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Gawinth Islaandar ist der erstgeborene Sohn des Grafen von Thule und er ist Inuit. Ein schlimmeres Schicksal und ein kürzeres Leben kann niemanden beschieden sein, denn die Gesetze des Grünen Landes und seiner Priesterherr-scher verlangen, dass jedes als Inuit geborene Kind unmit-telbar nach seiner Geburt den Hunden zum Fraß vorgewor-fen werden muss. Gawinths Mutter verweigert den Gehor-sam und Gawinth wird den Vikingern des Sigurd überge-ben, damit er unter ihnen aufwachsen soll. Wie alle Söhne Islaands wird Gawinth zum Krieger erzogen, doch er bleibt ein Außenseiter in der Gesellschaft der Vikinger. Doch eines Tages taucht ein Händler und Seefahrer aus Punien in Reykjavik auf und nimmt Gawinth mit. Sie segeln ins Grüne Land, denn es gibt dort nicht mehr Inuitsöhne der-selben Mutter und auch Gawinths vier Halbbrüder landen auf dem Schiff des Puniers. Zusammen segeln sie vor dem Nordwind nach Süden und entwickeln sich zu einer ver-schworenen Gemeinschaft, den Paesano. Zur selben Zeit, weit weg im Nordosten, an der Grenze zu Asien wird ein junges Mädchen von einer längst tot ge-glaubten Kriegerlegende aus der Gewalt der Hexe Sungaeta befreit. Ihr Name ist Moira na Perm und ihr Name bedeutet Schicksal. Der uralte Krieger erzieht und formt aus Moira eine exzellente Kämpferin und weißt ihr, ehe er diese Welt verlässt eine Aufgabe zu. Sie soll nach Westen gehen, wo sie auf das Königreich der Pferde und auf die Evokati tref-fen wird. Dort, so heißt es, soll sich das Schicksal erfüllen. Moira nimmt die Aufgabe an. Zusammen mit ihren beiden Steppenhengsten und in Begleitung ihres Totemtieres, eines riesigen Tigers aus der Taiga am Amur durchquert sie die Länder im Osten Europas um in das Reich Tedesco und zu den Evokati, den Auserwählten der Pferde zu gelangen. Altersempfehlung des Autors: Nicht unter 16 Jahren
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Seitenzahl: 826
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Impressum
Texte: © Copyright by Rudolf Jedele
Umschlag:© Copyright by Rudolf Jedele
Titelbild:© Copyright by G. Gödel-Meyer
Druck:epubli ein Service der
neopubli GmbH, Berlin
ISBN 978-3-****-***-*
Printed in Germany
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
„Du willst dich also tatsächlich davon machen, Bruder?“
„Was bleibt mir denn noch zu tun?
Es ist alles längst getan, was ich tun musste und der Schmerz in meinen Eingeweiden tobt immer schlimmer. Ich mag aber nicht mehr leiden und deshalb ist es an der Zeit, dass ich gehe. Die Zeit so vieler guter Männer ist schon gekommen, so viele Freunde sind von uns gegangen, meine Frau hat mich schon vor unendlichen Jahren allein gelassen und reitet durch die sonnigen Steppen ihrer Jenseitswelt. Deine Frau ist ebenfalls in die tannengrünen Gefilde ihrer Geistheimat verschwunden und wartet dort seit endloser Zeit auf dich.
Was also hält mich noch auf dieser Welt?“
„Ich?“
„Du? Ja, dir zuliebe würde ich auch noch bleiben. Aber schau uns an. Ich bin innerhalb weniger Monde ein Greis geworden, den das Gift einer schlitzäugigen Hexe von innen heraus zerfrisst, während du immer noch in bestem Saft zu stehen scheinst. Ich wäre nur noch ein Ballast für dich, wenn ich bliebe und wer weiß, am Ende würde uns die Hexe doch noch finden und dann wärst auch du verloren. Muss das sein? Ich sage nein, das muss es nicht. Deshalb werde ich diese Welt verlassen und zusehen, dass ich meinen Clan und meine Freunde wieder finde und ich werde das Zelt errichten und dich erwarten. Meine Schwester hat mich schon gerufen und auch mein Vater hat schon ein paar Mal nach mir fragen lassen.Es ist an der Zeit, dass ich gehe.“„Ich weiß ja, dass du Recht hast, Bruder. Auch ich sehne mich danach, diese Welt verlassen zu können und endlich meine Ruhe zu finden. Auch ich habe genug von all den Kämpfen, der ewigen Unrast, den unendlichen Wanderungen und der vielen Verluste, die wir erleiden mussten. Doch mir ist es scheinbar noch nicht vergönnt und so fällt es mir schwer, dass ich einen Weg ohne dich zu Ende gehen muss, wo du doch seit meinem ersten Schrei bei mir warst.Bruder, ich wünsche dir deshalb eine bessere letzte Reise, als du sie mit mir hattest. Gib mir noch einmal deine Hand und dann mach dich auf den Weg. Lass die Schmerzen und Qualen hinter dir und grüße mir unser Land.“
„So soll es sein Bruder. Ich bitte dich aber noch um eines. Nimm meine Schwerter an dich und trage sie, bis du einen würdigen Platz findest, sie ebenfalls zu bestatten. Ich will nicht, dass sie in diesem verfluchten Land bleiben. Nimm auch meinen Dolch an dich, denn in ihm steckt immer noch ein Teil meiner Seele. Meinen Bogen aber verbrenne und wärme dich an seinem Feuer, vielleicht hilft dir dies, die Kälte zu überstehen. Bestelle den Wölfen meinen letzten Gruß, falls sie wieder kommen und nun soll es genug der Worte sein. Lass mich gehen.“
„Leb wohl, mein Bruder, die Sonne mag dich küssen, wenn du dein Ziel erreicht hast.“„Leb wohl mein Bruder und hör nicht auf den Weg zum Leben zu suchen.“
„So hast du den Weg also gefunden Bruder? Grüße mir die Heimat, lass sie wissen, dass auch mein Weg sein Ende finden wird und wir schon bald wieder gemeinsam jagen werden.“
Der Mann hatte einen großen Schlitten mit seinen Habseligkeiten bepackt und vor diesem Schlitten warteten vier starke Rentiere darauf, eine lange Reise zu beginnen.
Vor zwei Tagen war der alte Mann in den Abendstunden gestorben. Eine Nacht lang hatte der Überlebende sich seiner Trauer hingegeben, dann, als am nächsten Morgen die blasse Sonne des bevorstehenden Frühjahrs sich ihren kurzen Weg entlang des östlichen Horizontes bahnte, als die seit Monden anhaltende Mittwinternacht eine erste wahrnehmbare Unterbrechung erfuhr, war der Mann aus der Lethargie seiner Trauer erwacht und hatte begonnen, seinen endgültigen Abschied vom Freund und Bruder vorzubereiten.
Die vier Rentierbullen waren ihnen seit langer Zeit treue Weggefährten gewesen. Je zwei von ihnen hatten einen Schlitten gezogen, doch der Mann benötigte für sich allein nur noch einen Schlitten. Er packte seine Habe zusammen, seine Jagdwaffen und Felle und alles, was noch an Essensvorräten vorhanden war. Er packte den Schlitten sorgfältig und deckte die Last mit dem großen, silbergrauen Bärenfell ab, welches ihn auf all seinen Wegen begleitet hatte. Er hüllte sich in die zwar zerschlissene aber immer noch halbwegs warme Reisekleidung aus Rentierfellen, die ihm seine letzte Gefährtin, die mandeläugige Sorcha genäht hatte, dann legte er Feuer an der Außenhaut der Jurte und sah zu, wie die Rauchsäule aufstieg und sich mit den dichten und tiefhängenden Wolken der zu Ende gehenden Polarnacht vereinigte. In seiner Linken hielt er einen mannslangen, geraden Stab, der von zahllosen Kerben übersät war. Der Stab war aus dem Holz einer andalusischen Korkeiche geschnitten worden und seine Kerben sagten dem Wissenden, welche Zeit seit seiner Herstellung vergangen war.
Der Mann mochte es selbst nicht so recht glauben, aber er wusste, dass er diesen Stab seit seinem Abschied von Al Andalus, immer sehr sorgfältig geführt hatte. Am frühen Morgen hatte er die Kerben wieder einmal gezählt und so wusste er, dass seit dem Tag, an dem er bei Cadiz den Drachen bestiegen hatte, welcher ihn zusammen mit einer kleinen Streitmacht zur nebligen Insel gebracht hatte, ganz genau achthundertsechsundneunzig Jahre vergangen waren. Damals war er vierundzwanzig Jahre alt gewesen und somit bestand kein Zweifel daran, dass sein aktuelles Lebensjahr das neunhundertundzwanzigste war.
Ein unfassbares Alter.
Nur sein Bruder war ihm noch ein paar Jahre – sieben an der Zahl – voraus gewesen und wenn er nun zurückblickte, wusste er, dass es kein Segen gewesen war, so alt werden zu dürfen. Die Reihe der Menschen und anderer Lebewesen, die er auf seinem Weg durch die Jahrhunderte hatte zurücklassen müssen, war ungeheuer lang und voller schmerzlicher Erinnerungen.
„Eigentlich ist mir nur der ewige Himmel geblieben. Nur er war mir treu, nur er hat mich auf all meinen Wegen begleitet und mich niemals verlassen.“
Während seine Blicke dem Rauch hinauf in den Himmel folgten, begann vor seinem inneren Auge die Zeit rückwärts zu laufen.
Die Wölfe an seiner Seite hatten sich vierzehn Mal erneuert, seit sie im Tal der grauen Bären zum ersten Mal seinen Weg gekreuzt hatten.
Shaitan, den wundervollen schwarzen Hengst von uraltem iberischen Blut hatte er bei seiner Abreise nach Anglialbion zurücklassen müssen und auch den prächtigen Vollblüter Dunbeath konnte er damals auf seine Reise nach Norden nicht mitnehmen.
Eine Reise, die nur einem einzigen Zweck gedient hatte.
Die Schwerter der Macht waren aus der Welt zu schaffen, denn ihre Macht war zu groß, um von Menschen beherrscht zu werden. Obwohl irgendwann eine Idee des Guten die Herstellung der Schwerter begünstigt hatte, waren sie in den Händen von Sterblichen zu Werkzeugen des Bösen verkommen.
Shandra erinnerte sich an die Menschen, die ihn auf diesem Weg begleitet hatten.
Seine geliebte Shakira war diejenige unter den Menschen gewesen, die - neben seinem nun ebenfalls von ihm gegangenen Bruder – am längsten an seiner Seite gewesen war. Mehr als sechshundert Jahre waren sie Seite an Seite über die Erde gewandert, ehe sie dem heimtückischen Fluch und dem tödlichen Gift einer von abgrundtiefem Hass getriebenen Schamanin zum Opfer gefallen war.
Sorcha, die Frau aus Karakorum, die Enkelin der Schamanin Sungaeta war ebenso am Gift der Hexe gestorben, wie die vier Söhne und drei Töchter, die aus seinem Samen entstanden waren.
Kithuri, Sorchas jüngere Schwester hatte ebenfalls sterben müssen und mit ihr die beiden Töchter und der Sohn, Kinder aus den Lenden seines Bruders. Auch sie waren dem Hass der Schamanin zum Opfer geworden.
Natürlich waren das nicht alle Menschen und Tiere, die er hinter sich gelassen hatte, doch der Tod gerade dieser Menschen machte ihm besonders zu schaffen.
Der Mann spürte ein trockenes Würgen in seiner Kehle und aus den Tiefen seines Ichs stieg der brennende Hass in unverminderter Schärfe auf, ganz so wie er ihn in all den Jahren seit Shakiras Tod immer empfunden hatte.
„Sungaeta, die Zeit meiner Rache ist also gekommen. Jetzt, da auch mein Bruder mich verlassen hat, macht es keinen Sinn mehr, mich weiter zu verstecken. Ich werde mir zurück holen, was mein ist und ich werde die Rache vollstrecken, die ich dir am Totenfeuer Shakiras geschworen habe. Dreihundert Jahre habe ich gewartet, nun macht es keinen Sinn mehr, weiter zu warten.“
„Beim ewigen Himmel, der mein Begleiter durch alle Abschnitte meines Lebens war, schwöre ich es. Ich, der ich einst Shandra el Guerrero war, werde dich, Sungaeta dorthin stoßen, wohin du einzig und allein gehörst. Die tiefste Schwärze des Vergessens soll über dich kommen und wenn ich meine Rache erfüllt habe, wird es sein, als hättest du niemals einen Fuß auf die Erde gesetzt. Ich werde dich auslöschen und mit dir jedwede Erinnerung in den Gedächtnissen von Menschen und Tieren, die dir begegnet sind. Dies wird meine Rache sein und ich schwöre, sie wird vollständiger sein, als alles was ich je im Leben getan habe.“
Langsam trat der Mann, der sich selbst Shandra el Guerrero genannt hatte, noch ein paar Schritte näher an die wabernde Flammenwand heran, die seinen toten Ziehbruder Rollo in dessen Geistheimat gebracht hatte und wärmte sich die bloßen Hände. Lange würden die Flammen nicht mehr anhalten, das wenige an Nahrung, das die Jurte zu bieten gehabt hatte, war nahezu aufgebraucht und wenn die letzte Flamme aufgezüngelt war, würde er das kleine Horn einer Antilope mit der noch warmen Asche füllen, das Horn gut verschließen und sich dann auf den Weg machen, um seine letzte Aufgabe zu beginnen.
Der ewige Himmel sollte ihn begleiten und die Rentiere seine Lasten ziehen. Er hatte die Waffen von der Wand der Jurte genommen, auch den Bogen und die Pfeile seines Bruders, denn er brachte es nicht fertig, ein Gerät zu zerstören, das ihn und den Bruder so viele Jahrhunderte lang begleitet hatte. Er fragte sich zwar insgeheim, ob es jemals einen Menschen geben würde, dessen Kraft ausreichte, um diesen Bogen zu spannen und einen Pfeil von ihm abzuschießen, aber das waren Gedanken, über die sich andere den Kopf zerbrechen mochten, wenn es an der Zeit dazu war. Es waren die Waffen eines Helden und sie zu zerstören wäre ihm wie ein Sakrileg vorgekommen. So lag alles was er noch besaß gut verpackt auf dem Schlitten. Vier starke Rentiere würden ihn trotz seines beträchtlichen Gewichtes mühelos ziehen können. Der Krieger stellte seine Füße auf die Kufenenden des Schlittens und schnalzte mit der Zunge, ehe er einen gellenden Schrei ausstieß. Der Zeitpunkt war gekommen, der Schrei war das Signal für die Rentiere und mit einem mächtigen Ruck warfen sie sich in die Riemen, krachend lösten sich die festgefrorenen Kufen des Schlittens vom Schnee und dann waren sie unterwegs
Nun ging es endgültig nach Süden. Die beiden starken Wölfe begleiteten ihn, sie mochten ihm den Rücken frei halten. Über mehr Hilfe verfügte er nicht, mehr würde er auch nicht brauchen.
Shandra lenkte den Schlitten nach Südwesten und der ewige Himmel bestätigte ihm, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Plötzlich und absolut ungewöhnlich für die Jahreszeit riss die graue Wolkendecke auf und die gewaltige Kuppel des stahlblauen Himmels wurde sichtbar. Es war nur ein kurzes Aufblitzen, nur ein jäher Augenblick, doch er genügte Shandra als Zeichen.
Ein leises Lachen kam aus seiner Brust, er fühlte die Befriedigung in seiner Brust aufsteigen, er wusste, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
„Komm, trau dich und betritt mich. Dringe ein in mein Reich und erlebe, wie ich dich vernichte, ohne dass ich mich dazu auch nur im Geringsten rühren müsste.“
Neunzehn Tage waren vergangen, seit Rollo im Rauch des Feuers zu seinen Ahnen gegangen war. Neunzehn Tage auch, da sich zum ersten Mal ein rosaroter Streifen am östlichen Horizont des Himmels der Polarnacht gezeigt hatte und nun lag die Tag- und Nachtgleiche des Frühjahrs nicht mehr fern. Jeder Tag wurde durch ein wenig mehr Licht erhellt und die Lufttemperatur stieg ganz allmählich bis in den Bereich, da das Eis zu schmelzen beginnen würde.
Shandra erkannte, dass die Zeit vorüber war, da er in gemütlichem Tempo durch die im Frost erstarrte Tundra bummeln und zugleich seinen Gedanken nachhängen konnte.
Vier Tage, so schätzte er, müssten genügen, um den Jenizzei ein letztes Mal zu überqueren und danach sollte er in der Lage sein, in höchstens zehn Tagen den Anstieg zum Waldland, zur Taiga zu überwinden und den Saum des Urwaldes zu erreichen.
Dort würde er seinen Schlitten entladen und all sein Hab und Gut zu vier Packlasten bündeln müssen, welches er den Rentieren auf den Rücken schnallte. In der Taiga war es unsinnig, sich mit einem Schlitten auf eine Reise zu begeben.
Die Taiga stellte eine weitere Herausforderung für Geist und Körper eines Reisenden dar. Niemand vermochte das Alter der Bäume auch nur zu erahnen, die in diesem Gebiet wuchsen. Sicher war nur, dass das Alter dieses gewaltigen Urwalds nicht in Jahrhunderten sondern in Jahrtausenden zu bemessen war. Die Bäume ragten bis in den Himmel und das Unterholz war zumeist so dicht, dass ein Wanderer froh sein musste, wenn er zu Fuß und mit Packtieren durch kam.
Shandra war mehrfach bis tief in die Taiga hinein vorgestoßen, doch dann hatte er immer wieder umkehren müssen, weil der Bannzauber der Hexe Sungaeta ihn dazu gezwungen hatte.
Jetzt, da er am Ufer des Stroms stand, erzeugte der Gedanke an Sungaeta ein grimmiges Lächeln auf Shandras Gesicht. Ein Lächeln allerdings, das selbst unter wohlmeinendsten Umständen niemals als Ausdruck der Freundlichkeit zu deuten gewesen wäre.
Rollo war gegangen und damit hatte der Bann der Hexe den größten Teil seiner Wirkung auf Shandra verloren.
Während die Rentiere den schweren Schlitten in flottem Tempo über das Eis des Jenizzei zogen, hing Shandra seinen Gedanken nach.
Sungaeta war vermutlich die mächtigste unter den zahlreichen Hexen der Rentiervölker. Sie war eine Schamanin, die in innigster Verbindung zu den Welten der Geister und Dämonen stand, so sagte man und sie war uralt. Vielleicht sogar älter als Shandra. Sie wusste von Ereignissen aus angeblich eigenem Erleben zu berichten, die schon weit in der Vergangenheit lagen, als Shandra geboren worden war und sie schien allwissend zu sein. Sie kannte unzählige Einzelheiten aus Shandras Leben. Sie wusste um seine Herkunft und sie wusste um den Verbleib von Shaktar und Sombra. Sie wusste um die Schlachten und Kriege mit den Anglialbions und um Shandras Siege.
Sie wusste aber nichts über den Verbleib der magischen Klingen und das war es vermutlich gewesen, was sie zu Shandras erbitterter Feindin werden ließ.
Als die vier Freunde auf ihrer Reise nach Süden das Land Sibirsk durchwanderten und eines Tages die Siedlung Karakorum erreichten, ein Städtchen mit ein paar hundert Einwohnern und zwei Dutzend Handelsposten verschiedener Pelzhändler aus aller Herren Länder, waren sie von Sungaeta bereits erwartet worden.
Sungaeta war nicht nur Schamanin, sie war zugleich die Herrscherin über Karakorum und über die nördlichen Sippen der Rentiervölker. Ihr Ziel aber war es, die Herrschaft über alle Rentiervölker zu gewinnen und dazu wären die magischen Klingen –wenigstens eine von ihnen – mehr als nur gute Helfer gewesen.
Die Freunde waren in Karakorum zunächst gut empfangen und im Hause der Schamanin untergebracht worden. Sungaeta hatte große Bankette veranstaltet, um ihre weitgereisten Gäste zu ehren und sie hatte Shandra ins Vertrauen gezogen und ihm ihre Pläne offenbart. Ohne jeden Zweifel war sie von der Ausstrahlung des Kriegers zutiefst beeindruckt gewesen und ließ nichts unversucht, um ihn an ihre Seite zu bringen.
Sungaeta bewies Geduld und Einfühlungsvermögen und sie akzeptierte, dass Shandras Bindung an Shakira und seine Zusammengehörigkeit mit Rollo und Jelena von größerer Bedeutung waren als alles andere.
Sie bewies aber auch taktisches Geschick, denn ohne dass es den Freunden bewusst geworden wäre, hatte sie einen Bannzauber gewoben und dafür Sorge getragen, dass keiner ihrer Gäste auch nur auf die Idee kam, Sibirsk wieder zu verlassen. So vergingen die Monde und die Jahre und dann kam, was kommen musste.
Jelena begann zu altern und starb.
Rollo trauerte zusammen mit Shandra und Shakira viele Jahre lang um die Gefährtin, doch dann begegnete er der jungen Kithuri und begann sich langsam über den Verlust der blonden Reusin hinweg zu trösten.
Sungaeta beobachtete und versuchte immer wieder an das Geheimnis der magischen Klingen zu gelangen, doch was immer sie anstellte, sie biss auf Granit. Weder Rollo noch Shakira – von Shandra ganz zu schweigen – gaben ihr auch nur den kleinsten Hinweis über den Verbleib der Schwerter.
Da begann Sungaeta ärgerlich zu werden.
Eines Tages verschwanden die beiden wertvollsten Besitztümer Shandras spurlos aus dem Zelt der Freunde. Sowohl die kleine Rolle mit der magischen Haut als auch das Horn Olifant wurden am hellen Tag entwendet und tauchten nicht mehr auf.
„Geh und hole die magischen Klingen aus ihrem Verlies und übergib sie in meine Hände, dann mag deine Geliebte wieder gesund werden und noch viele Jahre an deiner Seite leben. Andernfalls …“
Ein gelangweiltes Achselzucken ließ offen, was die Alternative zu Sungaetas Forderung sein mochte.
Shakira starb innerhalb eines Jahres und Shandras Wut auf die Hexe war groß. So groß, dass er, nur um die Hexe zu ärgern, innerhalb weniger Monate eine andere Urenkelin Sungaetas in sein Bett holte. Sorcha war in vielen Dingen eine getreue Kopie Shakiras und ihr gelang, was Shakira nie gelungen war. Sie wurde von Shandra schwanger und gebar in sieben aufeinander folgenden Jahren sieben Kinder.
Auch Kithuri wurde von Rollo zur Mutter gemacht und mit jedem Kind, welches die beiden jungen Frauen zur Welt brachte, wurde Shandras Weigerung zur Preisgabe seines Geheimnisses konsequenter.
„Diese Schwerter dürfen niemals wieder in die Hände von Menschen gelangen, denn kein Mensch ist stark genug, der ungeheuren Macht der Klingen auf Dauer zu widerstehen. Eine der Klingen in deiner Hand wäre eine Bedrohung für dein Volk. Zwei der Klingen stellten bereits eine Bedrohung für die Menschheit dar und der Besitz aller Klingen würde diese Welt aus den Angeln heben. Nein, Sungaeta, du magst betteln oder drohen, du magst süß sein oder voller Wut, niemals werden wir dir die Klingen ausliefern. Nicht dir und auch nicht jemand anderem. Ich habe sie versiegelt und sie sollen bis ans Ende aller Zeit in dieser Versiegelung bleiben. Es ist dies die vernünftigste Lösung für alle.“
„Du wirst dich wundern, Hexe. Diesmal wird alles anders sein als du es erwartest!“
Shandra hatte schon vor langer Zeit aufgehört, seine Kampfreflexe zu üben. In der Einsamkeit der Tundra hatte es nichts gegeben, gegen das zu kämpfen es sich gelohnt haben würde. Doch seit die Jurte verbrannt war und sein Ziehbruder diese Welt verlassen hatte, war in Shandra der alte Kampfgeist wieder erwacht. Er hatte seine Übungen wieder aufgenommen und jetzt, da er den entscheidenden Schritt in den Schatten des Urwaldes tun musste, war er bereit wie seit vielen hundert Jahren nicht mehr. Seine Muskeln, die Bänder und Sehnen waren wieder geschmeidig und belastbar, wie es sich für einen Krieger geziemte und seine Reflexe wieder so schnell wie die einer Katze. Seine Schwerttechnik war ein wenig anders, denn das Dai Katana, das Rollo getragen hatte, war eigens auf dessen hünenhaften Masse angefertigt worden. Shandra hatte gelernt, mit der mächtigen Klinge umzugehen. Auch mit den Wurfmessern und Shuriken hatte er wieder und wieder geübt und er war sich sicher, es auch mit einem Dutzend Gegnern zugleich aufnehmen zu können. Genau darauf aber, so nahm er an, musste er sich gefasst machen. Sungaeta würde ihn ganz sicher nicht ohne Helfer erwarten.
So weit war es allerdings noch nicht.
Auf Grund der früheren Erfahrungen rechnete er damit, ungefähr drei oder vier Tagesmärsche tief in die Taiga eindringen zu können, ehe er von Sungaeta gestellt werden würde. Dann erst musste er kämpfen. Bis dahin konnte er noch weiter üben.
Shandra übte und er suchte und fand auf seinem Weg durch die Taiga genügend Übungspartner, die ihm alles abverlangten. In den Wäldern lebten eine Reihe von Räubern, die in Shandra und seinen Rentieren eine leichte und am Ende des Winters hoch willkommene Beute zu erkennen glaubten und ihn oft ohne zu zögern sofort attackierten.
Zweimal waren es Schneeleoparden, dann ein starker Luchs, doch sie alle gingen leer aus. Auch ein kleines Rudel schwarzgrauer Wölfe versuchte sein Glück. Dann war es ein mächtiger Braunbär und am Morgen des vierten Tages begegnete er dem eigentlichen König der Taiga.