Kaffee mit Käuzchen - Franziska Jebens - E-Book

Kaffee mit Käuzchen E-Book

Franziska Jebens

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Beschreibung

»Wir fühlten uns ein bisschen wie zwei Kinder, die von zu Hause ausgerissen waren und im Wald ein großes Abenteuer erlebten.« Franziska und Carsten leben ein trubeliges Großstadtleben, bis sie – scheinbar gegen jede Vernunft – ihrem Bauchgefühl folgen und ein heruntergekommenes Forsthaus mitten im Wald kaufen. Aus der romantischen Wochenendhütte soll ein Ort zum Leben werden. Aber wie? Gefühlvoll und mit Humor berichtet die Autorin von ihrem Weg aus der Stadt in den Wald und von den Herausforderungen ihres neuen Lebensraums. Sie erzählt von weißen Hirschen im Morgenlicht, Wolfsspuren am Gartenzaun und Gießkannenduschen bei Eiseskälte. Am Ende wird klar, warum es sich unbedingt lohnt, die Komfortzone zu verlassen und seinem Herzen zu folgen – und wie lange es dauert, bis man völlig verwaldschratet ist.

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Stimmen aus dem Buchhandel

»Ein Buch zum Abschalten und Eintauchen in die Magie des Waldes! Dabei witzig und erfrischend geschrieben.«Nadine Hochrein, Buchhandlunggeschichten*reich in Seligenstadt

»Berührend und bewundernswert! Lesenswert für alle, die einen Traum haben und Bestärkung brauchen, dass man alles lernen, schaffen und erreichen kann. Großes Lesevergnügen!«Stephanie Schulz-Jander, Buchhandlung im Wohld in Altenholz

»Franziska und Carsten Jebens haben ihren Traum verwirklicht und sich ein Idyll abseits des Großstadttrubels geschaffen – ehrlich und authentisch beschreiben sie die Umsetzung. Ihre Lesung in unserer Buchhandlung war eine der schönsten bisher und noch heute werden wir von unseren Kunden darauf angesprochen.«Tina Krauskopf, Buchhandlung Krauskopf in Neumünster

»Ich war dabei – mitten im Wald – habe das Häuschen wachsen sehen, die Tiere gehört, die Stimmung aufgesogen und bin dankbar für die wundervollen Zeilen. Eines meiner Lese-Highlights 2019!«Annerose Schraven, Buchhandlung Erlesenes in Heide

Für Carsten

»Und was ist der Preis für so ein Leben im Wald?«»Schmutzige Füße von April bis Oktober.«

Inhalt

Wildschweinsafari

Teil ILove & the City

Glasklar • Hip-Hop • Ein Königreich in einer Wohnung • Zu meinen Füßen • Birthday Bliss • Meer oder Mehr • Der Laden • In der Ruhe liegt der Platz • Italo-Pop • Ein Haus vor lauter Bäumen • Weiß kommt von Wissen • Napoleon • Champagner für alle!

Teil IIMit einem Fuß im Wald

Starstruck Starlight • In anderen Augen • Weiße Wanderer • New York, Rio, Tokio • Kuhfuß • Wildschwein-Party • Unsere Hood • Kurzer Prozess • Waschmaschinen-Blues • Herbst • Leitungswasser! • Flexen • Die kleine Schmiddie • Hunde, die bellen, schwimmen nicht • Verwaldschratung • Torte • Couch Potato • Waldwechsel • Winter-Wonderwald • Schaukeln • Have a break, have a kitten cat • Drill-Sergeant

Teil IIIChaosjahre unterm Blätterdach

Waldarbeit • #landylife • Einkisten • Schmerzlich vermisst • Home works • Morsch • Dov’è la Schmiddie • Wald-Loft • Losing it

Teil IVVerwurzelt

Waldmusik • Birkin und Bussard • Ein ganz normaler Morgen • Einschlag • Kaufen, kaufen, kaufen • Collateral Damage • Abflug • Kontrastprogramm • Jahreszeiten • Verwaldschratung II • Das übliche Besondere • Glück gehabt • Mitten ins Schwarze • Ende und Anfang • Ofenvogel • You can take the girl out of the woods, but you cannot take the woods out of the girl

Nachwort

Danke …

Wildschweinsafari

»Schmiddie! Hierher!«

Schmiddie, die gerade aufgeregt einer Wildfährte folgt, bleibt zwar stehen, kommt aber nicht zurück. Sie hat ihr Rückenfell aufgestellt – das bedeutet Gefahr!

Nur wenige Meter vor ihr knackt es laut in den dichten Blaubeerbüschen.

Ein monströses Wildschwein, weitaus größer und massiver als unsere schon ziemlich große und massive Vierzig-Kilo-Hündin, taucht wie aus dem Nichts auf und macht keinerlei Anstalten zu fliehen. Es hat riesige Hauer und sieht nach Ärger aus.

Ich stehe etwa zwanzig Meter entfernt und bekomme weiche Knie. Meine Gedanken rasen: Wo ist der nächste Baum, auf den ich mich retten kann? Wie kann ich meinen Hund dazu bringen, mit mir auf den Baum zu kommen? Und warum, um Himmels willen, war ich noch mal gleich in den Wald gezogen?

Es gibt keinen geeigneten Baum in der Nähe. Hund und Wildschwein stehen einander regungslos gegenüber und starren sich direkt in die Augen.

Ich versuche es noch einmal sehr laut und bestimmt: »Schmiddie, hier!!«

Endlich wendet sie sich von dem Keiler ab und rennt auf mich zu. Gott sei Dank!

Doch meine Erleichterung verpufft, als das Wildschwein wider Erwarten nicht wegläuft, sondern hinter Schmiddie her und direkt auf mich zu galoppiert …

Ruhig bleiben, denke ich, aber mir wird gleichzeitig heiß und übel.

Die Geschichte eines hiesigen Jägers fällt mir ein, der ein angreifendes Wildschwein im Nahkampf mit einem Messer getötet und sich dabei schwere Verletzungen zugezogen hat. Ich habe noch nicht einmal ein Messer bei mir.

Das Ungetüm rast schnaubend auf mich zu und ist nur noch wenige Meter entfernt.

Ich bin wie gelähmt.

Erst kurz vor mir dreht es abrupt ab und verschwindet im Dickicht.

Ich muss mich erst einmal auf den nassen Waldboden setzen. Meine Beine sind wie Wackelpudding.

Schmiddie setzt sich aufgeregt hechelnd ganz dicht neben mich, sodass ich mich bei ihr anlehnen kann. Ich begreife noch nicht wirklich, was da gerade passiert ist.

Als ich meine Beine wieder unter Kontrolle habe, laufen wir auf dem kürzesten Weg nach Hause, wo wir uns vor dem warmen Ofen von dem Schreck erholen und ich Carsten von unserem Abenteuer erzähle …

TEIL I

LOVE & THE CITY

Glasklar

Ganz kurz vor meinem Rückflug aus Australien erreicht mich Caros Mail: »Wenn du nächste Woche bei uns bist, würde ich total gern ein Abendessen mit Martin, Sina und Carsten organisieren. Es wäre doch schön, wenn wir uns alle mal wiedersehen und deinen Abschluss und deine Reise feiern. Was hältst du davon?«

»Na klar, warum nicht. Ich freue mich so sehr auf dich! Kuss!

PS: Welcher Carsten denn?«, schreibe ich völlig ahnungslos zurück.

Ihre Antwort erreicht mich nicht mehr.

Ich steige in das Flugzeug, das mich in 24 Stunden von Sydney über Dubai nach Hause bringt, und denke nicht weiter darüber nach.

Zwei Wochen werde ich noch an der Nordseeküste bei meinen Eltern verbringen, bevor es in München für mich so richtig losgehen soll. Dieses komische Gefühl, das ich nicht einordnen kann und das immer dann auftaucht, wenn ich über meine Zukunft in München nachdenke, wird nun von Tag zu Tag stärker. Was ist das bloß? Ich bin aufgeregt, das muss ich zugeben.

Mein erster Job als Assistentin in einer Agentur für Modemarketing steht mir bevor und macht mich schon ein bisschen nervös. Ob ich die Aufgaben meistern werde, die da auf mich zukommen? Ob es mir dort gefällt? Eigentlich sollte ich doch voller Vorfreude sein. Aber irgendetwas stimmt nicht. Vielleicht ist es ja auch München selbst? Das australische Hang Loose ist mir in den letzten zwei Monaten sehr ans Herz gewachsen und passt so gar nicht zu dem Pulsschlag der Stadt, der mich erwartet. Job und München künftig entsprechen zu müssen, verunsichert mich schon hin und wieder.

Das Flugzeug hebt ab, und mir wird etwas flau im Magen. Ich kann nicht genau sagen, ob es an dem ruckeligen Start oder an meinen ruckeligen Gedanken liegt.

Seltsame Gefühle beiseitezuschieben, als ich mit vom Wind zerzausten Haaren in Byron Bay saß und auf die Wellen blickte, war einfach. Jetzt, über den Wolken mit direkter Destination Richtung Zukunft, ist es das nicht mehr. In zehntausend Metern Höhe rase ich auf meinen nächsten großen Lebensabschnitt zu. Ich habe den Drang, die Stewardess zu fragen, ob wir nicht doch lieber umdrehen können. Stattdessen bestelle ich ein Bier, schaue einen Film an und schlafe wenig später ein.

In dem Moment, in dem der Flieger aufsetzt, fällt mir ein, welchen Carsten Caro gemeint hat: ihren Bruder!

Ich erlaube mir eine kurze Erinnerung an den Moment, als ich ihn das erste Mal sah: 1998 – irgendwann im Sommer. Damals war ich noch nicht mal ganz volljährig. Bei dem Gedanken an die Zeit muss ich schmunzeln. Meine Besty Caro und ich wollten Popstars werden, und wir meinten es sehr ernst damit. Glücklicherweise hatte Caro einen zehn Jahre älteren, angeblich sehr wilden Bruder, den ich bisher nur aus Geschichten kannte. Dieser Bruder verdiente seinen Lebensunterhalt als Fahrradkurier und machte nebenbei selbst Musik. Er hatte Caro zugesagt, dass wir uns in dem Proberaum seiner Band mal ausprobieren dürften. Und da kreative Prozesse ja meistens einige Stunden dauern, könnten wir in der großen Stadt Hamburg bei ihm übernachten.

Als wir angekommen waren, klingelten wir und erklommen aufgeregt schnatternd die Terrazzo-Treppenstufen des Mietshauses. Noch nicht ganz oben, ging über uns schon eine Tür auf: Ich schaute hoch, die ganze Welt stand still, und ich hörte nur noch mein Herz laut in meiner Brust schlagen. Unsere Augen trafen sich, und ich war wie gebannt. Gleichzeitig wurde ich rot und schaute lieber schnell wieder weg.

Wieso hatte ich nicht gewusst, dass meine beste Freundin so einen Bruder hatte?

Nachts lagen Caro und ich in unseren Schlafsäcken nebeneinander und schwiegen in der Dunkelheit, bis ich mich traute, ihr zu gestehen: »Du – ich glaub, ich steh auf deinen Bruder.«

»Vergiss es. Der ist vergeben und hundert Prozent treu. Da hast du keine Chance …«

Damals wusste ich Treue noch nicht so zu schätzen und wollte diese Herausforderung gern annehmen. Aber sie behielt recht. Meine Flirtversuche liefen ins Leere, und nach einiger Zeit gab ich auf.

Er stand einfach nicht auf mich.

Und das alles spielt ja jetzt auch keine Rolle mehr, denn mein Leben wird in München stattfinden, rufe ich mich zur Ordnung.

Alle undefinierbaren Gefühle sind weg, als ich dann am Flughafen meinen Eltern in den Armen liege.

»Endlich bist du wieder in Sicherheit.« Meiner Mutter fallen sichtlich eine Menge Steine vom Herzen.

Wir gehen zusammen frühstücken. Der dicke Pfannkuchen auf meinem Teller sieht als Kopfablage sehr einladend aus. Ich bin unfassbar müde, beantworte aber trotzdem die vielen Fragen meiner Eltern und freue mich jetzt doch voll und ganz, wieder zu Hause zu sein. Ist ja noch ein bisschen hin, bis ich nach München muss, geht es mir durch den Kopf.

Meine Eltern setzen mich später vor Caros Wohnung ab. Wir umarmen uns eine halbe Ewigkeit. Sie bestaunt mein Muschelfußkettchen, das ich in einem Workshop irgendwo an der Küste Australiens selbst aufgefädelt habe, und wir verbringen den Nachmittag damit, meine Müdigkeit zu vertreiben und uns die letzten zwei Monate zu erzählen. 

»Kommt Carsten heute Abend wirklich? Und wie geht es ihm?«, frage ich neugierig.

»Ja, er kommt.« Sie lächelt. »Ihm geht es gut. Carsten hat sich von Lisa getrennt. Er arbeitet jetzt nicht mehr als Fahrradkurier, sondern als Decksmann im Hafen und ist inzwischen auch als Musiker solo unterwegs. Er macht ziemlich guten Rap.« Sie lächelt weiter.

»Aha. Wieso grinst du denn so?«

»Ich grinse doch gar nicht.«

»Doch. Du grinst …«

Dann klingelt es an der Tür. Unsere gemeinsame Freundin Sina und Carsten haben sich unten zufällig getroffen und kommen gemeinsam die vier Stockwerke hoch.

Als Caro ihren Bruder begrüßt und ich Sina umarme, habe ich kurz Zeit, Carsten zu mustern. Er ist immer noch total mein Typ. Kurz rasierte Haare, Bart, groß und stark, eine Bulldogge auf den Oberarm tätowiert.

Er hat sich also gerade getrennt …

Als wir so zusammensitzen, uns die Lasagne schmecken lassen und uns unterhalten, merke ich, wie gut es tut, wieder zu Hause zu sein. Wie schön es ist, mit alten Freunden Neues auszutauschen, aber auch alte Geschichten heraufzubeschwören und sich gemeinsam zu erinnern.

»Wisst ihr noch, als wir mal Popstars werden wollten?«, frage ich belustigt in die Runde, und mein Blick bleibt an Carsten hängen, der mich anlächelt, nickt und sagt: »Ja, als wäre es gestern gewesen!«

Und die Art, wie er mir dabei mit seinen unglaublich blauen Augen direkt ins Herz zu blicken scheint, jagt mir eine Gänsehaut über den Körper.

Zwei Tage später sitze ich bei meinen Eltern auf dem Sofa, und mein Handy piept.

»Hast du Lust, einen Kaffee mit mir trinken zu gehen? Carsten«

Ich bin perplex und brauche etwas Zeit, um die überraschende Einladung zu verdauen. Als wir uns nach dem Abendessen bei Caro voneinander verabschiedeten, hatte Carsten nicht nach meiner Nummer gefragt. Ich nahm an, einfach damit leben zu müssen, mich immer wieder zu einem Mann hingezogen zu fühlen, der kein Interesse an mir hat.

Und nun diese SMS. Steht er also vielleicht doch auf mich?

»Hast du deinem Bruder meine Handynummer gegeben?« Während ich Caro schreibe, realisiere ich, dass mein Herz ein bisschen schneller schlägt.

»Er hat danach gefragt …«, kommt postwendend die Antwort.

In Oma’s Apotheke im Hamburger Schanzenviertel sitzen wir uns einen Tag später gegenüber und trinken einen Kaffee. Wir haben uns durch das trubelige Lokal gekämpft und ganz hinten in der Ecke den allerletzten und allerkleinsten Tisch ergattert.

»Hast du Lust, mir ein bisschen von deiner Reise zu erzählen?«

»Na klar.«

Und ich lege los, schwärme von meinem Segeltörn auf den Whitsundays, meinem Aufenthalt im Outback, wo mir Riesensalamander, faustgroße Spinnen und Dingos begegneten, und berichte begeistert von Melbourne und Sydney, wo mir die Menschen so easy und gut gelaunt erschienen.

Carsten hört zu, ist aufmerksam und lustig und fragt nach.

Ich fühle mich wohl. So wohl, dass ich, als ich zwischendurch auf die Toilette gehe, ein leichtes Kribbeln in meinem Bauch bemerke.

Die Stunden vergehen wie im Flug. Als ich in Richtung unserer gemeinsamen Heimatstadt an die Nordseeküste aufbrechen muss, beschließt er spontan, mich zu begleiten.

Unterwegs besuche ich meine Großmutter, die im Altersheim wohnt.

Als ich nach dem Besuch sehr traurig aus dem Gebäude trete, steht er da und hält eine einzelne, rosafarbene Wicke in der Hand. Ich kann meine Tränen nicht stoppen.

Wir fahren ans Wasser. Auf dem Deich stolpere ich, er ergreift meine Hand und bewahrt mich vorm Fallen.

Seine Hand ist groß, warm, stark, aber gleichzeitig ganz weich.

Hier bei ihm wird es mir immer gut gehen. Dieser Gedanke schießt wie ein Pfeil von meinem Herzen in meinen Kopf, und doch löse ich meine Hand aus seiner.

»Geht schon«, flüstere ich in seine Richtung. Stunden später noch fühle ich diese intensive Berührung. Sie hat den Schleier, der über meine Gefühle ausgebreitet war, einfach weggezaubert.

Ich sehe glasklar.

Hip-Hop

Das Geräusch meiner Absätze auf dem Parkettfußboden ist der einzige Laut, der mich bis zur Eingangstür der Marketingagentur begleitet, die ich nun zum allerletzten Mal verlasse.

Schon auf dem Weg zu meinem schwarzen Lupo fühle ich, wie die kiloschweren Steine, die seit meinem ersten Tag in der Firma auf meinen Schultern lasteten, sich in Luft auflösen: Der cholerische Chef, der Druck, das obligatorische Feierabend-Schlechte-Gewissen, die Erwartung ständiger Verfügbarkeit – und bei alldem noch unendlicher Dankbarkeit meinerseits dafür, dass ich die Ehre hatte, jegliche Ansprüche für ein klitzekleines Gehalt erfüllen zu dürfen – gehören nun glücklicherweise der Vergangenheit an.

Eine Zeile aus einem von Carstens Songs beschreibt dieses für mich so ungute Arbeitsverhältnis ziemlich treffend: »Ey, du bist ja gar nicht Hip-Hop.«

Und jetzt ist ein Schlussstrich gezogen.

Ich bin nämlich Hip-Hop – und ich werde nach Hamburg ziehen!

Entschlossen starte ich den Motor und fahre los. In meine ungewisse Zukunft, aber vor allem dorthin, wo mein Herz schon längst wohnt, seit Carsten mich auf dem Deich vorm Fallen bewahrt hat.

Erst als die Fliehkraft einer Kurve mich in den Fahrersitz meines Lupos drückt, merke ich, dass ich viel zu schnell unterwegs bin. Und meine Gedanken rasen genauso. Die erste Euphorie über meine Spontan-Kündigung ist schon kurz hinter Würzburg etwas abgeebbt, und Mr Zweifel macht sich breit: Hättest du es nicht doch noch ein wenig länger aushalten sollen? War es wirklich so schlimm? Den ersten Job nach dem Studium kann man doch nicht einfach so hinschmeißen! Vielleicht will Carsten ja auch gar nicht, dass du nach Hamburg kommst?! Und was machst du, wenn du für ihn nach Hamburg ziehst und ihr euch dann gleich wieder trennt?

Doch glücklicherweise gibt es auch noch Mrs Heart, und die weiß, dass es die richtige Entscheidung ist!

Bis zu meiner Ankunft verfestigt sich dieses Gefühl dann mit jedem Kilometer. Und endlich stehe ich vor Carstens Wohnungstür.

»Schön, dass du hier bist. Wie war die Fahrt? Komm rein«, begrüßt er mich und nimmt mir die Tasche ab.

»Willst du mit mir zusammenziehen?«, platzt es da auch schon aus mir heraus.

»Na klar! Wieso?«

»Nein, ich mein, jetzt gleich.«

»Hä?«

»Ich habe gekündigt!«

Ein Königreich in einer Wohnung

»Wie hieß noch gleich die Straße, die wir so schön fanden? Bei dem netten Café um die Ecke?« Ich schiebe Carsten die Jaffa-Keks-Packung hin, die wir uns als Trost in unserer Wohnungsmisere gegönnt haben.

Heute haben wir uns mit 53 Wohnungssuchenden durch eine Zwei-Zimmer-Baracke gekämpft und versucht, den Makler, den wir uns eh nicht leisten können, für uns einzunehmen und irgendwie positiv bei ihm in Erinnerung zu bleiben. Gar nicht so einfach, denn alles, was ich momentan als Job angeben kann, ist eine Aushilfstätigkeit am Empfang. Frustriert sitzen wir nun in unserem WG-Zimmer auf dem Fußboden herum.

»Du meinst die mit den alten Kastanien? Das ist die Ottersbekallee.«

Ich beschließe, dass wir dort fündig werden: »Lass uns doch versuchen, in dieser Straße eine Wohnung zu finden. Es gibt viele Leute, die Zettel an Laternen anbringen, dass sie eine Wohnung suchen. Lass uns doch auch so einen machen, einen richtig coolen. Und dann nur für die Ottersbekallee.«

Ich bin völlig überzeugt von meiner Idee und setze mich sofort an Carstens uralten PC, wo ich zwei schöne Bilder von uns in ein Word-Dokument einfüge und darunterschreibe: »Liebe Ottersbekallee, wir möchten Eure Nachbarn werden.« Plus Zahlen, Daten, Fakten usw.

Eine halbe Stunde später sind wir in der Ottersbekallee unterwegs und kleben unser Gesuch an die Laternenpfähle.

Und ein kleines Wunder geschieht. Schon nach kurzer Zeit bekommen wir tatsächlich ein Angebot.

»Haber hier. Guten Tag. Ich habe Ihre Nummer von dem Zettel in der Ottersbekallee. Ich spreche doch mit Frau Jebens, oder?«

»Ja? Können Sie uns helfen?«

»Na ja, ich bin aus einer sehr schönen Wohnung in der Ottersbekallee ausgezogen. Also, wenn Sie es genau wissen wollen: Es ist die Nummer 56. Die Wohnung mit dem größten Balkon in der ganzen Ottersbekallee. Und mein Vermieter hat noch keine neuen Mieter, soweit ich weiß. Also, vielleicht kontaktieren Sie ihn mal, wo Sie doch so gern in der Ottersbekallee wohnen wollen?!«

Ich jubiliere und kann mich gerade noch zurückhalten, nicht ins Telefon zu kreischen: »Her mit der Nummer!«

Carsten und ich tippeln aufgeregt von einem Fuß auf den anderen, als wir die Nummer von Herrn Holthusen, dem Besitzer, wählen.

»Mmmh, aha. Frau Haber. Ja. Sie hat mir schon Bescheid gesagt. Sie können die Wohnung natürlich gern besichtigen. Was sagten Sie, machen Sie beruflich? Ach so. Hm, hm. Aha. Soso. Na ja. Hat Frau Haber Ihnen schon gesagt, wie viel die Wohnung kostet? Nein. Na gut, also, das sind 950 Euro zuzüglich Nebenkosten. Aha. Trotzdem anschauen? Na gut. Okay. Dann kommen Sie am besten nächsten Dienstag vorbei …«

950 Euro plus Nebenkosten! Das können wir uns nicht leisten.

Aber die Ottersbekallee … der größte Balkon … Wir können sie uns ja zumindest mal anschauen, beschließen wir. Da Dienstag noch vier Tage hin ist, fahren wir gleich los, um unsere Neugier zu befriedigen.

Wir sehen den Balkon schon von Weitem. Er ist wirklich gigantisch und wird wunderschön eingerahmt von den Kastanien, die die Straße säumen.

Ein Maler ist gerade am Geländer zugange. Durch die Balkontür sehen wir weiße Wände und Stuck. Wir schlendern noch ein paarmal an der Wohnung vorbei und träumen uns in sie hinein.

Die Besichtigung findet in einem paradiesischen Paralleluniversum statt – die Wohnung ist so wunderschön, dass sie nicht von dieser Welt sein kann: dreieinhalb Meter Deckenhöhe, Echtholzparkett, Rosen, Blüten und kleine Engel im Stuck. Hier will ich wohnen. Für immer. 950 Euro plus Nebenkosten? Pfft. Egal. Das klappt schon.

Ich habe extra mein schickstes Kleid aus meinem Koffer gezogen und es auf dem Boden des WG-Zimmers gebügelt. Carsten hat sich sogar ein Oberhemd gekauft. Wir kommen uns ein bisschen vor wie ein Hochstaplerpaar aus einer amerikanischen Screwball-Komödie aus den Fifties. Sind wir wirklich schon so erwachsen, dass wir hier vielleicht wohnen dürfen, oder spielen wir das nur?

Als Herr Holthusen kurz telefoniert, flüstere ich Carsten zu: »Stell dir das doch nur mal vor. Wir in dieser Wohnung. Das wäre doch unglaublich, oder?«

»Oder total normal«, antwortet Carsten voller Zuversicht.

Zwei Tage nach unserer offiziellen Besichtigung im Dreamy-Wohnung-Wonderland klingelt mein Telefon.

»Carsten, Carsten. Das ist die Nummer von Herrn Holthusen«, schreie ich aus seinem WG-Zimmer in die Küche und denke: Der will uns bestimmt absagen.

»Jebens …«

»Guten Tag, Frau Jebens«, meldet sich Herr Holthusen freundlich. Mittlerweile steht Carsten neben mir und hält sein Ohr auch ans Telefon. »Sie haben sich bestimmt schon gefragt, wie meine Entscheidung ausgefallen ist, nicht wahr? Na ja, also ich muss sagen: Ich habe mich für Sie entschieden, denn Sie waren die Einzigen, die unbedingt in der Ottersbekallee wohnen wollen.« Ich reiße Augen und Mund auf, kann mich gerade noch stoppen, Herrn Holthusen kein vor Freude schrilles »Ahhh!« ins Ohr zu brüllen, und springe auf und ab, während er fortfährt: »Den anderen, Mediziner und Anwälte übrigens, war die Straße schnurzpiepe. Aber Ihnen eben nicht. Das finde ich, nun ja, sagen wir mal so, sympathisch. Deshalb. Kurzum. Also, wie gesagt: Sie können einziehen.«

Außer Atem hauche ich: »Vielen Dank. Das tun wir gern. Wir freuen uns sehr!«

Nachdem ich aufgelegt habe, veranstalten Carsten und ich in unserem Zimmer einen wilden Freudentanz, bei dem ich mir den großen Zeh am Bett und Carsten sich den Kopf an der Deckenlampe stößt. Beides tut unserer guten Laune keinen Abbruch. Im Gegenteil. Ich realisiere, dass wir jetzt bald ein gemeinsames Zuhause haben werden, und das fühlt sich toll an.

Woher wir das Geld nehmen sollen? Ich weiß es nicht, und Carsten weiß es, glaube ich, auch nicht so recht. Aber wir wissen, dass diese Wohnung unsere Wohnung ist.

Und so ziehen wir am 1. Oktober 2004 mit einer Matratze, einem Fernseher und ein paar Kochtöpfen in diesen Drei-Zimmer-Palast mit übrigens nicht nur einem, sondern gleich zwei Balkonen ein.

Nach unserer ersten Nacht wache ich frühmorgens auf und weiß im ersten Moment gar nicht, wo ich bin. Das soll wirklich unsere Wohnung sein? Ich schleiche mich in die Küche und finde in unserem kleinen Umzugskarton meine alte, angebrannte Bialetti, die mich seit meinem viermonatigen Spanienaufenthalt nach dem Abi überallhin begleitet, und eine Dose mit Espressopulver.

Als der verbeulte Espresso-Kocher auf dem High-Tech-Cerankochfeld steht und vor sich hin zischt, trete ich zwei Schritte zurück. Hier ist wirklich alles vom Feinsten und ganz neu. Unser Vermieter hat uns – wie im Hotel – einen Liter Milch und Marmelade in den Kühlschrank gestellt.

Ich bringe Carsten seinen Kaffee ans Bett und schlendere mit meinem durch die Räume. Der Stuck strahlt mir entgegen, der Parkettboden ist frisch gewienert, und die Eckbadewanne freut sich auf meinen ersten Besuch.

Während meines Praktikums bei Visionaire in New York habe ich für fünfhundert Dollar in einem Durchgangsflur hinter einem Vorhang mein matratzengroßes »Zimmer« gehabt. Nun wohne ich für die doppelte Miete in einem Palast. Wenn man es so betrachtet, ist die Wohnung doch gar nicht mehr so teuer.

Zu meinen Füßen

Absage. Absage. Praktikum ohne Übernahme. Absage. Absage. Unbezahltes Praktikum. Praktikum. Praktikum. Antworten auf meine Bewerbungen, die ich nicht lesen will. Und immer wieder heißt es: »Zu wenig Berufserfahrung.« Zur »Generation Praktikum« zu gehören, ist ein Fluch. Ich habe bei einer angesehenen Modezeitschrift in New York ein Praktikum gemacht, bei einem Stadtmagazin in Tokio gearbeitet, habe einige Monate bei einer Produktionsfirma auf Mallorca gejobbt, bei McDonald’s auf Sylt hinter der Kasse gestanden, gekellnert, in der Redaktion eines TV-Senders hospitiert, bei einer Personalberatung ausgeholfen, bei einer PR-Agentur für Luxusmarken ein Volontariat absolviert und mehrere praktische Arbeiten im Rahmen meines Modejournalismus- und Medienkommunikations-Studiums abgegeben, die wirklich gut waren. Außerdem spreche ich fließend Englisch, Französisch und Spanisch.

Und jetzt bin ich frustriert und hilflos. Kein Job? Kein einziger?

Meinen Karrierestart habe ich mir definitiv anders vorgestellt. Eigentlich wollte ich als Redakteurin, Stylistin oder Marketing-Managerin um den Globus reisen, die Metropolen dieser Welt mein Zuhause nennen und mir in der Modebranche einen Namen machen. Und was habe ich bisher erreicht? Einen in der Probezeit hingeschmissenen Job und nun eine Aushilfstätigkeit am Empfang bei Warner Bros. Nicht besonders ergiebig. Die früher von mir angestrebte Karriere als weltreisende Modekritikerin ist mir zwar aktuell nicht mehr so wichtig, aber einen Job zum Geldverdienen hätte ich ja schon gern.

Außerdem geht es mir auf die Nerven, dass Carsten jetzt jede Nachtschicht annehmen muss, die er kriegen kann, damit wir uns die Wohnung überhaupt leisten können.

Als ich gefrustet und deprimiert von der Arbeit nach Hause komme, begrüßt mich Carsten schon an unserer Wohnungstür, als hätte er meine Gedanken gelesen.

»Ich habe eine Überraschung für dich.«

Statt mich in die Wohnung zu lassen, nimmt er mir die Handtasche ab und schließt die Tür. Wir gehen zusammen vier Stockwerke nach oben. Unter dem Dach angekommen, steigt er auf eine Leiter und öffnet die Dachluke. Er geht voraus und bedeutet mir, ihm zu folgen. Wenige Sekunden später liegt mir Eimsbüttel zu Füßen. Ein laues Lüftchen weht mir um die Nase, und ich stoße einen aufgeregten Juchzer aus, als ich einen gedeckten Tisch mit Kerzen entdecke. Sämtliche Jobs, die ich nicht habe, sind mir in diesem Moment herzlich egal. Noch ehe ich mich versehe, knallt ein Korken, wir stoßen an, und ich bin so unendlich und lächerlich glücklich, dass ich es niemals irgendjemandem beschreiben könnte.

Bald zeigt sich auch beruflich endlich ein Quäntchen Glück: Während ich bei Warner den Tür- und Telefondienst am Empfang verrichte und mich erneut verzweifelt durch die Stellenanzeigen im Internet scrolle, kommt eines Tages Katrin, die Assistentin des Marketing Directors, vorbei.

»Kannst du mir bei etwas helfen? Da könnten auch ein paar Extrastunden für dich rausspringen.« Sie weiß, dass ich einen Job suche und knapp bei Kasse bin.

»Na klar. Was brauchst du?« Ich schließe die deprimierenden Suchfenster und widme mich ihren Ausführungen.

Sie ist unter anderem für die Organisation der Filmpremieren zuständig und möchte, dass ich sie beim Versand der Einladungen für das nächste Event unterstütze.

»Bin dabei!«

Von nun an halte ich meine Ohren offen und bin sofort da, wenn Extra-Jobs verteilt werden. Unserer Haushaltskasse tut das gut. Genau wie die Nachtschichten, die Carsten nun wirklich jedes Wochenende im Hafen schiebt.

»Und du hast sie wirklich gefragt, ob sie in der Wohnung ihre Schuhe ausziehen kann?«, frage ich Carsten ungläubig.

Unsere Traumwohnung hat einen Wermutstropfen: Sie ist sehr hellhörig. Gelegentliche Gesprächsfetzen unserer Nachbarn sind nicht so das Problem. Aber über uns wohnt die Frau mit dem lautesten Gang der Welt, die noch dazu ein Faible für Stöckelschuhe hat …

»Und wie hat sie reagiert?«

»Sie hat mich gefragt, warum. Da habe ich gesagt, dass es hier im Haus sehr hellhörig ist, ich ständig wechselnde Schichten habe und dass es sehr nett wäre, wenn sie etwas Rücksicht nehmen könnte.«

»Und was hat sie da gesagt?«

»Ja, mal sehen …«

»Mehr nicht?«

»Nein. Das war alles.«

Mit einem ohnmächtigen Wutgefühl im Bauch tagträume ich Ally-McBeal-like, wie ich unsere Musikboxen umgekehrt an die Decke schraube, um Punkt drei Uhr in der Nacht Carstens »Best of Hardcore Metal«-Playlist in ohrenbetäubender Lautstärke zum Besten gebe und Madame »Mal sehen« mit elektrisiertem Haar aus dem Bett fällt.

Birthday Bliss

An meinem Geburtstag machen wir einen Ausflug an die Elbe. Als ich Carsten gestehe, dass ich noch nie hier war, lacht er.

Für meinen Geschmack und meine Schuhe laufen wir viel zu lange durch Gestrüpp und Sand. Ich habe mich ja schon daran gewöhnt, dass mein Freund jemand ist, der eine Wanderung durch die menschenleere Heide schöner findet als einen Brunch in einem schicken Café. Einer, der lieber, wie er es nennt, vernünftige Wanderstiefel für einen Ausflug anzieht als modische Schläppchen. Aber Funktionskleidung ist ein ganz anderes Kapitel. So weit sind wir noch lange nicht. Und werden wir auch nie sein.

Langsam werde ich wütend. Hätte ich gewusst, dass ich meinen Geburtstag damit verbringe, meine neuen Sandaletten zu ruinieren und schwitzend durch den Sand zu traben, hätte ich mich nicht auf das Elbe-Abenteuer eingelassen. Es wird später ewig dauern, bis wir wieder beim Auto sind.

»Jetzt sind wir da.« Carsten zeigt stolz auf eine kleine Ausbuchtung direkt am Wasser, die versteckt hinter Büschen liegt.

»Wow. Hier ist es wirklich total schön. Und so romantisch. Der Fußmarsch hat sich mehr als gelohnt«, flöte ich und bin wirklich begeistert.

Carsten breitet ein Handtuch auf dem Ministrand aus, und wir stoßen mit dem mitgebrachten, eisgekühlten Sekt auf meinen Geburtstag an. Ich lege mich hin und fange an, mich zu entspannen.

Als ich gerade eingedöst bin, wache ich von einem seltsamen Summen auf. Zunächst kann ich das Geräusch nicht zuordnen, aber dann sehe ich eine Frau mit wallenden Gewändern und wallendem Haar, die sich auf einem Baumstamm nur einige Meter entfernt von uns niedergelassen hat. Und die sich anscheinend dazu entschlossen hat, ihre Umwelt mit ihrem leiernden und gleichzeitig pathetischen Gesang zu beglücken.

Carsten ist ebenfalls aufgewacht, und wir schauen uns ungläubig an. Nun sind wir so weit gelaufen, um einen Platz nur für uns zu finden, und sind jetzt doch gezwungen, entweder zu gehen oder den Gesängen einer leibhaftigen Druidin zu lauschen.

Wir packen unsere Sachen ein und finden einen Kilometer weiter eine andere schöne Stelle, an der wir uns ausbreiten. Hoffentlich dürfen wir hier ein bisschen für uns sein.

Die Sonne ist immer noch warm, und das angenehm schwappende Wellengeräusch der Elbe lullt mich ein. Arm in Arm schauen wir auf das Wasser.

All I ever wanted, all I ever needed is here in my arms.

Vor meinem Trip nach Australien hatten Wanderungen, Camping, Segeln und Sterne beobachten ganz und gar nicht zu meinem Leben gehört. Die Sommer verbrachte meine Familie immer auf Sylt, und wenn ich allein verreiste, konzentrierte ich mich auf Städtetrips mit Kulturprogramm. Erst in Down Under wurde mir die Kraft und Weite der Natur bewusst, und sie gefiel mir. Wohlgemerkt ohne Funktionskleidung! Ich habe mir nie vorstellen können, mit einem Naturburschen zusammen zu sein, aber jetzt gefällt mir auch das.

Langsam wird es Abend. Die Welt ist weich. Carsten entzündet ein Feuer.

»Darf man das hier überhaupt?«, frage ich ängstlich und denke, dass bestimmt gleich die Polizei kommt und uns verhaftet. Stattdessen kommen zwei betrunkene Landstreicher vorbei, die sich, ohne zu fragen, zu uns setzen und uns vollschwafeln.

Zum zweiten Mal an diesem Tag beschließen wir zu gehen. Und doch hinterlässt dieser so ganz andere Geburtstag in der Natur einen unauslöschlichen Eindruck bei mir.

Katrin ist schwanger. Sie sucht eine Vertretung für ihre Elternzeit. Im Vorübergehen fragt sie: »Hast du Lust?«, als würde es wieder um das Schreiben von Premiereneinladungen gehen.

»Äh. Jaha.«

Die Stelle wird aber auch extern ausgeschrieben. Ich muss mich also ganz normal in den Bewerbungsprozess einreihen. 

Einige Tage später bekomme ich eine offizielle Mail mit einem Terminvorschlag für ein Vorstellungsgespräch mit meinem potenziellen Vorgesetzten und der Personalmanagerin.

Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Ich bin ja jetzt schon völlig aufgeregt. Wie soll das erst bei diesem Gespräch werden?!

An besagtem Tag arbeite ich am Empfang. Ich habe anscheinend als Letzte mein Bewerbungsgespräch, denn ich muss erst einmal meine Konkurrentinnen begrüßen und bei der Personalabteilung anmelden. Am liebsten würde ich sie wieder wegschicken. Sie sehen alle älter aus als ich. Reifer. Erfahrener. Besser ausgebildet.

Ich versuche, mich nicht verrückt zu machen, und stelle konzentriert die Anrufe durch.

Dann bin ich dran. Meine Knie schlottern, als ich zum Konferenzraum laufe, in dem das Gespräch stattfindet.

»Es ist nur eine Unterhaltung. Nur eine Unterhaltung«, rede ich mir gut zu und versuche, den Kloß hinunterzuschlucken, der meinen Hals blockiert.

Als ich erst einmal sitze, geht alles besser. Ich stelle gute Fragen und antworte adäquat teils ernsthaft, teils humorvoll, was gut anzukommen scheint.

Dann ist das Gespräch schneller zu Ende, als ich dachte, und ich werde mit den Worten »Vielen Dank, Franziska. Wir melden uns« verabschiedet.

»Franziska?« Steffi aus der Personalabteilung ist am Telefon. 

»Thomas hat sich für dich entschieden. Also, wenn du möchtest, wirst du ab dem 1. seine Assistentin sein.«

Was für eine Frage!

»Ja, ich möchte! Sehr gern sogar!«

Ich habe den Job!! Meinen allerersten, richtig gut bezahlten Job, und den auch noch in der Filmbranche!! Das muss gefeiert werden! Und in unserer »Bald sind wir reich«-Euphorie machen Carsten und ich bei Zehn-Grad-Hamburger-Nieselwetter eine Hafenrundfahrt, essen dabei tonnenweise Streuselkuchen mit Sahne und laden am Abend alle, die wir kennen, zu uns nach Hause ein, um in unserer unmöblierten Wohnung auf dem Fußboden sitzend eine Flasche Sekt nach der anderen zu köpfen.

»Christian! Christian – here! Please, Christian!«

Ich mache den Fehler, zu den schreienden Fotografen zu schauen, und blicke direkt in das Blitzlichtgewitter, das mich mehrere Sekunden erblinden lässt.

Christian Bale scheint das Problem nicht zu haben und lächelt freundlich in alle Richtungen. Ich finde allein schon die Scheinwerferbeleuchtung irre grell. Hunderte Fans und Schaulustige haben sich an der Absperrung zum roten Teppich versammelt. Die Geräuschkulisse ist ohrenbetäubend. Einige Meter weiter steht das Batmobil aus Batman Begins, der heute hier promotet wird.

Dass ich hier bin, ist völlig unwirklich. Meine erste Blockbuster-Premiere. Ich bin Adrenalin.

»Also, haben Sie jetzt ein Ticket für mich oder nicht?«

Ich mache beim Einlass den Trouble-Counter: Zu mir kommen die Gäste, die kein Ticket bekommen, die es verloren oder vergessen oder die sich noch auf den letzten Drücker überlegt haben, dass sie doch gern dabei sein würden, obwohl sie nicht zugesagt haben.

»Sie stehen gar nicht auf der Einladungsliste. Es tut mir leid, aber ich kann Sie leider nicht reinlassen.«

»Wissen Sie denn gar nicht, wer ich bin?« Die aufgebrezelte Lady, die da vor mir steht, will sich nicht so schnell abwimmeln lassen, und ich bekomme einen Schreck. Ist sie vielleicht doch wichtig?

»Doch, Sie haben mir ja Ihren Namen gesagt. Aber wir haben Sie gar nicht eingeladen. Sie stehen nicht auf der Liste.«

Das hört sich jetzt ja wirklich an wie im Film. Die Dame zieht beleidigt ab, und schon steht der nächste Gast vor mir. Er ist auf der Liste.

Nachdem alle Gäste im Kino sind, erlaube ich mir, durchzuatmen. Das erste Mal seit drei Tagen, so fühlt es sich zumindest an.

Ich konnte immer schon gut organisieren, aber hier den Überblick zu behalten … Das ist vielleicht doch eine Nummer zu groß für mich. Bis jetzt hat aber alles geklappt. Natürlich auch, weil die Eventagentur, mit der wir zusammenarbeiten, einfach toll ist. Nun folgt noch die Party, und wenn da auch alles wie am Schnürchen läuft, vor allem im VIP-Bereich, und die Schauspieler und die Führungsetage happy sind – dann bin ich es auch. Und erleichtert.

Vielleicht werde ich dann doch nicht gleich wieder gefeuert. Denn diese neue Angst begleitet mich, seit ich den Job angetreten habe, wie ein sehr treuer, aber nicht besonders netter Freund.

Meer oder Mehr

In der Lüneburger Heide angekommen, bin ich erstaunt, wie still es hier ist. Wochenende und kein Mensch weit und breit?! Das sähe rund um die Hamburger Alster um diese Uhrzeit ganz anders aus. Tut aber sehr gut nach dem ganzen Premierentrubel.

Nachdem wir eine Stunde vor uns hingelaufen sind, erkenne ich auch, warum so wenig los ist. Die Menschen, die hier gerade nicht sind, haben wahrscheinlich den Wetterbericht studiert. Der April macht ja bekanntlich, was er will. Und jetzt macht er, dass sintflutartiger Regen auf uns niederprasselt. Vorhin noch habe ich mich über Carstens Obsession, mit einem perfekt ausgestatteten Equipment-Rucksack auf einen kleinen Spaziergang zu gehen, lustig gemacht. Ja, ihn sogar verspottet, als er eine Stunde daran herumgepackt hat. Jetzt muss ich kleinlaut zugeben, dass ich sehr dankbar bin, weil er einen Regenponcho für mich parat hat.

»Schau. Da hinten ist ein kleiner Unterstand. Lass uns da doch den schlimmsten Guss abwarten.«

Es ist richtig gemütlich in der kleinen Hütte, und wir haben es trocken.

»Darf ich dir einen Kaffee anbieten?«

»Woher willst du den jetzt zaubern?«, frage ich verblüfft.

Carsten zieht einen kleinen Esbit-Kocher, einen Beutel mit Instantkaffee und einen weiteren mit Milchpulver aus seiner Jackentasche.

»Voilà!«

»Jetzt fehlt nur noch das Yes-Torty …«

Stattdessen gibt es Prinzenrolle zum Kaffee, während der Regen auf das Dach des Shelters prasselt und wir unsere Zweisamkeit genießen.

Zurück in der Stadt spuckt der Kontoauszugdrucker einen Stapel Zettel aus. Hektisch blättere ich darin herum. Und da steht es. Schwarz auf Weiß. Ein leichter Schimmer scheint mein allererstes Gehalt zu umgeben. Die Summe glitzert mir entgegen und sagt: »Du hast mich verdient! Und jetzt lass uns Spaß zusammen haben!!«

Morgen habe ich frei, und ich werde: shoppen, shoppen, shoppen.

Meine schönen neuen Klamotten müssen dann natürlich auch ausgeführt werden. Carsten und ich gehen schick essen und stehen danach in der Bar 76 herum, trinken Wodka Tonic aus großen, schweren Gläsern und unterhalten uns. Ich fühle mich angekommen: toller Typ, Hammer-Wohnung, interessanter Job.

Statt über den Isemarkt zu laufen und zu versuchen, uns an den Leckereien nur sattzusehen, gehen wir jetzt dort einkaufen. Und das ist herrlich. Carsten kommt um acht Uhr morgens von der Nachtschicht nach Hause, und wir treffen uns an der S-Bahn-Haltestelle Hoheluft. Morgen Abend haben wir Tanja und Peter zu uns eingeladen. Tanja habe ich über die Arbeit kennengelernt, und ich bin froh, dass sich langsam ein Freundeskreis hier in Hamburg entwickelt, dass Carsten und ich gemeinsam neue Leute kennenlernen, mit denen wir gern Zeit verbringen. Denn ich vermisse meine Mädelsgang aus München, und jeden Dienstagabend, wenn Carrie Bradshaw sich in Zeitlupe von dem Bus wegdreht, der sie unerhörterweise nassspritzt, wird mir bewusst, wie sehr. Denn das war natürlich unser Ritual: Sich treffen, quatschen, kochen, Sex and the City gucken.

Ich drücke Carstens Arm ein bisschen fester, nehme mir vor, bald den nächsten Trip nach München zu planen und an diesem schönen Morgen kein Trauerkloß zu sein.

Wir kaufen Auberginen-, Zucchini- und Knoblauchdips, Oliven, Schafskäse und Fladenbrot für den Abend mit den beiden. Bei unserem Lieblings-Käsestand probieren wir verschiedene Sorten, bis wir uns entscheiden. Beim Franzosen besorgen wir für unser Frühstück buttrige Croissants und Baguette. Und zum Schluss Gemüse für ein Thai-Curry und noch ein paar Blumen, die ich auf den Fensterbrettern über den antiken Kassetten in Vasen platzieren werde.

Schweren Herzens verlasse ich später unsere Wohnung, um zur Arbeit zu fahren, während Carsten ins Bett geht und über ihm Madame Trampel wieder ihren Stöckel-Parcours absolviert.

Ich schwinge mich aufs Fahrrad und fahre in Gedanken versunken los. Wenn ich heute Abend nach Hause komme, wird sich Carsten gerade für seine Nachtschicht fertigmachen. In letzter Zeit sehen wir uns viel zu selten …

Fast schon feierlich übergebe ich meiner Urlaubsvertretung einen Leitz-Ordner mit allen Informationen, die ich für relevant erachte. Der Ordner heißt The Book. Manch einer würde sagen, ich sei hysterisch. Aber ich bin zwei Wochen weg. Mein erster Urlaub. Und ich möchte schließlich wiederkommen dürfen. Die ständige Panik, gefeuert zu werden, ist leider immer noch vorhanden. Aber auch die Freude, zwei Wochen ganz viel Zeit mit Carsten verbringen zu können – und dann auch noch in Griechenland –, ist riesengroß und verdrängt die Angst etwas.

In Athen angekommen, suchen wir uns am Hafen ein günstiges Hotel und setzen am nächsten Morgen mit der Fähre auf die Insel Milos über. Das Wetter ist himmlisch. Wir sitzen am Strand, essen Spinat-Blätterteig-Taschen und freuen uns darüber, dass wir hier ganz allein sind. Dieses Nur-wir-zwei-an-einem-Ort-Ding fängt an, mir zu gefallen. Es ist irgendwie so viel mehr Platz da.

»Wollen wir heute hier übernachten?«, schlägt Carsten vor.

»Hier? Am Strand? Das find ich schon ein bisschen gruselig, und außerdem dürfen wir das doch bestimmt nicht, oder?« Wieder mal die gute alte Kopf-Polizei.

»Uns wird schon keiner verhaften. Was meinst du?«

Die Idee finde ich schon gut. Wir haben ja schließlich auch Schlafsäcke und Isomatten dabei. Aber so in echt? Ich weiß nicht. Andererseits. Eigentlich will ich es schon.

»Okay. Einverstanden.«

Wir sitzen zusammen vor den Wellen und schauen dabei zu, wie die Sterne aufgehen und der Mond ihnen folgt. Sein Licht tanzt silbern auf dem Wasser. Wir trinken Wein und essen Oliven. Mein Mut ist durch den Wein gestärkt. Es war eine ganz famose Idee, einfach hierzubleiben.

Ich robbe in meinem Schlafsack ganz dicht an Carsten heran, stupse ihn in die Seite und sage: »Ich liebe dich und danke dir für diese famose Idee, hier zu übernachten.«

Am nächsten Morgen erzähle ich ihm nicht, dass ich einige Stunden lang wach lag und versucht habe, die Schatten zu verfolgen, die mein Gehirn sich um uns herum eingebildet hat. Mit dem ramponierten blauen Emaillebecher voller Kaffee in der Hand sind die Schrecken der letzten Nacht so gut wie vergessen. Ich bin stolz auf mich, dass ich mich getraut habe. Als Belohnung darf ich hier an diesem wunderschönen Strand sitzen mit dem Mann, den ich so liebe – und den ganzen Vormittag kommt kein einziger Mensch vorbei. Das ungute Angstgefühl der letzten Nacht ist einer angenehmen, tiefen Freude und Dankbarkeit gewichen. Wie schön wäre es, immer so einen Platz nur für uns zu haben.

Der Laden

»Wo habt ihr denn diesen wunderschönen Tisch gekauft?« Meine Freundin Monika zeigt auf unseren Couchtisch, einen Kubus aus weiß lackiertem MDF mit einer eingelassenen, von innen beleuchteten matten Glasplatte.