Kai Flammersfeld und das Erwachen der Geysira - Hagen Röhrig - E-Book

Kai Flammersfeld und das Erwachen der Geysira E-Book

Hagen Röhrig

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Beschreibung

„Aber du musst das nicht tun, Sandra. Wir können auch umkehren.“ „Ich weiß. Aber ich möchte es.“ Sie löste ihre Hand aus der seinen und lächelte ihn an. Sie wusste, dass er sich nun fragte, warum sie diese Angst auf sich nahm. Damals, an jenem Abend, als die Großmutter das Teufelsmahl für Hexen und Vampire veranstaltet hatte und sie erfahren hatten, dass Kais Verwandlung in einen Vampir nicht mehr aufzuhalten war, hatte sie sich geschworen, Kai niemals allein zu lassen und für ihn da zu sein, so gut sie es konnte. Sie atmete tief durch und setzte , ohne ein weiteres Wort zu sagen, einen Fuß vor den anderen – den Stimmen entgegen ... Bei den von Greifendorfs herrscht helle Aufregung. Die große Konferenz der IVK, der Interessenvereinigung der Vampire von Kleinfriedhöfen, steht an. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren, da entdecken Kai, Sandra und ihre neuen vampirischen Freunde etwas Rätselhaftes. Tief im Wald dringen Geräusche aus der Erde und Licht scheint durch Felsspalten aus dem Boden. Der Vampirhasser Rufus Wankelmann und der Vampirjäger Wieland von Wünschelsgrund haben sich zusammengetan und erschaffen in Höhlen fürchterliche Wesen, deren Aufgabe es ist, gegen die Vampire zu kämpfen. Den Vampirjägern gelingt es, Kai und seine Freunde in eine Falle zu locken. Ob die Vampire es schaffen, sie aus den Fängen der Vampirfeinde zu befreien? Kai erfährt im Laufe dieses Abenteuers einige dunkle Wahrheiten über seine Familie. Dinge, die er sich niemals im Leben hätte träumen lassen ...

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Kai Flammersfeld

und das Erwachen der Geysira

Hagen Röhrig

Inhalt

1. Ab in die Gruft! – 9. Tag nach dem Biss

2. Das seltsame Pfortenwasser

3. Die Schatten der dunklen Gefahr

4. Die Kirche „Zu Ehren der langlebigen Giselotta“ – 10. Tag nach dem Biss

5. Der Pakt der Vampirjäger

6. Die Höhle der Kreaturen – 11. Tag nach dem Biss

7. Ausgang hoch 3

8. Die Entscheidung

9. Unter Vampiren – 12. Tag nach dem Biss

10. Der Abstieg

11. Die schwarze Magie der Cylinda Catyll

12. Der Zerstörung erster Teil

13. Der Zerstörung zweiter Teil

14. Das Wiedersehen

15. Angriff der Vampirjäger

16. In der Falle

17. Das Geheimnis der Geysira

18. Der Silberstreifen am Horizont

Höhlenkarte

Autor

Für Bernd

Vergiss niemals deine Träume ...

... Danke!

1

Ab in die Gruft! – 9. Tag nach dem Biss

Kai schlug die Augen auf und atmete tief durch. Für einen kurzen Moment musste er überlegen, wo er war. Dann fiel es ihm ein. Natürlich. Er war im Wohnzimmer seiner Großmutter. Er klappte den unteren Teil des Sargdeckels hoch und setzte sich auf.

Wie in den letzten beiden Tagen, seit sie aus der Walpurgismühle entkommen waren, so hatte er auch heute einen merkwürdigen Traum gehabt. Einzelheiten fielen ihm nicht mehr ein, wohl aber verschiedene Bilder und Gefühle, die er dabei gehabt hatte. Er erinnerte sich lebhaft an Augen, die nichts ausstrahlten als tiefe Leere. Und Stoff. Dunklen Stoff, winterkalt, der im Wind wehte. Komisch, was man manchmal so träumt, dachte er.

Wie spät es wohl sein mochte? Er gähnte, streckte sich und stieg aus dem Sarg. Seine Füße tasteten nach den Schuhen und schlüpften hinein. Sind Sandra und ich heute nicht mit Gutta, Gangolf und Gerrith am Pavillon verabredet?, fragte er sich. Sein Blick fiel auf seine Armbanduhr, deren Zeiger sich auf 23 Uhr zubewegten und er erschrak. Er hatte viel zu lange geschlafen! Soweit er sich erinnerte, wollten sie sich doch mit den anderen gegen Mitternacht treffen.

Er ging zur Terrassentür und zog die schweren Vorhänge beiseite, die ihn während des Tages vor den gleißenden Sonnenstrahlen geschützt hatten. Das blasse Mondlicht strich über sein Gesicht und erhellte das Wohnzimmer. Und wie immer, wenn er den Mond ansah, fielen ihm die Worte seiner Großmutter ein: „Kai ... dies ist von nun an deine Sonne. Die Nacht wird dein Tag.“

Eine Zeit lang stand er einfach nur da und betrachtete den Mond und die funkelnden Sterne. Eine kleine Wolke, die aussah wie eine Fledermaus, zog eilig am Mond vorbei und verdeckte ihn für einen Augenblick. Kai schaute zu, wie die Fledermauswolke über den Himmel sauste und irgendwann im Dunkel der Nacht verschwand.

Tränen traten in seine Augen. Es war noch gar nicht so lange her, da war er der ganz normale Kai gewesen, der ganz normale, fast zwölfjährige, blonde Kai mit den bernsteinfarbenen Augen; hatte mit Sandra, seiner allerbesten Freundin, begonnen im Garten seiner Oma ein Baumhaus zu bauen; hatte vor den Osterferien in der Schultheatergruppe „Die faulen Ratten“ mitgespielt.

Und dann, ja, dann war es geschehen. An Felix’ Geburtstag, als sie im Wald Räuber und Gendarm gespielt hatten. Wieder und wieder fragte er sich, warum er damals, als er vor den Gendarmen geflüchtet war, ausgerechnet den Weg eingeschlagen hatte, der ihn zum Waldfriedhof führte. Zu den unheimlichen Gräbern. Zu den ... Vampiren. Er erinnerte sich daran, wie die Vampire ihn auf der Wiese, kurz vor Felix’ Haus, umringt hatten, und der fürchterlich faulige Geruch, der aus ihrem Rachen drang, stieg ihm wieder in die Nase. Angeekelt wandte Kai sich von der Terrassentür ab, als ihm auf einmal ein anderer Duft in die Nase strömte. Er war echt. Und angenehm. Ein unwiderstehlicher Geruch nach Leben, der ihm Appetit machte.

Kai nahm einige tiefe Atemzüge und ging zielstrebig dorthin, wo er die Quelle dieses verführerischen Duftes vermutete: zum Esszimmertisch. Und tatsächlich. Auf dem Tisch stand ein mit einer dunklen Flüssigkeit gefülltes Glas. Daneben lag ein Zettel. Kai nahm den Zettel und erkannte sofort die Handschrift seiner Großmutter.

Guten „Morgen“, du Langschläfer!

Habe mir erlaubt, ein kleines „Frühstück“ für dich vorzubereiten. Ein schön dick aufgebrühter Bluttee. Lass es dir schmecken, mein Junge! Oma

Kai schmunzelte, als er die Nachricht auf den Tisch zurücklegte. Dann nahm er das Glas und hielt es sich an die Nase. Bei dem Blutgeruch knurrte ihm laut der Magen. Er setzte das Glas an die Lippen und leerte es in einem Zug. Was für ein herrliches Gefühl das war, als der Bluttee seine Kehle hinunterfloss und die warme Flüssigkeit seinen Magen füllte! In diesem Moment klopfte es an der Tür und Sandra steckte den Kopf in das Wohnzimmer.

„Na, endlich wach? Hast verdammt lange geschlafen heute.“ Sie lächelte ihn an. „Du hast aber nicht vergessen, dass wir gleich mit Gutta, Gangolf und Gerrith am Pavillon verabredet sind, oder?“

„Nein, nein.“ Kai knipste das Licht an und stellte das leere Glas auf den Esstisch zurück. „Bin quasi schon fertig.“ Er ging zu seinem Sarg, zog seinen neuen schwarzen Umhang aus einer Seitentasche des Innenfutters und warf ihn schwungvoll über die Schultern. „Kann losgehen!“, sagte er und grinste Sandra breit an. Als er ihren überraschten Blick bemerkte, ließ er sofort die Lippen wieder über die Zähne zurückgleiten. „Sind sie wieder länger geworden?“, fragte er leise.

Sandra nickte. „Ein wenig. Aber wirklich nur ein wenig. Ich gewöhne mich schon dran, keine Sorge.“

Kai seufzte. Erst vorgestern waren seine Eckzähne wieder gewachsen, Sandra hatte es gleich bemerkt. Seine Verwandlung in einen Vampir schritt unaufhaltsam voran. Und er wusste, dass es nicht allein bei der äußeren Umwandlung bleiben würde. Früher oder später würde der äußeren eine innere Veränderung folgen und sein Wesen sich deutlich umformen. Und davor hatte er mittlerweile am meisten Angst, denn niemand konnte voraussehen, wie viel der neue Kai, der Vampir, noch mit dem Menschen Kai Flammersfeld gemein haben würde.

Sandra ging auf Kai zu und legte die Hand tröstend auf seine Schulter. „Ich weiß ja, dass du mich nie beißen würdest“, sagte sie.

„Hallo, ihr zwei!“ Kais Oma kam aus der Küche und ging durch den Essbereich ins Wohnzimmer. „Hat dir wohl geschmeckt, mein Frühstück, was?“ Sie nickte zufrieden, als sie das leere Glas auf dem Tisch entdeckte. „So langsam krieg ich den Dreh raus, wie man einen guten Bluttee zubereitet.“ Sie gab Kai einen Kuss auf die Wange. „Gut geschlafen?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten fügte sie hinzu: „Müsst ihr nicht los? Es ist bald Mitternacht!“

„Kommst du mit?“ Kai öffnete die Terrassentür.

„Nein, danke. Ich hab was anderes vor.“ Oma Flammersfeld holte ein Buch aus der Tasche ihres schwarzen Kleides. „Tibetisch für Fortgeschrittene“ stand darauf geschrieben. „Ich muss bis morgen noch einen Haufen Vokabeln lernen“, seufzte sie und verdrehte dabei die Augen. „Aber grüßt mir die anderen, ja?“

„Machen wir!“ Sandra und Kai traten hinaus auf den Weg, der sich durch den Garten schlängelte und zum Pavillon führte. Hinter ihnen schloss die Großmutter die Terrassentür und sie hörten noch, wie sie anfing, tibetische Vokabeln aufzusagen.

„Ist die Luft da vorn besser, oder was?“ Sandra eilte völlig außer Atem hinter Kai her. „Nun renn doch nicht so!“

„Entschuldige ...“ Kai blieb stehen und wartete auf seine Freundin. Gemeinsam gingen sie an den Rosenstöcken und den Rhododendren vorbei, überquerten die kleine Wiese mit den Mohnblumen und dem Lavendel und kamen schließlich zu den Holunderbüschen, die ganz nah am See wuchsen. An der alten Eiche vor dem Pavillon blieben sie stehen.

„Die sind ja noch gar nicht da.“ Sandra schaute sich um.

„Doch, sind sie.“ Seit dem Abend, als sie in Wankelmanns Haus im Mondscheinpfad Nummer 13 eingestiegen waren, hatte Kai eine, wie er fand, ganz wunderbare vampirische Eigenschaft. An genau diesem Abend nämlich war es gewesen, als sich seine Augen zu denen eines Vampirs verändert hatten und er in der Dunkelheit alles gestochen scharf und farbig sehen konnte. Und deshalb war es für ihn ein Leichtes, Guttas zierlichen Körper in den Ästen der Eiche auszumachen.

„Schau“, sagte er und deutete auf eine dunkle Stelle in der Baumkrone, wo Sandra allerdings rein gar nichts erkennen konnte.

„Ich seh da niemanden“, erwiderte sie und rief dann kurzerhand: „Hey, Gutta, Gangolf, Gerrith! Seid ihr da?“

Kai hielt sich die Ohren zu. Wie alle Sinne, so war auch sein Gehör mittlerweile sehr fein und empfindlich geworden.

„Boah, was schreit die denn so?“, schnarrte es dumpf vom Dach des Pavillons. „Da platzt einem ja das Trommelfell.“

„Nun mach dir mal nicht ins Hemd, Bruderherz“, kam es aus dem Eichenlaub zurück und kurz darauf schwebte Gutta vor Kai und Sandra auf den Boden. „Ihr dürft Gangolf heute nicht so ernst nehmen, er hat mal wieder eine seiner Gefühlsschwankungen“, grinste sie und zwinkerte ihnen zu.

„Gefühlsschwankungen, pah! Das is’ was für Weicheier, aber nicht für einen richtigen Vampir.“ Gangolf stieß sich vom Dach des Pavillons ab und flatterte zu den anderen.

„Na, Kumpel, alles klar?“ Er schlug Kai so kräftig auf den Rücken, dass dieser einige Schritte vorwärtstaumelte.

„Wo ist denn Gerrith?“ Kai hustete die Worte mehr, als dass er sie sagen konnte.

„Ja, wo ist er eigentlich?“ Gutta schaute sich verwundert nach allen Seiten um. „Eben war er doch noch da ...“

Hinter dem Gartenpavillon raschelte es. „Hallo!“, hauchte eine Stimme. „Schön, euch zu sehen.“ Gerrith kam hinter dem Pavillon hervor und schlich zu ihnen an die Eiche.

Er hielt ein Gänseblümchen in der Hand, das ihm Gangolf aber sogleich entriss und kopfschüttelnd auf den Boden warf. Die enttäuschten Blicke seines Bruders ignorierte er dabei geflissentlich.

„Ist es nicht einfach eine herrliche Nacht?“, rief Gangolf und aus der Tasche seines Umhangs kam, wie zur Bestätigung, ein leises „Quak!“ von Gundel, seiner Vampir-Gelbbauchunke. „Macht richtig Lust auf eine ausgedehnte Jagd, nicht wahr?“ Er warf den Kopf nach hinten und aus seinem Rachen drang ein dunkles, grausames Fauchen. Sandra drückte sich an Kai und klammerte sich an seinen Arm.

„Nun lass das doch mal, Gangolf. Es sind Menschen unter uns.“ Gutta verdrehte die Augen und flüsterte Sandra ins Ohr: „Jetzt macht er wieder einen auf Macker. Aber keine Angst, das geht vorbei.“

Gangolfs Gesicht verfärbte sich tiefrot. „Oh, Entschuldigung, Sandra. Ich wollte dich nicht erschrecken.“

Sandra lächelte und löste den Griff um Kais Arm.

„Na schön, also keine Jagd heute Nacht.“ In Gangolfs Stimme schwang deutlich ein Ton des Bedauerns.

„Ich wüsste auch gar nicht, wie ich das anstellen soll“, rutsche es Kai heraus und er bereute im nächsten Augenblick, dies gesagt zu haben, denn bitterböse Blicke von Gutta und Gangolf straften ihn dafür.

„Willst du damit etwa sagen, dass du noch gar nicht jagen warst? Nicht ein einziges Mal?“, fragte Gangolf, wohlwissend, wie die Antwort ausfallen würde.

Kai schluckte und schwieg.

„Also wirklich! Kai!“ Gutta schüttelte den Kopf. „Du hast die ‚Alltagstipps ...‘ noch immer nicht durchgelesen, stimmt’s?“ Sie seufzte. „Da steht nämlich in Kapitel 2, Unterpunkt 2.3.9 ‚Die Zeit nach dem alles entscheidenden Biss’, dass man mit der ersten Jagd bloß nicht zu lange warten soll. Das ist wie mit dem Fliegen, Kai. Man muss es üben, üben, üben!“

Kai antwortete nicht. Er wusste, dass er eine endlose Diskussion auslösen würde, wenn er den beiden erzählte, dass er bisher nicht die geringste Lust verspürt hatte, auf „Jagd“ zu gehen. Immer, wenn er Hunger hatte, brühte er sich einen dicken Bluttee auf oder aß eine große Blutwurst. Bisher hatte er das als völlig ausreichend empfunden. Aber natürlich war ihm klar, dass dies eines Nachts nicht mehr so sein würde. Und hoffentlich, so dachte er, hoffentlich ist diese Nacht noch weit, weit entfernt. Vielleicht würde er dann zunächst den Kühen auf der Weide einen Besuch abstatten und bestimmt könnte ihn das einige Zeit zufriedenstellen. Doch früher oder später, auch das war ihm bewusst, würde es ihn nach Menschenblut dürsten. Nach frischem, warmem Menschenblut, in dem noch der Puls des Lebens schlug. Für all dies benötigte er keinen Ratgeber „Praktische Alltagstipps für Vampire – die 100 besten Rezepte“.

Gangolfs Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Irgendwie bin ich mit der Gesamtsituation unseres Neulings hier gar nicht zufrieden“, verkündete er, wobei er „Neuling“ besonders stark betonte.

„Ich wette, dein Sarg steht immer noch im Wohnzimmer deiner Oma, stimmt’s?“

„Natürlich.“

„Eben nicht natürlich“, raunzte Gangolf ihn an. „Auch das steht in deinen ‚Alltagstipps ...’. Jeder anständige Vampir hat gefälligst auf einem Friedhof zu wohnen, mag dieser auch so klein sein wie unserer. Zumindest in der Nähe eines Friedhofes muss er seinen Sarg aufstellen. Und was machst du? Du lebst in einem Wohnzimmer in einem Menschenhaus. Auf Dauer geht das einfach nicht, finde ich.“

Kai schnappte empört nach Luft. Eigentlich hatte er gehofft, dass dies ein schöner Abend werden würde, aber nun sah es eher danach aus, dass er sich eine Standpauke nach der anderen anhören durfte. Und das gefiel ihm gar nicht. Trotzig baute er sich vor Gangolf auf. „Ich mag aber nicht auf einen Friedhof ziehen. Da ist es mir zu ... tot!“, sagte er mit fester Stimme.

„Papperlapapp! Was soll das denn? Zu tot! Zu tot gibt es gar nicht“, antwortete Gangolf schnippisch und machte eine abwehrende Handbewegung. „Das sagst du ja nur, weil du gar nicht weißt, wie es ist, auf einem Friedhof zu wohnen. Nimm unsere Gruft zum Beispiel. Die ist urgemütlich!“

„Urgemütlich?“ Kai lachte spöttisch. „Das soll ja wohl ´n Witz sein. Wie kann eine Gruft urgemütlich sein? Da ist es kalt und feucht und es riecht modrig und faulig. Nach Tod eben. Wer will da schon gern leben?“

„Wir!“, protestierte Gutta. „Wir wohnen sogar sehr gern da. Aber das kannst du noch nicht verstehen, dafür bist du wohl noch nicht Vampir genug.“

Zum Glück, dachte Kai, aber er wagte nicht, es laut zu sagen.

„Ich habe eine Idee!“ Gangolf fuhr sich durch sein struppiges schwarzes Haar. „Wir werden dir heute zeigen, wie schön es ist, in einer Gruft zu wohnen.“

Gutta machte einen Schritt auf ihren Bruder zu. „Wie ... du willst doch nicht etwa ...“

„Oh doch, genau das will ich!“

„Du möchtest den beiden wirklich unsere Gruft zeigen?“

„Yepp!“

„Gute Idee!“

„Äh ... Leute ...“ Gerrith zupfte aufgeregt an Gangolfs Umhang.

„Ihr wisst aber schon, dass das strengstens verboten ist, oder?“

„Natürlich.“ Gangolf nickte.

„Und dass es fürchterliche Strafen regnen wird, wenn wir mit Menschen in unserer Gruft erwischt werden.“

„Auch klar.“ Gangolf wuschelte seinem Bruder durchs Haar. „Oh Gerrith, du bist wirklich der größte Angsthase auf der Welt. Aber ich verspreche dir: Niemand wird merken, dass wir da waren.“

Gerrith schaute seinen Bruder besorgt an. „Wie kannst du das versprechen? Was, wenn irgendjemand mitbekommt, dass wir die beiden mit in die Gruft nehmen?“

„Kai ist Vampir!“, polterte Gangolf.

„Noch nicht ganz! Und außerdem ... was ist mit ihr?“ Gerrith zeigte auf Sandra. „Sie ist nicht mal ansatzweise ein Vampir.“

„Nun pass mal auf, Brüderchen.“ Gangolf legte einen Arm um Gerriths Schultern. „Erstens sind unsere Eltern heute ausgeflogen und folglich also nicht zu Hause. Und zweitens passen wir schon auf, dass sie nichts Menschliches zurücklassen.“

„Und ihr Geruch?“

„Moosspray!“ Gutta zückte ein Fläschchen aus der Tasche ihres Umhanges. „Überdeckt garantiert alle Gerüche.“

Gerrith senkte verzagt den Kopf. „Man wird uns erwischen. Bestimmt! Und die Strafe wird fürchterlich sein. Fürchterlich!“

Gangolf stupste ihm mit dem Ellenbogen in die Seite. „Bleib locker, Gerrith. Es wird alles gut gehen.“ Dann wandte er sich an Kai und Sandra. „Also, was ist? Wollt ihr mal sehen, wie schön es sich in einer anständigen Gruft wohnen lässt?“

Die beiden wechselten unschlüssige Blicke.

„Also, na ja. Lass es mich so sagen: Dir wird in der Gruft wohl nicht so viel passieren, wenn plötzlich doch ein Vampir auftaucht. Aber mir wahrscheinlich schon“, meinte Sandra und Kai spürte deutlich, wie unwohl ihr bei dem Gedanken war, in eine Vampirgruft hinabzusteigen.

„Sollen wir es lassen?“, fragte er.

Sandra drehte eine Locke ihres langen, roten Haares um den Zeigefinger und spielte daran herum. Das tat sie immer, wenn sie nachdachte. Am liebsten hätte sie auf Kais Frage mit „Ja“ geantwortet. Gutta, Gangolf und Gerrith kannte und mochte sie. Sie waren freundlich und eigentlich hatte sie auch keine Angst mehr vor ihnen, außer vielleicht, wenn sie etwas machten, womit sie nicht rechnete. So wie Gangolf eben, als er auf einmal den Kopf in den Nacken geworfen und gefaucht hatte. Aber sonst? Nein, sie hatte wirklich nicht das Gefühl, dass sie sich ernsthaft in ihrer Gegenwart fürchten musste. Sie gewöhnte sich langsam sogar an Gangolfs manchmal etwas ruppige Art. Ohnehin war sie sich ziemlich sicher, dass sich hinter seiner rauen Schale ein gutes Herz verbarg, wenn man das über einen Untoten überhaupt so sagen konnte. Aber durfte sie sich bei den Vampireltern da auch so sicher sein? Als sie bei Kais Großmutter zu Besuch gewesen waren und nach den Transsylvanischen Schicksalskeksen gefragt hatten, ja, da waren sie schon höflich gewesen. Nur, würden sie es auch noch sein, wenn sie Sandra plötzlich in ihrer Gruft vorfänden?

Andererseits wusste sie, was gerade geschah. Gutta, Gangolf und Gerrith versuchten Kai deutlich zu machen, dass es an der Zeit war, einen weiteren Schritt zu tun. Einen weiteren Schritt in Richtung seines neuen Lebens als Vampir. Und ob es ihm nun gefiel oder nicht, er musste sich mit den Dingen auseinandersetzen, die zu einem Vampirleben dazugehören. Nur so konnte er sich für oder gegen diese Dinge entscheiden. Deshalb gab es für Kai eigentlich keine Wahl. Er musste sich den Lebensraum der Vampire, ihre Gruft, einfach ansehen. Und sie würde ihn dabei nicht allein lassen, daran gab es für sie nichts zu rütteln.

„Wir gehen“, sagte Sandra schließlich mit fester Stimme. „Aber sollte es brenzlig werden, helft ihr mir alle, klar?“

„Großes Vampirehrenwort!“ Gangolf legte feierlich die Hand auf die Brust.

Kai lächelte sie an. „Ich werde dich sicher nicht im Stich lassen, sollte in der Gruft ...“

„Ich weiß“, sagte sie leise, breitete die Arme aus und rief: „So, auf geht’s! Ab in die Gruft!“

Wortlos schnappte Kai seine Freundin und hob vom Boden ab. Gutta, Gangolf und Gerrith taten es ihnen gleich.

Während des ganzen Fluges konnten sie Gerriths leises Seufzen hören. „Es wird alles in einer Katastrophe enden. Bestimmt wird es in einer Katastrophe enden. Ich weiß es ganz genau“, murmelte er in einem fort.

Kai jedoch schwieg und drückte Sandra ganz fest an sich. Er war unheimlich stolz auf seine Freundin. So unheimlich stolz.

2

Das seltsame Pfortenwasser

Sie flogen hoch über den Baumwipfeln. Der warme Wind spielte mit ihren Umhängen und als Sandra einmal den Kopf drehte und zurückschaute, konnte sie sich ein Grinsen nicht verkneifen. Der arme Gerrith, der als Letzter flog, hatte alle Mühe, seinen Umhang, der ihm eigentlich viel zu groß war, unter Kontrolle zu halten. Der Wind zupfte und zog so heftig an ihm und wirbelte den Stoff dermaßen durcheinander, dass man meinen konnte, der kleine Kerl würde von seinem Umhang verschlungen.

Nach einer Weile sahen sie unter sich die fahlen Lichter eines einsamen Hauses. Kai erkannte es sofort, es war das Haus Nummer 13 im Mondscheinpfad, das Haus von Rufus Wankelmann. Der Vampirhasser hatte Gutta und den Großvater der Vampirgeschwister vor Kurzem entführt. Kai sah zu Gutta, die gerade neben ihm flog und als sich ihre Blicke trafen, deutete sie auf Wankelmanns Haus und drehte den Daumen nach unten. Kai nickte.

Sie flogen noch ein Stück geradeaus, dann machten sie eine Links- und schließlich noch eine Rechtskurve. Der Wald unter ihnen bedeckte eine sanfte Hügellandschaft, auf die der Mond sein silbriges Licht warf. Gerade überflogen sie einen See, der schimmerte, als seien die Sterne in ihn hineingefallen. Kai liebte diese Ruhe beim Fliegen. Die Welt lag still und friedlich da und das Einzige, was zu hören war, war das Geräusch des Windes.

Auf einmal schoss Gangolf an Kai vorbei und leitete den Sinkflug ein. Als Kai genauer schaute, konnte er unter sich zwischen den Bäumen schon die ersten Gräber erkennen. Und dann sah er ihn ganz – den alten Waldfriedhof.

Sie setzten bei einer Gruppe von Laubbäumen auf dem Boden auf.

„Hier ist doch nicht eure Gruft, oder?“, fragte Kai.

„Gut erkannt“, sagte Gangolf kopfschüttelnd.

„Ich sag ja nichts mehr dazu.“ Gutta verdrehte die Augen. „Aber, hättest du ein wenig mehr in deinen ‚Alltagstipps ...‘ geblättert, dann wüsstest du Bescheid.“ Ihre Augen tasteten den Friedhof ab. „Das machen wir immer so. Nie direkt bei der Gruft landen! Reine Vorsichtsmaßnahme, wisst ihr.“ Sie deutete auf eine Ecke des Friedhofs, in der viele besonders alte Gräber standen. „Da müssen wir hin! Aber wartet einen Augenblick. Gangolf, Gerrith und ich schauen erst, ob die Luft rein ist.“ Die Vampirgeschwister stapften los und verteilten sich über den Friedhof.

Der alte Waldfriedhof ... Kai ließ seinen Blick über die Gräberlandschaft schweifen. In der Mitte konnte er die großen Steinkreuze erkennen. Gerrith lief gerade zwischen ihnen hindurch. Manche schimmerten matt im blassen Mondlicht, andere waren von Efeu überwuchert. Ein Stück von den Kreuzen entfernt standen die riesigen Säulen, auf denen die trauernden Engelsfiguren saßen und über die Toten wachten.

Nicht weit von diesen Engelsfiguren hatte er damals gestanden, es war noch gar nicht so lange her. Neben dem rostigen Eisenzaun, der den Friedhof umgab. Bei diesem Anblick überkam Kai eine große Traurigkeit. Zehn Tage. Vor zehn Tagen war es geschehen. Das knirschende Geräusch der Grabplatte ... Kchrrrrr! ..., als knöcherne Finger sie beiseite schoben. Die Fledermaus, die ihm ein Haarbüschel ausgerissen hatte. Die finsteren Gestalten, die bei der Gruft standen. Seine Flucht durch den Wald und schließlich der erdrückend faulige, modrige Geruch der Vampire, den sie an jenem Abend verströmten, als sie ihn auf der Wiese umringt hatten. All diese Bilder schossen ihm nun wieder durch den Kopf und machten ihn traurig und wütend. Wütend auf die Vampire. Wütend auf Gangolf und Gerrith, die ihn für eine Mutprobe benutzt hatten, weil Gerrith endlich lernen sollte was es heißt, ein „richtiger“, ein „mutiger“ Vampir zu sein. Jeden hätten sie dafür nehmen können. Jeden! Warum nur hatte ausgerechnet er ihnen über den Weg laufen müssen? Ein hässliches Gefühl durchzog seinen Magen.

Sandra reichte ihm ein Taschentuch. Erst jetzt bemerkte er, dass ihm Tränen die Wangen hinunterliefen.

„Geht schon. Danke.“ Kai nahm das Taschentuch, wischte sich die Tränen ab und steckte es dann ein.

„Alles klar, wir können.“ Gutta spähte hinter einem Baumstamm hervor und winkte Kai und Sandra zu sich. Sie schlichen durch das hohe Gras, stiegen über die halb verfallenen Grabsteine, passierten die Steinkreuze und die Säulen mit den Engelsfiguren und standen schließlich vor einer großen Gruft. Der Gruft der Vampire!

„Wahnsinn!“ Sandra machte große Augen. So eine Grabstätte hatte sie noch nie gesehen. Ein Teil ragte wie ein Turm vor ihr in den Nachthimmel. An jeder der vier Ecken hing ein drachenartiger Wasserspeier, der sein Maul weit aufriss, als wollte er jeden, der ihm zu nahe kam, mit einem Furcht einflößenden Fauchen vertreiben. Die Augen der steinernen Drachen starrten kalt und grausam auf die kleine Gruppe, die im Begriff war, ihr Reich zu betreten.

Vor dem Turm mit den Wasserspeiern ragte ein Grab aus dem Gras hervor, das mit einer schweren Marmorplatte verschlossen war. Daneben kniete ein Marmorengel auf einem Sockel. Er stützte sich mit einem Schwert ab und schaute traurigen Blickes auf die ihm zu Füßen liegende Grabplatte.

„Beeindruckend, nicht wahr?“ Gangolf stellte sich neben Sandra, die gerade das Gesicht des Engels genauer betrachtete.

„Allerdings.“ Sie berührte die Wange des Engels mit dem Zeigefinger. „Er sieht so traurig aus. So unheimlich traurig.“

„Einer unserer Vorfahren hat ihn aufstellen lassen. Siehst du, da steht noch sein Name.“ Gangolf zeigte auf einen Schriftzug am Sockel der Figur. Dort war in geschwungener Schrift zu lesen:

Gestiftet durch ihro Herrschaftlichkeit Geckbert von Greifendorf. A.D. 1622.

„Geckbert hatte einen Bruder, Gieselmann, der ihn zum Vampir gemacht hatte. Doch Geckbert konnte sich einfach nicht damit abfinden, ein Vampir zu sein, was ich ja ziemlich komisch finde. Aber bitte ... Jedenfalls hat er dann als Zeichen seines Grams über sein Schicksal diesen Engel hier aufstellen lassen, damit er den Eingang zur Gruft bewachte und ihn stets an seine Traurigkeit erinnerte.“

„Das ist ja eine schaurige Geschichte“, sagte Sandra. „Und wie geht es diesem Geckbert heute?“

„Es gibt ihn nicht mehr.“

Sandra traute sich nicht, weitere Fragen über Geckbert zu stellen.

Gangolf fasste dem Engel an die Nase und drehte sie um. Die Grabplatte neben ihnen hob sich dumpf knirschend und Gutta schob sie – Kchrrrrr! – ein Stück beiseite, sodass eine Treppe sichtbar wurde, die hinunter ins Erdreich führte.

„So, ihr zwei.“ Gutta zückte das Fläschchen mit dem Moosspray aus ihrer Umhangtasche. „Hiermit werdet ihr jetzt erst mal schön eingesprüht.“

Und schon verschwand Sandra von oben bis unten in einem dichten, weißen Nebel. Dann richtete Gutta das Fläschchen auf Kai. „Nur der Vorsicht halber“, erklärte sie und hüllte auch ihn in eine Wolke aus Moosspray.

„Und das verdeckt auch wirklich unseren menschlichen Geruch?“, fragte Kai besorgt, als Gutta die Flasche wieder einsteckte. Wobei ihm weniger um sich selbst als um Sandra bange war.

„Aber ja doch, keine Sorge. Kein Vampir würde euch jetzt noch riechen. Und nun ... Heftet euch mir an die Fersen!“ Gutta lachte und stieg die Stufen in das Grab hinab. Schon war sie unter der Erde verschwunden. Gangolf und Gerrith folgten ihr.

„Noch können wir umkehren.“ Kai legte eine Hand auf Sandras Arm, als er bemerkte, dass sie zögerte.

„Nein, nein. Jetzt, wo wir hier sind, gehen wir da auch rein. Aber ... wenn da noch andere Vampire sind, hilfst du mir, okay?“

„Haben wir dir ja versprochen.“

„Aber nur bei dir bin ich mir sicher, dass du es auch wirklich tun wirst.“ Sie setzte behutsam einen Fuß auf die erste Stufe und ging dann langsam, sehr langsam, die Marmorstufen hinunter. Kai blieb dicht hinter ihr. Kaum waren sie von der Gruft verschluckt worden, da hörten sie über sich das grollende Geräusch der Grabplatte, die den Einstieg wieder verschloss.

Sandra blieb stehen. Ihr schoss der Gedanke durch den Kopf, dass sie nun in dieser Gruft gefangen war. Und dieser Gedanke wollte ihr ganz und gar nicht gefallen. Sie spürte, wie es ihr die Kehle zuschnürte. „Ruhig. Ganz ruhig“, sagte sie leise zu sich selbst, atmete ein paar Mal tief durch und ging dann mutig weiter. Sie wollte auf gar keinen Fall, dass einer der anderen bemerkte, dass sie kein gutes Gefühl dabei hatte, im Zuhause von Vampiren herumzulaufen.

Stufe um Stufe ging es weiter in den Bauch der Erde hinab. Gutta, Gangolf und Gerrith waren nicht mehr zu sehen, doch ihre Schritte hallten von weiter unten durch den Treppenaufgang. Sandra glaubte schon, dass die Stufen nie mehr aufhören würden, da stand sie plötzlich in einem großen Raum, über den sich ein mächtiges Gewölbe spannte. Die Vampirgeschwister lehnten an hoch aufragenden Säulen und warteten bereits auf sie.

„Drei Millionen Jahre später ... Mann, das hat aber gedauert!“, raunzte Gangolf und zündete eine Fackel an.

„Sind ja auch eine Menge Stufen“, sagte Sandra. „Die würde ich nicht jeden Abend laufen wollen.“

„Machen wir auch nicht“, erwiderte Gutta und zwinkerte ihr zu. „Es gibt noch andere Eingänge, durch die man fliegen kann. Aber die sind streng geheim!“

„So, fertig.“ Gangolf hatte mittlerweile ein paar weitere Fackeln angesteckt. „Jetzt kannst du hier unten ein bisschen besser sehen.“ Er lächelte Sandra an.

„Oh, wie fürsorglich, Bruderherz“, flötete seine Schwester und Kai hätte schwören können, dass sich Gangolfs Gesichtsfarbe eindeutig in Richtung Rot veränderte und er sich deswegen rasch wegdrehte.

„Jetzt zeigen wir euch erst mal unser Zimmer.“ Gerrith ging zwischen zwei Säulen hindurch und drückte gegen eine schwere Holztür, die sich laut knarrend öffnete. „Hier drin stehen unsere Särge“, sagte er und als alle den Raum betreten hatten, ließ er die Tür donnernd ins Schloss fallen. „Die sind natürlich nicht so toll wie dein Sarg, Kai. So etwas würden unsere Eltern nie erlauben!“

„Ja, weil sie so altmodisch sind.“ Gangolf machte eine abfällige Handbewegung. „Sie sorgen sich immer nur um den guten Ruf der Familie.“

Kai und Sandra schauten sich in dem Raum um. Auch hier spannte sich über ihnen ein großes, gotisches Deckengewölbe, von dem lange Fäden einer dürren Rankenpflanze wie dünnes Haar herunterhingen. Es war feucht und stickig und roch nach faulem Holz und Pilzen. In unregelmäßigen Abständen rollten feine Wassertropfen aus den Strängen der Pflanzen und platschten auf den Fußboden. An einer Wand standen drei Särge ordentlich nebeneinander. Auf jedem dieser Särge war ein Schild angebracht, auf dem in schnörkeliger Schrift ein Name stand. Allerdings waren die Schilder bereits so sehr verwittert, dass sie kaum noch zu lesen waren.

Sandra konnte auf dem des größten Sarges gerade noch ein „...olf “ erkennen, doch auch so war es unschwer auszumachen, dass dieser Sarg Gangolf gehören musste. Schließlich war er der größte der drei Vampirgeschwister. An der gegenüberliegenden Wand standen drei schlichte Holzschränke, auf denen jeweils ein riesiges „G“ aus Eisen angebracht war. Ansonsten gab es keine Möbel. Aus den Wänden ragten nur noch die Halterungen der Fackeln, die mit ihrem Schein die Gruft erhellten.

„Ihr habt es hier ...“, Sandra suchte krampfhaft nach dem richtigen Wort, „äh ... gemütlich.“ Sie war nicht wirklich überzeugt von dem, was sie da sagte, denn eigentlich fand sie das Zimmer der Geschwister unheimlich ungemütlich. Aber etwas Besseres wollte ihr einfach nicht einfallen. „Oder, Kai, was meinst du?“ Sie stieß ihm mit dem Ellenbogen in die Seite.

„Ja, ja, sehr gemütlich“, pflichtete dieser ihr schnell bei.

„Nicht wahr! Und schaut mal ...“ Gutta blickte zu Gangolf. „Darf ich es ihnen zeigen?“, fragte sie und als keine Erwiderung kam, ging sie zu seinem Sarg, öffnete ihn und holte etwas aus einer Seitentasche des Innenfutters.

„Das müsst ihr euch ansehen!“ Sie hielt Kai und Sandra eine kleine Holzkiste vors Gesicht.

Nein, das war keine einfache Holzkiste.

Es war ein Sarg! Ein richtiger, echter Sarg. Nur war er viel, viel kleiner als die Särge, die an der Wand standen.

„Hat unser Bruder selbst gemacht!“, rief Gerrith.

„Und wer passt da rein?“, fragte Kai.

„Schau doch mal genauer hin.“ Gutta hielt ihm den Minisarg ein wenig näher vor die Augen und zeigte auf eine winzige Metallplatte, in die grob einige Buchstaben eingestanzt waren. Kai versuchte, sie zu entziffern.

„G... Gu... Gundel“, las er. „Gundel? Gangolf hat seiner Vampir-Gelbbauchunke einen eigenen Sarg gezimmert?” Er blickte Gangolf an und hatte alle Mühe, einen Lachanfall zu unterdrücken. Einen Sarg für eine Gelbbauchunke. So etwas gab es sicher nicht ein zweites Mal! Er stellte sich vor, wie es sich das Tier in seinem Sarg für den Tag bequem machte, den dicken Körper auf den weichen Innenstoff drückte und alle Viere genüsslich von sich streckte. Dann konnte er einfach nicht mehr an sich halten und begann lauthals zu lachen.

„Haste ´n Problem damit, dass ich für mein Haustier sorge?“ Gangolf baute sich breitbeinig vor ihm auf.

Sandra stellte sich zwischen die beiden. „Also, ich finde den Sarg für Gundel wirklich niedlich.“ Sie nahm Gutta den kleinen Sarg aus der Hand. „Hast du toll hingekriegt. Da schläft Gundel bestimmt gern drin, oder?“ Sie legte Gangolf eine Hand auf die Schulter und ging ein paar Meter mit ihm durch den Raum, weg von Kai.

„Echt? Gefällt er dir?“, fragte Gangolf geschmeichelt. „Ich habe mir auch total viel Mühe gegeben. Gundel weiß das zu schätzen, wirklich. Sie schläft jeden Tag darin. Guck mal rein. Das Innenfutter ist gelb. Extra für sie.“

Gutta tippte Kai an. „Du darfst den Armen nicht so ärgern“, flüsterte sie und vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter, dass ihr Bruder noch immer mit Sandra ins Gespräch vertieft war. „Wo er doch so ungern Gefühle zeigt.“ Sie zwinkerte ihm schmunzelnd zu.

„Ja, ja. Ich weiß. Er ist ein ganzer Kerl.“ Kai musste wieder lachen. „Aber es war einfach zu verlockend.“

Mittlerweile hatte Gangolf in die Tasche seines Umhanges gegriffen und Gundel herausgeholt, die auch sogleich in ihren Sarg kroch und sich gemütlich darin rekelte.

„Sie ist wohl müde, was?“ Sandra sah zu, wie sich die Unke platt auf das Innenfutter drückte.

„Es ist Zeit für ihren Mitternachtsschlaf“, sagte Gangolf und stellte Gundels Sarg auf das Kopfkissen seines eigenen. Dann drehte er sich wieder zu den anderen um.

„Wollt ihr jetzt mal sehen, wo unsere Eltern ihre Särge stehen haben?“, rief Gangolf, nahm Sandra am Handgelenk und eilte mit ihr ein paar Stufen hinab durch einen Torbogen in einen anderen Raum. Die anderen folgten ihnen.

„Seht ihr, so hausen unsere alten Herrschaften.

---ENDE DER LESEPROBE---