Kafka und die Kabbala - Karl Erich Grözinger - E-Book

Kafka und die Kabbala E-Book

Karl Erich Grözinger

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Beschreibung

Dieses Buch, zuerst erschienen 1992, in viele Sprachen übersetzt und hier in 5., durchgesehener und erweiterter Ausgabe neu vorgelegt, gilt als Standardwerk in der Kafka-Forschung weltweit. Es legt die jüdisch-religiösen Wurzeln in Kafkas Werk frei und zeigt anhand des Text-, Motiv- und Quellenvergleichs, wie in Kafkas Literatur die alte rabbinische und kabbalistische Tradition neben die neueren Befindlichkeiten eines assimilierten Judentums in der ehemals deutsch-tschechischen Stadt Prag tritt.

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Karl Erich Grözinger

Kafka und die Kabbala

Das Jüdische im Werk und Denken von Franz Kafka

5., aktualisierte und erweiterte Auflage

Campus Verlag Frankfurt/New York

Über das Buch

Karl Erich Grözinger legt in diesem Buch die jüdisch-religiösen Wurzeln in Kafkas Werk frei: Er zeigt anhand des Text-, Motiv- und Quellenvergleichs, wie in der Literatur Franz Kafkas die alte rabbinische und kabbalistische Tradition neben die neueren Befindlichkeiten eines assimilierten Judentums in der ehemals deutsch-tschechischen Stadt Prag tritt. Das Buch, zuerst erschienen 1992, in viele Sprachen übersetzt und hier in aktualisierter und erweiterter Ausgabe neu vorgelegt, gilt als Standardwerk in der Kafka-Forschung weltweit.

»Eine umfassende Analyse, die kaum übertroffen werden kann.« Harold Bloom

»Ein belesenes Buch, das im Nachweis der Analogien überzeugt.« Peter Demetz

Über den Autor

Karl Erich Grözinger ist Professor emeritus für Religionswissenschaft und Jüdische Studien an der Universität Potsdam und Senior Professor am Zentrum Jüdische Studien Berlin Brandenburg. Von ihm sind zahlreiche Publikationen zu allen Phasen der jüdischen Geistesgeschichte erschienen, darunter das mehrbändige Standardwerk »Jüdisches Denken. Theologie – Philosophie – Mystik«, Band 1–3.

Inhalt

Vorwort

Kafka und das Judentum

Der Proceß und die Türhüter-Tradition in der Kabbala

Gottes Gericht im Jiddischen Theater

Zeiten und Weisen des Gerichts

Der ekstatische Himmelsaufstieg

Vor dem Gesetz

»Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für Dich bestimmt«

Jüdische Traditionen und Kafka – zur Methode

Die Türhüterlegende im Lichte der Kabbala

Das Verhältnis von Gerichtsbeschreibung und Türhütertradition

Zum Rangverhältnis von Mensch und Gerichtspersonal

Das Gesicht als Spiegel des Gerichts

Die himmlischen Gerichtshöfe in der Darstellung der Kabbalisten – Geschichte als Gericht

Der Einbruch des Gerichts in das menschliche Leben – Krankheit und Träume

»Die Frauen haben eine große Macht« – Das weibliche Element im Rahmen der Gerichtshierarchien

Die Gerichtsthematik in der ostjüdischen Volkserzählung – Kabbala als Erzählung

Das Schloß –»wirklich beurteilt und entschieden werden die Dinge nur in der unabsehbaren Hierarchie der Instanzen«

Die Tiergeschichten

»Vielleicht wäre für dieses Tier das Messer des Fleischers eine Erlösung«

»In der Thamühler Synagoge lebt ein Tier«

Himmelsgericht durchs Wort – »Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens«

Sprache und Wirklichkeit – Schreiben als Gebet

Josefine – oder das Volk der Mäuse

Die Aphorismen – Zwischen den zwei Paradiesesbäumen

Schuld und Sühne in den Romanen und Aphorismen

Die Romane

Die Aphorismen

Kafka und kein Ende – noch eine Deutung?

Der Proceß-Roman als Denk-Prozess

Gottesglaube und Literatur als menschliche Überlebensstrategie

Kafkas Rede vom Göttlichen im ethischen Kontext

Kafkas Rede vom Göttlichen im existentiell-ontologischen Kontext

Anhang

Quellentexte

Zu den Kapiteln: »Die himmlischen Gerichtshöfe in der Darstellung der Kabbalisten« und Das Schloß

Zum Kapitel: »Die Tiergeschichten«

Zum Kapitel: »Himmelsgericht durchs Wort«

Glossar

Literatur

Anmerkungen

Vorwort

Dieses Buch hat die Kafka-Forschung weltweit verändert, oder man könnte sagen, in zwei Lager gespalten: auf der einen Seite seine zutiefst überzeugten Befürworter und auf der anderen Seite diejenigen, welche den jüdischen Einfluss auf Kafkas Denken und Schreiben herunterspielen, verleugnen oder unter einer Fülle von oft nebensächlichen biographischen Details oder eigenen Rezeptionsphantasien begraben. Das Buch liegt nunmehr in sechs Sprachen vor, in einer italienischen, einer amerikanischen, japanischen, tschechischen und polnischen Übersetzung, und nun in seiner fünften, zum zweiten Mal erweiterten und durchgesehenen deutschen Ausgabe. Die Thesen des Buches, welche Kafka in einen deutsch-jüdischen Traditionskontext stellen, in dem die alte rabbinische und kabbalistische Tradition neben die neueren Befindlichkeiten eines deutschen assimilierten Judentums in der ehemals deutsch-tschechischen Stadt Prag treten, werden allenthalben in der Fachliteratur und nicht zuletzt in zahllosen Dissertationen und Magisterarbeiten aufgenommen und diskutiert. Sie gelten als eine der wenigen wirklich ernst zu nehmenden Deutungen Kafkas vor einem religiösen und speziell jüdischen Hintergrund.

Der Doyen der Deutsch-Prager Literatur, Peter Demetz, schrieb seinerzeit in seinem Buch Böhmische Sonne mährischer Mond in einem Kapitel über »Die Legende vom magischen Prag« mit durchaus skeptischem Unterton:

»Die Versuche, den Fundamentalisten Rabbi Löw, als Schöpfer eines Golems, Jahrhunderte später in einen Zaddik zu verwandeln, der magischer Kräfte fähig war und seine Weisheit aus der kabbalistischen Tradition schöpfte, wiederholt sich in den neueren Bemühungen in den USA und in Deutschland, den Prager Juristen Franz Kafka als jüdischen Schriftsteller zu interpretieren, der, in einiger Ferne von der rabbinischen Tradition, in seiner Epik und in seinen Aphorismen nach einem alternativen jüdischen Glauben sucht, welcher der Kabbala und dem chassidischen Herkommen nahe steht oder gar von ihm abhängt. Ich meine Harold Blooms Essay Kabbalah and Criticism (1975), der in seiner fast prophetischen Apodiktik kein Streitgespräch zulässt, und die nuancierte neue Arbeit Karl Erich Grözingers, Kafka und die Kabbala (1992) – ein belesenes Buch, das im Nachweis der Analogien überzeugt und eben dort, wo es auf die Frage der Quellen und deren Vermittlungen eingeht, den deutlichen Beweis erbringt, dass Kafka die Mystik der Kabbala und der Chassidim nicht in Prag vorfand und sie nur durch Freunde kennenlernte, die selbst aus dem osteuropäischen Schtetl stammten oder die alternative religiöse Tradition, im Gegensatz zur Prager Assimilation, dort an Ort und Stelle gesucht hatten.«1

Der von Demetz zitierte Harold Bloom meinte seinerseits:

»Grözingers Kafka und Kabbala ist ein eindeutiger, hilfreicher und bedeutender Fortschritt für unser Verständnis eines der zentralsten aber doch schwer greifbaren Themen Kafkas: inwiefern nämlich sein Schreiben eine neue Kabbala konstituiert. Wohl wissend, dass die Kabbala vielfältig und selbst schwer fassbar ist, spürt Grözinger geschickt die Affinitäten und Analogien sowie die Spuren der Kabbala in Kafkas Werk auf. Das Ergebnis ist eine umfassende Analyse, die bei unserem derzeitigen Kenntnisstand kaum übertroffen werden kann.«2

Schließlich sei noch Ekkehard W. Haring in seiner umfassenden Bilanz jüdischer Kafka-Deutungen zitiert:3

»Karl-Erich Grözingers Studie […] war auszugsweise schon 1986 vorgetragen worden und zählt mittlerweile zu den einschlägigen Kafka-Büchern neuerer Forschung. Gezeigt werden hier erstaunliche Parallelen zwischen Motiven, Themen und Figuren populärer chassidischer Textbestände (Legenden, Homilienpredigten u.a.) und Kafkas Werk. Dabei wird ausdrücklich auf die Hinwendung des Dichters zum Ostjudentum und seine Kontakte zu Georg M. Langer und Jizchak Löwy hingewiesen. Der Judaist Grözinger, will keine Interpretation geben, sondern – so heißt es im Vorwort – ›dem Kafkaleser erst einmal die Augen öffnen für das, was unter der Oberfläche von Kafkas Texten an Jüdischem verborgen liegt‹. Beim genauen Lesen erweist sich sein Buch allerdings als sehr reich an Deutungen, was bereits mit dem Untertitel artikuliert anhebt. Hinsichtlich der Aphorismen gelingt Grözinger schließlich eine besondere Verknüpfung: das vielleicht esoterischste Textgenre Kafkas wird im Licht chassidischer Mystik (des Maggid Dov Ber) einer bemerkenswerten Lesart unterzogen. Die thematischen und motivischen Vergleiche, die Grözinger zu verschiedenen Erzählungen bzw. zum Prozess-Roman anstellt, scheinen die These des Buchtitels zu bestätigen.«

Wie schwer es indessen dezidierte Gegner der Anerkennung der Traditionsverwobenheit Kafkas haben, sich den hier vorgelegten Thesen zu entziehen, zeigt das Buch von Hartmut Binder zu der Legende des Mannes vor dem Gesetz,4 in dem der Autor nach allen knickenden Strohhalmen greift, um seine sehr stark im Wanken empfundene Position zu stützen.

Die nunmehr vorgelegte zweite Überarbeitung des Textes wird dem Leser Hinweise geben, Themen, die hier nur kurz angedeutet werden konnten, ausführlicher in meiner nunmehr vorliegenden Gesamtdarstellung Jüdisches Denken aufzufinden.5 Diese Neuausgabe fügt den weit ausgreifenden Nachweisen von parallelen Motiven und Strukturen zwischen Kafkas Texten und der jüdischen Traditionsliteratur außerdem zwei neue Kapitel hinzu, die über das Aufzeigen der Traditionsverankerung Kafkas hinausgehen und anhand von zwei Fragen weitergehende Schlussfolgerungen für ein Kafka-Verständnis und dessen Diskussion in einem gegenwärtigen aktuellen Kontext bieten. Das eine Kapitel ist eine Deutung des Proceß-Romans in Auseinandersetzung mit seiner Verfilmung durch Orson Welles. Sie kommt zu der Auffassung, dass der Roman einen »Denk-Prozess« darstellt, während der Film von Welles einen »Schau-Prozess« inszeniert. Das andere Kapitel ist der Versuch, den Glauben an Gott in Kafkas Werk als eine für menschliches Leben unabdingbare – wenn vielleicht auch nur auf einer Illusion beruhende – Strategie zur Bewältigung menschlichen Lebens zu verstehen. Dies sind zwei Beispiele, die zeigen, wie die in diesem Buch vorgelegten Erkenntnisse für eine weitergehende Diskussion über Theologie und Lebensphilosophie nutzbar gemacht werden können.

Ich freue mich, dass der Campus Verlag das lange vergriffene Buch wieder auflegt und damit zugleich die Gelegenheit zu dessen Aktualisierung gibt wie auch für die Bestätigung einer der vielen wahren Beobachtungen von Josef K. im Proceß-Roman: »Die Frauen haben eine große Macht – sagte K. -. Wenn ich einige Frauen, die ich kenne, dazu bewegen könnte, gemeinschaftlich für mich zu arbeiten, müsste ich durchdringen.« Es waren dieses Mal zweie im Verlag und wie stets die eine zu Hause und schließlich meine Tochter Dr. med. Yael Adler, die in einer dem Sujet durchaus angemessenen Weise den Anlass für diese Neuausgabe schuf.

Berlin im Dezember 2013

Kafka und das Judentum

Franz Kafka, der als Erzähler und Denker der deutschsprachigen wie der Weltliteratur neue Wege gewiesen hat, war Jude. Ist dies von Belang, oder kann die moderne Kafka-Deutung nach der Feststellung dieser Tatsache einfach zur Tagesordnung übergehen? Schließlich hat sich die Rezeption dieses Erzählwerkes für eine Vielzahl von Deutungen als geeignet erwiesen, die allesamt ohne die jüdische Komponente auskommen konnten. Mehr der Not gehorchend als dem stillen Zweifel, hielt man sich gewöhnlich an die eigene Intuition, ohne indessen Kafkas Judentum seinen Tribut zu versagen.6 Er fehlt glücklicherweise fast in keiner neueren Darstellung seines Lebens und Werkes. Kaum ein Autor versäumt, auf die Bedeutsamkeit des allgemeinen jüdischen Hintergrundes aufmerksam zu machen, nicht zuletzt als Reverenz gegenüber Gershom Scholems enigmatischen und vielversprechenden Andeutungen zum Einfluss der Kabbala auf Kafkas Werk, wie jenen am Ende seiner »Zehn unhistorischen Sätze über die Kabbala«: »Darum haben [Kafkas] Schriften, die säkularisierte Darstellung des (ihm selber unbekannten) kabbalistischen Weltgefühls für manchen heutigen Leser etwas von dem strengen Glanz des Kanonischen – des Vollkommenen, das zerbricht.«7 Oder in Scholems Buch über Walter Benjamin, wo er, sich selbst zitierend, sagt: »Ich hätte nämlich gesagt […], um Kabbala zu verstehen, müsse man heutzutage vorher die Schriften Franz Kafkas lesen, besonders den ›Prozeß‹.«8

Allein, solche Hinweise bleiben bei den meisten Autoren dann in Wirklichkeit äußerst blass und farblos, beschränken sich auf Allgemeinplätze oder gehen von einem Bild des Judentums aus, welches nicht im entferntesten dem von Kafkas jüdischer Umgebung entspricht und Judentum anachronistisch mit dem altorientalisch-biblischen Judentum gleichsetzt. Etwa wenn Bert Nagel in seinem durchaus lesenswerten Kapitel zu Kafkas Judentum meint, »daß der alte Kommandant« in der Strafkolonie »den Gott des Alten Testamentes darstellt«, und »so steckt in den Vätern Bendemann und Samsa und im Kommandanten der Strafkolonie gewiß etwas von dem Gott Jahwe des Alten Testamentes«.9 Auch wenn Nagel in Kafka den »Dichter des Judentums« sieht: »Nicht nur darin, daß sich Kafka als Jude bekannte und für die Sache des Judentums engagierte, sondern am unmittelbarsten darin, daß die fundamentalen Vorstellungen des altbiblischen Judentums in ihm noch lebendig waren, bezeugt sich das Fortwirken des jüdischen Erbes. Kafkas Gott ist noch der richtende und strafende Gott des alten Testaments.« Geradezu bedenklich sind die Attacken von Hartmut Binder gegen einen jüdisch-kabbalistischen Hintergrund des Kafka’schen Denkens, wenn er, trotz der von ihm auf breiter Front zugegebenen Gemeinsamkeiten, von einer »menschenverachtenden Tendenz« der Kabbala spricht, nach welcher die Welt eine »Schöpfung des Teufels« sei, und von der »Geheimlehre« der Kabbala, von der doch Kafka nicht beeinflusst sein könne. Weder kann die Kabbala als menschenverachtend gelten, noch ist sie eine verschwörerische »Geheimlehre« im Stile etwa der »Protokolle der Weisen von Zion« sondern eine jedermann zugängliche, viel gedruckte und gelesene und im osteuropäischen Judentum, insbesondere im Chasidismus, allgemein akzeptierte mystische Theologie.10

Dergleichen Äußerungen atmen nicht nur das vorurteilsbeladene christliche Bild vom Judentum, sondern verharren in der absolut irrigen Auffassung, das Judentum hätte sich in seiner zweitausendjährigen nachbiblischen Geschichte nicht verändert, als gäbe es nicht eine reiche und vielfältige, philosophisch überaus differenzierte nachbiblische jüdische Literatur und jüdisches Denken, und als sei das Judentum ein monolithischer Block. In philosophisch-theologischer Hinsicht von dem Judentum zu sprechen, ist einer der Grundfehler eines aus Unkenntnis selbsterdachten oder dogmatischen Bildes vom Judentum. Wie weit das Judentum in Kafkas Tagen von der biblischen Denkungsweise entfernt ist und wie vielfältig differenziert es sich darstellt, kann der Leser nun in meiner eingangs schon genannten Darstellung Jüdisches Denken ersehen.

In die richtige Richtung weist dagegen die nicht mehr seltene Erwähnung der Wirkung des jiddischen Theaters auf Kafka, die seit der Arbeit von Evelyn Torton Beck nicht mehr geleugnet wird und angesichts der Tagebücher wohl kaum zu bestreiten ist.11 Es ist gerade eine solche innerhalb des Judentums differenzierende Sicht, die nicht zufällig den Nestor der modernen Kabbala-Forschung nötigte, wiederholt auf die besondere Beziehung Kafkas zur Kabbala und zum osteuropäischen Chasidismus hinzuweisen und ihn zu seinen provozierenden »Separatgedanken« veranlasste, »die aber freilich nicht Kafkas Stellung in dem Kontinuum des deutschen – in dem er keinerlei Stellung hat –, sondern des jüdischen Schrifttums betreffen«.12 Es ist die Achtung vor der überragenden Größe Scholems, die fast alle modernen Autoren nötigt, diese seine Sicht zu erwähnen. Aber gerade hier blieb die Anerkennung des Einflusses oft in besonderem Maße unfruchtbar, weil man sich – der hebräischen und jiddischen Quellen nicht mächtig – dabei ausschließlich mit Informationen aus zweiter Hand begnügen muss. Dies ist umso bedauerlicher, als gerade aus diesem Teil der jüdischen Tradition viel für Kafka zu lernen ist, was Kafka mit dem eingangs angeführten Motto unüberhörbar selbst ausgesprochen hat.

Darf man nun aber davon ausgehen, dass Kafka von der jüdischen, oder besser gesagt, von einer bestimmten jüdischen Tradition beeinflusst sein konnte, wo er doch selbst – auch im Brief an den Vater13 – seine mangelnde jüdische Bildung mit dem viel zitierten Satz beklagte: »Ich bin nicht von der allerdings schon schwer sinkenden Hand des Christentums ins Leben geführt worden wie Kierkegaard und habe nicht den letzten Zipfel des davonfliegenden jüdischen Gebetsmantels noch gefangen wie die Zionisten. Ich bin Ende oder Anfang.«14 Solche Klagen Kafkas sind indessen an den Ansprüchen zu messen, die ein so sensibler und an philosophischen Fragen interessierter Literat wie er an eine religiöse Bildung und religiöses Brauchtum stellte. Man darf sich davon jedoch nicht blenden lassen, als habe Kafka wirklich nichts gewusst, habe keinerlei jüdische Einflüsse erfahren, die sein Denken und Schreiben hätten prägen können. Die Texte Kafkas, Romane und Erzählungen, vor allem aber seine Tagebuchnotizen und die Aphorismen, offenbaren ein erstaunlich hohes Maß an jüdischem Wissen, das sich Kafka außer eigener Lektüre in Gesprächen mit Freunden, in der Familie und aus der Beobachtung des Prager jüdischen Lebens insbesondere in der Synagoge erworben hat. Gewiss, dies war nicht das Wissen um die korrekten rabbinisch-halachischen Regeln der Orthodoxie und der philosophisch-theologischen Spekulation, sondern ein Wissen, das man eine popularisierte Kabbala und von ihr beeinflusstes jüdisches Brauchtum nennen mag.

Kafka war ein genauer Beobachter und offenbar ein sehr skrupulöser Zuhörer, wie vor allem ein Blick in seine Tagebücher vor Augen führt. Hier gibt er Beobachtetes und Gehörtes wieder, das diesen Notizen in ihrer Genauigkeit den Rang religionsgeschichtlicher Quellen verleiht. In einem Vergleich der Tagebucheintragungen mit dem hebräischen und jiddischen Quellenmaterial aus Osteuropa lässt sich dies eindrucksvoll belegen. Eines ist deutlich: Kafka wusste mehr vom Judentum, als seine diesbezüglichen Äußerungen glauben machen wollen. Neben der ausdrücklichen Belehrung und gelesenen Information ist vor allem die im Brauchtum, im Gestus und im Alltagsgebaren vermittelte Tradition nicht hoch genug einzuschätzen. Sichtbare Objekte wie die Mesusa, jene Kapseln an den Türen jüdischer Häuser, die Tefillin, Gebetsriemen an Stirn und Arm der Beter, der Gebetsmantel, das mit dem Almosengeben verbundene Denken, die in der häuslichen und öffentlichen synagogalen Festfeier mitgeteilten Inhalte, die sich im Gespräch mit Freunden einem so wissbegierigen Menschen wie Kafka leicht vermittelten – all dies schuf eine Grundlage volkstümlich jüdischer Religion und jüdischen Wissens, die jüdisches Handeln und Denken weit mehr prägen als die Kenntnis ethischer und philosophischer Werke. Und gerade darin ist eine kulturelle Distanz zu dem Leser angelegt, der diese Alltagskultur nicht kennt und darum übersieht.

Mit dem Nachweis jüdischer Traditionen und Denkstrukturen bei Kafka sollte man jedoch nicht dem anderen Extrem verfallen und ihn ausschließlich dieser Tradition zuordnen. Die gesamte jahrtausendealte jüdische Geistesgeschichte ist selbst davon gekennzeichnet, dass die großen jüdischen Denker die Tradition kreativ aufnahmen und ununterbrochen erneuerten. Sie taten es nicht zuletzt unter zuweilen tiefgreifender Beeinflussung und Verarbeitung von nichtjüdischem Kulturgut, das aber auf dem Wege der jüdischen Interpretation judaisiert und schließlich als genuine jüdische Tradition empfunden wurde. Unter diesem Gesichtspunkt mag man sogar Scholems extremer Formulierung zustimmen. Kafka tat, was vor ihm schon viele jüdische Denker und Schriftsteller taten, er hat sein Judentum mit dem Denken der Moderne verbunden und so eine neue Gestalt eines Judentums – seines Judentums – geschaffen. Wenn sich ein großer Teil der der modernen christlichen oder der nichtjüdischen europäischen Kultur zugehörigen Leser von Kafka angesprochen und in seinem Werk ›zuhause‹ fühlt, so ist auch dies kein Novum in der jüdischen Geistesgeschichte. Die mittelalterliche jüdische Philosophie und in ihrem Gefolge die Kabbala und der osteuropäische Chasidismus sind in gleichem Maße wie die nichtjüdische Mystik tief von den Gedanken des mittelalterlichen Platonismus und Aristotelismus beeinflusst.15 Dies verlieh ihnen in vielerlei Hinsicht eine große Nähe zu den entsprechenden christlichen Strömungen – man denke etwa an den Platonismus christlicher Mystiker von Dionysius Areopagita bis Meister Eckhart, die frühen spanischen Kabbalisten des Geronenser Kreises im 13. Jahrhundert, die Ijjun-Kabbala, den Sohar, Moses Cordovero und die osteuropäischen Chasidim,16 die christliche Kabbala des 15. bis 18. Jahrhunderts, die glaubte, ihre eigene christliche Religiosität am besten mit Hilfe der jüdischen Kabbala ausdrücken zu können17 – eines der eindrücklichsten Zeugnisse hierfür ist bis heute die kabbalistische Lehrtafel der Prinzessin Antonia in Württemberg in der bescheidenen Kirche von Bad Teinach im Schwarzwald.18 Die jüdische Philosophie des Mittelalters ist in vieler Hinsicht Teil der allgemeinen europäischen Philosophie, und Maimonides (1135–1205) wie Salomo Ibn Gevirol (1020–1057) wirkten direkt auf die christliche Scholastik und Mystik, auch Leone Ebreo alias Jehuda Abarbanel (Abravanel) (1460–1523) mit seinen ›Dialoghi d’amore‹ mag man hier nennen.19 Schließlich darf noch an die Nachwirkung des Judentums von Martin Buber in den christlichen Kirchen erinnert werden.20

All das ist ausreichende Mahnung gegen eine panjudaistische Erklärung Kafkas, zugleich aber Grund genug für die Überzeugung, dass eine Missachtung der jüdischen Seite am Werke Kafkas, ein Nichtwahrnehmen seiner jüdischen Wurzeln Gefahr läuft, sein Werk misszuverstehen. Die Vielzahl widersprüchlicher Kafka-Deutungen mag in dieser Hinsicht zu denken geben und Warnung sein. Sowenig man Thomas Manns Joseph und seine Brüder oder Joseph Roths Hiob ohne die Kenntnis von deren biblischen Vorbildern wirklich versteht, auch wenn sie ihren Stoff völlig neu gestalteten, sowenig kann man Kafka verstehen, wenn man nicht die literarisch-erzählerische Welt kennt, welche ihm Motive, Gedanken und ganze Konzepte lieferte, die von ihm neu und frei umgestaltet und in ein westeuropäisch deutsches Sprachgewand gehüllt wurden.

Die Aufgabe jedes kritischen Lesers muss es in all diesen Fällen sein, das Neue als Neues und Verändertes vor dem Alten zu begreifen. Kafka ist nicht einfach ein Kabbalist, wenn er Traditionen aus der Kabbala übernimmt und umgestaltet. Was er aber ist, kann nur der formulieren, der sieht, wo die Ausgangspunkte Kafkas liegen. Die Deutung der Werke Kafkas wird vornehmlich die Aufgabe der zünftigen Germanistik bleiben, ich als Judaist möchte zuallererst nur den jüdischen Hintergrund für diese Deutung bereitstellen. Darum will ich vor allem das Material vorführen, an das sich Kenner der ostjüdischen hebräischen und jiddischen Traditionen bei ihrer Kafka-Lektüre erinnert fühlen, um dann dem Leser dieses Buches die Antwort bezüglich Kafkas literarischer Zuordnung selbst zu überlassen. Ich will den Kafka-Lesern erst einmal die Augen öffnen für das, was unter der Oberfläche von Kafkas Texten an Jüdischem verborgen liegt. Dieses Problem stellt sich weniger für die Tagebücher, in denen das Jüdische fast auf jeder Seite kaum zu übersehen ist, mehr dagegen in den fiktionalen Texten. Doch sollte man sich bezüglich ihrer keiner Täuschung hingeben, etwa durch den Hinweis, der im Herbst 1990 bei einem Kafka-Kolloquium am Literaturarchiv in Marbach gemacht wurde, dass ja zum Beispiel das entscheidende Gespräch in Kafkas Proceß-Roman21 gerade nicht in einer Synagoge stattfindet, sondern in einem christlichen Dom. Immerhin notierte Kafka zum Versöhnungstag 1911 in seinem Tagebuch: »Alt-Neu-Synagoge gestern. Kol Nidre […] kirchenmäßiges Innere. Drei fromme, offenbar östliche Juden. In Socken.«22

Wie sehr Kafka mit solchen Lokalisierungen und Übertragungen seines Denkens und Erzählens in das christliche Westeuropa den Interpreten über den wahren Hintergrund in die Irre führen kann, wird die hier zu besprechende kabbalistische Parallele zum Proceß-Roman vor Augen führen. In den Tagebüchern liegt das Jüdische an der Oberfläche, in den Erzählungen und Romanen bleibt es hingegen esoterisch im Verborgenen. Es ist diese Verstellungsstrategie, das Vermeiden konkreter Bezüge, das an Kafkas Werk schon mehrfach beobachtet wurde und der Grund für dessen Vieldeutigkeit ist.

Die Kabbala, deren Elemente und Traditionen bei Kafka nachwirken, ist kein einheitliches Gebilde. Dies ist auch kaum zu erwarten bei einem mystisch-religiösen Phänomen, das in Kafkas Tagen bereits eine Geschichte von wenigstens 700 Jahren hinter sich hatte.

Bezieht man die alttalmudische Hechalotmystik23 mit ein, die für die eigentliche mittelalterliche Kabbala bereits wesentliche Voraussetzungen schuf, so sind es sogar 1.800 Jahre. Jede Phase der langen jüdischen Mystik hat ihre Spuren in den Schriften der späteren Generationen hinterlassen, Spuren, die in durchaus verschiedenen kulturellen und geistigen Welten entstanden und somit im Laufe der Jahrhunderte ein zum Teil überaus heterogenes Konglomerat an Vorstellungen und Gedanken schuf, das nicht von allen Autoren zu einem mehr oder weniger einheitlichen Ganzen verschmolzen wurde. Manche der Späteren haben die überkommene Tradition nur eklektisch verwertet, haben das eine oder andere ganz beiseitegelassen und haben das Übernommene nicht selten in ganz neuem Licht gesehen.24

All das, wie auch die vorkabbalistischen rabbinischen Traditionen, die hier einbezogen wurden, muss man im Auge behalten, wenn man von »Kafka und der Kabbala« redet. Kafka wird darum allenfalls Affinitäten zu dem einen oder anderen Strang der kabbalistischen und älteren jüdischen Traditionen aufweisen, und dies sogar zu grundsätzlich verschiedenen oder gar widersprüchlichen. Obwohl Kafka die oft überaus schwierigen klassischen Texte der Kabbala in hebräischer oder aramäischer Sprache nicht selbst studieren konnte, musste er gewisse popularisierte Grundmuster der Kabbala kennen, dies umso mehr, wenn sie im alltäglichen Brauchtum und in der volkstümlichen Belehrung der Gemeinde eine Rolle spielten. Eine solche Popularisierung der hochmystischen theosophischen, historiosophischen und anthroposophischen Lehren der Kabbala wurde tatsächlich in einer Unzahl volkstümlicher Moralbücher und Homiliensammlungen geleistet, welche vom einfachen Juden, vor allem aber von den Predigern in den Synagogen und Lehrhäusern zur Vorbereitung ihrer Lehrreden studiert wurden. Es sind denn in der Tat solche Moralschriften und Volksbücher, die das allgemeine jüdische Bewusstsein Mittel- und Osteuropas prägten und jedem, der in diesem Milieu verkehrte, ein spezifisch jüdisches Wissen und Empfinden vermitteln konnten. So ist es nicht verwunderlich, wenn gerade diese populäre Literatur für eine große Anzahl von Motiven in Kafkas Texten Parallelmaterial bietet.

Es seien hier zunächst einige wesentliche Grundzüge des kabbalistischen Denkens vorausgeschickt, zu denen Kafkas Denken und Werk unverkennbare Beziehungen aufweisen.

Ein zentraler Grundgedanke der Kabbala ist der Glaube von der Einheit allen Seins. Die sichtbare Welt ist mit den unsichtbaren Welten des Göttlichen und Himmlischen im Sinne des Neuplatonismus in einer einzigen Kette des Seins verbunden, nämlich durch den Fluss der Emanation des göttlichen Lichtes und Lebens, das alle Welten hervorgebracht hat und sie erhält. Während nun jedoch in den mittelalterlichen platonischen und auch aristotelischen Systemen die nicht sensible Welt allenfalls durch einige wenige körperlose, intelligible Substanzen repräsentiert ist, wie den Intellekt, die Weltseele (manchmal dreigeteilt) und die Natur – bei den Platonikern25 – oder die zehn separaten Intelligenzen, die zuweilen mit den zehn Engelklassen der altrabbinischen Literatur identifiziert werden – bei den Aristotelikern26 –, wird die intelligible Welt der Kabbalisten als eine Unzahl mythologisch konzipierter göttlicher und himmlischer Substanzen vorgestellt. An ihrer Spitze stehen die zehn Gotteskräfte, Lichter, Worte oder Sefirot, häufig einer ›Baumform‹ gleich gezeichnet, die aber in sich selbst eine unendliche Binnengliederung durch die Widerspiegelung der zehn in jeder einzelnen erfahren. Diese zehn Gotteskräfte bilden zum einen, vergleichbar der platonischen Ideenwelt, das Grundmuster allen Seins, und zum anderen werden sie gleichsam in anthropomorphischer Redeweise wie eine himmlische Familie gezeichnet, in der es Vater, Mutter, Sohn und Tochter gibt, männliche und weibliche Elemente, liebende und strafende.27 Die Struktur der zehn Sefirot wiederholt sich durch die vier Stufen des gesamten Weltenbaues, die Sefirotwelt selbst (sie ist der offenbare Gott), die Welt des Gottesthrones, die Welt der himmlischen Engel und schließlich die irdisch materielle Welt. Diese vier werden in Anlehnung an den Schriftvers Jesaja 43,7 die Welten von Azilut, Beri‘a, Jezira und Asija28 genannt und sind in ihrer Gliederung an die mittelalterlich philosophischen Weltengliederungen angelehnt: Welt der absoluten Intelligenzen, Welt der Himmelssphären und sublunare irdische Welt bei den Aristotelikern oder Intellekt, Psyche, Natur und sublunare Welt bei den Platonikern.29

Diese Grundlinien des mittelalterlich philosophischen Weltbildes wurden in der Kabbala in vielfältiger Weise mit der altjüdischen kosmologischen Tradition und mit gnostischen Elementen identifiziert, wodurch eine oft auf verschiedenen Sprachebenen beschriebene schillernde Gesamtkomposition entstand.30 Dasselbe konnte in der traditionellen Sprache und Bilderwelt der Bibel, ein andermal mit dem Bildmaterial der altjüdisch talmudischen Homiletik und mystischen Traktatliteratur, ein weiteres Mal in einer gnostisch anmutenden anthropomorphen Diktion, wieder ein anderes Mal in sprachlich-onomatologischer Redeweise geschildert werden, wobei die Vermischung all dieser Sprechweisen am gebräuchlichsten ist. All das beruht auf dem einen grundlegenden Gedanken, dass sämtliche Phänomene dieser Welt, die Natur, der Himmel, die menschliche Gestalt, die Sprache und die biblische Literatur, alles, was in dieser Welt existiert, auf das eine göttliche Grundmuster zurückgeht und dieses darum in allem erkannt und folglich durch alles beschrieben werden kann.31

Wesentlich für die Kabbala ist nun, dass die Welt- und Gotteserkenntnis und die Beschreibung aller Phänomene dieses Seins kein akademisches Sammeln von Wissen bleibt, sondern seine praktische Seite und Nutzanwendung findet. Das Wissen um das Wesen des Seins dient dem Menschen zur Orientierung und zum Eingreifen für den eigenen Nutzen, der zugleich als der Nutzen der Gottheit selbst und der gesamten Welt verstanden wird. Das ganze System der Kabbala dient somit letztlich dazu, dem Menschen seinen Ort in diesem großen Weltganzen zuzuweisen, ihm die Möglichkeiten und Pflichten seines Handelns und Wirkens in diesem Kosmos vor Augen zu führen und ihm die Mittel dazu an die Hand zu geben. Und dieses ist die Theurgie, das heißt die Fähigkeit, auf die Wurzeln allen Seins einzuwirken, um von dort den Segensfluss über der Welt zu öffnen. Der Mensch ist durch seine meditativen Praktiken und durch sein mit ihnen verbundenes Handeln in der Lage, auf die göttliche Welt direkten Einfluss auszuüben. Die ontologische Grundlage dieser Befähigung ist die strukturelle und wesensmäßige Einheit des Seins, welche den Menschen in einen direkten Wirkzusammenhang mit den göttlichen Welten stellt. Gebet, Torastudium, Erfüllung der Gebote und all sein irdisches Tun werden in diesem umfassenden Wirkungszusammenhang gesehen, all sein Tun ist ein Handeln sub specie aeternitatis. Der Mensch ist in diesem Geflecht Actor und Actum zugleich. Sein Handeln hat stets Konsequenzen nach oben und wird früher oder später gewisse Reaktionen von dort hervorrufen.32

Einmal vorausgesetzt, Kafka hätte unter dem Einfluss der skizzierten kabbalistischen Gedanken gestanden – was erst am Ende dieses Buches evident sein mag –, dann kann man Josef K. und den Landvermesser in Kafkas Schloß als Menschen verstehen, die um den Wirkungszusammenhang der verborgenen und der offenbaren Welt wissen und die sich an der Theurgie versuchen, um in das Beeinflusstsein von dort selbst eingreifen zu können. – Die Berechtigung einer solchen Feststellung wird allerdings, wie gesagt, erst vom Ende dieses Buches her sichtbar, wenn man das Ausmaß der Übereinstimmung zwischen Kafka und diesem jüdischen Denken erkannt hat. – Für Kafkas Helden erweisen sich indessen diese theurgischen Versuche als Fehlschlag. Sie laufen in die Irre oder verfangen sich in Zyklen auf niedriger Ebene, die nicht zu dem intendierten höheren Ziel vorzudringen vermögen. Auch die Kabbala kennt dieses Problem der vergeblichen Theurgie und schildert sie als die am Aufstieg gescheiterten Gebete der Menschen, die irgendwo in den niedrigen Stufen der ontologischen Hierarchie hängengeblieben sind oder gar in eigens dafür vorgesehenen himmlischen ›Rumpelkammern‹ liegenbleiben. Diesen Gebeten geht es wie dem Mann vom Lande in Kafkas Parabel, der die Prüfung schon an einem der niedrigen Tore nicht bestand und darum nicht weiter vordringen konnte.33

Wie das Weltbild des mittelalterlichen Platonismus versteht die Kabbala die Stufung der Welt zugleich als eine Qualitätshierarchie. Die der menschlichen Welt noch näher stehenden himmlischen Stufen sind darum der Qualität der irdischen Welt noch sehr viel näher als die über ihnen stehenden höheren Grade,34 und wehe dem Gebet und wehe der Seele, die nicht weiter nach oben dringen, ihnen widerfährt, was Kafkas beide Helden, Josef K. und der Landvermesser K., erleben mussten. Zwar haben sie, der eine mit dem Gericht und der andere mit dem Schloss, zu tun, doch das, was sie da sehen, unterscheidet sich doch kaum von ihrer eigenen elenden Welt. In den beiden großen Romanen Der Proceß und Das Schloß schildert demnach Kafka, kabbalistisch gesprochen, die Krise der Kabbala, das Versagen der Theurgie, die Unfähigkeit des Menschen, mit seinem Handeln vor die entscheidende Instanz hinaufzudringen.

Eine ganz ähnliche,aber nicht derart pessimistische Wendung der Kabbala vollzog sich in der Mystik des Chasidismus, wie sie einer seiner herausragendsten Gestalten, Dov Ber, der Maggid aus Mesritsch (1710–1772), formulierte. Dov Ber wendet sich, wie im Kapitel zu den Aphorismen deutlich werden wird, gleichfalls vom Aktivismus der Theurgen ab und glaubt, dass eine Lösung der Not des Menschen in dieser Welt gerade vom Gegenteil des Aktivismus zu erwarten ist, nämlich vom Verzicht des Menschen, selbst etwas erwirken zu wollen. Die höchste Form des Menschlichen ist nach ihm der völlige Verzicht auf menschliche Eigenständigkeit und menschliches Ichbewusstsein, ein Selbstverständnis, das sich nur als Gefäß der Gottheit sieht und im absoluten Quietismus sich selbst aufgibt in der Selbstnichtung im Nichts der Einheit Gottes, eine Haltung, die ja auch Josef K. zunehmend prägt.

Eine Variante dieses Verzichts auf Theurgie ist im Chasidismus deren Übertragung auf den Rebben, den Zaddik. Danach ist nicht mehr jeder einzelne zur Theurgie aufgerufen, sondern der chasidische Rebbe tut das als Fürsprecher seiner Gemeinde.35 Bei Kafka sind dies die Advokaten und sonstige Helfershelfer bei Gericht oder im Dorfe, oder auch Josefine, die Sängerin in Kafkas so genannter Geschichte.36 Und wieder zeigt sich bei Kafka die Krise, die Unfähigkeit der Helfer, wirklich zu helfen, wenn auch auf der unteren Ebene die Illusion der Hilfe schon hilfreich ist.37

Ein weiterer Punkt, in dem Kafka der mythologisch-kosmologischen Kabbala sehr nahe steht, ist die Auffassung, dass die unsichtbaren Hierarchien nicht nur in die schon weniger verlockenden niedrigen Stufen ragen, sondern dass die Hierarchie bis herab in den Alltag reicht, bis hinein in dessen banalste und auch schmutzigste Seite. Auch das Böse in der Welt ist in den verschiedenen Systemen der Kabbala stets Teil der von Gott ausgegangenen einen Welt und steht in seinem Dienste.38 Nur ist bei Kafka mehr als bei den unten vorgeführten mythologischen Schilderungen die Weltenhierarchie vor allem auf der untersten Ebene geschildert. Man könnte auch sagen, die kabbalistischen Hierarchiebeschreibungen, sei es der Gerichte oder des Schlosses, sind bei ihm ganz in die menschliche Sphäre herabprojiziert, bleiben aber doch der mythologischen Sprache eng verbunden, als eine Art soziomorpher und anthropomorpher Mythos der Weltenhierarchie, der das Transzendente jedoch nicht ganz aus den Augen verliert.

Ein weiterer gemeinsamer Grundzug von Kafka und der Kabbala ist die Auffassung, dass das Gericht und die Instanzen, vor denen sich menschliches Leben in seiner Ganzheit zu verantworten hat, ein Teil der die Welt durchziehenden Hierarchien des Seins sind, nicht ein einziger Gerichtshof vor dem Throne Gottes. Hinzu kommt, dass auch die Geschichte vor diesem Hintergrund verstanden wird. Geschichte gibt es im Rahmen dieser Strukturen nur als ein zyklisches Schwanken zwischen den göttlichen Strukturpolen von Liebe und Gericht. Diese beiden Pole bestimmen das ganze Sein von seiner höchsten Stufe bis hinab ins Erdenleben.39 Alles, was in der Welt geschieht, ist eine direkte Folge dieses Zyklus von Recht und Gnade oder von der Aufhebung des Gerichts in Liebe – das ist die göttliche Einung – und von der Herrschaft des Gerichts – das ist die innergöttliche Trennung.40 Menschliches Leben und Geschichte sind darum gleichfalls nichts als ein Schwanken zwischen Freispruch und Gericht, zwischen Verhaftung und deren Aufschub. Wo die Theurgie gelingt, hat sie Einfluss auf die Einung und damit auf das Wohlergehen dieser Welt. Sie entkommt dann durch Liebe dem Gericht oder überwölbt das Recht durch Liebe und Segensfülle. In der erwähnten chasidischen Variante des Dov Ber aus Mesritsch wird der heilvolle Zustand nur durch die Selbstnichtung gewonnen, denn das Bestehen von Individuen ist Trennung, ist Gericht41 – hier ist die Geschichte ein Schwanken zwischen Trennung und Einung, zwischen Ichsein und dessen Aufhebung in Gottes Einheit.

Ein anderer für Kafka wichtiger Zweig der Kabbala, der jenem chasidischen in vielem widerspricht, ist die mit Jizchak Lurja im 16. Jahrhundert aufgekommene Form.42 Aus ihr gewann Kafka die Einbeziehung der unbelebten Natur, der Pflanzen und Tiere in den Lebenshorizont des Menschen. Die Theurgie wird in dieser Spätform der Kabbala vor allem als ein Prozess der Seelenläuterung verstanden. Die beim Sündenfall zerbrochene Seele des Ersten Menschen, des Adam, muss nach ihrem Bruch in Tausende und Abertausende Seelenfunken in einer kollektiven Leistung das vollbringen, was eigentlich die Aufgabe des Ersten Menschen mit seiner Makroseele gewesen wäre, nämlich die Wiederherstellung des zuvor erfolgten kosmischen Bruchs zu erwirken. Dieses Werk wird nunmehr zunächst vollbracht als eine allumfassende Seelenläuterung, welche jeder Seelenfunke für sich auf dem Weg der Seelenwanderung in Menschen, Tieren, Pflanzen und Mineralen erlangen muss. Erst wenn dies gelungen ist, kehren die Einzelseelen in den Adam zurück, der nunmehr die ihm einst auferlegte Aufgabe vollbringen kann. Dank dieser Seelenlehre wird auch die außermenschliche Natur Teil der menschlichen Seelengeschichte, wodurch Tiere und ›tote‹ Dinge eine völlig neue Bewertung erfahren haben.43

Diese Lehre hat eine große Zahl von volkstümlichen Geschichten hervorgebracht, in denen sich das neue Verhältnis zur menschlichen Umwelt artikulierte und die, wie sich unten zeigen wird, in vielem Kafkas Tiergestalten und unbelebtem Leben sehr nahe stehen. Tiere und viele Dinge sind jetzt nicht mehr Gegenstände, sondern Menschen, die in Tieren und in Dingen leben.

Die lurianische Kabbala hat den schon in der früheren Kabbala bekannten Gedanken von der Belebtheit oder Beseeltheit aller Natur voll entfaltet, nicht zuletzt in dem Glauben, dass die ganze Welt voll irrender Seelen und Dämonen ist. Grund für all dies Irrleben ist die Sünde; sie von sich fernzuhalten wird in dieser Kabbala zum alles beherrschenden Motiv und hat ein Judentum erzeugt, das im Gegensatz zur sonst vorherrschenden jüdischen Gesinnung sehr pessimistisch war. Die Furcht vor der Macht der bösen Kräfte, ein allgegenwärtiges Bewusstsein von der Sünde, haben Formen der Askese und Weltabwendung hervorgebracht, die das Judentum davor und nachher nicht kannte. Das Wissen um das stets tagende Gericht, um die allerorten lauernde Sünde, vor allem in Form der Sexualität, sind Themen, die auch die von Lurja beeinflusste Moral und Predigtliteratur bestimmen. In Kafkas eigener Familie war dieses asketische welt- und sündenerschrockene Judentum vertreten, und man erzählte sich davon, wie seine Tagebücher zeigen.

Eine völlig andere Gestalt der Kabbala tritt uns in Kafkas Aphorismen entgegen. Es ist die vor allem von Dov Ber verbreitete Individual- und Nichtungsmystik, welche die Sünde im Wege des unitiven mystischen Aktes und der Nichtung alles Irdischen zu meiden sucht. Ein Zweifel daran, dass Kafka von dieser Mystik direkte Kenntnis hatte, wird angesichts des Befundes zu seinen Aphorismen kaum möglich sein; auch Josef K. hat schließlich diesen Weg gewählt: »Ich wollte immer mit zwanzig Händen in die Welt hineinfahren und überdies zu einem nicht zu billigenden Zweck. Das war unrichtig.«44 Es scheint diese Wendung von der synergistischen Theurgie hin zur quietistischen Weltgelassenheit zu sein, die auch Kafka in den Aphorismen anscheinend selbst erreichte.

Kafkas Texte kann man mithin als mitten in einer Diskussion stehend begreifen, einer Diskussion, welche sich in der Kabbala auf ihre Weise selbst vollzog. Gemeinsam ist allen hier gestreiften Positionen das Bewusstsein von der Vernetzung des individuellen menschlichen Lebens mit dem Leben der sichtbaren Umwelt und der unsichtbaren Überwelt; außerdem, dass dieses irdische Leben in seinem tiefsten Grunde abhängig ist von der unsichtbaren Welt, von der Rechtfertigung oder Verurteilung vor ihren Schranken, von denen Leben und Tod abhängen. Gemeinsam ist allen diesen Stimmen auch, dass diese Beziehung des Menschen zur Überwelt von seinem eigenen Verhalten entscheidend mitbestimmt wird. Meinungsverschiedenheit besteht allerdings darüber, ob dieses Verhalten die direkte oder vom chasidischen Rebben stellvertretend für andere geübte Theurgie sein kann oder das Absehen von menschlicher Aktivität in der Wendung zur völligen Passivität sein muss.

Bei Kafka ist kein geschlossenes kabbalistisches System zu erkennen, wohl aber eine Fülle von gemeinsamen Gedanken und Grundauffassungen, die, wie sich auf Schritt und Tritt nachweisen lässt, nicht auf Zufall beruhen müssen, sondern durch vielerlei Kontakte und Bezugspunkte in seiner unmittelbaren Umwelt auf ihn eingewirkt haben können. Hinzu kommt, dass neben solchen kabbalistischen Elementen auch gemeinrabbinische Auffassungen das Denken Kafkas beeinflussten.

Der Proceß und die Türhüter-Tradition in der Kabbala

Schon Gershom Scholem schrieb einst an Walter Benjamin, der sich mit dem Gedanken eines Essays über Kafka trug: »Ich würde auch Dir raten, jede Untersuchung über Kafka vom Buche Hiob aus zu beginnen oder zum mindesten von einer Erörterung über die Möglichkeit des Gottesurteils, welches ich als den einzigen Gegenstand der Kafkaschen Produktion ansehe.«45 Wie immer man zu einer solchen Reduktion des Kafkaschen Werkes stehen mag, so viel ist deutlich, dass gerade das Thema des Gerichts der Topos ist, mit dem Kafka unverkennbar in der jüdischen Tradition steht. Man muss indessen, ich wiederhole es, mit dem Prädikat ›jüdisch‹ behutsam und differenzierend umgehen, da das Judentum in seiner langen Geschichte und bis heute stets eine Pluralität von Auffassungen unter seinem Dach vereinte, die oft in schroffem Widerspruch zueinander standen.46 Das Judentum war und ist – weniger auf dem Gebiete der Halacha, also dem gesetzlichen Bereich, umso mehr auf dem philosophisch-theologischen – der Tummelplatz einer großen Vielfalt von Möglichkeiten, die mehr oder weniger miteinander kommunizieren. Man tut darum gut daran, näher zu prüfen, mit welchen Strömungen innerhalb des Judentums Kafka am meisten verbunden ist. Und ich wiederhole, die Antwort muss wohl lauten: Es ist, neben gemeinrabbinischen Vorstellungen, eine volkstümliche, in Predigten, Gebeten und im religiösen Alltag sich manifestierende popularisierte Form der Kabbala, und es sind darüber hinaus die Erzähltraditionen der jüdischen Volkserzählung vor allem Osteuropas, die man nicht immer mit vollem Recht die chasidischen Erzählungen nennt, weil nur ein Teil von ihnen wirklich spezifisch chasidische Themen verhandelt.

Entgegen dem Systembedürfnis des ordnenden Wissenschaftlers, der jedes Kapitel an den ihm der Sache nach zugehörenden Ort stellen will, möchte ich hier die Reihenfolge umkehren, um mit dem Evidentesten die Tür aufzustoßen und die Skeptiker oder Zögerer zum weiteren Zuhören williger zu machen. Ich will hier die These aufstellen: Gerade das befremdlichste und Kafkas Denken am meisten charakterisierende Werk, Der Proceß, ist nicht nur in seinen grundlegenden Gedanken, sondern darüber hinaus in seinem Aufbau und in seiner Konzeption von der kabbalistisch bestimmten jüdischen Moralliteratur geprägt, und zwar in einem so weitgehenden Maße, dass es nicht verwegen erscheint, Kafkas Proceß ganz von da her zu verstehen. Ich betone jedoch noch einmal: Die Übereinstimmung sollte nicht vorschnell die Unterschiede übersehen lassen. Kafkas Proceß-Roman wäre nicht in die große jüdische Literaturtradition einzuordnen, wenn da nicht im Gewande der Übereinstimmung und des Gleichklanges das Neue und Besondere zu entdecken wäre, würde nicht aus den wohlgeordneten Beeten alter Formen eine ganz neue Pflanze sprießen.

Kafkas Gewährsmann in chasidica und kabbalistica, sein Freund Georg Langer, berichtet in der autobiographischen Einleitungzuseinen chasidischen Geschichten, die ursprünglich unter dem Titel »Neun Tore« erschienen waren:47

»Allmählich werde ich auch mit der chassidischen Literatur vertraut. Zuerst lese ich das Buch ›Reschit Chochma‹ (Der Anfang der Weisheit), jenes kabbalistische Lehrbuch der Askese, Demut und Entsagung, voll herrlicher Zitate aus dem geheimnisvollen ›Sohar‹ […] Der ›Anfang der Weisheit‹ ist ein Werk des berühmten Kabbalisten Elijahu de Vidas, der zu Ende des 17. Jahrhunderts48 in Palästina lebte […] das Lesen des […] Buches hat mir der Rabbi von Belz selbst empfohlen.«49

Dieses Buch, zur Ermahnung und Erbauung auf weitere Kreise berechnet, hatte eine starke Verbreitung gefunden und war, wie die Anweisung des Belzer Rebben bestätigt, in Osteuropa noch in den Tagen Kafkas ein vielgelesener Klassiker der Erbauungsliteratur, dessen Nachwirkungen bis hinein in die erzählerische Volksliteratur zu spüren sind.

Dieses umfangreiche, bisher in keiner Übersetzung vorliegende hebräische Erbauungsbuch50 bietet unter der Rubrik »Gottesfurcht« ein Kapitel über die Bedeutung der himmlischen Gerichte, dessen Aufriss und Grundgedanken ich hier zunächst skizzieren will, und zwar in der Reihenfolge, wie sie der Autor auf sieben Seiten selbst bietet, damit der Aufbau und die Struktur eines solchen kabbalistischen Gerichtstraktates sichtbar werden, was, wie wir sehen werden, ein gewisses Gewicht haben wird.

Elijahu de Vidas eröffnet dieses Kapitel mit folgenden Worten:51

»Man muss sich außerdem fürchten vor dem Gericht, das jeden Tag und jede Stunde über dem Menschen ausgespannt ist. Wie unsere Weisen52 den Hiobvers (7,18) auslegten, in dem es heißt:

›Du musterst [den Menschen] am Morgen, und jeden Augenblick prüfst du ihn.‹

Die Auslegung Rabbi Josis lautet: Der Mensch wird täglich gerichtet […] R. Nathan hingegen sagt: In jeder Stunde […]. Außerdem meinten sie dazu [im Talmud]53: […] Wer aufs Krankenlager fiel und zum Sterben neigt, dem sagt man: Leg ein Bekenntnis ab […], denn ein kranker Mensch gleicht einem […], den man auf den Richtplatz führt. Hat er Verteidiger, wird er gerettet, wenn aber nicht, ist keine Rettung. Und welches sind die mächtigsten Fürsprecher? Die Umkehr und die guten Werke!«

Ein paar Zeilen weiter unten fährt der Autor fort:

»Jeden Tag hängt das Gericht über der Welt, denn die Welt wurde im Gericht [d. h. nach dem Rechtsprinzip] erschaffen, und dieses ist ihr Fundament.

Darum hüte sich der Mensch stets vor der Sünde, denn er weiß nicht, wann das Gericht über ihn beginnt. [Es kann geschehen,] er sitzt in seinem Hause, da beginnt das Gericht über ihn, oder er geht nach draußen aus dem Haus und das Gericht beginnt, und er weiß nicht, ob er wieder nach Hause kommt […], denn das Gericht geht vor ihm her […].«54

Einer der Gründe, warum dieses Gericht immer und jederzeit beginnen kann, ist unter anderem der, dass, wie de Vidas betont, täglich alles gegen den Menschen zeugen kann, selbst die Steine und die Wände seines Hauses, die Engel, die ihn stets begleiten, des Menschen eigene Seele, die Tora und vieles andere mehr:55

»Man fürchte sich vor allerlei Zeugen, die täglich wider einen Zeugnis ablegen […]. Der Mensch sage ja nicht ›Wer könnte wider mich zeugen?‹ Die Steine seines Hauses und die Mauern seines Hauses zeugen wider ihn. […] R. Schila sagt: ›Zwei Dienstengel begleiten den Menschen und zeugen wider ihn‹ […]. R. Chidka sagt: ›Des Menschen eigene Seele zeugt wider ihn‹ […]. Und die Weisen sagen: ›Die Glieder des Menschen zeugen wider ihn‹ […]. Und nicht nur dies, auch seine Hausgenossen zeugen wider ihn […]. Die Worte R. Schilas über die beiden Engel, die den Menschen begleiten und wider ihn zeugen, sind so zu verstehen […]: Wenn der Mensch sich von seinem Lager erhebt, stehen zwei Zeugen vor ihm, und sie gehen den ganzen Tag mit ihm.

[Die Engel mahnen und warnen, denn] wenn der Mensch seine Hand nach den Geschäften der Welt ausstreckt, rufen die Zeugen: ›Weiche vom Bösen und tue Gutes‹ (Ps 34, 15). Hört er auf sie, ist es gut, wenn aber nicht, dann ›steht der Satan zu seiner Rechten, um ihn anzuklagen‹ (Sacharja 3,1), und alle bezeugen wider ihn seine Sünden, oben [im Gericht]. […]

[Selbst die geheimsten Gedanken des Menschen werden vor das himmlische Gericht getragen, denn] Rabbi Acha sagte: ›Die Seele berichtet alles, was der Mensch im Verborgenen, im Finstern und im Hellen tut. Die Bücher werden vor dem Heiligen, Er sei gesegnet, [Gott], geschrieben, über alles, was die Menschen tun‹.«

Dieser Traktat aus dem Buch Reschit Chochma kennt nicht den zuweilen humorigen Ton der chasidischen Gerichtserzählungen,56 von denen unten noch die Rede sein soll, sondern ist der Strenge einer asketischen Kabbala verpflichtet, von deren Existenz auch Kafka Kenntnis hatte, wenn er etwa in seinen Tagebüchern vermerkt:

»Ich heiße hebräisch Amschel, wie der Großvater meiner Mutter von der Mutterseite, der als ein sehr frommer und gelehrter Mann mit langem weißem Bart meiner Mutter erinnerlich ist, die sechs Jahre alt war, als er starb. Sie erinnert sich, wie sie die Zehen der Leiche festhalten und dabei Verzeihung möglicher dem Großvater gegenüber begangener Verfehlungen erbitten mußte. Sie erinnert sich auch an die vielen, die Wände füllenden Bücher des Großvaters. Er badete jeden Tag im Fluß, auch im Winter, dann hackte er sich zum Baden ein Loch ins Eis.«57

Und kurz davor machte Kafka eine Eintragung, die sehr nahe bei dem hier verhandelten Thema steht:

»Beschneidung in Rußland. In der ganzen Wohnung, wo sich nur Türen finden, werden handtellergroße, mit kabbalistischen Zeichen bedruckte Tafeln aufgehängt, um die Mutter in der Zeit zwischen der Geburt und der Beschneidung vor bösen Geistern zu schützen, die ihr und dem Kind um diese Zeit besonders gefährlich werden können. […] Zur Abwehr der bösen Geister dient es auch, daß während sieben Tagen nach der Geburt mit Ausnahme des Freitag zehn bis fünfzehn Kinder, immer andere, gegen Abend unter Führung des Belfers (Hilfslehrers) zum Bett der Mutter vorgelassen werden, dort das ›Schema Israel‹ aufsagen und dann mit Süßigkeiten beschenkt werden. Diese unschuldigen, fünf bis acht Jahre alten Kinder sollen die bösen Geister, die gegen Abend am meisten drängen, besonders wirksam abhalten. […] Vor dem Tag der Beschneidung werden die Bösen am wildesten, deshalb ist die letzte Nacht eine Wachnacht und man verbringt sie bis gegen Morgen wachend bei der Mutter.«58

Auch diese Geisterwelt ist nach dem Zeugnis kabbalistischer Texte, wie wir sogleich sehen werden, ein Teil jener allgegenwärtigen strafenden und anklagenden Gerichtswelt. Kafkas verstreute Bemerkungen zu solchen Themen zeugen von seiner Aufmerksamkeit diesen Dingen gegenüber und von seiner sachlich richtigen Beobachtung und Information.

Doch zurück zu Elijahu de Vidas’ Reschit Chochma. Mit den bisher angeführten Worten schärft er seinen Lesern die von mir schon früher geschilderte59 und unten nochmals dargestellte Auffassung vom stets gegenwärtigen himmlischen Gericht ein, das allezeit mit Krankheit und allerlei Leiden in das konkrete menschliche Leben eingreifen kann, dessen Urteil zuweilen aufgeschoben werden kann oder aber sogleich zum Tode führt. Und dies, so betont der Autor, weil die Welt mit din, mit der Gerichtsgerechtigkeit, erschaffen wurde. Der berühmte und sagenhafte Prager Rabbiner, der Hohe Rabbi Löw (1525–1609),60 der meist mit dem Akronym »Maharal« benannte Schöpfer des im Prager Bewusstsein stets gegenwärtigen Golem,61 hat gerade in Gottes Gerichtsvollmacht Gottes Herrschaftsmacht über die Welt gesehen. Und gewiss ist man in den Synagogen Prags auch noch in den Tagen Kafkas auf die gedruckten Predigten des Rabbi Löw zu diesem Thema zurückgekommen – insbesondere zu den hohen Herbstfeiertagen (Neujahr und Jom Kippur), an denen sogar die abgebrühtesten Agnostiker noch zur Synagoge gehen. In einer dieser Predigten sagte der Maharal (R. Löw):62 »Gottes Königtum [die zehnte Kraft der kabbalistischen Gotteskräfte] ist seine Herrschaft über die Welt, und seine Herrschaft ist die Weise des Gerichtes […] Er ist der Richter und das Königtum ist sein Richten.«

Nach seiner einführenden Darstellung der Allgegenwart der göttlichen Gerichte kommt Elijahu de Vidas in seinem Gerichtstraktat auf das himmlische Strafmaß zu sprechen, das dem jeweiligen Maß des menschlichen Handelns entspricht. Sodann erörtert er diejenigen Dinge, die der Richtergott in der Welt eingerichtet hat, um den Menschen zur Gottesfurcht zu leiten. Dazu gehören neben dem Donner vor allem die bösen Träume, die, wie ich schon in meinem früheren Kafka-Beitrag betonte, nicht leichtgenommen werden, sondern als Mahnung Gottes an den Menschen gelten.63 Außer den Träumen und dem Donner dient nach de Vidas vor allem die Schechina, das ›Königtum‹, das ist die zuvor genannte zehnte Gotteskraft, als Mahner Gottes in der Welt, denn diese zehnte Gotteskraft ist nach der Kabbala ein zentraler Ort des himmlischen Gerichts. Um die Gerichtsfunktion dieser zehnten Sefira zu beschreiben, fügt Elijahu de Vidas ein Zitat aus dem ›Sohar‹64 ein, das ich hier verkürzt wiedergeben muss:

»[Es gibt einen höchsten Ort, der [das Licht] hervorströmen lässt und der alle [übrigen] Leuchten entzündet […], und aus diesem Ort geht ein Baum hervor zur Tränkung und Erhaltung.

Und dieser obere teure Baum steht über allen Bäumen […], dieser war und er ist und er wird sein, ihm ist nichts hinzuzufügen und von ihm ist nichts wegzunehmen […], denn dieser Baum ist die Tora und ihn hat Gott als beständigen eingesetzt […].65

Aber [nach der Pflanzung dieses Baumes] hat Gott darunter noch einen anderen Baum gesetzt […], ihn hat er dahin gesetzt, damit, wer immer zu dem oberen Baum gehen will, nur mit Erlaubnis eintrete. Wer eintreten will, findet also den unteren Baum und fürchtet sich einzutreten, außer er ist würdig. Denn dieser [untere Baum] ist der Torwächter […] und [ihn machte Gott], damit sich vor ihm die Erdenbewohner fürchten und sich nicht näherten, außer jene, die würdig sind nahe zu treten – und kein anderer! Damit die Menschen die Wege der Tora hüten und nicht rechts oder links abweichen.«66

Zu dem von Elijahu de Vidas erörterten Thema von den himmlischen Gerichten, in dessen Rahmen er außerdem, wie wir noch sehen werden, die Gerichtsboten, die Strafen und die endgültige Exekution mit dem Gerichtsschwert beschreibt, zu diesem Thema gehört nach ihm also eine Darstellung vom Menschen vor den Toren der Tora, vom Menschen vor dem Tore zum Gesetz, das von einem Türwächter gehütet wird. Rabbi Elijahus Darstellung gründet dabei auf der in der Kabbala üblichen Identifikation der sechsten Sefira mit der himmlischen Urform der Schriftlichen Tora, den fünf Büchern Mosis, und der zehnten Sefira mit der himmlischen Urform der Mündlichen Tora, also mit der jüdischen Traditionslehre. Das heißt, die himmlische Mündliche Tora, welche die zehnte Sefira des kabbalistischen Sefirotbaumes ist, sie ist die Türhüterin auf dem Weg zur himmlischen Schriftlichen Tora. Das alte Türhütermotiv der frühen Hechalotmystik ist hier, wie seit der Kabbala des dreizehnten Jahrhunderts, darunter dem ›Sohar‹, üblich, auf die himmlische Urform der Tora übertragen. In diese Tora kann und soll der Mensch hineingehen, dafür ist er bestimmt, allerdings wird sie eben von dem Türhüter, der mündlichen Tradition, bewacht. Beide Teile der himmlischen Tora, das heißt das Ziel der Wanderung samt dem Türhüter, werden im Sohar und bei de Vidas zugleich als zwei Bäume bezeichnet. Sie sind die in der Genesis genannten Bäume, der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen. Der Baum der Erkenntnis ist der Torwächter zum Baum des Lebens.67

Dieser Tora-Torhütertradition fügt Elijahu de Vidas sogleich eine zweite hinzu, die im Sinne der Kabbalisten sachlich ebenfalls hierhergehört. Er sagt:

»Wenn einer in das Heilige gelangen will, hat er sogleich mehrere Ankläger. Und wenn er nicht würdig ist, gleicht er einem Menschen, der vor das Angesicht des Königs treten will: Bevorer eintritt, den König zu sehen, gibt es da mehrere Tore, eines nach dem andern. Und über jedes Tor sind mehrere Wächter gesetzt, die hüten jenes Gut [der Weisheit], damit da keiner hineingeht, der nicht würdig ist einzutreten. Wäre dem nicht so, würden alle Sünder in die Geheimnisse der Tora eintreten. Darum, wenn ein Sünder eintreten will, um die Geheimnisse der Tora kennenzulernen, verwirren ihn einige Strafengel […], damit er nicht an einen Ort kommt, der nicht der seine ist. Wer aber gut ist, dem werden alle Ankläger und Strafer zu Verteidigern, und sie führen ihn zu dem verwahrten Gut hinein. Über solch [einen Würdigen] rufen sie:

Unser Herr, hier ist ein guter, gerechter und gottesfürchtiger Mensch, der vor dich hineintreten will und uns sagte: Öffnet mir die Tore der Gerechtigkeit, dass ich sie betrete und den Herren preise!«68

Dieses zweite, von Elijahu de Vidas hier angefügte Traditionsstück fügt mithin dem Tora-Tor-Motiv das andere Türwächtermotiv hinzu, auf welches in der Literatur im Zusammenhang mit Kafka schon öfters verwiesen wurde. Es ist die Vorstellung von den himmlischen Hallen, die der Mystiker durchschreiten muss, um vor den Thron Gottes zu treten, eine Tradition, die von den Kabbalisten des Mittelalters und der frühen Neuzeit aus der jüdischen Antike übernommen wurde.69

Während nun aber in der altjüdischen Hechalotliteratur der Gang durch diese Hallen nur ein Gang durch die physisch vorgestellten Himmelshallen war, kann in der Kabbala dieser Gang durch die Himmelshallen, an den sich der Gang durch die Welt der sefirotischen Gotteskräfte anschließt, zugleich als ein Gang in die Tora, in das Gesetz hinein, gedeutet werden. Der Gang durch die Himmelshallen ist demnach ein Weg in die Weisheit der Tora, die zum Leben führt, in das Licht der Gottheit.

Eine zweite wichtige Veränderung gegenüber der altjüdisch-talmudischen Hechalot-Mystik ist die Verbindung dieser himmlischen Hallenwelt mit der Gerichtsvorstellung. Die altmystische Prüfung der Adepten an den Himmelstoren wird nunmehr als Gericht verstanden. Daraus ergibt sich, dass der Weg des Menschen zum wahren Leben in der Kabbala als ein Weg durch verschiedene Gerichtsinstanzen begriffen wird. Der Weg zum Leben, zum Licht Gottes, ist ein Weg durch die Gerichtsinstanzen, von denen eine höher ist als die andere. Die einzelnen Gerichtsinstanzen sind die Hüter der Tore zur nächsthöheren Halle.

Die Gerichtsvollmacht dieser himmlischen Gerichte ist jedoch nicht auf den himmlischen Teil des menschlichen Weges beschränkt. Sie wirkt schon auf der Erde, hinein in das Alltagsleben der Menschen, noch bevor diese selbst bewusst den Aufstieg durch die Gerichte unternehmen. Das menschliche Leben auf der Erde gilt, wenn von den Menschen auch meist unerkannt, als Vorhof für diese Gerichtswanderung des Menschen. Das Leben auf der Erde entscheidet über den Erfolg der nachherigen Wanderung durch die himmlische Torawelt. Es entscheidet auch über den Erfolg des Aufstieges der menschlichen Gebete durch die Gerichtshallen, die gleichsam die Vorläufer seines eigenen Aufstiegs sind.70 Die tägliche Liturgie in der Synagoge kann darum in den kabbalistischen Handbüchern als ein Aufstieg des Menschen durch die himmlischen Hallen dargestellt werden, bei dem die einzelnen Worte oder Buchstaben des Gebetes die verschiedenen Himmelshallen repräsentieren.71

Der Autor unseres Gerichtstraktates lässt uns nicht im Unklaren, weshalb er hier in diesen Zusammenhang vom stets gegenwärtigen Gericht die Torwächtertradition einfügt. Sie dient dazu, den Leser Furcht vor den Instanzen zu lehren, die seinen Weg zum Leben aufhalten können und ihn durch ihre Boten schon hier auf Erden lenken. Zu diesem Zwecke, so fährt Elijahu de Vidas fort, greifen die Gerichtsinstanzen zu Züchtigungsmitteln wie den schon genannten, Donner und bösen Träumen,72 die sie den Menschen schicken, aber auch Krankheiten, worauf schon zu Eingang des Kapitels hingewiesen wurde. Auch Joseph K. weist ja im Zusammenhang mit seinem in Gang gekommenen Prozess mehrfach auf seine Schwäche hin, die ihn plötzlich in nie gekannter Weise überfällt.73 Wenn nun solche Züchtigungen des Gerichts den Menschen treffen, so muss nach de Vidas »der Mensch sich dem Gericht, das ihn beherrscht, beugen und darf sich nicht hartnäckig dagegen stellen; er darf diese Züchtigungen nicht missachten und verspotten«.74 Ähnlich musste auch Joseph K. sich sagen lassen: »du lieber Himmel! […] daß Sie sich in Ihre Lage nicht fügen können«. »Seien Sie nicht so unnachgiebig, gegen dieses Gericht kann man sich ja nicht wehren, man muß das Geständnis machen.«75 Mit der Einfügung der Torwächtertradition in seinen Gerichtstraktat will Elijahu de Vidas also den Blick seiner Leser auf jene Instanzen lenken, die ihn strafen, ihm aber damit zugleich den Weg zum Baum des Lebens öffnen wollen – es sei denn, er ist widerspenstig, dann bleibt ihm das Tor verschlossen. – Doch zunächst der weitere Fortgang von Elijahu de Vidas’ Gerichtstraktat: Nach dem Blick auf die furchterregenden himmlischen Torwächter kommt unser kabbalistischer Morallehrer auf die zur Erde gesandten Strafmaßnahmen des himmlischen Gerichts zu sprechen. Krankheit, Donner und böse Träume wurden bereits erwähnt. Des Weiteren fährt Elijahu de Vidas fort:76 »So fürchte man sich außerdem darum, weil der Heilige, E.s.g., verschiedene Boten hat, um das Gericht an den Menschenzu vollstrecken und ihre Schuld einzufordern.«

De Vidas zählt mit der älteren talmudischen Tradition nun »ganze Heere« auf, »die Gott beauftragte, die Schuld der Menschen einzufordern, wilde Tiere, Bären und Löwen, aber selbst solche Dinge oder Wesen, die man gemeinhin als überflüssig erachtet, wie Schnaken, Flöhe und Fliegen«.77 Zu den himmlischen Strafboten gehören aber auch die Menschen. Jede Not und Pein, die einem von ihnen widerfährt, soll als Gerichtsbotschaft verstanden werden – so vor allem von Seiten der Nichtjuden, aber auch von Seiten der eigenen jüdischen Volksgenossen, selbst von solchen, die nichts Böses wollen und einem unwillentlich zur Pein geraten.78 Zusammenfassend sagt de Vidas: »Wenn die Menschen übel tun, sind sie, die Frevler, gleich den wilden Tieren, eine Geißel, um die Menschen zu schlagen (oder: zu prügeln). Denn wenn die Menschen die Tora übertreten, werden sie gezeichnet, und die Gerichtsdiener erkennen sie.«79

»Es gehört ja alles zum Gericht«, sagt ganz in diesem Sinne auch Titorelli zu Joseph K.80

Nach solchen Ermahnungen, alles, auch das Belangloseste als Boten des Gerichts zu verstehen, die den Menschen während seiner Erdentage ermahnen und züchtigen, kommt der kabbalistische Traktat zum Schlussakt des ganzen Prozesses81 – nämlich zum Tod. Der »Tag des Todes ist der Tag, welcher der große Gerichtstag ist, an dem der Mensch ob aller seiner Taten gerichtet wird«. »Der Tag, an dem der Mensch aus dieser Welt scheidet, ist der Tag des großen Gerichtes, an welchem die Sonne sich verfinstert«, ein Tag der Finsternis.82 Diesen letzten Akt beschreibt de Vidas unter anderem so:83

»Der Mensch geht durch diese Welt und denkt, dass sie immer die seine sei […], aber wie er noch durch die Welt schreitet, legt man ihm ein Halseisen um, und bevor er umkehrt, richtet man ihn auf dem Richtplatz mit den andern Angeklagten. Findet sich ein Verteidiger, dann ist er aus dem Gericht gerettet […], wenn aber nicht, wird er vom Gericht verurteilt, aus der Welt zu scheiden.

Erhebt der Mensch in jener Stunde, in der er noch im Halseisen des Königs liegt, die Augen, so sieht er zwei [Männer], die kommen auf ihn zu und schreiben alles vor ihm auf, was er in dieser Welt getan und alles, was aus seinem Munde kam. Und er gibt Rechenschaft über alles und sie schreiben. [Und schließlich:] Wehe über dies Gericht und wehe seinen Taten […] wie er noch im Halseisen […] geht und gerichtet wird und kein Verteidiger sich findet, da kommt der Scharfrichter des Königs herab und steht vor seinen Füßen, ein scharfes Schwert in seiner Hand. Der Mensch erhebt die Augen und sieht die Mauern eines Hauses hell auflodern von dessen Glanz. Dann sieht er ihn vor sich, voller Augen, sein Gewand sind Feuersflammen, die vor diesem Menschen flackern.

So ist es in der Tat. Einige Menschen sahen einen Engelaufdem Markt und standen vor ihm, während andere ihn nicht sahen.«84

Man möchte diese kabbalistische Beschreibung der Hinrichtung fast mit Josef K.s Ende schließen:

»Dann öffnete der Herr seinen Gehrock und nahm aus der Scheide […] ein langes dünnes beiderseitig geschärftes Fleischermesser, hielt es hoch und prüfte es im Licht […]. [Joseph K.s] Blicke fielen auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch grenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch schwach und dünn in der Ferne und Höhe beugte sich mit einem Ruck weit vor […] Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? […] einer, der helfen wollte?«85

Ist es beide Male ein letzter Licht- und Hoffnungsschimmer in der Finsternis des großen Gerichtstages? Die Hoffnung auf einen letzten Fürsprecher, der das Urteil im letzten Augenblick aufhalten könnte?

So weit die Darstellung dieses popular-kabbalistischen Traktates. Er spannt einen Bogen von der Allgegenwart des himmlischen Gerichts und seinem unvermittelten Einbrechen über die Gerichtsboten und Züchtigungsstrafen bis hin zur Exekution, zum Tod des Menschen. Und in die Mitte eingefügt ist die Tradition von den Türhütern vor dem Gesetz und den himmlischen Hallen des Gerichts. Ein einprägsamer Aufbau, wie er sich für jede Synagogenpredigt eignet. Man nehme z. B. das ursprünglich in Polen geschriebene, jiddisch und hebräisch gedruckte Volksbuch Kav ha-Jaschar, das seit seinem ersten Erscheinen in Frankfurt am Main im Jahre 1705 zwischen dreißig und fünfzig Neuauflagen erfuhr, welches das Thema nach einem ähnlichen Aufriss abhandelte:86

»Gott hat viele Gesandte, und zahllose Ankläger stehen Tag für Tag im Gerichtshaus der Höhe über dem Menschen wegen seiner Sünden und Vergehen. Doch der Mensch achtet nicht darauf, denn schon hat er Sünde auf Frevel gehäuft und glaubt, dass er ihretwegen nicht zum Gericht gefordert wird, als ob es im Himmel kein Achtgeben auf die Verderbten gäbe. Aber in Wahrheit schweigt der Heilige, Er sei gesegnet, bis das Maß voll ist – und der Prozess (din