Kai Flammersfeld und die Transsylvanischen Schicksalskekse - Hagen Röhrig - E-Book

Kai Flammersfeld und die Transsylvanischen Schicksalskekse E-Book

Hagen Röhrig

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Beschreibung

"Eine fesselnde, angenehm kurze Lektüre, die für alle unbedingt empfehlenswert ist!" Ute Spelda, ekz-Informationsdienst Der fast 12-jährige Kai spielt mit Freunden im Wald. Plötzlich findet er sich am alten Waldfriedhof wieder. Die Strahlen des Mondes, der groß und rund am dunkelblauen Abendhimmel steht, tauchen die Gräber in ein gespenstisches, fahles Licht. Da sieht Kai seltsame Gestalten, die aus einer Gruft kriechen. Vampire! Als sie Kai entdecken, beginnt eine wilde Verfolgungsjagd. Schließlich stellen sie ihn und Kai fällt in Ohnmacht. Als er wieder erwacht, ist nichts mehr so, wie es war ... Kai verändert sich immer mehr. Er schläft morgens länger. Er wird zunehmend blasser. Und er entwickelt einen seltsamen Appetit auf rohes, blutiges Fleisch. Kai beginnt, sich selbst in einen Untoten zu verwandeln! Als er die Vampire Gutta, Gerrith und Gangolf von Greifendorf kennenlernt, taucht er in die Welt der Vampire ein und erlebt dort sein erstes, gefährliches Abenteuer.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Kai Flammersfeld

und die Transsylvanischen Schicksalskekse

Hagen Röhrig

Inhalt

1. Räuber und Gendarm

2. Der alte Friedhof

3. Der kleine Fleck

4. Heiße Milch mit Honig – 1. Tag nach dem Biss

5. Besuch bei der alten Dame – 2. Tag nach dem Biss

6. „Praktische Alltagstipps für Vampire – die 100 besten Rezepte“ – 3. Tag nach dem Biss

7. Der Sargmacher – 4. Tag nach dem Biss

8. Opa Gismo und das Mondfieber – 5. Tag nach dem Biss

9. Kurts Geheimnis

10. Besuch im Mondscheinpfad Nummer 13 – 6. Tag nach dem Biss

11. Das geheime Laboratorium

Autor

Für Sandra

Du hattest recht …

1

Räuber und Gendarm

„Und?“ Kai versuchte, in der Dämmerung etwas durch die Zweige hindurch zu erkennen.

„Nichts“, hauchte eine Stimme neben ihm. Sandra, seine allerbeste Freundin, strich sich eine Strähne ihres langen roten Haares aus dem Gesicht. Seit einer halben Stunde saßen sie nun schon hinter diesem dichten Busch auf einer kleinen Anhöhe im Wald. Kai nannte diesen Platz sein „Spezialversteck“, denn von hier aus hatte man einen guten Überblick über die Umgebung und konnte sofort erkennen, wenn jemand im Anmarsch war. Deshalb benutzte er dieses geheime Versteck immer, wenn er mit seinen Freunden Räuber und Gendarm spielte, so wie heute, an Felix’ 12. Geburtstag, der glücklicherweise auch der erste Tag der Ferien war.

Räuber und Gendarm war sein Lieblingsspiel und er spielte es sehr oft mit seinen Freunden. Einige waren die Räuber, die sich im Wald verstecken mussten. Die anderen waren Polizisten, die Gendarmen. Sie versuchten die Räuber im Wald aufzustöbern und zu fangen. Das Aufregende für die Räuber war dabei, dass jeder gefangene Räuber zu einem Gendarm wurde und sich an der Jagd auf die Räuber beteiligen musste. So nahm die Zahl der Räuber stetig ab und die der Gendarmen zu. Irgendwann wurde es dann verdammt gefährlich für die übrig gebliebenen Räuber. Und das war der Moment des Spieles, den Kai so sehr mochte. Er schaffte es als Räuber immer wieder, bis zum Ende durchzuhalten und den Gendarmen zu entwischen.

„Die kriegen uns nie“, sagte er triumphierend und grinste Sandra breit an.

„Die Siegerprämie gehört uns!“

„Die Siegerprämie? Was denn für eine Siegerprämie?“, wollte Sandra wissen.

„Hast du das vorhin nicht mitbekommen? Die Räuber, die bis zum Schluss durchhalten, dürfen sich das große Marzipanbrot von Felix’ Geburtstagstorte teilen!“ Kai leckte sich die Lippen.

„Igitt!“, stöhnte Sandra. „Das kannst du für dich allein haben. Ich hasse Marzipan.“ Mit Schaudern erinnerte sie sich an die Marzipantorte, die vorhin angeschnitten worden war.

Kai schaute sie mit leuchtenden Augen an: „Danke, das ist ja nett!“ Dann schob er einige Zweige beiseite und starrte in Richtung einer kleinen Gruppe von Tannen. Hatte sich da nicht eben etwas bewegt?

Sandra blickte zu den Baumwipfeln hoch. Direkt über ihr turnte ein Eichhörnchen über die Äste. Es sprang wild hin und her. „Ewig kann das Spiel ja nicht mehr gehen“, flüsterte sie, um das Eichhörnchen nicht zu verjagen. „Es dämmert ja schon.“

Kai nickte nur zustimmend und spähte weiterhin gebannt in den Wald.

Jetzt hatte sich das Eichhörnchen einen Tannenzapfen gekrallt und begann daran herumzuknabbern. Doch plötzlich schreckte es auf und blieb wie angewurzelt auf seinen Hinterpfoten sitzen. Dann machte es einen großen Satz und war im Geäst des nächsten Baumes verschwunden. Im gleichen Augenblick spürte Sandra Kais warme Hand auf ihrer Schulter.

„Pst!“, zischte er. „Dort unten sind Felix, Sven und Tobias!“ Sandra kroch näher an Kai heran und blickte in die Richtung, in die er zeigte. Und tatsächlich! Am Fuß der Anhöhe stiefelten drei Gestalten durchs Unterholz. Zuerst erkannte sie nur Felix und Sven, aber dann sah sie auch den dicken Tobias. Er keuchte lustlos hinter den anderen beiden her.

Sandra und Kai grinsten einander verschwörerisch an. Ja, das war typisch Tobias! Alles, was mit Sport zu tun hatte, war ihm viel zu viel. Und den Wald nach Räubern zu durchkämmen und sie dann auch noch zu jagen, war ihm erst recht zu anstrengend. „So’n Stress!“, war sein Standardspruch, wenn es um Bewegung ging. Dafür allerdings war er in anderen Dingen ein Weltmeister. Letztes Schuljahr hatte er zum Beispiel für die Schultheatergruppe „Die faulen Ratten“ fast das gesamte Bühnenbild gebaut. Und in Deutsch war er sowieso Klassenbester.

„Wartet doch mal“, konnten sie ihn unten protestieren hören.

Plötzlich schreckten Kai und Sandra auf. Neben ihnen im Gebüsch hörten sie das Knacken von Ästen und im nächsten Augenblick sprang etwas mit wildem Geschrei vor ihnen aus dem Unterholz. Es war Frank. Mit tortenverschmiertem Gesicht stand er da, stierte Kai und Sandra an und brüllte den anderen zu: „Hier sind sie! Kommt her!“

Dann ging alles blitzschnell. Von unten kam lautes Stimmengewirr. Felix und Sven stürmten den Abhang herauf, Tobias lief etwas langsamer hinterher. „Lass sie nicht entkommen!“, riefen sie Frank zu. Doch noch ehe er sich Kai und Sandra in den Weg stellen konnte, waren sie aufgesprungen und rannten los. Dicht gefolgt von den anderen rasten sie in den Wald hinein.

„Wir sollten uns trennen“, keuchte Kai, nachdem sie schon eine ganze Weile gerannt waren, und wischte eine Mücke weg, die an seine Wange geklatscht war. „Ich renne nach rechts und du nach links, okay?“

„Gut“, prustete Sandra, die ganz überrascht war, dass sie trotz ihres mit Torte und Schokoeis gefüllten Bauches so gut rennen konnte. „Bis nachher dann.“ Sie bog nach links ab ins Unterholz. Kai konnte noch sehen, wie Felix und Sven hinter ihr herliefen. Dann bog er nach rechts ab. Er kam auf einen breiten Weg, der sich durch den dichten Wald schlängelte. Hinter sich hörte er deutlich das Keuchen von Frank und Tobias.

„Los, Tobias, beeil dich! Gleich haben wir ihn“, brüllte Frank.

Kai lief noch schneller. Nach einiger Zeit erreichte er eine alte, hölzerne Brücke, die über einen kleinen Bach führte. Hinter der Brücke gabelte sich der Weg. Rechts führte ein gut ausgebauter Wanderweg bergab und links ging ein schmaler, sehr steiler und verwahrloster Pfad einen Hügel hinauf. Für diesen Pfad entschied Kai sich und schlug einen Haken nach links, als er die Weggabelung erreichte.

Der Schweiß rann ihm über die Stirn und fiel in kleinen Tropfen von der Nasenspitze auf den weichen Waldboden. Höher und immer höher wand sich der Pfad den Hügel hinauf. Schließlich war Kai auf der Anhöhe angelangt und stolperte japsend auf eine Waldlichtung. Er lehnte sich gegen einen riesigen Felsen, der über und über mit Moos bewachsen war. Sein Haar war von Schweiß durchnässt und einige dicke Strähnen klebten an seiner Stirn. Er spürte, wie das Herz in seiner Brust raste. In diesem Augenblick war es ihm völlig gleichgültig, ob Frank und Tobias ihn fangen würden oder nicht. Obwohl, ein bisschen ärgern würde es ihn schon. Schließlich hatte er so fest mit dem Marzipanbrot gerechnet. Und überhaupt hatte ihn Frank noch nie bei einem ihrer Räuber-und-Gendarm-Spiele fangen können. Von Tobias einmal ganz zu schweigen. Und nun sollte es ausgerechnet heute, bei Felix’ Geburtstagsparty und am ersten Tag der Osterferien, das erste Mal sein? Aber dieser steile Weg hatte ihn völlig geschafft und er schwor sich, nie wieder einen Fuß darauf zu setzen. Kai erwartete, dass seine Verfolger ihn einholen würden. Doch nichts geschah. Kein Frank. Kein Tobias. Nur ein Vogel flatterte aufgeregt zwischen den alten, knorrigen Bäumen umher und Kai fuhr kreidebleich zusammen, als dieser unvermittelt in lautes Gekrächze ausbrach.

„Blödes Ding“, zischte er und sah dem Vogel nach, wie er in den Baumkronen verschwand. Kai schaute sich verwundert um. Frank und Tobias würden ihm doch niemals die Gelegenheit geben, zu verschnaufen. Oder? Er lugte vorsichtig um den Felsen. Aber auch da waren die beiden nicht.

Seltsam, dachte Kai. Als Gendarm hätte ich aber nicht so schnell aufgegeben. Er ließ den Felsen hinter sich und ging ein paar Schritte. Er war allein hier oben, so viel war sicher. Über ihm schien bereits, groß und hell, der Vollmond und durch die Bäume hindurch konnte Kai das dunkle Blau des Abendhimmels erkennen. Es war wohl besser, jetzt umzukehren.

Kai hoffte inständig, dass das Marzipanbrot solange überleben würde, bis er zurück bei der Party war. Gerade wollte er den kleinen Pfad wieder hinuntergehen, da kam ihm eine Idee. Warum sollte er nicht an dem großen Felsen vorbei in die andere Richtung gehen? Dort ging es ein kurzes Stück abwärts durch dichten Wald und schließlich kam man auf einen recht breiten Weg, der an einer Wiese endete – direkt bei Felix’ Haus. Im Grunde hielt er das für eine sehr gute Idee. Sie hatte nur einen Haken: den alten Friedhof.

2

Der alte Friedhof

Nicht dass er ein Angsthase gewesen wäre. Nein, das ganz bestimmt nicht. Er war auch schon einige Male bei dem alten Friedhof gewesen. Aber immer nur tagsüber. Und gestern hatte er noch spät abends einen Gruselfilm im Fernsehen gesehen. Darin hatte sich ein Monster auf einem Friedhof eingenistet, von wo aus es immer wieder eine kleine Stadt heimsuchte. Fast alle Einwohner des Städtchens waren Opfer des Monsters geworden, das seine Gestalt beliebig ändern konnte. Am schlimmsten hatte es ausgesehen, als es den alten Bauern in seiner Scheune ...

Aber nein, er durfte nicht weiter an diesen Film denken. Es lief ihm schon kalt den Rücken hinunter. Kai marschierte los. Mondstrahlen tanzten auf den Blättern und Nadelspitzen, durchzogen den Wald wie ein bleicher Schleier und ließen die Bäume gespenstisch matt schimmern. Als Kai die Lichtung überquert hatte, zwängte er sich durch dichtes Gestrüpp, das nach einigen Metern einer anderen, viel größeren Waldlichtung Platz machte, in deren Mitte, in silbriges Mondlicht getaucht, der alte Friedhof lag.

Ein Schauder durchzog ihn beim Anblick der verfallenen Gräber, zwischen denen langsam dünne Nebelschwaden aus dem feuchten Gras aufstiegen. Aus dem Meer durcheinander liegender Grabsteine und Marmorplatten ragten großzügig angelegte Grüfte hervor, von denen viele mit Blumen aus Marmor und rätselhaften Gesichtern aus Stein verziert waren. Wo immer es möglich war, hatten sich Gras und Moos eingenistet und überzogen den alten Friedhof wie ein grüner, weicher Teppich. In der Mitte des Friedhofes konnte Kai große Steinkreuze erkennen. An einigen kroch Efeu empor, andere waren schon ganz und gar von ihm verschlungen und wieder andere zeigten ihren nackten Marmor, der gespenstisch im Dämmerlicht schimmerte. Ein paar Meter von Kai entfernt thronten auf den Spitzen einiger großer Säulen weinende Engelsfiguren, die mit weit ausgebreiteten Flügeln die Toten betrauerten. Rechts von ihnen, gleich hinter dem verrosteten Eisenzaun, der den ganzen Friedhof umgab, lag eine große, halb verfallene Gruft. An jeder ihrer vier Ecken hingen drachenartige Wasserspeier, deren Schatten im fahlen Mondlicht so verzerrt wurden, dass es den Anschein hatte, als streckten teuflische Wesen mit fratzenhaft verzerrten Gesichtern ihre gierigen Krallen nach Kai aus, um ihn zu packen. Das Bild des Monsters aus dem Film schoss ihm wieder durch den Kopf. Und das vor Grauen entstellte Gesicht des Bauern, als das Ungeheuer ihn in seiner Scheune auf dem Heuboden ...

„Nein, nicht daran denken! An alles, bloß jetzt nicht daran denken!“

Kai beschleunigte seine Schritte. Der Weg ging ein Stück dem Friedhof entgegen und führte dann rechts um ihn herum, wobei er für Kais Geschmack jedoch gefährlich nah an den Gräbern vorbeiführte.

„Nicht hinsehen! Nur schnell an den Toten vorbei!“

Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend lief Kai auf den Eisenzaun zu. Er schaute nicht nach links und nicht nach rechts. Sein Blick war fest auf die Eisenstäbe des Zaunes gerichtet. Wäre er doch nur nicht auf die Idee mit der Abkürzung über den alten Friedhof gekommen! Er verfluchte den Augenblick, in dem ihm dieser Gedanke gekommen war.

Dann blieb er auf einmal wie angewurzelt stehen. Was war das für ein Geräusch? Kai hielt den Atem an. Er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Seine Schläfen pochten so stark, dass sie schmerzten. Ganz langsam, als könnte ihn auch nur die kleinste Bewegung verraten, drehte er sich um. Er hatte es deutlich gehört ... Sein Blick wanderte über den Friedhof und tastete jedes Grab ab, jede Erhebung und noch die kleinste Spalte. Doch er konnte nichts Verdächtiges erkennen. Bewegungslos stand er vor dem Eisenzaun. Sein Herz raste.

Bummbumm. Bummbumm. Bummbumm.

Alles um ihn herum war still. Totenstill.

Und dann hörte er es wieder. Dumpf und knirschend.

Kchrrrrrrrr!

Kai schnürte es die Kehle zu.

Kchrrrrr!

Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn.

Kchrrrrrrr!

Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Er konnte nicht hier stehen bleiben. Irgendjemand musste dieses Geräusch verursachen. Und dieser Jemand würde ihn sofort sehen, wenn er hier vor dem Friedhofszaun stand. Kai blickte sich um. Ein paar Meter von ihm entfernt sah er eine kleine Gruppe von Tannen. Auf Zehenspitzen schlich er zu den Bäumen hinüber. Hinter der dicksten Tanne blieb er stehen, und obwohl er sich eigentlich immer noch nicht sicherer fühlte, überkam ihn doch ein wenig Erleichterung. Er schob einige Zweige auseinander und spähte zum Friedhof hinüber. Sofort presste er sich dicht an den Stamm der Tanne.

An der Gruft mit den Wasserspeiern stand plötzlich eine hagere, hochgewachsene Gestalt! Sie trug einen schwarzen Umhang, der ganz ausgefranst war und fast bis zum Boden herabhing. Das pechschwarze Haar stand ihr wild vom Kopf ab. Die Gestalt hatte Kai den Rücken zugewandt, stand regungslos neben der Gruft und schaute zum Vollmond hinauf. Kai wagte kaum zu atmen. In der Stille des Waldes schien jeder Atemzug so laut wie ein Schrei. Dann streckte sich plötzlich ein knöcherner Arm aus der Gruft. Die langen Finger tasteten nach der Grabplatte und schoben sie zitternd beiseite – Kchrrrrr! – , bis sie mit einem dumpfen Schlag zu Boden fiel. Kai schluckte. Am liebsten wäre er davongerannt, doch er verharrte starr vor Angst in seinem Versteck hinter der Tanne.

Dem Arm folgte ein Kopf und schließlich entstieg der Gruft lautlos eine zweite Gestalt. Schwungvoll warf sie ihren schwarzen Umhang über die Schultern und zupfte sich mit ihren dürren Fingern die strubbeligen, pechschwarzen Haare zurecht. Mit leichtem Schritt gesellte sie sich zu der anderen Gestalt. Die beiden standen still und schweigsam nebeneinander wie die marmornen Engelsfiguren auf den großen Säulen und schauten zum Mond empor. Die Nebelschwaden umspielten ihre Füße und bald hatten die feinen, weißen Schleier ihre Beine verschluckt, sodass es aussah, als schwebten sie über dem Boden.

Der Nebel kroch langsam über den Friedhof, zwängte sich durch den Eisenzaun und bewegte sich in Richtung Kais Versteck. Zu Kais Angst gesellte sich nun Neugier. Er hätte gern gewusst, wer diese Gestalten waren und was sie hier auf dem Friedhof zu suchen hatten. Kai zuckte zusammen als hinter der Gruft eine zierliche, ebenfalls vollständig in Schwarz gekleidete Gestalt hervorkam und zu den anderen beiden hinüberstürmte.

Das wirre schwarze Haar flog ihr wild um den Kopf und ihre kleinen Füße wirbelten die Nebelschwaden durcheinander. Kurz darauf drang aufgeregtes Stimmengewirr von der Gruft herüber. Kais Gedanken überschlugen sich. Was, wenn die kleine Gestalt ihn hinter seiner Tanne entdeckt hatte? Wer so aussah, konnte nicht freundlich sein, oder? Er allein hätte jedenfalls sicher keine Chance gegen sie ...

Kai schüttelte sich. Er dachte an die langen Finger, die sich eben aus der Gruft herausgetastet hatten, und er stellte sich vor, wie sie immer näher kamen ... immer näher an seinen Hals ... wie scharfe Fingernägel seine Haut berührten und sich in sein Fleisch schnitten ... wie die Hände seinen Hals umfassten ... und schließlich fest zudrückten ... Nein, er durfte nicht an so etwas denken!

„Himbeereis ... Schokokuchen ... das Marzipanbrot von Felix’ Ge- burtstagstorte ... Ja, das war schon besser. Vanillekekse ... Gummi- bärchen ... mmmhh! Mohrenköpfe ... weiße Schokolade ... Lakritzstangen ... der Apfelstrudel von Sandras Mutter ... Schokoladen-Fin- ger ... Finger! Scharfe Nägel, die in sein Fleisch schnitten ... O nein!“

Da waren sie wieder, diese scheußlichen Bilder! Und genau in diesem Augenblick knallte etwas gegen Kais Kopf. Er spürte einen stechenden Schmerz, als bohrten sich Krallen in seine Kopfhaut. Es zog und zerrte an seinen Haaren. Irgendetwas schlug ihm immer wieder ins Gesicht und Kais Schreie zerrissen die abendliche Stille. Er schlug wild um sich und hörte nicht, dass jemand „Gundula, Gundula!“ rief. Er bekam etwas zu fassen, was sich wie Leder anfühlte, packte zu und zog so fest er konnte. Doch je mehr er zog, desto stärker schien sich das Ding auf seinem Kopf festzukrallen.

Die Schmerzen waren unerträglich. Kai schrie, packte noch fester zu und mit einem letzten heftigen Ruck riss er das Ding aus seinen Haaren. In seiner Hand flatterte – eine Fledermaus. Sie stieß schrille Laute aus und versuchte, ihren rechten Flügel frei zu bekommen. Doch Kai hielt ihn fest. In ihren Krallen bemerkte er ein Büschel seiner Haare. Plötzlich jedoch ließ die Fledermaus es los, umklammerte stattdessen seine Hand und schlug ihre scharfen Zähne in den Daumen. Kai brüllte auf vor Schmerz. Er schüttelte das Tier von der Hand, sodass es in hohem Bogen durch die Luft gewirbelt wurde und es gerade noch rechtzeitig schaffte, seine Flügel auszubreiten, bevor es gegen den nächsten Baum klatschte. Im Zickzackkurs flatterte die Fledermaus davon. Kai befühlte die Stelle auf seinem Kopf, an der ihm das Biest das Büschel Haare herausgerissen hatte. Sie tat höllisch weh.

„Wen haben wir denn da?“

Kai zuckte zusammen. Die Gestalten mussten seinen Schrei gehört haben. Er hatte sich selbst verraten! Vorsichtig spähte er zur Gruft hinüber. Die größere Gestalt war etwas nähergekommen und stand nun am Eisenzaun. Ihr Blick war starr auf die Gruppe von Tannen gerichtet, hinter der Kais Versteck lag. Sie streckte einen Arm aus und deutete mit ihrem langen, dürren Zeigefinger auf Kai.

„Ja, dich meine ich“, schnarrte sie mit einer Grabesstimme, die aus den tiefsten Tiefen der Erde zu kommen schien. „Ungebetener Besuch zu so früher Stunde!“ Sie lachte ein dunkles, raues Lachen.

Kai schnürte es die Kehle zu. Sein Herz pochte so heftig, dass er das Gefühl hatte, es müsste gleich zerspringen.

„Willst du nicht ein wenig zu uns herüberkommen?“ Etwas Unheimliches lag in dieser tiefen Stimme. Eine der anderen beiden Gestalten lief aufgeregt um die Gruft herum und sprang hin und her. Sie murmelte etwas vor sich hin, was Kai nicht verstehen konnte, und begann zu lachen. Erst lachte sie leise, doch dann wurde ihr Lachen immer lauter, bis es sich schließlich in ein heiseres Fauchen verwandelte, das gar nicht recht zu dem kleinen Körper passen wollte. Die Gestalt sprang auf das Grabmal, legte den Kopf in den Nacken und fauchte den Vollmond an.

Chrrrrra! Chrrrrra!

Und immer wieder:

Chrrrrra! Chrrrrra!

So etwas Schreckliches hatte Kai noch nie gehört. Die röchelnden, zischenden Laute brannten sich in sein Gehör und hallten in seinem Kopf wider. Er presste beide Hände fest gegen die Ohren. „Weg hier! Nur weg!“, rief eine Stimme in ihm und so schnell er konnte, brach er hinter den Tannen hervor und raste in den Wald hinein. Er wühlte sich durch das dichte Gestrüpp, stolperte immer wieder über Baumstümpfe und sprang über dornige Sträucher. Fast hätte er dabei einen kleinen Tümpel übersehen.

Mittlerweile war es so dunkel geworden, dass Kai kaum noch etwas erkennen konnte. Das Licht des Vollmonds schaffte es nur mit Mühe, sich durch das dichte Blätterdach der Bäume zu kämpfen. Von einer Böschung sprang Kai auf den breiten Weg, der zur Wiese bei Felix’ Haus führte. Plötzlich peitschte ihm ein dünner Zweig ins Gesicht. Sofort begann es an seiner rechten Augenbraue teuflisch zu schmerzen und sein Auge fing an zu tränen. Trotzdem rannte er weiter der Wiese entgegen, so schnell er nur konnte,

Gleich ... gleich war er da. Er konnte durch die Bäume bereits die Lichter von Felix’ Straße sehen. Schon verließ er den Wald und rannte nun durch tiefes Gras. Schließlich hielt Kai inne und verschnaufte. Er hatte es geschafft, er war aus dem Wald heraus, weit weg vom Friedhof. Und er schwor sich, nie wieder dorthin zurückzukehren, was immer auch geschehen mochte.

Die Verletzung schmerzte immer noch sehr. Er hob eine Hand und wischte sich Tränen ab. Doch spürte er außer den Tränen noch eine andere Flüssigkeit, dicker und wärmer. Blut! Kai blickte auf die dunkle Flüssigkeit an seiner Hand. Er befühlte die rechte Gesichtshälfte und ertastete an der Augenbraue eine kleine Wunde, die von dem Zweig stammte.

„Na super“, murmelte Kai. Er wischte das Blut an einem großen Blatt ab. Dann atmete er tief durch. Seine Beine zitterten noch etwas, als er den Weg über das feuchte Gras fortsetzte. Das erste Licht aus Felix` Straße blinkte ihm bereits freundlich entgegen. Gleich war er wieder auf der Party und dort würde er eine Menge zu erzählen haben. Die Frage war nur, ob die anderen ihm seine Geschichte überhaupt glauben würden ...

„Einen wunderschönen guten Abend!“, schnarrte da auf einmal eine heisere Stimme neben ihm. Kai fuhr erschrocken herum und blickte in das kreidebleiche Gesicht der größeren Gestalt vom Friedhof. Blutunterlaufene Augen funkelten ihn an. „Es ist nicht gerade sehr höflich, einfach davonzulaufen, oder?“, stellte die Gestalt mit finsterer Stimme fest und schnalzte dabei mit der Zunge. Kai hörte heiseres Gelächter hinter sich. Er wirbelte herum. Dort stand eine der anderen Gestalten vom Friedhof und zupfte belustigt an einer Haarsträhne herum.

„Bist du taub oder was?“, fauchte ihn der Hagere an und packte ihn so fest an der Schulter, dass es schmerzte. „Du könntest dich ja wenigstens für dein schlechtes Benehmen entschuldigen!“ Wieder ertönte das schreckliche Kichern.

„I... I... Ich ...“ Kai taumelte. Ihm wurde schlecht und alles um ihn herum begann sich zu drehen, schneller und immer schneller, wie in einem bösen Traum.

„Dir hat es wohl die Sprache verschlagen, wie?“ Die Gestalt schob ihr bleiches Gesicht ganz nah an Kai heran und er sah die zuckenden Bewegungen des Mundes, als sie mit ihm sprach. Ein fürchterlich fauliger Geruch drang aus ihrem Rachen. Dann verzog sie ihren Mund zu einem hämischen Grinsen.

Kai brach der Angstschweiß aus, er rann über seine kleine Wunde, vermischte sich mit dem dunklen Blut und lief als kleines Rinnsal die Wange herunter. Er zitterte am ganzen Leib und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die beiden schwarzen Gestalten. Ein ekelhaft stechender Geruch ging von ihnen aus, ein Geruch nach Moder und Fäulnis, als wucherten stinkende, schleimige Pilze auf ihnen. Der beißende Gestank schnürte ihm die Kehle zu. Er glaubte, gleich ohnmächtig zu werden und schnappte nach frischer Luft.

„Er gehört dir“, sagte die größere Gestalt und drehte Kai mit einem Ruck um.

„Was wolltest du überhaupt bei uns?“, donnerte die kleinere Gestalt und betrachtete die Blutspuren an Kais Wange. Ihre Augen bekamen dabei urplötzlich einen fiebrigen Glanz und weiteten sich. Die Gestalt öffnete den Mund und leckte sich gierig über die Lippen. Dabei sah Kai zwei messerscharfe Eckzähne im bleichen Vollmondlicht aufblitzen. Entsetzt starrte er auf den grässlichen Mund und die langen Zähne, die immer näher kamen. Er hörte noch das schrille Kreischen der anderen Gestalt und seinen eigenen verzweifelten Schrei, dann wurde es schwarz um ihn ...

3

Der kleine Fleck

„Da bist du ja endlich! Wo warst du denn die ganze Zeit? Wir wollten gerade losgehen und dich suchen“, sagte Felix’ Mutter und versuchte erst gar nicht, den Unmut in ihrer Stimme zu unterdrücken. „Na ja, nun komm erst mal rein.“ Sie wich einen Schritt beiseite und Kai trat in den geräumigen Flur. Ihm war elend zumute. Er fühlte sich schlapp und kraftlos.

Plötzlich packte sie ihn fest am Arm.

„Was ist das denn?“, rief sie erschrocken und deutete auf Kais rechte Wange.

„I... I... Ich bin ...“ Doch weiter kam Kai nicht.

„Hast du eine Rauferei gehabt?“ Sie musterte ihn scharf. „Kai Flammersfeld! Sag mir die Wahrheit! Mit wem hast du dich geprügelt?“ Sie kramte ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche, befeuchtete es mit ihrer Zunge, und noch bevor Kai zurückweichen konnte, wischte sie damit das angetrocknete Blut ab. Kai wandte sich angewidert ab.

„Aber Frau Schlinghahn, ich habe ...“ Wieder wurde er unterbrochen.

„Mein Gott, Junge, du bist ja ganz blass!“ Der erboste Ton war aus ihrer Stimme verschwunden. „Ist dir schlecht?“, fragte sie mitfühlend und musterte ihn besorgt.

„Nein, nein“, log Kai und sah eine Chance, Frau Schlinghahn zu entkommen und endlich zu Felix’ Zimmer vorzudringen. „Ich bin nur etwas müde. Ich setze mich lieber mal ein wenig zu den anderen.“ Er versuchte, an Felix` Mutter vorbeizukommen.

„Moment noch, junger Mann!“, rief sie und baute sich breit vor ihm auf. „Zuerst wüsste ich noch gern, wo du die ganze Zeit über gesteckt hast.

---ENDE DER LESEPROBE---