Kai Flammersfeld und die Trügerische Trautelbeere - Hagen Röhrig - E-Book

Kai Flammersfeld und die Trügerische Trautelbeere E-Book

Hagen Röhrig

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Beschreibung

Kai begibt sich auf die Suche nach der Trügerischen Trautelbeere. Der Beere, die es ihm ermöglichen soll, Tagvampir zu werden. Doch wo findet er diese Beere? Kai und seine Freunde brechen zu Renatus Röchel auf, einem alten, weisen Vampir, der Antworten auf alle Fragen hat. Doch diesmal ist alles anders. Denn Renatus birgt ein dunkles Geheimnis … Mit dem Besuch bei Renatus Röchel beginnt Kais neues Abenteuer, das ihn und seine Freunde in die Stadt der Werwölfe führt, wo sie gefährliche Begegnungen haben, aber auch neue Freunde finden, die ihnen helfen. Doch die Suche nach der Trügerischen Trautelbeere ist nicht Kais einziges Problem. Hinter seinem Rücken haben Wieland von Wünschelsgrund und Rufus Wankelmann einen teuflischen Plan ausgeheckt. Einen Plan, der lebensgefährlich für Kai ist – und in dem seine beste Freundin Sandra eine Rolle spielt ...

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Kai Flammersfeld

und die Trügerische Trautelbeere

Hagen Röhrig

Inhalt

1. Das Erwachen – 14. Tag nach dem Biss

2. Das Schulproblem

3. Der Spaltspiegel

4. Renatus Röchel – 15. Tag nach dem Biss

5. Flug zum Sankt Anna-Thal – 16. Tag nach dem Biss

6. Die Stadt der Werwölfe

7. Die Gassen der Werwolfstadt

8. Das Wirtshaus Zur Plappernden Pfote

9. Sandras Verschwinden

10. Die Kapelle der Kernigen Kerstin

11. Der Geheimbund

12. Pflanzen der Zwischenwelt

13. Besuch von einer Fledermaus – 17. Tag nach dem Biss

14. Der kaputte Spaltspiegel

15. Kais Entscheidung – 18. Tag nach dem Biss

16. Die Trügerische Trautelbeere

17. Das große Marterweh – 19. Tag nach dem Biss

Autor

Für Heike, Peter und Katrin

... Danke!

1

Das Erwachen – 14. Tag nach dem Biss

Ihre Hand entglitt ihm. „Sandra!“, rief er. Seine Finger griffen ins Leere. „Kai, hilf mir!“ Ganz langsam schwebte sie davon. Sandra streckte ihm die Arme entgegen und blickte ihn mit angsterfüllten Augen an. Kai trat einen Schritt vor, doch eine unsichtbare Kraft hielt ihn fest. Es war, als kralle sich etwas an seinem Umhang fest, als fasse es ihn an Armen und Beinen und zerre ihn zurück. Es war dieselbe Kraft, die Sandra unaufhaltsam von ihm wegzog. Der Nebel wurde dichter. Dicke Schwaden schoben sich zwischen ihn und seine Freundin. „Kai, hilf mir! Jetzt hilf mir doch! Es zieht mich da rein! Es zieht mich in dieses Loch!“ Sandra schrie.

„Ich komme!“ Kai stemmte sich mit aller Macht gegen die Kraft, die ihn von Sandra wegzog. Sein Umhang spannte sich und riss mit einem lauten Ratsch entzwei.

„Wo bist du?“, rief er und setzte mühevoll einen Fuß vor den anderen. Jeder Schritt fühlte sich an, als habe er Blei an den Fußsohlen.

„Hier bin ich“, antwortete Sandra. „Hier drüben!“

Kais Hände zerteilten den Nebel. Dann erkannte er Sandras schemenhafte Umrisse. Als sie ihn auch sah, zeigte sie hinter sich und rief: „Beeil dich! Da ist es, siehst du? Da ist es!“

Und Kai konnte es sehen, das große, schwarze Loch, das hinter seiner Freundin klaffte. Nebelfetzen umkreisten es und verschwanden im unendlich tiefen Schwarz.

Plötzlich wurde Sandra fortgerissen. Ihr Kopf fiel nach vorn und schleuderte dann zurück in den Nacken.

„Kai!“, schrie sie noch und riss die Augen weit auf ... – dann schreckte er hoch.

„Sandra!“ Er fuhr sich über das Gesicht und atmete tief durch. Schon wieder so ein blöder Albtraum, dachte er und strubbelte sich durchs Haar. Dies war nun schon bestimmt der vierte, den er in letzter Zeit gehabt hatte und immer kam Sandra darin vor. Stets geschah etwas Schreckliches mit ihr.

Er setzte sich auf und gähnte. Nach einer Weile kletterte er aus dem Sarg, schlüpfte in seine Schuhe und schlurfte ans Fenster. Mit einem kräftigen Ruck zog er die schweren Vorhänge beiseite. Ein klarer Sternenhimmel begrüßte ihn. Kai schaute zur Milchstraße hinauf und dann zu der schmalen Sichel des abnehmenden Mondes, die ihm weiter hinten am Horizont entgegenleuchtete.

„Heute wird eine gute Nacht“, murmelte er und versuchte damit, die letzten Erinnerungen an den Albtraum zu vertreiben.

Wie viel doch seit jenem verhängnisvollen Tag geschehen war! Seit jenem Tag, als er mit Freunden ‚Räuber und Gendarm‘ gespielt hatte, schoss es ihm durch den Kopf. Wieder und wieder hatte er sich gefragt, warum er damals ausgerechnet den Weg über den Waldfriedhof einschlagen musste und er dachte daran, wie ihn die Vampire auf der Wiese bei Felixʼ Haus umringt hatten.

Und nun? Kai spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Nun waren sie seine Freunde und er zum Teil selbst einer von ihnen. Sie versuchten ihn zu beschützen und so hatten sie ihm auf der Flucht vor den Vampirjägern in der alten Giselotta-Kirche ein Versteck eingerichtet. Doch dieses Versteck hatten die Vampirhasser gefunden. Er musste an den Kampf in der Kirche denken, der daraufhin zwischen den Vampiren und den Vampirjägern stattgefunden hatte. Glücklicherweise war er gut für die Vampire ausgegangen. Doch Rufus Wankelmann und Wieland von Wünschelsgrund waren noch nicht besiegt!

Kai drehte sich um und nahm seinen Umhang, der über der Stuhllehne hing. Dabei entdeckte er die Kanne mit dem frisch aufgebrühten Bluttee, die ihm seine Oma immer auf den Tisch stellte. Er schmunzelte, schenkte etwas Tee in das Glas, das neben der Kanne stand, nahm einen großen Schluck und schaute sich in seinem neuen Zimmer um. Gestern hatte er mit seinen Freunden seinen Sarg und ein paar andere Sachen aus der Giselotta-Kirche geholt und er war hierher in das Sommerhaus seiner Großmutter gekommen, weil sein Vater der Meinung war, dass dies notwendig sei. Schließlich wussten die Vampirjäger Rufus Wankelmann und Wieland von Wünschelsgrund nun, wo seine Oma, bei der Kai die Osterferien verbrachte, wohnte und nach den Erlebnissen mit den Knochenkriegern und dem, was in der Giselotta-Kirche geschehen war, hatte sein Vater einen Umzug beschlossen.

„Oder“, hatte er Kai gefragt, „hast du Lust darauf, dass eines Abends Wieland mit einem weihwassergetränkten Holzpflock vor deinem Sarg steht?“

Natürlich hatte er darauf keine Lust, und so hatten sie in aller Eile den Sarg aus der Giselotta-Kirche geschafft und waren zu diesem Haus gefahren, das Kai schon immer sehr gemocht hatte. Es lag auf einem lichten Hügel im Wald und war ganz aus Holz gebaut. Über eine Veranda ging es in den Garten, der in zwei Hälften aufgeteilt war. Die eine war ordentlich angelegt: Es gab Büsche, die in die verschiedensten Formen geschnitten waren, Rosenstöcke und dazwischen immer wieder kleine Statuen. Die andere war wild und alles konnte scheinbar wachsen, wie es wollte. Aber eben nur scheinbar, denn auch hier hatte seine Oma viel Arbeit hineingesteckt, hatte Lavendel und andere duftende Gewächse gepflanzt und ein paar mittelalterlich aussehende Statuen aufgestellt. Diese Seite des Gartens war seine Lieblingshälfte, weil man hier so unheimlich gut Verstecken spielen konnte.

Kai leerte das Glas und schenkte Tee nach. Etwas war heute anders. Der Tee schmeckte ihm zwar nach wie vor, doch er stillte seinen Hunger nicht mehr. Kai stockte. Sollte nun bald der Moment kommen, den er so fürchtete? Der Moment, wo ihm der Bluttee nicht mehr ausreichen würde und er beginnen müsste, auf – Jagd zu gehen? Dieser Gedanke ließ ihn frösteln. Doch dann erinnerte er sich, dass er im „Startset für Neu-Vampire“ noch die Trockennahrung hatte und er beruhigte sich wieder. Ob er sie morgen Abend mal probieren sollte? Als er sie das erste Mal gesehen hatte, fand er sie sehr seltsam und wollte auch gar nicht so genau wissen, woraus sie gemacht war. Doch sie war allemal besser, als auf die Jagd zu gehen.

Er warf den Umhang über die Schultern, ging zum Wandspiegel hinüber und schaute hinein. Seine Pupillen waren noch katzenartig. So veränderten sie sich immer, wenn er Nahrung zu sich nahm. Er sah zu, wie sie langsam wieder ihre normale Form annahmen. Dann zog er die Lippen ein wenig hoch und betrachtete seine Eckzähne. Sie waren schon wieder etwas länger geworden. Er hob die Hand und fuhr mit der Zeigefingerkuppe über die Zähne. Ja, und spitzer waren sie auch. Er ließ die Lippen wieder über die Zähne zurückgleiten und sah sein Gesicht im Spiegel an. Es war so farblos geworden. So – bleich. Nur seine bernsteinfarbenen Augen waren noch wie früher. Endlose Minuten stand Kai da und betrachtete sich im Spiegel. Dann, plötzlich, erschrak er.

Was war das da an seinem Hals?

Er beugte sich vor und schaute genauer hin. Am Hals, dort, wo die Hauptschlagader verläuft, bewegte sich etwas.

Kai schluckte.

Er sah, wie sich die Haut mit einer pulsierenden Bewegung anhob und wieder senkte. Die dicke Ader trat deutlich aus der bleichen Haut hervor und Kai konnte beobachten, wie das Blut darin floss.

Er zuckte zurück.

Auch über seine Wangen spannte sich nun ein Netz aus Adern, die sich in rhythmischen Stößen auf und ab bewegten. Er fuhr mit dem Zeigefinger über die Hauptschlagader, doch er spürte nichts als glatte Haut. Wie konnte das sein?

Er sah kurz auf seine Hand und blickte dann wieder in den Spiegel. Die Adern waren verschwunden. Sein Gesicht war wieder so glatt und eben wie zuvor. Kai starrte ungläubig auf sein Spiegelbild. Hitze stieg in ihm auf und kleine Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Doch sie waren nicht durchsichtig.

Kai stammelte ein leises „Oh nein!“ Überall auf seinem Gesicht traten feine Blutstropfen aus den Poren. Auf der Stirn. An den Wangen. Über den Lippen und an den Augen. Er rieb die Hände über das Gesicht und versuchte, das Blut wegzuwischen, wie lästiges Ungeziefer, dessen er sich entledigen wollte.

„Weg, weg!“, rief er und rieb noch fester über die Haut.

Als er wieder in den Spiegel blickte, war das Blut verschwunden. Sein Gesicht und seine Hände waren alabasterweiß, so, als wäre dort nie etwas anders gewesen.

Eilig griff er nach der Bürste, die vor ihm auf dem Nachttisch lag, und fuhr sich damit hastig durch das Haar. Dann ließ er die Bürste auf den Tisch zurückfallen, wandte sich vom Spiegel ab und stürzte aus dem Dachzimmer. Er nahm die ersten Stufen hinunter mit großen Schritten. Auf einem Treppenabsatz blieb er stehen.

Was hatte er da eben im Spiegel gesehen? War es bloß Einbildung gewesen? Hatte seine Fantasie ihm einen Streich gespielt? Oder ... Er nahm ein paar tiefe Atemzüge. Bestimmt kam das alles von dem Albtraum, den er gehabt hatte, versuchte er sich zu beruhigen. Er blieb noch einen Moment stehen und ging dann betont langsam die restlichen Stufen hinunter. Von unten hörte er bekannte Stimmen. Erst konnte er Sandra reden hören, dann seine Oma.

Er ging zur Wohnzimmertür, hinter der nun sein Vater das Wort ergriffen hatte.

„Wir sollten Ruhe bewahren“, sagte er gerade, als Kai die Hand auf den Türgriff legte. Kai hielt abrupt inne.

2

Das Schulproblem

„Ruhe? Ich bin die Ruhe in Person! Außerdem bin ich lange genug ruhig gewesen. Aber nun ist Schluss!“ Die Stimme von Kais Mutter schnitt wie ein Messer durch die Luft. „Ich habe von diesem Vampirkram die Nase voll!“

Kai beugte sich vor und sah durchs Schlüsselloch. Seine Mutter, die keinerlei Ahnung hatte, dass sie sich mit echten Vampiren in einem Raum befand, marschierte auf und ab und gestikulierte dabei wild mit den Armen.

„Ich hätte schon bei dem Umzug in die Kirche ein Machtwort sprechen sollen. Aber wisst ihr, was das Schlimmste ist?“ Sie blieb stehen, musterte kopfschüttelnd Gutta, Gangolf und Gerrith von Greifendorf, die auf der Couch saßen, und drehte sich dann zu Kais Großmutter um. „Dieser Sarg! Das schlägt dem Fass den Boden aus!“

„Angelika, ich bitte dich!“ Kais Vater hob beschwichtigend die Arme.

„Nein, ich bitte dich!“ Sie stellte sich dicht vor ihren Mann. „Und nun kommst du und faselst irgendwas von verreisen. Und dann auch noch in diesem Aufzug!“ Sie wies mit ausholender Armbewegung auf die Vampirfamilie von Greifendorf.

„Wieso, was hat sie denn?“ Gutta, Gangolf und Gerriths Mutter, Gesine von Greifendorf, blickte hilfesuchend in die Runde und sah an sich hinunter. „Stimmt etwas mit meiner Kleidung nicht? Das ist einer meiner feinsten Umhänge.“

Ihr Mann, Gottfried von Greifendorf, legte die Hand auf ihre Schulter. „Lass nur, Schatz. Es ist alles in Ordnung.“

„Es ist eben nicht alles in Ordnung, lieber Herr von Greifendorf!“ Kais Mutter schnellte zu ihm herum. „Diese Vampirsache geht jetzt eindeutig zu weit. Will mich hier denn niemand verstehen? Rede ich Altkymbrisch, oder was ist das Problem?“

Sie holte tief Luft und ging zu Kurt, der auf dem Kaminsims hockte. „Na, mein Kleiner? Wenigstens einer, der hier normal geblieben ist, was?“, flötete sie und tätschelte den Raben, der den Kopf bei jeder Berührung immer tiefer zwischen die Flügel zog.

„Entschuldigen Sie, aber davon bekomme ich Kopfschmerzen“, krächzte Kurt und hüpfte einen Schritt zur Seite.

„Oh!“ Kais Mutter zuckte zurück. „T... tut mir leid.“ Sie drehte sich zu ihrem Mann und zischte: „D... der spricht ja!“

„Ja, natürlich“, begann Kais Vater. „Das ist Kurt, der ...“

„Natürlich?“, unterbrach sieh ihn barsch. „Natürlich nennst du das?“ Sie blickte irritiert auf den Raben. „Wie dem auch sei.“ Energischen Schrittes ging sie auf die Wohnzimmertür zu.

Kai schreckte hoch, huschte über den Flur und verschwand in der Dunkelheit des gegenüberliegenden Raumes.

Gerade noch rechtzeitig, denn schon wurde die Wohnzimmertür aufgerissen und seine Mutter betrat den Flur. „Vielleicht ist es den anwesenden Damen und Herren ja entgangen, aber morgen fängt die Schule wieder an“, sagte sie und wandte sich Herrn und Frau von Greifendorf zu. „Sie möchten doch sicher auch, dass ihre Kinder frisch und ausgeruht in den ersten Schultag starten, oder nicht?“

„Nun, wir ...“

„Na, also.“ Ein mühsames Lächeln huschte über ihre Lippen. „Was Kai betrifft ... Es geht zwar wieder einmal gegen meine pädagogischen Prinzipien, aber er darf heute Nacht noch hier bleiben. Allerdings nur, wenn du mir versprichst, dass die Nacht nicht zu lang wird. Wenn du weißt, was ich meine.“ Sie hielt kurz inne, streckte den Zeigefinger in die Luft und sah ihren Mann mit scharfem Blick an. „Und du fährst ihn morgen bitte in die Schule. Und wenn die aus ist, kommt er sofort nach Hause! Haben wir uns verstanden?“ Sie sah zu Sandra und sagte kopfschüttelnd: „Wie kommt es eigentlich, dass du hier noch rumturnst? Wartet deine Tante Ursel nicht bei euch zu Hause auf dich? Ts, ich weiß ja auch nicht ...“

Sie ging zur Garderobe und nahm ihre Jacke vom Haken. „Hier“, sagte sie und zeigte auf einen Schulranzen, der neben der Garderobe an der Wand lehnte. „Ich habe alles eingepackt, was er morgen braucht. Gute Nacht allerseits!“ Mit diesen Worten riss sie die Haustür auf, trat ins Freie und warf die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zu.

Kai erstarrte. Seine Mutter hatte recht! Er hatte völlig vergessen, dass heute der letzte Tag der Osterferien war! In den vergangenen zwei Wochen war so viel geschehen, dass ihm jeder Tag wie eine Ewigkeit vorgekommen war. Nicht eine Sekunde hatte er daran gedacht, dass irgendwann die Schule wieder beginnen würde. Was nun? Es lief ihm eiskalt über den Rücken. Wie sollte er tagsüber in die Schule gehen? Vielleicht konnte er von Gutta, Gangolf und Gerrith noch ein paar Tageslichtpillen bekommen, die ihn vor den Sonnenstrahlen schützten. Aber ... Er ließ die Zunge über die langen Eckzähne gleiten. Nein, das mit den Tageslichtpillen ging nicht. Er sah schon viel zu sehr wie ein Vampir aus. Und dann seine Mutter! Sie hielt diesen ‚Vampirkram‘, wie sie es nannte, immer noch für eine kindische Spielerei.

Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

Was mache ich denn jetzt?, überlegte er, ging über den Flur und betrat das Wohnzimmer.

Die Vampirmutter schenkte gerade frischen Bluttee in eine Tasse. „Was hatte sie denn nur an meinem Umhang auszusetzen? Ich glaube, sie hatte heute einen schlechten Tag“, murmelte Gesine von Greifendorf und stellte die Kanne wieder auf den Tisch.

„Hallo!“ Kai winkte in die Runde.

„Ah! Unser Spätaufsteher!“ Seine Oma strich ihm über die Wange. „Deine Mutter war gerade hier. Und sie war ganz schön verärgert.“

„Aber echt!“ Sandra spielte mit einer Locke ihres roten Haares und warf Kai einen vielsagenden Blick zu. „Wisst ihr was? Wir haben ein Problem.“

„So?“, fragte der Vampiropa Gismo, der am Kaminsims neben Kurt lehnte.

Sandra trat einen Schritt vor. „Kai wird morgen wohl kaum in die Schule gehen können. Und übermorgen auch nicht. Und überübermorgen ist es nicht anders. Versteht ihr? Die erste Zeit könnten wir noch sagen, dass er krank ist. Aber was dann? Soll einer von uns zur Rektorin gehen und sagen: ‚Entschuldigen Sie bitte, aber Kai ist leider ein Vampir geworden?‘“

Kai blickte seine Freundin dankbar an und für einen kurzen Augenblick durchströmte ihn ein warmes Gefühl. Sie hatte seine Sorgen genau auf den Punkt gebracht.

„Da hast du recht.“ Kais Vater rieb sich nachdenklich das Kinn. „Und außerdem besteht Mama darauf, dass du ab morgen wieder zu Hause schläfst“, wandte er sich an Kai. „Und zwar ohne deinen Sarg.“

Opa Gismo stieß sich vom Kaminsims ab und stellte sich neben Sandra.

„Wie klassisch!“, stellte er fest.

„Klassisch?“ Kais Oma zog eine Augenbraue hoch.

„Ja, Verehrteste.“ Opa Gismo schmunzelte. „Es ist schon vielen Neu-Vampiren so ergangen wie Kai. Mit dem einen Bein stehen sie noch in der Menschenwelt und mit dem anderen bereits im Sarg, wenn Sie wissen, was ich meine.“ Er kicherte. „Schon immer hatten wir Vampire aus den unterschiedlichsten Gründen ein Interesse daran, dass uns die Menschen in Ruhe lassen. Nicht nur, aber vor allem in der Zeit des Übergangs in unser neues Leben.“

„Ich ahne etwas!“, stöhnte Gerrith und lehnte den Kopf an Guttas Schulter.

„Ganz recht, mein Lieber. Ich glaube, Kai ist bereit für den Spaltspiegel.“

Die Vampirmutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Aber Vater! Was sagst du da? Ist es dafür nicht noch ein wenig zu früh?“

„Ich denke nicht, wenn ich mir die Situation des Jungen so ansehe.“

„Hm, meinst du wirklich?“ Gesine von Greifendorf blickte zu Kai.

„Wofür, bitte, ist er bereit?“, fragte Oma Flammersfeld.

„Für den Spaltspiegel“, antwortete der Vampirvater.

„Noch nie gehört!“

„Oh doch, das hast du. Du erinnerst dich nur nicht daran.“

Der Vampir grinste die Großmutter an. „Allerdings hast du ihn nie benutzt, dazu bestand bei dir nämlich kein Grund.“

„Ach ja? Könntest du dann vielleicht mein Gedächtnis ein wenig auffrischen?“, verlangte Kais Oma.

Der Vampirvater ging durch den Raum und stellte sich vor den großen Spiegel, der über dem Kamin hing.

„Und? Seht ihr etwas?“, fragte er.

„Du hast kein Spiegelbild“, sagte die Großmutter.

„So ist es.“

„Dass Vampire kein Spiegelbild haben, ist doch das Natürlichste auf der Welt“, meinte Kais Oma und verdrehte die Augen. „Weiß doch jedes Kind.“

„Ach ja? Meinst du?“ Der Vampir blinzelte seiner Frau auffordernd zu, die daraufhin an seine Seite trat. In dem Spiegel war nun ihr Ebenbild zu sehen. „Und was ist das?“

„Das ist merkwürdig!“

„Mitnichten, Geysira.“ Der Vampirvater lächelte.

Kai zuckte zusammen, als er diesen Namen hörte. Er musste sich erst langsam daran gewöhnen, dass seine Großmutter eine Tagvampirin und die verschollen geglaubte Tante der von Greifendorfs war. Bis vorgestern noch war sie einfach nur seine Oma gewesen. Ganz einfach nur seine Oma.

„Die Menschen glauben, dass Vampire kein Spiegelbild haben“, setzte der Vampirvater fort und riss Kai damit aus seinen Gedanken. „Das stimmt auch für die Allermeisten von uns. Allerdings sind wir nicht ohne Spiegelbild, weil wir Vampire sind, sondern weil wir uns schützen wollen.“

„Wovor denn schützen?“, fragte Kai.

„Wir lösen unser Spiegelbild von uns und schicken es in die Menschenwelt zurück. Es lernt für uns. Es isst für uns. Es freut sich und es weint für uns.“ Er machte eine kleine Pause und sagte dann: „Versteht ihr, unser Spiegelbild lebt unter den Menschen weiter und daher kommt niemand auf die Idee, dass wir in Wirklichkeit Vampire sind. So können wir in aller Ruhe unser Vampirleben einrichten und viele ungestörte Jahre verbringen.“

„Wenn nicht jemand wie Wieland von Wünschelsgrund plötzlich auf dem Friedhof auftaucht“, rief Gangolf.

„Ja, oder Rufus Wankelmann!“, ergänzte seine Schwester Gutta.

„Natürlich, dann nützt auch das beste Spiegel-Ich nichts“, stimmte ihr Vater zu und schlenderte mit seiner Frau wieder zu den anderen rüber. „Es gibt natürlich Vampire, die sich der Zeremonie vor dem Spaltspiegel nicht unterziehen wollen – oder müssen. So wie du, liebe Geysira. Du warst damals die Letzte von uns, die gebissen wurde und brauchtest daher kein Spiegelbild, dass in der Menschenwelt für dich weiterlebt.“

Die Oma kniff die Augen zusammen und fragte mit ruhiger, aber bestimmter Stimme: „Und wo ist der Haken an der Sache, Gottfried?“

„Wie meinst du das?“

„Du sagst, es gibt Vampire, die sich der Zeremonie nicht unterziehen wollen.“

Der Vampir räusperte sich. „Nun ja, es gibt da schon ein paar Eigentümlichkeiten.“

„Eigentümlichkeiten. Soso. Und die wären?“

„Wenn sich das Spiegelbild von einem Neu-Vampir löst, so nimmt es manche seiner menschlichen Wesenszüge verstärkt mit sich. Der Vampir wird dann gefühlskälter. Kai hat noch recht viel Menschliches in sich. Sein Spiegelbild würde einiges davon mitnehmen, und Kais Umwandlung in einen Vampir würde sich wohl beschleunigen.“

„Das klingt ja nicht gerade erstrebenswert“, stellte die Oma kühl fest.

„Mag sein. Aber du darfst nicht vergessen, Geysira, dass wir Vampire ohnehin einiger Gefühlsregungen verlustig gehen. Es geschieht also nur, was sowieso geschehen muss.“

„Darf ich vielleicht die positiven Seiten einmal hervorheben?“ Opa Gismo ging zu Kai und legte den Arm um seine Schulter. „Sehen wir es doch einmal so: Wenn Kai vor den Spaltspiegel tritt, so kann sein Spiegelbild für ihn in die Schule gehen. Frau Flammersfeld ist beruhigt, dass ihr Sohn wieder zu Hause ist und in einem Bett schläft. Und dann ist da ja noch die Sache mit der Trügerischen Trautelbeere! Dafür hätten wir dann ausreichend Zeit!“

Kai blickte ihn an.

Opa Gismo zog den Arm zurück. „Bevor deine Mutter vorhin unsere kleine Runde mit ihrem Besuch beehrte, hatten wir uns gerade über die Suche nach der Trügerischen Trautelbeere unterhalten.“

Kai nickte stumm. Die Trügerische Trautelbeere. Wieland von Wünschelsgrund hatte vorgestern auf dem Dachboden der Giselotta-Kirche von dieser Beere gesprochen und damit alles verändert. Bis vorgestern hatte Kai gedacht, dass es für ihn keinen anderen Weg gab, als Vampir werden zu müssen.

Doch nun hatte er die Wahl.

Sollte er seine Umwandlung in einen Nachtvampir vollenden und in das Leben eintauchen, mit dem er sich ganz langsam anzufreunden begann? Oder sollte er sich auf die Suche nach der Trügerischen Trautelbeere machen? Auf die Suche nach der Beere, deren goldgelber Saft ihn zu dem machen würde, was auch seine Oma war: zu einem Tagvampir, der ein normales Leben unter den Menschen führen konnte.

Gestern Abend hatten sie alle hier im Wohnzimmer gesessen und Kai hatte sich entschlossen, nach der Beere zu suchen und ihren Saft zu trinken. Auch wenn dies bedeutete, dass er die Welt der Vampire verlassen, dass er alles Vampirische verlieren würde. Keine übermenschlich guten Augen und Ohren mehr. Aber eben auch keine Angst mehr, eines Tages auf die Jagd gehen und Blut trinken zu müssen.

Kai holte tief Luft und fragte: „Wenn ... wenn mein Spiegelbild mein Menschenleben lebt, ... Ich meine, ... bekomme ich es auch wieder zurück?“

„Du meinst dein Spiegel-Ich?“, fragte Opa Gismo.

Kai nickte.

„Ja, wann immer du es möchtest. Dein Spiegel-Ich drängt es stets zu dir zurück. Vergiss nicht, Kai: Du bist immer noch du. Dein Spiegel-Ich ist lediglich dein Abbild. Wenn auch eines mit einem gewissen, wie soll ich sagen, Eigenleben. Aber es wird sich jederzeit mit dir vereinigen und all sein Wissen, alles, was es in der Zeit, in der es von dir abgespalten war, erlebt hat, geht auf dich über.“

„Verstehe.“ Kai sah zu Sandra, die ihm aufmunternd zublinzelte.

„Ich mach’s“, sagte er schließlich mit fester Stimme.

„Eine weise Entscheidung!“, freute sich Opa Gismo.

„Ganz recht!“ Der Vampirvater stellte sich in die Mitte des Raumes. „Aber zunächst müssen wir einen Spaltspiegel besorgen. Wir von Greifendorfs gehören nämlich leider zu den Vampirfamilien, die keinen eigenen besitzen.“

„Wieso hat nicht jede Vampirfamilie ihren eigenen Spaltspiegel?“, fragte Sandra neugierig.

„Tja!“ Der Vampir verdrehte die Augen. „Schön wär’s. Aber es gibt nicht allzu viele dieser Spiegel. Sie sind alt. Sehr alt! Älter als die meisten Vampire! Und soweit mir bekannt ist, gibt es niemanden mehr, der weiß, wie man sie herstellt.“

Er schloss den Kragenknopf seines Umhangs und trat durch die Terrassentür ins Freie. Seine Familie folgte ihm. „Sobald wir einen Spiegel aufgetrieben haben, melden wir uns.“

Die Vampire winkten Kai, Sandra und der Großmutter zu, erhoben sich in die Luft und schwebten davon. Sandra sah den Freunden nach, bis die Dunkelheit sie verschluckt hatte.

3

Der Spaltspiegel

„Ein wahres Kunstwerk!“ Oma Flammersfeld ging um den Engel herum, der vor der Gruft der von Greifendorfs kniete und sich auf ein Schwert stützte.

„Ja, nicht wahr?“ Opa Gismo lächelte sie an. „Den hat einer unserer Vorfahren hier aufstellen lassen.“

„Er guckt allerdings etwas traurig.“ Die Großmutter ging ganz nah an den Engel heran und schaute ihm ins Gesicht.

„Nun, diese Statue hat auch eine eher dramatische Geschichte. Darf ich sie dir auf unserem Flug erzählen? Man wartet bereits auf uns.“ Gismo zeigte nach oben, wo die anderen schon mit wehenden Umhängen schwebten. Kurt blickte neugierig von Kais Schulter auf sie herab.

„Oh, ja. Natürlich.“

Der Vampir trat hinter Kais Oma und fasste sie unter den Achseln. Sie hoben vom Boden ab und flatterten hinauf zu Gangolf, der Sandra fest in den Armen hielt.

„Sind alle da?“, rief Gottfried von Greifendorf. „Dann los! Mir nach!“ Er drückte Kais Vater fester an sich und schoss davon.

Sie stiegen in den Nachthimmel empor. Höher und höher, immer der schmalen Sichel des abnehmenden Mondes entgegen. Nach einer Weile flatterten sie auf eine Wolke zu, welche die Form eines Totenkopfs hatte.

Mit mulmigem Gefühl sah Sandra, dass der Vampirvater direkt darauf zusteuerte und schließlich in ihr verschwand.

„Ist irgendwas?“, fragte Gangolf. „Du zitterst ja.“ „N... nein, nein. Alles klar.“ Die Totenkopfwolke schwebte groß vor ihnen. Sandra mochte sie nicht. Sie war ihr unheimlich. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sogar etwas Angst vor dieser Wolke, auf die Gangolf nun eilig zuflog.

„Ähm ... Gangolf, könnten wir vielleicht außen herum ...?“, rief Sandra noch, da tauchte Gangolf bereits in die Wolke ein und kühler, feuchter Wind strich über ihr Gesicht. Sie schloss die Augen und öffnete sie erst wieder, als sie durch die geschlossenen Lider das helle Mondlicht wahrnahm. Sie blickte zurück.

Von dieser Seite sieht die Wolke noch gruseliger aus, dachte sie.

Unter der Nasenhöhle hatte die Totenkopfwolke eine dunkle Stelle, die an einen weit geöffneten Mund erinnerte, der ihnen wütend entgegenfauchte. Opa Gismo und die Großmutter flogen gerade aus ihm heraus, wirbelten den Wolkendunst durcheinander und zogen einige Schleier hinter sich her. Es sah nun so aus, als streckte die Totenkopfwolke ihnen die Zunge heraus.

Sandra wandte schnell den Blick ab und sah auf das Meer von Bäumen, das sich unter ihr ausbreitete. Nach einer Weile entdeckte sie eine Burg, die aus dem Wald herausragte und die sie sofort wiedererkannte. Es war die Burg, auf der vor zwei Tagen der Kampf zwischen den Knochenkriegern und den Vampiren stattgefunden hatte. Sofort fielen ihr Diadema und Lamentira ein, die beiden Vampirdamen, die sie immer so freundlich angelächelt hatten und die sie aus irgendeinem Grund mochte. Wie es den beiden wohl ging?

Gangolf flog eine Rechtskurve und die Burg verschwand aus ihrem Blickfeld. Unter ihnen lag nun ein weites, grasbewachsenes Tal. Ein Fluss mäanderte träge durch die Landschaft und Sandra sah tausende kleiner, glitzernder Punkte auf dem Wasser. Es waren die Sterne, die sich darin spiegelten.

Einige Minuten folgten sie dem Fluss und verließen dann das Tal. Buschwerk machte wieder dichtstehenden Bäumen Platz und schließlich konnte Sandra eine weitere Burg erkennen, die vor ihnen auf einem Hügel auftauchte. Gangolf setzte zum Sinkflug an und bald darauf landeten sie auf dem großen Burgturm, an dessen einer Seite ein weiterer kleiner Turm thronte.

„Mann, das war aber ein weiter Flug“, sagte Kai und strich seinen Umhang glatt.

„Stimmt.“ Gottfried von Greifendorf nickte. „Aber was soll man machen? Diese Burg wurde uns nun einmal zugewiesen.“

„Zugewiesen?“

„Ja. Du weißt doch, nicht jede Vampirfamilie hat ihren eigenen Spaltspiegel. Wir leider auch nicht. Also müssen wir die Spaltzeremonie bei anderen Vampiren anmelden. Wir hatten großes Glück, dass gerade ein Spiegel in der Nähe frei war!“

„Wo ist denn dieser Spiegel?“, fragte Sandra und blickte sich um.

„Aber Kind!“ Die Vampirmutter schmunzelte. „Meinst du, der steht hier einfach so auf dem Turm herum?“

„Ich könnte wetten, der steht unten im Verlies“, vermutete Gangolf.

Gutta schüttelte den Kopf. „Nee, glaub ich nicht. Die Spaltzeremonie soll in einem angenehmen Rahmen stattfinden.“

„Ja, eben! Das Verlies ist doch ein total angenehmer Rahmen.“

„Aber nicht für einen Neu-Vampir, Bruderherz!“ Gutta verdrehte die Augen.

„Ich könnte losfliegen und nachsehen“, krächzte Kurt von Kais Schulter.

„Nicht nötig“, sagte eine Stimme da.

Gerrith schrie auf und schnellte herum. Ein großer, hagerer Vampir stand neben ihm.

„Keine Panik, junger Freund“, beruhigte er mit tiefer Stimme. „Das bin nur ich.“

Gottfried von Greifendorf ging auf den Vampir zu und streckte ihm die Hand entgegen. „Antonio! Schön dich zu sehen!“, rief er und klopfte ihm auf die Schulter.

„Hm ...“, brummelte der Vampir und verzog keine Miene. „Ihr seid pünktlich. Das lobe ich mir.“

Kai hatte ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend. Dieser seltsame, schlecht gelaunt wirkende Kerl sollte die Zeremonie durchführen? Sehr beruhigend fand er das nicht. Und er konnte sich nicht vorstellen, dass Antonio eine entspannte Atmosphäre schaffen konnte.

Er schob sich dicht an Guttas Ohr und flüsterte: „Hör mal, dieser Antonio ist aber nicht gerade nett, was?“

Gutta legte sofort den Zeigefinger auf die Lippen und zischte „Pssst!“, als Antonio mit einer blitzschnellen Bewegung den Arm ausstreckte und auf Kai zeigte.

„Wir sind auch nicht zum Spaß hier“, schnarrte er und Kai spürte augenblicklich, wie ihm heiß wurde. Er war sich sicher, dass er gerade dunkelrot anlief.

„Entschuldigung ...“

„Hm ...“ Antonio ließ den Arm langsam wieder sinken. „Es geht um diesen vorlauten Burschen hier, nicht wahr?“ Er deutete mit einer leichten Kopfbewegung auf Kai.

„Ganz recht, Antonio“, bestätigte die Vampirmutter aufgeregt. „Das ist Kai. Kai Flammersfeld. Und wir sind ja so froh, dass du den Spiegel für uns noch freihalten konntest.“

„Ja, ja.“ Antonio winkte ab. „Es eilt immer. Irgendwie eilt es immer.“ Antonio stutzte und sah zu Gangolf hinüber.

„Was ist denn da hinter dir?“, fragte er.

Gangolf machte einen Schritt zur Seite und musste grinsen. „Das ist unser Gerrith. Er ist ein wenig schüchtern, wissen Sie.“ Er packte seinen Bruder an den Schultern und zog ihn neben sich.

„So? Ist er das?“ Antonio ging langsam auf Gerrith zu, blieb kurz vor ihm stehen und beugte sich zu ihm hinab. „Buh!“

Gerrith sprang mit einem lauten Aufschrei in die Luft.

„Aber, Herr Antonio! So lassen Sie ihn doch. Er kann doch nichts dafür, dass er so schüchtern ist!“, protestierte Kais Oma.

Der Vampir räusperte sich. „Ich weiß. Entschuldige, mein kleiner Freund. Aber es war einfach zu verlockend.“ Zum ersten Mal huschte ein kleines Lächeln über sein Gesicht. Doch sofort wurde er wieder ernst. „Ihr seid ja eine interessante Truppe“, grinste er und ging zur Großmutter. „Sie sind ...“ Er nahm einige Atemzüge und musterte sie scharf. „Ja, was sind Sie eigentlich? Ich bemerke, Sie sind nicht wirklich menschlich. Aber ...“ Er holte noch einmal tief Luft. „Aber ein Vampir sind Sie auch nicht.“ Dann weiteten sich seine Augen. „Ach neeein!“ Er lachte. „So etwas habe ich ja lange nicht mehr vor mir gehabt! Eine Tagvampirin!“

Gutta zupfte am Umhang ihrer Mutter. „Woran merkt er das?“

„Weil ich eben ein besonderer Vampir bin, meine Kleine. Und außerdem viel, viel älter als ihr alle zusammen. Vielleicht kannst du das später auch einmal.“ Antonio wandte sich Kais Vater zu. „Hier haben wir aber mit Sicherheit einen richtigen Menschen, oder?“

„Richtig!“

„Aha! Faszinierende Mischung hier, wirklich.“ Antonio betrachtete einen nach dem anderen eindringlich. „Und du bist Sandra, die Freundin von unserem Neu-Vampir, stimmt’s?“ Er nickte ihr lächelnd zu.

„Sie kennen meinen Namen?“

„Haben mir die von Greifendorfs erzählt. Ich muss doch schließlich wissen, mit wem ich es zu tun habe, nicht wahr?“ Er sah ihr tief in die Augen. „Interessante Aura hast du. Seeehr interessant ...“

„Bitte?“

„Deine Ausstrahlung, kleines Fräulein. Du hast eine besondere Ausstrahlung. Ganz besonders. Ich sehe das. Es ist die Energie, die dich umgibt. Und deine ist wirklich außergewöhnlich.“

Sandra sah zur Großmutter und flüsterte: „Langsam macht er mir Angst.“

„Nun gut.“ Antonio bedeutete Kai, ihm zu folgen. „Dann sollten wir beginnen.“

Kai schluckte. Auf dem Flug zu dieser Burg hatte er sich keine Gedanken darüber gemacht, was ihn bei der Zeremonie wohl erwarten würde. Nun aber, da Antonio vor ihm stand und ihn mit einer auffordernden Geste zu sich winkte, wurde ihm doch seltsam zumute.

„Was ist, worauf wartest du?“

„Ich ... Muss ich jetzt allein ...? Ich meine, kann nicht Sandra oder mein Vater ...?“

„Dich begleiten? Um Teufels willen, Junge! Wo denkst du hin! Nein, das musst du allein machen. Komm!“

Antonio ging mit großen Schritten voraus. Beim Treppenaufgang an der gegenüberliegenden Seite blieb er stehen.

„Nun komm! Ich hab nicht ewig Zeit“, rief er und verschwand in dem Aufgang.

Kai spürte die Hand seines Vaters auf der Schulter. „Geh nur, mein Junge. Wir werden hier sein, wenn du wiederkommst.“ Er gab ihm einen Kuss auf die Wange.

„Ich gehe mit dir bis zur Treppe.“ Sandra lief zu Kai hinüber und gemeinsam gingen sie zum Treppenaufgang. Kurz bevor sie ihn erreicht hatten, blieb Kai stehen und drehte sich zu seinem Vater, den Vampiren und seiner Oma um. Sie alle sahen zu ihm herüber und winkten ihm zu.

„So, weiter darf ich ja nicht“, sagte Sandra leise.

Kai nahm ihre Hand. Ihre Finger waren warm, die Haut so weich.

Sandra zog ihn sanft an sich und nahm ihn in die Arme. „Alles Gute“, sagte sie und drückte ihn, so fest sie konnte.

„Ich hab jetzt schon ein bisschen Angst“, flüsterte er.

„Wir warten hier!“ Sie streckte den Arm aus. „Kurt, kommst du?“

„Bin schon da!“ Der Rabe hüpfte auf ihren Arm und kraxelte zur Schulter. „Toi, toi, toi!“, krächzte er, neigte den Kopf leicht zur Seite und blinzelte seinem Freund zu.

Kai lächelte ihn und Sandra an. Dann drehte er sich um und stieg die ausgetretenen Stufen empor.

„Ah, da bist du ja!“ Antonio zog an den Enden eines Netzes, das von der Decke über einen Teil des Zimmers gespannt war, zu dem die Treppe Kai geführt hatte, und bis auf den Boden reichte. „Komm ruhig schon her, es ist alles vorbereitet.“

Kai betrat den achteckigen Raum, der als großer Erker an dem Turm klebte. Zwischen den Fenstern steckten lodernde Fackeln in Halterungen und von der Decke hing ein großer Kronleuchter, der über und über mit brennenden Kerzen bestückt war.

---ENDE DER LESEPROBE---