geheimnis, denn eine düstere Ahnung sagte ihm, dass dieses Wissen und Können ihm möglicherweise nicht nur Freude und Freunde bescheren würde. Er konnte sich durchaus vorstellen, dass sowohl unter den Schmieden als auch unter den Clanführern wegen eiserner Waffen und Werkzeuge große Spannungen entstehen konnten und er konnte sich auch vorstellen, dass diese Spannungen sogar über die enge Welt des Hiron – Gebirges hinaus schwappen und selbst in Zeparana noch für Unruhe sorgen mochten. Zu Überlegen war jedes einzelne, aus Eisen hergestellt Stück der bislang gebräuchlichen Bronze.
Wer weiß, wie lange er das Geheimnis noch für sich bewahrt hätte, wäre da nicht etwas Schicksalhaftes geschehen, das sein Leben noch mehr auf den Kopf stellte und schließlich aus den Fugen kippte.
Joshara streckte sich und ließ seine Gelenke knacken, denn die kauernde Pose, mit der er an seinem Feuer saß, tat seinen von der langen und unglaublich mühsamen Flucht überanstrengten Muskeln, Bändern und Sehnen nicht besonders gut. Er griff nach dem Spieß mit den Kaninchen und probierte. Noch ein wenig Geduld musste er aufbringen, das Fleisch war noch nicht ganz durch. Dann veränderte er seine Position, suchte sich eine neue, vielleicht etwas bequemere Stellung und verfiel wieder ins Grübeln, kehrte zurück in seine jüngste Vergangenheit.
Im vergangenen Sommer war die Frau an der Seite des Clansvater Kirgis bei einem Steinschlag ums Leben gekommen.
Kirgis war zwar schon ein relativ alter Mann, schon beinahe sechzig Jahre alt, doch sein Appetit auf junge Frauen war ungezügelt. Jung und schön, anders wollte er es nicht haben. Die aktuell Schönste unter den jungen Frauen des Clans aber lebte in Josharas Haus. Azawa hatte zwar schon drei Töchtern das Leben geschenkt, doch kein Mann, der sie gehen, stehen, sich bewegen sah, konnte sich ihrer sinnlichen Ausstrahlung entziehen. Es hatte im Clan schon oft Raufereien Azawas wegen gegeben, denn Josharas Gefährtin wusste nur zu gut um ihre Wirkung auf Männer und sie genoss es über alle Maßen, diese immer wieder einzusetzen, auszuprobieren, wie weit die Männer ihretwegen gehen würden. Joshara fand das Verhalten seiner Gefährtin zwar als lästig, er war aber auch nicht gewillt, sie ohne weiteres wieder herzugeben. So lernte er im Laufe der Zeit zu kämpfen und Azawa zu behalten.
Doch dann, am Schluss verlor er sie doch.
Kirgis lüsterne Blicke waren nach dem Tod seiner eigenen Gefährtin fast zwangsläufig auf Azawa gefallen und bereits im Spätsommer, nur einen Mond nach dem Tod seiner eigenen Gefährtin, hatte Kirgis einen seiner erwachsenen Söhne zu Joshara geschickt und die sofortige Herausgabe Azawas mitsamt ihren Töchtern verlangt.
Diese Forderung war für Joshara absolut unannehmbar, denn gerade die drei Töchter stellten einen wesentlichen Teil seines Vermögens dar. Ihre Mitgift würde schon bald kommen und dann hatte er ausgesorgt bis ans Ende seiner Tage. Das konnte er nicht einfach so verschenken.
Der Clansvater aber pochte auf sein Recht, er war den Bräuchen der Bergwelt entsprechend der uneingeschränkte Herr über den gesamten Clan und konnte nach Gutdünken über die Menschen seines Clans und über ihre Fähigkeiten und Besitztümer verfügen. Ein guter Clansvater nutzte diese Privilegien niemals, aber Kirgis war kein besonders guter Clansvater. Er bestand auf seinen Rechten.
Es kam, wie es kommen musste, Joshara verlangte einen Zweikampf und wäre bei einem Sieg über den Alten selbst zum Clansvater geworden. Kirgis nahm den Kampf an, aber er ließ sich durch seinen ältesten Sohn, einen im gesamten Gebirge gefürchteten Raufbold und Schläger vertreten. Auch das war eines der Vorrechte, die ein Clansvater besaß. Kirgis Sohn wählte einen Kampf mit dem Schwert und so wurde Josharas Klinge zum ersten Mal in aller Öffentlichkeit präsentiert.
Der Kampf war nur kurz, denn Josharas Gegner mit seinem einseitig geschliffenen Bronzeschwert hatte nicht den Hauch einer Chance gegen Joshara eiserne Klinge. Mit blitzschnellen Hieben zerschlug der Schmied die Waffe seines Gegners in kleine Stücke und am Schluss, als dieser immer noch nicht aufgeben wollte, schlug er ihm mit einem fast beiläufig wirkenden waagrechten Herumschwingen seines Schwertes den Kopf von den Schultern.
Das Entsetzen unter den Beobachtern war ungeheuer. Sofort kamen die Worte von böser Magie und einer Hexenklinge auf und Josharas Sieg wurde nicht anerkannt. Azawa und ihre Töchter verließen Josharas Haus und zogen in die Hütte des alten Clanvaters.
Joshara blieb trotz allem bei seinem Clan. Wohin hätte er denn auch gehen sollen, war doch dieser Clan alles, was er als Heimat kannte. Aber seine Position wurde rasch immer schwieriger und dann unhaltbar, denn Azawa erzählte Kirgis schon während der ersten Nacht in seinem Bett von Josharas neuartigen Waffen und Werkzeugen und weckte eine enorme Gier in dem alten Mann.
Eisen, so begriff Kirgis bedeutete Macht.
Mit Eisen konnte er seine Herrschaft über das ganze Hiron – Gebirge ausdehnen und sein Herz schlug höher, als er für einen Moment an all die schönen, jungen Frauen dachte, die er dann haben konnte. Er ließ gleich am nächsten Morgen Joshara rufen und verlangte die bedingungslose Herausgabe aller Geheimnisse, die Joshara um das Eisen, seine Herstellung und Verarbeitung besaß als Wiedergutmachung für den Tod seines Sohnes. Alle Schmiede des Clans sollte von Joshara eingeweiht werden und danach sollte der Clansvater als einziger das Recht haben, zu entscheiden, wer Eisenwaffen herstellen und wer sie tragen durfte und wer nicht.
Joshara begriff die Gedankengänge des Alten nur zu gut. Er sah den Machthunger in dessen Augen glitzern und deshalb lachte er dem alten Mann ins Gesicht. Dann erklärte er:
„Ich habe deinen Sohn in einem anständigen und ehrlichen Zweikampf besiegt und der gesamte Clan war Zeuge davon, dass ich offen und ohne Heimtücke gekämpft habe. Weshalb also sollte ich Sühne leisten? Und ehe du die Geheimnisse des Eisens bekommst, beiße ich mir die Zunge ab. Du bekommst nicht mehr alles, wonach dir der Sinn steht, alter Mann!“
Nie hatte ein Mann des Clans so mit dem Clansvater zu sprechen gewagt und nie hatte ein einfacher Jäger und Handwerker den Clansvater einfach wie einen dummen Jungen stehen lassen und war davon gegangen.
Deshalb beschloss Kirgis den Schmied zu brechen.
Schon am nächsten Tag berichteten die Menschen des Clans davon, dass Kirgis während der Nacht nicht nur Azawa bestiegen und auf eine Art geritten hatte, wie sie es von Joshara nicht gewohnt war, sondern auch Josharas älteste Tochter Simala. Das Mädchen war noch keine zehn Sommer alt.
Joshara schäumte und tobte, doch er konnte nichts dagegen tun.
Wenige Tage später aber erhielt er aus dem Haus des Clansvater die Nachricht, dass Kirgis sich auch die siebenjährige Malvi und die achtjährige Tingua in sein Nachtlager geholt hatte und sie zu seinen Gefährtinnen gemacht hatte.
Damit war Joshara jede Basis entzogen, seine Töchter zurück zu gewinnen und sie mit einer guten Mitgift einem anderen Mann zu geben. Kein Mann würde eine Mitgift für eine Gefährtin geben, die in solch jungen Jahren von einem Mann wie Kirgis bestiegen worden war.
Joshara zerbrach tatsächlich. Aber anders, ganz anders, als Kirgis erwartet hatte.
Eines Abends, kurz vor Sonnenuntergang stand er plötzlich vor dem Haus des Clanvaters. Er war vollständig bewaffnet und er forderte den Alten erneut zu einem Zweikampf heraus. Kirgis hatte aus verschiedenen Gefährtenschaften vier Söhne. Einen hatte Joshara bereits getötet, die drei anderen überlebten die Herausforderung des Schmiedes ebenfalls nicht. Joshara richtete ein in den Bergen nie erlebtes Blutbad an.
Die drei Söhne des Alten starben zuerst. Danach drang er in das Haus von Kirgis ein und brachte Azawa und seine drei Töchter um und zu guter Letzt hackte er Kirgis die rechte Hand ab und kastrierte ihn.
Danach verschwand er in der Nacht und seine Flucht begann.
Wieder veränderte Joshara seine Sitzposition, dann probierte er die Kaninchen und fand, dass sie gar waren. Er aß beide Kaninchen restlos auf, dann legte er sich in seine Felle, deckte sich zu und schloss die Augen. Doch schlafen konnte er nicht. Wieder einmal nicht…
Seit jenem Abend, da er am Haus des Clansvater zum Berserker geworden war, hatte er nur noch wenig geschlafen. In der Nacht nach dem er sieben Menschen ermordet und einen alten Mann verstümmelte, hatte auch seine Flucht begonnen. Er war geflohen, weil ihm von den Menschen des Clans ein geradezu unglaublicher Hass entgegen schlug. Die Menschen sprachen immer wieder von der Hexenklinge aus weißem Eisen, in der angeblich alles Böse aus dem Wesen ihres Erzeugers gefangen war und man sprach von Joshara dem Mörder. Selbst seine bislang besten Freunde wandten sich von ihm ab und wurden zu unversöhnlichen Feinden. Es gab kaum eine Behausung im Clan, in dem kein Werkzeug oder keine Waffe aus Josharas Werkstatt zu finden gewesen wäre. Jetzt lagen alle diese Waffen und Werkzeuge im Dreck, so als wollten die Menschen des Clans mit nichts mehr etwas zu tun haben, das aus Josharas Hand stammte.
Seit jenem Vorfall war er Tag für Tag durch die Berge gezogen und hatte keine Ruhe mehr gefunden.
Kirgis Macht als Clansvater war ungebrochen. Die Verstümmelung seines Körpers durch den wütenden Schmied hatten ihn eher noch unberechenbarer werden lassen, als er es zuvor schon gewesen war und sein glühender Hass raubte Joshara selbst auf viele Tagesreisen Entfernung hin fast den Atem. Kirgis hatte zwei Jagdgruppen, zwölf gute und junge Männer, hinter ihm her gehetzt und die Jäger waren durch den Clansvater, aber auch von den Ereignissen vor und in dem Haus von Kirgis förmlich fanatisiert worden. Joshara verkörperte in ihren Augen seit jenem Abend das Böse schlechthin und das Böse musste um jeden Preis ausgerottet werden.
Zwei Jagdgruppen, ein Dutzend Jäger waren wie hungrige Wölfe und hatten ihn kaum mehr zur Ruhe kommen lassen.
Egal wie schnell er gelaufen, wie hoch er geklettert und wie tief er gesprungen war, es war ihm nie gelungen, seine Verfolger abzuschütteln oder wenigstens einen halbwegs beruhigenden Vorsprung heraus zu holen. Selbst als er kopfüber in einen Wasserfall von mehr als hundert Schritt Fallhöhe gesprungen war, hatte dies nicht dazu geführt, dass seine Verfolger die Jagd aufgaben. Sie wollten sicher sein, dass er tot war und solange sie seinen Leichnam nicht vor sich liegen sahen, ließen sie in ihren Bemühungen nicht nach.
Zugleich waren von Kirgis Boten zu allen umliegenden Clans gesandt worden, die von den Ereignissen zwischen Kirgis und Joshara berichteten und die Menschen vor dem bösen Metall warnte, mit dem Joshara sich ausgestattet hatte.
Für Joshara gab es keinen Platz mehr bei den Menschen des Hiron – Gebirges, an den er seinen Kopf hätte legen können, um ein wenig zu ruhen. Er hatte auf der Flucht und unter dem Druck der ununterbrochenen Verfolgung und Lebensangst geradezu abenteuerliche und aberwitzige Strecken zurückgelegt. Sein Körper musste Leistungen erbringen, die eigentlich unmenschlich waren und er litt unter der Einsamkeit und der permanenten Angst gefangen zu werden. Wann und wo auch immer er sich eine Pause gönnte, packte ihn die Müdigkeit, doch wann immer er der Müdigkeit nachgab und die Augen schloss, schreckte gleich darauf wieder hoch um festzustellen, dass seine Verfolger wieder ein Stück näher gekommen waren, aufgeholt hatten und Joshara setzte seine Flucht in rasender Eile fort.
Doch selbst wenn er für kurze Zeit genügend Abstand zwischen sich und die Verfolger gebracht hatte und sich eine etwas entspanntere Rast gönnen konnte, fand er keine Erholung. Sobald er während einer solchen Rast in einen unruhigen und nervösen Schlaf fiel, wurde er von bösen Träumen verfolgt. Er sah Kirgis Söhne sich in ihrem Blut wälzen und er sah Azawas Kopf davon fliegen. Er sah die angsterfüllten Augen seiner Töchter, die zu ihm aufblickten, während er ihnen sein Jagdmesser über die schmalen Kehlen zog.
Dann wachte er in Schweiß gebadet auf und sehnte den nächsten Tag, den nächsten Sonnenaufgang herbei, um wieder loslaufen und dadurch auf andere Gedanken kommen zu können.
Erst in den letzten beiden Tagen hatte sich eine Änderung zu seinen Gunsten ergeben. Joshara hatte beobachtet, dass sich auch bei seinen Verfolgern mehr und mehr Müdigkeit zeigte. Besonders die zweite Gruppe war in diesen Tagen langsamer geworden und fast einen halben Tagesmarsch zurück gefallen. Die Zange, die ihn ständig zu zerquetschen drohte, war zerbrochen und Josharas Chancen verbesserten sich dadurch ein wenig.
Die letzte Nacht hatte er unter der Gratlinie eines Bergkamms verbracht und als er am Morgen den Steilhang hinter sich betrachtete, erkannte er, dass er eine grandiose Falle vor sich hatte. Der Gämsenwechsel, dem er nach oben gefolgt war, schlängelte sich in unendlichen Windungen die Bergflanke herauf und an der Stelle, an der er soeben stand, befand sich eine Mulde im Fels, die voll losen Gerölls war. Das Beste aber war, dass die Mulde an der Hangseite eine Art Ausfluss besaß, der jedoch von einem großen Stein verschlossen war. Joshara hielt es für durchaus denkbar, dass sich das gesamte Geröll ziemlich rasch auf den Weg nach unten machen würde, wenn es ihm gelang, diesen einen Stein zu lösen. Joshara fällte mit seiner Axt eine zähe Krüppelkiefer und konnte sich einen kurzen aber starken Hebel herstellen, mit dessen Hilfe er den großen Brocken tatsächlich soweit lösen konnte, dass er durch einen kleinen Stoß im richtigen Moment herausbrechen, zu Tal donnern und eine gewaltige Lawine aus Erdreich, Geröll und massivem Felsgestein hinter sich herziehen musste.
Sein Entschluss stand rasch fest. Er hatte es satt, immer nur davon zu laufen wie ein verschrecktes Kaninchen. Seine Jäger sollten begreifen, dass sie eine Beute jagten, die sich zu wehren verstand, vielleicht brachen sie die Jagd dann ab. Er wartete geduldig, bis die erste Verfolgergruppe auf dem Steig unter ihm auftauchte und er wartete lange genug, um den maximalen Erfolg seiner Falle sicherzustellen. Als die Lawine kam, hatten die Verfolger keine Möglichkeit mehr, dem herabstürzenden Felsbrocken und den nachfolgenden Gesteinsmassen auszuweichen.
Der Erfolg war durchschlagend. Das Geröll in der Mulde war wirklich überraschend locker gelegen und die Mulde entleerte sich so rasch, dass er um Haaresbreite selbst mit in die Tiefe gerissen worden wäre. Im letzten Augenblick schaffte er es, auf den festen Rand der Mulde zu springen und von dort aus beobachtete er, wie die Lawine die gesamte erste Gruppe seiner Verfolger wie eine Riesenfaust ins Tal fegte. Keiner der sechs überlebte, dessen war er sich sicher. Die Bestätigung bekam er, als später die zweite Gruppe auftauchte und nach kurzem Umsehen damit begann, die sechs Leichen zu bergen und sie auf der Spitze des Hügels unter aufgeschichteten Steinen zu begraben. Sie verbrachten einen ganzen Tag damit und als sie die Verfolgung wieder aufnahmen, hatte es Joshara zum ersten Mal geschafft, sich einen größeren Vorsprung zu erlaufen.
Dann, in der Nacht zum nächsten Tag kam der Schnee.
Innerhalb kurzer Zeit fielen fast drei Fuß Neuschnee und es war bereits typischer Frühjahrsschnee. Nass und schwer legte sich die weiße Pracht über alle Matten, Wege und Pfade und machte den Untergrund glatt und schmierig, jeder Schritt an einem Abhang entlang wurde lebensgefährlich und Josharas Flucht wurde nahezu unerträglich verlangsamt. Doch seine Verfolger hatten mit denselben Problemen zu kämpfen und das sie mittlerweile fast einen ganzen Tag auf Joshara verloren hatten, befanden sie sich noch in höheren Regionen als er und ihr Weg war noch weitaus gefährlicher als seiner. Außerdem hatte die dicke Schneedecke Josharas Spuren gründlich verwischt. Joshara hatte sich umgedreht und zurück geblickt. Hinter ihm waren nur eine makellos weiße Flächen zu sehen, nicht der kleinste Hinweis, dass jemals ein Mensch seinen Fuß in diese Gegend des Gebirges gesetzt hatte. Joshara entspannte sich etwas und beschloss, dass er sich wieder einmal eine Rast gönnen konnte. Er sah sich um und einen Überhang im Berg, eine große Felsklippe, unter der er nun in seinen Fellen lag, mit fast ganz geschlossenen Augen in die Flammen seines kleinen Feuers starrte und dabei versuchte die Bilder des Todes von sich fernzuhalten.
Ein hoffnungsloses Unterfangen.
Kaum hatte er die Augen geschlossen und seinen Gedanken gestattet, sich von den Sorgen und Nöten der Flucht abzuwenden, waren die Bilder wieder da.
Doch sie hatten sich verändert.
Es waren jetzt seltsamer Weise nicht mehr die Gesichter von Azawa und seinen Töchtern, die ihn umtanzten. Sein Geist hatte also den Tod dieser Menschen verarbeitet.
Um Azawa tat es Joshara auch nicht wirklich leid, denn sie hatte ohne das geringste Zögern und Grundlos ihn und sein Geheimnis verraten. Damit war bei dem alten Mann die Gier nach Macht, nach noch mehr Macht, geweckt worden. Azawa war ihm, der ihr mehrere Jahre lang ein bequemes und schönes Leben ermöglichte, in den Rücken gefallen und sie hatte es auch nicht verstanden, ihre Töchter vor den geilen Klauen des Alten zu schützen. Azawa hatte den Tod streng genommen verdient, obwohl Joshara bedauerte, dass ausgerechnet er zu ihrem Richter geworden war.
Auch um seine Töchter trauerte er nicht, denn er wusste, welches Schicksal ihnen durch die Geilheit und die Rachsucht des Clansvater beschieden gewesen wäre. Kirgis Tat hatte einen Fluch auf sie geladen. Kein Jäger der Berge hätte die Mädchen Zeit ihres Lebens jemals angefasst. Sie wären Ausgestoßene geworden, Menschen ohne Bindung an einen Clan oder eine Familie. Er hatte richtig gehandelt, als er sie tötete.
Die Gesichter der Söhne von Kirgis waren es, die ihm zu schaffen machten und ihn nicht zur Ruhe kommen ließen. Ihre anklagenden Blicke, ihre hilflose Angst, als sie erkennen mussten, mit welch überlegenem Gegner sie sich eingelassen hatten. Ihre Angst vor den Schnitten und Stichen der eisernen Klinge in Josharas Hand, die Furcht vor dem Unbekannten. Sein Schwert, so empfand Joshara es, hatte die Seelen der drei Männer eingesaugt und nun tobten sie sich am Träger des Schwertes aus.
Joshara fragte sich allen Ernstes, ob das Metall daran Schuld hatte oder einfach die Tatsache, dass man in den Bergen zwar als Jäger aufwuchs, doch niemals als Krieger. Es gab keine Kriege in den Bergen. Dazu waren die Clans zu klein und lebten unter zu schwierigen Umständen.
Joshara lag lange wach. Das Feuer war längst herunter gebrannt und erloschen, seine Augen suchten außerhalb der überhängenden Felsklippe den Nachthimmel nach Sternbildern ab, in der Hoffnung in diesen vielleicht Trost und Ablenkung von den Bildern des Todes zu finden. Der Himmel war aber dicht bewölkt, kein einziger Stern war zu sehen und dann begann es wieder zu schneien.
War es der Tanz der Schneeflocken, die in Josharas Gehirn plötzlich Entspannung einkehren ließen? War es die Gewissheit, dass er in dieser Nacht ganz sicher nicht mit einem Angriff seiner verbliebenen Verfolger rechnen brauchte?
Was immer es war, plötzlich schlief Joshara doch ein. Er schlief tief und fest. Den Schlaf eines Handwerkers in einer festen und sicheren Behausung, nicht den seichten Schlaf des Jägers und Flüchtlings.
Als Joshara in der Morgendämmerung des nächsten Tages erwachte, fühlte er sich frisch und stark wie lange nicht mehr. Er sah unter der Felsklippe hinaus auf einen bleigrauen Himmel, an dem schwere graubraune Wolken dahin zogen, die noch weiteren Schneefall verkündeten. Er überlegte sich, ob er seinen Weg bei einem solchen Wetter überhaupt fortsetzen konnte und kam zu dem Ergebnis, dass er einen weiteren Ruhetag unter diesem Überhang einlegen würde. Einen Tag oder wenn es sein musste auch mehrere Ruhetage, denn auch seine Verfolger konnten in diesen unglaublichen Massen schweren, nassen Frühjahrsschnee nicht in den Bergen herum steigen und nach ihm suchen. Sie würden in ihrer Beweglichkeit ebenso eingeschränkt sein, wie er selbst.
Joshara kroch aus seinen Fellen, suchte in den Büschen unter der Felsklippe dürres Reisig und brennbares Holz, dann fachte er sein Feuer wieder an und kroch in die Felle zurück. Er blieb bis weit in den Tag hinein einfach in seinen Fellen liegen, denn dort hatte er es angenehm warm und trocken und verbrauchte praktisch keine Energie. In seinem Teetopf schmolz er Schnee und hatte damit genug zu trinken. Sein Körper dankte ihm für diese Erholungsphase, in dem er mit einem immer wiederkehrenden Schlafbedürfnis reagierte. Erstaunlicherweise gelang es ihm jetzt, bei Tageslicht, weitaus besser, die Bilder der toten Söhne Kirgis aus seinem Kopf zu verbannen und so brachte er mehrere Schlafphasen hinter sich und nach jeder dieser Phasen fühlte er sich frischer und stärker. Doch dann, im Laufe des Nachmittags, begann Joshara unruhig zu werden. Er spürte, dass sich das Wetter änderte. Es hatte aufgehört zu schneien, die Wolkendecke war aufgerissen und nun konnte er unter dem Überhang hervor einen makellos hellblauen Himmel erkennen. Die Bäume an den Berghängen hingegen wirkten schwarz und bedrohlich und es blies ein leichter Wind von der Steppe herauf, der deutlich wärmer war als alles andere, das er in den letzten fünf Monden gespürt hatte.
Der Fön war gekommen und ohne sich groß anzustrengen, konnte er zusehen, wie der warme Südwind den Schnee schmolz und in beängstigender Geschwindigkeit schwinden ließ.
Drei Tage lang blies der Fön und es wurde von Tag zu Tag wärmer. Am dritten Tag war der gesamte Schnee bis weit hinauf unter die Gipfel weggetaut und überall begann bereits junges Gras durchsetzt mit Frühlingsblumen und blühenden Kräutern zu sprießen. Die Berge hatten sich über Nacht mit einem lindgrünen Schleier überzogen und es wurde allerhöchste Zeit, dass er seine Flucht fortsetzte.
Er brach unmittelbar nach Sonnenaufgang auf und erreichte im Verlauf eines einzigen Tages eine Stelle, die er unschwer als das erkannte, was sie auch tatsächlich war.
Hier war die Grenze des Hiron – Gebirges. Seine Flucht ging langsam aber sicher zu Ende. Nur noch ein einziges, aber gewaltiges Hindernis war zu überwinden:
Eine nahezu senkrecht abfallende Wand, schroff und wild und gefährlich. Sie dehnte sich sowohl nach Osten als auch nach Westen aus und in keiner Richtung konnte er ein Ende oder einen etwas einfacheren Abstieg erkennen.
Er blickte über die Kante der Felswand hinunter und sah vielleicht tausend Schritte unter sich eine Geröllhalde, die vermutlich noch einmal um die tausend Schritte hinunter führte und erst dort unten, am Fuß dieser Geröllhalde begann die Welt, die er sich als Ziel auserkoren hatte.
Joshara hielt unwillkürlich die Luft bei dem Anblick an, der sich ihm bot. Er starrte hinaus in die grüne Unendlichkeit der Steppe. Auch dort unten war es Frühling und nach der Schneeschmelze dehnte sich ein smaragdgrüner Ozean aus wogendem Gras bis an alle Horizonte. Nirgendwo konnte er ein Ende der Steppe entdecken, nirgendwo eine Grenze erkennen. Die Weite des Graslandes von seiner Position aus zu sehen, war beängstigend. Seine Augen waren die Bergwelt gewohnt, wo es kaum einmal größere Entfernungen gab in die man blicken konnte, ohne dass das Auge sich an irgendetwas festmachen konnte. Die Berge begrenzten alles und ließen es scheinbar überschaubar werden. Die Steppe Kaana hingegen schien ihm Unendlich zu sein.
Die Luft war frühlingshaft klar und seine Blicke wurden deshalb durch nichts gestört. Kein Dunst, keine Wolke, kein auch noch so kleiner Nebelfetzen, nichts das ihn daran hinderte, in diese Unendlichkeit hinaus zu schauen und … Furcht in sich aufsteigen fühlen.
Es war nicht die konkrete Furcht vor einer unmittelbaren Gefahr, die er heran kriechen fühlte, es war eher ein vages Gefühl, eine aus der Tiefe seines Ichs kommende Beklemmung. Ein Gefühl, das langsam im stärker wurde und dazu führte, dass er sich fragte, ob seine Entscheidung zur Flucht aus den Bergen und weg von seinem Clan vielleicht doch nicht richtig gewesen war.
Wäre es nicht doch vernünftiger gewesen, sich den Forderungen und der Tyrannei des alten Kirgis zu beugen?
Was, wenn er darauf verzichtet hätte, sich wegen Azawa mit Kirgis Sohn zu duellieren? Wenn er Azawa einfach freigegeben und sich einen andere Gefährtin gesucht hätte? Auswahl hatte es im Clan und auch bei den Nachbarclans für einen Mann seiner Qualität schon gegeben.
Und weshalb war es so wichtig, die Geheimnisse des Eisens für sich selbst zu bewahren?
Vielleicht hätte Kirgis ja gar nicht so sehr nach persönlicher Macht gestrebt, sondern das Wissen auch mit den anderen Clans des Hiron – Gebirges geteilt.
An dieser Stelle unterbrach Joshara sich selbst und den verwirrenden Strom seiner Gedanken.
Er rief sich das Bild des alten Mannes ins Gedächtnis zurück und seine despotische und oft grausame Art, mit Menschen umzugehen.
Er erinnerte sich an die Nächte mit Azawa und an ihre Liebesschwüre und dann daran, wie sie sich willig und ohne das kleinste Zögern in das Bett des Alten begeben hatte und ihm sogar Josharas sorgsam gehütetes Geheimnis schon in der ersten Nacht verraten hatte.
Er erinnerte sich, wie der alten Mann mit Hilfe seiner Söhne oft ein Regiment des Terrors und der Angst geführt hatte und, dass diese Söhne in den Clans der Berge als gefürchtete Schläger gegolten hatten
Nein, seine Entscheidungen waren nicht falsch gewesen. Dessen wurde er sich nun wieder bewusst. Er stellte sie nur vor sich selbst in Frage, weil ihm als Mann der Berge diese weite Steppe dort unten unheimlich war. Wer aus den Bergen kam, war es nicht gewohnt, dass seine Blicke derart in die Ferne schweifen konnten, ohne auf ein Hindernis zu stoßen. Er würde sich an diese Weite gewöhnen und er würde dort unten ein Leben beginnen, das dem seines Lebens im Clan mindestens gleichwertig sein sollte.
Joshara richtete sich auf und ordnete seine Traglast, dann drehte er sich um und sah ein letztes Mal zurück in die Welt, die zu verlassen er nun endgültig im Begriff war. Er ließ seine Augen auf seiner eigenen Spur zurück schweifen und dieser letzte, etwas wehmütige Rückblick rettete ihm vielleicht das Leben.
Er selbst war vor kurzer Zeit erst über einen Bergsattel gestiegen, dessen Südhang ihn hier herunter geführt hatte. Im selben Augenblick, da seine Augen über diesen Sattel wanderten, betrat ein Mann die Gratlinie, zeichnete sich für ein paar Lidschläge lang scharf gegen den hellen Himmel ab und verschwand dann vor dem graubraunen Hintergrund des Hangs. Ein weniger erfahrener Mann als Joshara hätte vielleicht an eine Sinnestäuschung geglaubt, doch schon im nächsten Moment wäre er eines besseren belehrt worden. Fünf weitere Gestalten sprangen blitzschnell über den Grat und verschwanden danach in der Deckung des Hangs.
Seine Jäger hatten trotz des Schnees seine Spuren nicht verloren. Fast als hätten sie geahnt, wohin ihn sein Weg führte, waren sie ihm nun so dicht auf den Fersen wie nie zuvor auf dieser wahnsinnigen Hetzjagd.
Einen Augenblick blieb Joshara stocksteif stehen, dann fluchte er mit zusammengepressten Kinnbacken erbittert vor sich hin und begann fieberhaft zu überlegen, was nun zu war.
Wenn er jetzt, wie geplant, in die Wand kletterte, dann war er seinen Verfolgern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Dann hatten sie ganz leichtes Spiel, ihn von oben mit Steinen und Pfeilen zu traktieren und es würde nicht lange dauern, bis sie ihn zum Absturz gebracht haben würden. Der Abstieg bot praktisch keinerlei Deckung.
Für die Dauer von ein paar Atemzügen fühlte Joshara Panik in sich aufsteigen. Am liebsten wäre er in wilder Flucht entlang des Absturzes nach Westen oder Osten geflüchtet, in der vagen Hoffnung, den Jägern doch noch zu entkommen, doch dann übernahm eine andere Empfindung in ihm die Oberhand.
Wut und Trotz hatten ihn bereits einmal zu einer wahren Tötungsmaschine werden lassen. Wut und Trotz stiegen auch in diesen Augenblicken in ihm auf, doch dann kam eine neue Empfindung hinzu. Anstatt des Berserkerwahns, den er an diesem denkwürdigen Abend vor Kirgis Haus empfunden hatte, war da plötzlich kühles, sachliches Abwägen in seinem Geist und er erkannte so klar wie frisches Quellwasser, was er zu tun hatte.
Ja, er würde erneut Clansbrüder töten müssen. Nur so konnte er überleben. Wenn das der Preis für seine Freiheit war, dann würde er ihn bezahlen.
Zehn Männer seines Clans hatte er bereits auf dem Gewissen, wenn er es schaffte auch diese sechs Verfolger ins Jenseits zu befördern, dann war dieser, sein ehemaliger Clan praktisch zum Sterben verurteilt und seine Rache abgeschlossen. Sechzehn erwachsene Männer – ihn selbst eingerechnet sogar siebzehn - waren mehr als die Hälfte aller verfügbaren Jäger des Clans und ein großer Teil der Handwerker. Diesen Aderlass würde der Clan nicht verkraften und spätesten im Laufe des Sommers in einem der starken Nachbarclans aufgehen. Dann war Kirgis endgültig seine Macht los, dann hatte er mit seiner Maßlosigkeit, seiner Herrschsucht und seiner Machtgier seinen eigenen Untergang und den seines Clans heraufbeschworen.
Joshara überlegte nicht mehr lange. Er war sich seiner Position und seiner Möglichkeiten vollständig bewusst. Er war allein und seine sechs Verfolger waren als Jäger und Bergläufer wohl von ähnlicher Qualität wie er selbst. Doch er kämpfte um sein Leben und seine Zukunft, während die Verfolger lediglich von einem nicht näher begründbaren Hass und von den Befehlen eines wahnsinnigen Clansvater getrieben wurden. Wenn sie die Verfolgung längst aufgegeben hätten, wäre ihr Leben nie in Gefahr geraten, doch nun, da sie Joshara in die Enge getrieben hatten, würde er sich mit allem was er besaß zur Wehr setzen.
Er nahm seine Traglast von den Schultern und legte sie in aller Ruhe auf dem Boden ab. Er öffnete die Verschnürungen und begann die Last neu zu ordnen und zu packen.
Das Schwert, die langen Speerspitzen und die unterschiedlichen Messer, die Zange, das Sortiment an Nadeln und auch die Axt brauchte er nicht, all diese Gerätschaften packte er in das Innere seiner Bettfelle. Seine letzten Ersatzkleider, den warmen Mantel aus Bärenfell, die noch kaum getragenen Mokassins mit den kniehohen Schäften. Alles was er noch an Lebensmitteln besaß. Er wickelte es als Polsterung um das innere Paket, dann hüllte er den ganzen Packen in die große Plane auch Elchleder, die ihm während seiner Flucht so gute Dienste getan hatte und verschnürte das Ganze zu einem strammen Bündel. Er stabilisierte das ganze noch dadurch, dass er die Schäfte seiner beiden Jagdspeere – die Spitzen hatte er bereits in seiner Last verpackt – in die Verschnürung schob. Nun hatte er ein festes Paket vor sich liegen, in dem praktisch seine gesamte Zukunft steckte. Joshara richtete sich auf und schob das Paket mit dem Fuß an den Abgrund. Tausend Schritte oder mehr ging es hinunter, doch die Polsterungen würden den Sturz dämpfen und Joshara war sich sicher, dass seine Habe als ganzes Paket dort unten in der Geröllhalde landen würde. Ohne zu zögern gab er dem Packen einen kräftigen Tritt und verfolgte den Sturz gespannt. Dreimal schlug der Packen unterwegs an Zinnen und Felsvorsprüngen auf, dann krachte er in den oberen Rand des Gerölls und blieb liegen.
Die Verschnürungen hatten gehalten, die Last war in einem Stück unten angekommen und nun konnte Joshara sich seinen anderen Vorbereitungen widmen.
Er hatte sich von jeder Art von Ballast befreit, die ihm in einem Kampf hinderlich sein würde. Bei sich behalten hatte er sein langes Jagdmesser und zwei kleinere Messer, die er in den Schaftscheiden seiner Mokassins stecken hatte. Sein rehledernes Jagdhemd, die eng anliegenden Leggins aus Elchleder, mehr an Kleidung brauchte er nicht mehr. An seinem Gürtel hatte er ein gut fünfzig Fuß langes, geflochtenes Lederseil hängen und einen Köcher mit zwei Dutzend dreifach gefiederten, langen Pfeilen und diese Pfeile hatten eiserne Spitzen. Seinen schweren Hornbogen hatte er neben sich auf dem Boden liegen, jetzt nahm er ihn auf, holte die Sehne aus der Bodentasche seines Köchers und spannte den Bogen. Er wischte das Fett von der Sehne, dann prüfte er die Spannung und den Klang und ein zufriedenes Lächeln tauchte auf seinem Gesicht auf. Jeder Jäger im Clan benutzte einen solchen Bogen und die Reichweite dieser Bögen betrug gut und gerne dreihundert Schritte. Allerdings konnte man auf diese Entfernung hin einen Pfeil fast mit der Hand aus der Luft fangen. Joshara aber war nicht nur ein ausgezeichneter Schmied, er war auch sonst ein findiger Geist und deshalb benutzte er seit langem geflochtene Sehnen an seinem Bogen. Vier Fäden bildeten die Sehne, wobei ein Faden die „Seele“ der Sehne abgab, während die drei anderen als Hülle um diese Seele herum geflochten waren. Mit dieser Sehne besaßen seine Pfeile auch auf dreihundert Schritte noch eine tödliche Durchschlagskraft. Dazu die eisernen und unglaublich scharf geschliffenen Spitzen, seine Verfolger mussten sich vorsehen…
Joshara war nun bereit, um sein Leben zu kämpfen. Er war bereit, den Preis für seine Freiheit zu bezahlen, auch wenn es mit seinem eigenen Blut sein sollte. Er sah sich um und erkannte, in welch vorteilhafter Situation er eigentlich war. Die Verfolger waren noch so weit weg, dass die Sonne untergegangen sein würde, ehe sie den Absturz erreicht hatten. Kein Jäger war wohl verrückt genug, bei Einbruch der Nacht noch in eine solche Wand einzusteigen, also würden die Verfolger am Rand des Absturzes ein Lager aufschlagen. Die Kante entlang des Absturzes war beileibe keine gerade und ebene Fläche sondern eine Wildnis aus Fels und Buschwerk. Es gab Verstecke ohne Zahl und Joshara suchte sich einen etwa drei Mann hohen Findling als Lauer aus, dessen obere Decke flach zu sein schien, denn sie war mit Büschen bewachsen.
Er lag trocken und unsichtbar unter den Büschen und hielt seine Augen auf seine eigene Fährte geheftet. Er rechnete nicht damit, dass seine Gegner sich irgendwelche Listen ausgedacht hatten, um sich dem Absturz zu nähern. Warum auch? Joshara hatte sich auf der ganzen Flucht nur einmal gestellt und auch da war er sich sicher, dass sie eher an eine Naturkatastrophe glaubten, als an einen Steinschlag, den ihre Beute ausgelöst hatte.
Seine Ahnung trog ihn nicht. Sie kamen in raschem Lauf den Hang herunter auf den Absturz zu und sie achteten nicht einmal darauf, besonders leise zu sein. Sie fanden im letzten Tageslicht die Stelle, an der Joshara seine Traglast neu gepackt hatte und als sie die Spuren untersucht hatten, waren sie sich absolut sicher, dass Joshara noch in die Wand eingestiegen war und bereits ein ordentliches Stück Abstiegs hinter sich gebracht hatte. Sie berieten sich kurz, dann entschied einer der Jäger, ein älterer Mann, der einstmals zu Josharas liebsten Lehrern auf der Jagd gehört hatte, dass er und noch drei andere trotz des unmittelbar bevorstehenden Einbruchs der Dunkelheit ebenfalls den Abstieg beginnen würden.
„Auch wir werden in der Wand übernachten, denn viele Möglichkeiten, den Schmied zu töten bleiben uns nicht mehr. Morgen müssen wir es zu Ende bringen und dann müssen wir schnellstmöglich nach Hause zurückkehren. Unsere Familien brauchen uns und wir müssen den Verlust von sechs weiteren Jägern ausgleichen.“
Vier der Verfolger entledigten sich ebenfalls allen unnötigen Ballasts und begann in den Absturz zu klettern. Die beiden anderen richteten an der Kante ein Lager ein, machten Feuer und bereiteten sich etwas zu essen zu. Joshara vermochte ein zufriedenes Grinsen nicht zu unterdrücken. Besser konnte es nicht für ihn laufen.
Er wartete noch so lange, bis es endgültig dunkel geworden war, dann richtete er sich an der Kante des Findlings lautlos auf, spannte seinen Bogen und legte einen der beiden vorbereiteten Pfeile auf. Die Entfernung betrug etwa hundertfünfzig Schritte und auf diese Distanz war er in der Lage, einer Fliege das Auge auszuschießen. Das Kochfeuer der beiden Verfolger gab Licht genug, er konnte seine Ziele nicht verfehlen.
Der erste der beiden Verfolger starb lautlos, denn Josharas Pfeil drang ihm durch das rechte Auge mitten ins Hirn und er war tot, noch ehe sein Gegenüber den Kopf heben konnte. Auch dieser starb rasch, denn Josharas zweiter Pfeil durchbohrte seinen Nacken und trat zur Kehle wieder aus, ein blasiges Röcheln war bis zu Joshara zu hören, dann kippte der Mann zur Seite und lag regungslos neben dem Feuer.
Joshara sprang von dem Findling und lief rasch zum Feuer hin. Er überprüfte die beiden Leichen, dann schnitt er seine Pfeile aus den Wunden und nahm sie wieder an sich, erst danach bewegte er sich vorsichtig auf den Absturz zu um hinunter zu spähen. Joshara war ein erfahrener Jäger und das Wissen, dass er vielleicht seinen letzten Kampf zur Erlangung seiner Freiheit kämpfte, schärfte seine Sinne und seine Kampfbereitschaft über alle Maßen. ES war nur ein leises Schnaufen, das aus der Tiefe des Absturzes zu hören war, doch das Geräusch sagte Joshara, dass einer der vier Kletterer Verdacht geschöpft haben mochte und wieder nach oben geklettert kam. Joshara lag ruhig und entspannt genau neben der Stelle, an der die vier Männer den Abstieg begonnen hatten und tatsächlich, wieder hatte er richtig spekuliert. Der vierte Jäger tauchte genau an dieser Stelle auch wieder auf. Er schob seinen Kopf vorsichtig über die Kante, sah sich um und sah die beiden Toten am Feuer liegen. Er wollte den Mund öffnen, wollte schreien, doch plötzlich war da eine starke Hand in seinem Haar, hielt ihn fest und dann zuckte ein gleißender Blitz durch die Nacht. Josharas Jagdmesser glitt durch das Fleisch des Verfolgers, wie ein heißes Messer durch Bienenwachs gleitet. Außer einem leisen Röcheln brachte der Kletterer nichts mehr zustande. Ein dicker Schwall Blut schoss aus seinem Mund, Joshara zog ihn an den Haaren nach oben und legte ihn neben den beiden anderen Leichen am Feuer ab.
Die Hälfte seiner Verfolger war tot und um die drei noch Verbliebenen würde er sich auch gleich kümmern. Doch zuerst stand etwas anderes an.
Die Verfolger waren mit Lebensmitteln deutlich besser ausgestattet gewesen, als er selbst. Joshara fand in ihrem Gepäck reichlich Dörrfleisch und eine Menge ziemlich frischer Fladenbrote. Das Wasser in ihren Flaschen war frisch und sauber und so konnte Joshara sich erst einmal richtig satt essen. Danach durchsuchte er die Traglasten seiner Verfolger und sortierte aus, was er brauchen konnte. Alle bronzenen Waffen und Geräte, alle Pfeile und ihre Köcher, und die schweren Hornbogen packte er zu einer neuen Traglast zusammen, verschnürte und versteifte auch diese mit den Schäften von Speeren und schob sie dann zur Kante des Absturzes. Nun waren noch weitere Felle und Lederdecken übrig, dazu das Dörrfleisch und eine Menge anderer Nahrungsmittel. Auch diese verpackte er in einer Traglast und machte sie bereit zum Abwurf.
Er war eben mit seiner Arbeit fertig, als im Osten der Mond aufging und Joshara konnte sich ein zufriedenes Grinsen nicht verkneifen.
Die Nacht war klar und der Himmel vollkommen wolkenlos. Der Mond war nahezu voll und es war plötzlich so hell, dass Joshara perfekte Voraussetzungen für eine nächtliche Jagd bekam. Bei solchen Lichtverhältnissen war er schon häufig in schwierigen Wänden herum geklettert und jetzt sollten die letzten drei seiner Verfolger erleben, was es bedeuten konnte, sich mit einem Mann wie Joshara anzulegen. Aus dem Gejagten wurde nun ein gnadenloser Jäger.
Er glitt die Wand hinunter, als wäre er plötzlich zu einer riesenhaften Eidechse mutiert. Schneller und geschmeidiger als jeder andere Mann seines Clans es gekonnt hätte, stieg er die Wand hinunter und schon nach kurzer Zeit hatte er den ersten seiner Peiniger eingeholt. Der Mann hatte sich hinter einer Felszinne versteckt und für die Nacht eingerichtet. Um in Ruhe schlafen zu können, hatte er sich mit einem geflochtenen Lederseil an die Felsen gebunden und er schlief tatsächlich tief und fest, als Joshara die Felsen herunter geglitten kam.
Ein kurzer Blick genügte, dann zuckte das eiserne Jagdmesser vor und durchtrennte dem Schlafenden die Kehle. Ein schneller und nahezu geräuschloser Tod. Joshara löste das Lederseil, den Toten aber ließ er, wo er war. Die Geier würden sich am nächsten Tag um ihn kümmern.
Auch den zweiten Mann fand es schlafend vor. Etwa dreißig Schritte tiefer lag er auf einem schmalen Sims und auch er hatte sich mit einem Seil gesichert, um nicht im Schlaf abzustürzen. Joshara zertrennte das Seil dicht am Sicherungsknoten, dann stupste er den Schläfer an. Ein leichter Stoß in die Rippen genügte. Der Mann war Jäger und schlief nur einen seichten Schlaf. Er riss die Augen auf, starrte in Josharas wildes und von einem Monate alten Bart überwuchertes Gesicht und hörte die leisen Worte:
Noch ein kurzer Stoß und der Mann stürzte in die Tiefe. Er begann erst zu schreien, als er schon fast unten war, so groß war sein Schock gewesen.
Der letzte Jäger war nun gewarnt, doch das war es, was Joshara gewollt hatte. Er verspürte das dringende Bedürfnis, gerade diesem Mann alles zu erklären, was ihn bewegt hatte. Er hatte zwar nicht vor, den Mann am Leben zu lassen, doch sein Gefühl sagte ihm, dass er selbst sich besser fühlen würde, wenn er alle seine Gedanken einmal aussprechen konnte.
Joshara kletterte vorsichtig die Wand hinunter und er achtete darauf, eine andere Route als den direkten Abstieg zu wählen. So erreichte er den letzten seiner Clansbrüder etwa zehn Schritte seitlich und da machte er eine Entdeckung, die ihn traurig werden ließ.
Der Mann war bereits tot. Steif und starr und mit schwarz verfärbtem Gesicht kauerte er auf einem schmalen Felsband und er wäre wohl längst in die Tiefe gestürzt, wenn nicht seine rechte Hand in einer Felsspalte festgesteckt hätte. Auf dem Sims aber wimmelte es nur so von giftigen Nattern, die sich immer noch in heller Aufregung befanden. Der Mann war mitten in ein Schlangennest hinein geklettert und an deren Bissen vermutlich in kürzester Zeit gestorben.
Joshara sah nachdenklich zu dem Toten hinüber und er war nicht traurig darüber, dass er gerade diesen Mann nicht eigenhändig hatte umbringen müssen.
Doch zum Reden hatte er nun niemanden mehr, er musste weiterhin selbst mit seinen Gedanken zu Recht kommen.
Als er den Rückweg einschlug wurde allerdings nur von einem Gedanken beherrscht:
„Ich habe den Preis für meine Freiheit bezahlt. Einen sehr hohen Preis, doch jetzt bin ich frei.“
Joshara war wieder nach oben geklettert und verbrachte den Rest der Nacht am Feuer seiner toten Verfolger. Die Leichen der drei Männer, die er hier oben getötet hatte, warf er der Einfachheit halber ein gutes Stück neben seiner geplanten Abstiegsroute über die Kante der Felswand. Spätestens am kommenden Morgen würden sie dort ein Festmahl für die Geier, die Krähen und Bussarde abgeben. In einem Anfall bitteren Humors fragte Joshara sich plötzlich, ob die Aasfresser sich diesen Tag wohl bis ans Ende ihres Lebens merken würden, denn einen derart reich gedeckten Tisch würden sie an dieser Stelle wohl nicht so schnell wieder bekommen.
Im Schein des Feuers sichtete Joshara nun die Ausrüstungen, die von seinen toten Verfolgern zurück geblieben waren und stellte fest, dass sich der kastrierte Clansvater die Verfolgung Josharas eine ganze Menge hatte kosten lassen, denn da war kaum ein Stück der Ausrüstungen, das nicht das Eigentumszeichen von Kirgis trug. Alles war von bester Qualität und so beschloss Joshara, alles Sinnvolle zusammen zu packen und mit in die Steppe hinunter zu nehmen, denn wer konnte wissen, wann er etwas als Handelsware brauchte? Sämtliche Felle und Lederplanen, die Kleidungsstücke und alles was er an Nahrung fand, packte er zusammen. Zu seinem Bedauern musste er die Waffen und Werkzeuge zurück lassen, auch die Bogen der Jäger und ihre Pfeile konnte er nicht mitnehmen. Der Ballast wäre für einen einzelnen Mann nicht zu bewältigen gewesen. Doch er trug die Waffen und Werkzeuge zusammen und versteckte sie in einer kleinen Grotte am Fuße des Findlings.
Was er mitnahm war immer noch ein mächtiger Ballen und es würde eine mühsame Angelegenheit werden, die Ausrüstung von sieben Jägern über die Geröllhalde hinunter ins Tiefland zu schaffen, aber da ihn niemand mehr hetzte, hatte er doch alle Zeit, die er brauchte.
Es war schon lange nach Mitternacht, als er sich in eine der Bettrollen legte und zu schlafen versuchte, doch mehr als ein unruhiges Dahindösen brachte er nicht zustande. Auch die sechs Männer dieses Abends gaukelten nun durch seinen Kopf und störten seinen Schlaf. Joshara hatte sich verändert. In wenigen Monden war aus einem zufrieden lebenden Handwerker und Jäger ein vielfacher Mörder geworden und jeder einzelne der von ihm getöteten Männer belastete ihn. Nie zuvor hatte es im Clan etwas Ähnliches gegeben. Nie zuvor hatte ein Angehöriger des Clans nicht nur eine solche Vielzahl von Menschen umgebracht, sondern dadurch praktisch auch einen ganzen Clan ins Verderben, in die Auslöschung geschickt.
Oder doch nicht? Nein, er trug die Schuld an dem, was geschehen war nicht allein. Die Schuld des Clansvater war ganz sicher nicht kleiner als die Schuld Josharas. Als er gegen Morgen hin zu dieser Überzeugung gekommen war, schlief er doch noch ein und da hatte er den Traum.
Eine wunderschöne aber absolut fremdartige Frau lief über eine große, mit bunten Blumen und sattem, fast bis zu ihren Knie reichende Gras bewachsene Wiese auf ihn zu. Die Frau war vollkommen nackt und doch war da nichts an ihr, das ihn als Mann erregt haben würde, zu ungewöhnlich war ihr Anblick.
Ihr langes, bis über die Hüften reichendes Haar war dunkelgrün und fiel in dicken Locken von ihrem Kopf. Ihre Haut war weitgehend hellgrün, an manchen Stellen – unter den Armen, unter den festen, großen Brüsten, an der Innenseite der Schenkel – war das helle Grün durch einen bläulichen Stick verdunkelt. Im Gesicht, unterhalb der Augen hatte sie satt rote ovale Flecken, die mit einer dicken, schwarzen Linie umrandet waren. Nun blieb die Frau stehen und sah zu Joshara her. Er hatte das Gefühl, als sähen sie einander direkt in die Augen, dann erklang eine melodiöse Stimme in seinem Kopf.
„Mein Kind, du kehrst nach Hause zurück. Du machst mich über alle Maßen glücklich und deshalb heiße ich bereits jetzt schon willkommen. Auch danke ich dir, denn noch nie war es mir vergönnt, Fruchtbarkeit so weit in die Welt der Berge vorzutragen wie gerade jetzt.“
„Wer bist du, die mich Kind nennt, obwohl ich doch ein Mann bin.“
„Ich bin der Geist Kaanas, die Seele der ewigen Mutter des grünen Landes und alles was dort gedeiht gehört zu meinen Kindern.“
„Aber ich bin doch ein Mann der Berge. Wieso nennst du mich dennoch dein Kind? Weshalb begrüßt du mich als Heimkehrer, wo ich doch noch niemals zuvor einen Fuß in das grüne Land dort unten gesetzt habe.“
„Du kennst die Legende, dass deine Vorfahren vor vielen Generationen das grüne Land verlassen haben und in die Berge hinauf gestiegen sind. Sie suchten eine neue Heimat und eine andere Lebensform, denn sie kamen mit den damaligen Bedingungen im grünen Land nicht mehr zurecht.“
„Was war es, das sie aus ihrer Heimat vertrieben hat?“
„Das grüne Land wurde damals von einem bösen Einfluss beherrscht. Einige der höchsten Führer des Volkes Kaana hatten den Wunsch verspürt, den Einfluss des grünen Landes auf die Städte im Osten, im Süden und im Südwesten auszudehnen und Eroberungskriege zu führen begonnen. Doch nicht alle Angehörigen des Volkes wollten sich an diesen Kriegen beteiligen. Nachdem es keine Einigung zwischen den beiden Parteien gab, beschlossen diejenigen des Volkes, die den Krieg ablehnten, in die Berge auszuwandern.“
„Was hat den bösen Einfluss der damaligen Zeit hervorgerufen?“
„Nun, auch ich war einmal jung. Ich begegnete einem Wesen, das aus den Wüstengebieten, den Sheenlanden im Westen kam und mir mit süßen Worten das Denkvermögen verklebt hat. Ich ließ zu, dass Sheehano, der Fürst der Wüste eine Zeitlang einen etwas größeren Einfluss auf das grüne Land bekam.“
„Es tut gut zu wissen, dass auch Geistwesen Fehler machen können. Auch Hiron, der Geist der Berge ist nicht fehlerlos.“
Die grüne Frau lächelte ein wenig, dann erwiderte sie:
„Das weiß ich wohl, denn wir haben hier und da Kontakt zueinander. Er hat mir untersagt, sein Land zu betreten, denn er befürchtet eine Verweichlichung des Landes und seiner Bewohner unter meinem Einfluss.“
„Nun, du bist eine Frau und stehst deshalb für die Vermehrung und Fruchtbarkeit ein und für das weiche und sanfte. Wir Männer sind eben ein wenig anders.“
„Oh, eines meiner Kinder ist ein Philosoph und Spötter! Aber du hast Recht. Ich sorge für meine Kinder. Ich will, dass es ihnen gut geht und dass ihr Leben so gut es geht sorgenfrei verläuft. Doch ich verwöhne sie nicht und ich halte sie nicht am kurzen Zügel. Meine Kinder haben viel Freiheit, während die Kinder Sheehanos und Hirons sich ständig mit den Forderungen ihrer Väter auseinandersetzen müssen.“
„So kehre ich in eine gute Welt zurück? Wird diese Welt mich wollen?“
„Nun, ich will dir nichts vormachen. Zunächst wird sie dich nicht wollen. Mein Volk besteht aus stolzen Menschen und die Männer des Volkes sind wilde Krieger, die nichts weniger fürchten, als den Tod. Du wirst dich beweisen müssen.“
„Die Menschen der Kaana fürchten den Tod nicht? Wie ist das möglich?“
„Sie haben gelernt, dass der Tod nichts anderes ist, als ein Übergang in ein anderes Leben. Einen endgültigen und für ewig währenden Tod gibt es nur für diejenigen unter den Menschen, die ihr Leben vergeudet haben und nichts hinterlassen, wenn sie aus diesem Dasein scheiden.“
„Das mag so sein. Doch aus welchem Grund sind die Männer der Kaana zu Kriegern geworden?“
„Als Sheehano bemerkte, dass ich nicht länger auf seine Einflüsterungen reagierte, begann er sich von mir zurück zu ziehen. Stattdessen dehnte er seinen Einfluss auf die Städte an unseren Grenzen aus und sorgte dafür, dass der Hunger der Städte nach den Reichtümern des grünen Landes immer größer wurde. Die Städte begnügten sich nicht mehr damit, an unserem Reichtum durch Handel teilzuhaben, sie wollten die Herrschaft über das grüne Land übernehmen ohne daran zu denken, dass sie das, was sie besitzen wollten, dann zerstört hätten. Mein Volk schützt sich und das Land und da mein Volk nur wenige Köpfe zählt, müssen diese Wenigen in der Lage sein, die Angriffe von Massen aus den Städten abzuwehren. Mein Volk muss weder Jagen, noch braucht es im Boden zu wühlen, um sich zu ernähren. Mein Volk lebt von den riesigen Herden wilder Rinder, die das grüne Land bevölkern und mein Volk lebt mit den Pferden des grünen Landes. So konnten sie Krieger werden. So mussten sie Krieger werden, um das Land zu schützen.“
„Auch mich hat man gezwungen, ein Krieger zu werden, obwohl ich nie das Bedürfnis hatte, andere Menschen zu töten. Ich leide darunter. Ich kann kaum mehr schlafen, denn immer kommen die Geister der Toten und beklagen sich, weil ich ihrem Leben ein Ende gemacht habe.“
„Ich kenne deine Geschichte. Hiron erzählt mir manchmal, was in seinem Land vorgeht und ich habe ihn gebeten, dich ziehen zu lassen, damit du in deine ursprüngliche Heimat zurückkehren kannst. Die Geister, die dich heimsuchen, kannst du besänftigen. Sprich mit ihnen und weiße ihnen den Weg in ein nächstes Leben.“
„Wie kann ich mit den Geistern der Toten sprechen? Wie kann ich ihnen einen Weg weisen, den ich ja selbst nicht kenne?“
„Du sprichst mit mir, also kannst du auch mit ihnen sprechen. Darüber hinaus musst du nur daran glauben, dass der Tod nur ein Übergang ist, dann glauben es auch die Geister der Toten und sie werden dich künftig in Ruhe lassen. Glaubst du es denn?“
„Ich habe es geahnt, dass es so sein könnte, doch ich war mir nie sicher. Doch jetzt, da du es sagst, kann ich es mir schon vorstellen. Ja, ich denke ich glaube es.“
„Dann wirst du es nicht schwer haben, zu deinen Wurzeln zurück zu kehren.“
Die grüne Frau verblasste plötzlich vor Josharas innerem Auge, im selben Augenblick kehrten die Geister der Toten des Clans zurück, die er auf dem Gewissen hatte. Joshara erinnerte sich an die Worte des grünen Geistwesens und begann mit den Toten zu sprechen. Er erklärte ihnen die Worte der grünen Frau, er berichtete vom Übergang in ein neues Leben und, obwohl der eine oder andere der Toten zuerst noch etwas zögerte, verschwanden sie nach und nach und kehrten nicht mehr zurück. Zum ersten Mal seit mehreren Monden konnte Joshara entspannt schlafen und sich erholen.
Als es hell wurde, hatte er zwar nur kurz geschlafen, doch er fühlte sich wunderbar erholt und voller Tatendrang. Er fand noch Glut in der Feuerstelle und hatte deshalb rasch einen heißen Tee als Morgentrunk. Während er den Becher in seinen Händen hielt und vorsichtig an dem heißen Trunk nippte, erinnerte er sich an seinen Traum.
Seltsam, die Erinnerungen an die grüne Frau Kaana, sie waren so deutlich in seinem Gedächtnis gespeichert, als hätte es sich nicht um einen Traum sondern um eine tatsächliche Begegnung gehandelt. Jede Silbe, jede Geste, alles war da. Selbst an die Kleinigkeit erinnerte er sich, dass er am Ende, als sie weg ging und vor seiner Wahrnehmung verblasste, noch ihre in einem kräftigen rot leuchtenden Handflächen und Fußsohlen wahrgenommen hatte. Wie war es möglich, dass sich eine Traumgestalt derart dauerhaft in seinen Geist eingraben konnte?