Kai Flammersfeld und die Wahnnacht der Wolfire - Hagen Röhrig - E-Book

Kai Flammersfeld und die Wahnnacht der Wolfire E-Book

Hagen Röhrig

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Beschreibung

Um seine Freundin aus den Klauen der Vampirjäger zu retten, riskiert Kai alles. In einer schmerzhaften Zeremonie zieht er alles Vampirische aus sich heraus. Kai ist nun wieder ein Mensch. Doch er ist ein Mensch, den es nicht geben darf. Er ist ein Mensch ohne Spiegelbild. Es bleibt ihm nicht viel Zeit, um Sandra zu retten, bis er selbst verloren ist. Auf der Messe für Spaltspiegelbesitzer trifft er den Vampir Torkel Bierström. Von ihm erhofft sich Kai Hinweise darauf, wie er hinter den Spaltspiegel treten kann, um dort Sandras Weg nachzugehen und zu ihr zu kommen. Torkel berichtet von zwei Schlüsseln, die unabdingbar sind, um unbeschadet in den Spiegel zu gelangen. Kai und seine Freunde brechen sogleich auf, um sie zu finden. Doch nicht nur sie suchen die Schlüssel ...

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Kai Flammersfeld

und die Wahnnacht der Wolfire

Hagen Röhrig

Inhalt

1. Flucht

2. Die Erscheinung – 21. Tag nach dem Biss

3. Die Messe der Spaltspiegelbesitzer

4. Rabak

5. Boris – 22. Tag nach dem Biss

6. Der Brodem

7. Die Riege der Richtigen

8. Verwüstung

9. Das Gefängnis der Wolfire – 23. Tag nach dem Biss

10. Gorx

11. Hinter dem Spaltspiegel

12. Sandra

13. Das neue Leben

Autor

Für den echten Kai.

1

Flucht

Zu Spät! Viel zu spät!

Seine Hände teilten das Dickicht. Die feinen Regentropfen, die an den Blättern und Zweigen klebten, perlten an seiner Haut ab. Immer wieder sah er sich um. Eigentlich konnten sie noch nicht so weit sein, dachte er. Und dennoch erwartete er hinter jedem Baum ihre wütenden Gesichter.

Er war viel zu spät dran! So ein Mist! Aber er konnte nicht früher weg. Die anderen hätten es sonst gleich bemerkt. So hatte er zumindest einen Vorsprung.

Ob sein Freund auf ihn warten würde?

Bitte, bitte ... Sei noch da. Wir haben uns geirrt!

Er machte einen Satz und sprang über einen Baumstumpf.

Ach, wenn er doch nur die Zeit gehabt hätte, herauszufinden, wo diejenigen mit dem zweiten Schlüssel waren.

Der Wind zerzauste sein Haar und es klang fast, als flüsterte er seinen Namen.

Er rannte schneller.

Der Sturm fegte durch den Wald und riss Blätter und Zweige mit sich.

Nur noch ein wenig mehr Zeit. Ein wenig mehr Zeit und er hätte seinem Freund genau sagen können, wo er nach dem zweiten Schlüssel suchen musste. Aber immerhin! Ein feines, triumphierendes Lächeln huschte über sein Gesicht. Immerhin! Er konnte ihn nah genug heranführen.

Ja, in gewisser Weise bewunderte er die Riege, das musste er zugeben. Wie sie es geschafft hatten, dieses Mädchen dort hinzuschaffen.

Auch das musste er seinem Freund berichten. Und die Sache mit dem Vampir, der in der Zelle saß! Ganz bestimmt würden sich die anderen Vampire dafür interessieren. Er wusste ja, dass sie nach ihm und dem Menschenmädchen suchten. Endlich war die Gelegenheit gekommen, auf die er und seine Mitstreiter so lange gewartet hatten. Die Gelegenheit, eine Brücke zu den Vampiren zu schlagen. Einander wieder näher zu kommen; alten Zwist zu überwinden. Sich neu kennenzulernen. Endlich war die Zeit gekommen!

Irgendwo in der Nähe knackte ein Ast.

Ängstlich blickte er sich um und rannte dann noch schneller.

Der Wind heulte in den Baumkronen.

Schweiß lief ihm ins Auge. Ausgerechnet in das, welches ohnehin noch schmerzte. Es brannte fürchterlich. Er fuhr mit dem Ärmel vorsichtig über sein Gesicht und wischte den Schweiß ab. Verdammt, wie das brannte!

Er stockte. Überall um ihn herum knackte und knisterte es. War es der Sturm? Oder ...

Konnten sie wirklich schon so nah sein? Eigentlich unmöglich ...

Er spürte einen dumpfen Schlag gegen den Kopf. Das warme Blut rann über seinen Schädel und den Hals hinunter. Ihm wurde schlecht. Gorx taumelte – und brach röchelnd zusammen.

2

Die Erscheinung – 21. Tag nach dem Biss

Kai streifte seinen Pulli über und trat ans Fenster.

Was für eine Nacht!, dachte er und sah hinaus in die sturmgepeitschte Dunkelheit. Der Wind pfiff um das Haus, zerrte an den Bäumen und fegte über das Gras. Am Horizont tobte ein Wetterleuchten, wie er es noch nie gesehen hatte. Unter normalen Umständen würde er in einer solchen Nacht niemals auch nur einen Fuß nach draußen setzen. Aber die Umstände waren nicht normal. Seit zwei Tagen war er nun bereits wieder menschlich und kein Vampir mehr. Und seit zwei Tagen war nichts geschehen. Keine Nachricht vom Fledermaus-Geheimdienst. Keine Nachricht von Fledermaus Jette oder dem Top-Spion, der Schabe Sebastian. Keine Nachricht, wo seine beste Freundin Sandra war. Stattdessen nagte das fürchterliche Gefühl an ihm, dass die Zeit verrann. Zeit, die er nicht hatte. Noch waren es nur seine Augen und Ohren, die sich langsam veränderten und ihre vampirischen Eigenschaften verloren. Gestern noch hatte er in der Dunkelheit alles farbig sehen können. Aber als er heute Abend die Augen aufgeschlagen hatte, war alles schwarz-weiß gewesen.

Doch wie lange noch, bis sich sein Wesen verändern würde? Er hatte es zwar geschafft, wieder ein Mensch zu werden, besaß aber nun kein Spiegelbild mehr. Nur ein Mensch konnte Sandra finden, soviel wussten sie, und nur deshalb hatte er die Rückverwandlung ohne Spiegelbild auf sich genommen, auch wenn dies furchtbare Folgen für ihn hatte. Er erinnerte sich daran, was ihm das Buch „Alltagstipps für Vampire – die 100 besten Rezepte“ prophezeit hatte. Nach einiger Zeit als Mensch ohne Spiegelbild würde er sich in eine erbarmungswürdige Kreatur verwandeln. Zu einer Hülle ohne menschliche Regungen. Zu einem leidenden, traurigen Etwas in Menschengestalt.

Kai atmete schwer aus.

Hoffentlich hatte sein Spiegel-Ich, das zu Hause bei seinen Eltern wohnte und für ihn zur Schule ging, während er als Vampir bei seiner Oma, der Tagvampirin, eingezogen war, noch nicht begonnen, sich zu verändern. Bisher hatte er nichts Gegenteiliges gehört und das ließ ihn hoffen.

Er sah auf seine Armbanduhr. Wollte Jette nicht schon längst hier sein? Seltsam ...

Er senkte den Arm und blickte wieder aus dem Fenster. Das Wetterleuchten zuckte wild über den Himmel und die schweren Wolken rasten dahin.

In einer Stunde waren sie mit Torkel Bierström auf der Messe für Spaltspiegelbesitzer verabredet. Jette hatte den Kontakt hergestellt und gesagt, dass er vielleicht helfen könne, Sandras Aufenthaltsort herauszufinden, nachdem sie vor einigen Tagen im Spaltspiegel verschwunden war. Bei dem Gedanken daran kribbelte es in seinem Körper.

Und dann erst fiel es ihm auf.

Er kniff die Augen zusammen, ging näher an die Fensterscheibe heran und sah angestrengt hinaus.

Nein, er hatte sich nicht getäuscht.

Nur ...

Er rieb sich die Augen und ging mit dem Gesicht so nah an die Scheibe, dass seine Nase fast das Glas berührte.

Dort unten war etwas. An einem Baumstamm.

Da war ein Gesicht. Die großen, runden Augen sahen zu ihm herauf.

Und ...

Kai schluckte. Er wartete, bis das Wetterleuchten abermals die Nacht erhellte, dann war er sich sicher. Er sah eine Hand, die auf dem Stamm lag. Eine Hand mit langen, dünnen Fingern. Und ein Bein. Mehr nicht!

Er zuckte zurück und wandte den Blick ab.

Wie konnte das sein? So etwas war gar nicht möglich.

Er hauchte gegen die Scheibe und wischte mit dem Ärmel darüber, so als wolle er störenden Staub wegwischen. Er rieb über das Glas, obwohl er natürlich genau wusste, dass dies nichts ändern würde. Dann sah er wieder zum Waldrand.

Ein Gesicht, eine Hand, ein Bein.

Wo war der Rest des Körpers?

Da! Nun schien dieses Etwas, was immer es auch war, ihn hinter dem Fenster entdeckt zu haben. Es neigte den Kopf zu Seite und starrte ihn an.

Und dann war es plötzlich weg. Verschwunden. Einfach so.

Kai schoss das Blut in den Kopf. Sein Atem ging schnell und beschlug die Scheibe. Hatten ihm seine Augen einen Streich gespielt? Er spähte zu den Bäumen, doch dort war nichts mehr.

Plötzlich saß etwas Dickes, Schwarzes vor ihm auf dem Fensterbrett und klopfte von außen gegen die Scheibe.

Kai schrie auf und zuckte zurück.

„Hallo, hallo!“, krächzte es und pochte gegen das Glas. „Würdest du wohl die Freundlichkeit besitzen, mich reinzulassen? Oder soll ich hier als lebendes Windspiel enden?“

„Kurt!“ Kai schlug die Hand vor den Mund. Der Rabe war kaum wiederzuerkennen. Wie eine große Federkugel hockte er zusammengekauert auf der Fensterbank. Der Wind schubste ihn von einer Seite zur anderen und zerrte so sehr am Gefieder, als wolle er dem Raben jede Feder einzeln ausreißen.

Kai öffnete das Fenster und sofort wirbelten kräftige Böen durch den Raum. Kurt duckte sich unter dem Sturm und stakste über den Fensterrahmen ins Zimmer.

„Entschuldige!“ Kai stemmte das Fenster gegen den Wind und drückte es ins Schloss zurück. „Ich hab dich gar nicht gesehen.“

Kurt schüttelte sich und legte die Federn eng an den Körper. „Das ist aber auch ein Wetterchen heute, was?“ Er streckte Flügel und Beine aus und dehnte sie. „Da scheucht man ja eigentlich keinen Hund vor die Tür.“

„Stimmt.“ Kai sah noch einmal zum Waldrand und wandte sich dann dem Raben zu. „Der Flug war bestimmt anstrengend, oder?“

„Das will ich meinen! Mit Verlaub: Ich habe da eine fliegerische Glanzleistung hingelegt! Davon zwitschert Morgen die ganze Vogelwelt.“ Er schüttelte sich abermals. „Ich bin sehr gespannt, ob Jette es bis hierher schafft.“

Kai ging zum Sofa und nahm seinen Vampirumhang von einem riesigen Stapel Klamotten. „Vielleicht ist sie schon hier. Wir können ja mal runter ins Wohnzimmer gehen“, schlug er vor und warf den Umhang über die Schultern. „Meinst du, wir schaffen den Flug zur Messe bei dem Sturm? Ist ja schon ein Stück bis zu diesem Friedhof.“

„Ach, ich bitte dich. Sind wir Profis oder sind wir Profis?“ Kurt flatterte auf Kais Schulter. „Ich werde euch selbstverständlich mit meiner Erfahrung zur Seite stehen.“

„Danke, Kurt. Zu gütig!“ Kai grinste ihm zu und ging zur Zimmertür. „Bist halt doch ein wahrer Freund.“ Er kraulte den Kopf des Raben und stiefelte die Stufen zum Wohnzimmer hinunter.

3

Die Messe der Spaltspiegelbesitzer

Als Kai und Kurt das Wohnzimmer betraten, winkte ihnen ein Teil der Vampirfamilie von Greifendorf entgegen, während Kais Großmutter gerade einen Vampirumhang in den Händen hielt.

„Und der ist wirklich für mich?“ Ihre Augen glänzten.

„Aber natürlich, meine Liebe“, sagte Opa Gismo von Greifendorf. „Wir haben in den letzten Nächten so viel Fliegen geübt, den hast du dir redlich verdient.“

„Giiismo, du Charmeuuur ...“ Die Großmutter lächelte ihn an und blickte beinah schüchtern zur Seite. „Die Landungen auf dem Fenstersims haben aber noch nicht so gut geklappt, finde ich.“

„Das ist normal, Geysira“, tröstete Opa Gismos Schwiegersohn Gottfried von Greifendorf. „Aber keine Sorge, das kommt mit der Zeit.“

„Im Grunde ist es ohnehin deiner, Geysira“, flötete seine Frau Gesine. „Sieh mal die Stickerei hier.“ Sie zeigte auf den Kragen des Umhangs, wo in schimmerndem Schwarz die Buchstaben „GvG“ prangten. „Geysira von Greifendorf. Deine Initialien. Von dir höchstpersönlich in einer nächtlichen Handarbeitssitzung gestickt.“

„Ach!“ Die Großmutter fuhr mit dem Zeigefinger über die Buchstaben. Sie hatte erst vor einigen Tagen erfahren, dass sie die verschollen geglaubte Tante der von Greifendorfs und eine Tagvampirin war. Stolz legte sie sich den Umhang über die Schultern. „Auf jeden Fall danke ich euch.“ Und mit Blick auf Opa Gismo fügte sie hinzu: „Nun musst du mich auch nicht mehr tragen, wenn wir ausfliegen, mein lieber Gismo.“

„War mir stets ein Vergnügen“, sagte er und machte mit einer ausholenden Armbewegung einen tiefen Diener.

„Sagt mal, ist Jette noch gar nicht aufgetaucht?“ Kai sah sich um und tastete mit den Blicken den Kronleuchter ab.

„Jette? Nein, die ist nicht da.“ Gutta, die Tochter der von Greifendorfs, kam gerade aus der Küche und hielt eine Tasse Bluttee in der Hand. Ihre Brüder Gangolf und Gerrith betraten hinter ihr den Raum. „Ich glaube, sie ist bereits auf ihrem nächsten Einsatz, weiter nördlich. War es nicht so?“, wandte Gutta sich an ihre Geschwister.

„Doch, doch, sie hat gestern so etwas gesagt.“ Gerrith nickte.

„Na, hoffentlich finden wir dann diesen Torkel Bierström.“ Kai blickte die anderen an.

„Keine Sorge, Jette hat alles organisiert.“ Gutta legte die Hand auf Kais Schulter.

„Wir haben ungeheures Glück“, sagte Gesine von Greifendorf. „Wenn nicht gerade diese Messe wäre, dann hätten wir Torkel vielleicht gar nicht ausfindig machen können.“

„Wieso das?“, fragte Kai.

„Wieso?“ Sie kam auf Kai zu und strich Kurt, der auf Kais Schulter saß, über den Kopf. „Torkel ist üblicherweise unterwegs. Sehr viel unterwegs. Er und Renatus sind gut befreundet und machen gemeinsam viele Forschungsreisen. Weiß der Teufel, wohin wir hätten fliegen müssen, um ihn zu treffen.“

Renatus! Ein Gefühl des Bedauerns breitete sich in Kai aus, als er den Namen des weisen Vampirs hörte. Die Vampirjäger Wieland von Wünschelsgrund und Rufus Wankelmann hatten dessen Bruder Bronchius in ihrer Gewalt und erpressten den armen Renatus.

„Wo ist Renatus eigentlich?“, fragte er.

„Hm, tja.“ Der Vampirvater, Gottfried von Greifendorf, legte die Stirn in Falten. „Keine Ahnung. Er ist wie vom Erdboden verschluckt. Niemand weiß, wo er sich aufhält. In seinem Turm, dem Schiefen Finger, ist er jedenfalls nicht, soviel ist sicher.“

„Wenn es jemanden außer Renatus gibt, der uns etwas darüber sagen kann, wohin Sandra gekommen ist, als sie durch den Spaltspiegel gezogen wurde, dann ist es Torkel“, meinte Opa Gismo zuversichtlich. „Früher hatte er sogar selbst mal einen dieser Spiegel!“

„Hoffentlich hast du recht.“ Kai ließ die Hand in die Tasche seines Umhanges gleiten und holte die Schale mit den Petriwürmern heraus, die Renatus Sandra geschenkt hatte, als sie beim Schiefen Finger gewesen waren. Die kleinen Würmer konnten Botschaften übermitteln. Sie wuselten in ihrer Schale und formten dann ein schwach leuchtendes „Hallo!“

„Wir schaffen das, Kai!“ Seine Oma trat neben ihn und legte den Arm um seine Schulter. „Wir werden Sandra retten. Und dich auch.“

Kai schluckte. Seine Großmutter sprach mit fester Stimme. Sie klang so überzeugt, als gäbe es die Möglichkeit gar nicht, dass ihnen die Zeit davonlief.

„Selbstverständlich werden wir das.“ Kurt nickte. „Schon mein Vetter Snorre, der ein Papageientaucher war, hat immer gesagt: ‚Nichts ist verloren, bis es verloren ist!‘“

„Ach, Kurt!“ Gangolf verdrehte belustigt die Augen.

„Wer hat denn Jettes Nachricht eingesteckt?“, fragte die Vampirmutter, Gesine von Greifendorf.

„Ich glaube, ich habe sie.“ Gutta kramte in ihrer Umhangtasche und zog etwas daraus hervor, das wie Papyrus aussah. Sie faltete den Zettel auseinander und reichte ihn ihrer Mutter, deren Blicke sogleich über das Papier flogen.

„Ah, richtig. Wir müssen zum Friedhof meiner Muhme Mirja.“ Sie sah kurz auf und nickte in die Runde. „Ein nettes Plätzchen haben die sich für diese Messe ausgesucht. Doch, doch. Das muss ich schon sagen.“

Sie reichte den Zettel an Kai weiter. „Muhme?“, fragte er und stockte kurz, als er die Buchstaben auf dem Papyrus sah. Sie schimmerten golden, als ob kleine Lichtpunkte in der Tinte leuchteten.

„Muhme bedeutet Tante“, schnaufte die Vampirin und schüttelte den Kopf. „Hach, wie ist es nur um eure Bildung bestellt!“

„Das ist ja witzig“, krächzte Kurt und hüpfte aufgeregt auf Kais Schulter herum. „Ich hatte auch mal eine Tan... äh, Muhme Mirja!“

„Wirklich?“, fragte die Vampirmutter interessiert.

„Ja, sie war Lehrerin für ausdrucksstarkes Kunstfliegen an der Rabenschule!“

„Ach was!“ Gesine sah den Raben mit großen Augen an.

Opa Gismo lachte. „So so. Nachdem wir das also geklärt haben ... Wollen wir aufbrechen? Die Spaltspiegelmesse hat bereits begonnen. Und bis zu diesem Muhmenfriedhof“ und hier malte er mit den Zeige- und Mittelfingern Anführungszeichen in die Luft, „fliegen wir ein Weilchen.“ Er knöpfte seinen Umhang zu, hob ein kleines Stück vom Boden ab und während er durch die offene Terrassentür nach draußen schwebte, rief er: „Die Nacht ist jung und wir haben noch viel vor. Kommt!“

Als sie auf dem Friedhof landeten, hatte der Wind deutlich nachgelassen. Nur ab und zu fegten noch vereinzelte Böen über das Land und wirbelten ihre Umhänge durcheinander.

„Einen gar herrlichen guten Abend wünsche ich!“ Eine langhaarige Vampirin begrüßte sie mit einem Lächeln, das so breit war, dass die Eckzähne wie kleine Dolche aus ihren Mundwinkeln ragten. „Zur Messe bitte hier entlang!“ Sie deutete mit einer ausgreifenden Handbewegung auf eine Gruft, vor der sich eine große Menge Vampire versammelt hatte.

„Danke sehr“, säuselte die Vampirmutter und sie reihten sich in die Schlange der Wartenden ein.

„Teufel, ist hier aber viel los.“ Die Großmutter spähte an den Vampiren vorbei auf den Friedhof und lachte. „Also Gesine, ich glaube, deine Muhme Mirja wird heute keine ruhige Nacht haben.“

„Mit Sicherheit wird sie das nicht weiter interessieren, Geysira“, sagte die Vampirmutter. „Sie ist eine der wenigen Sterblichen in unserer Familie. Wenn du magst, zeige ich dir nachher ihre Gruft. Nett hat sie es da. Zu schade, dass sie es nicht wirklich würdigen kann, die Arme.“

„Umhänge und Taschen, bitte!“ Eine durchdringende Stimme unterbrach sie barsch. Ein stämmiger Vampir stand vor ihnen und zeigte mit strenger Miene auf eine kleine Holzkiste.

„Bitte?“ Gesine erschrak.

„Um-hän-ge und Tasch-en, bit-te“, wiederholte der Vampir betont genervt und pochte mit dem Zeigefinger auf die Holzkiste.

Gesine von Greifendorf zuckte zurück und zog dann ihren Umhang von den Schultern. „Ach so, ja, natürlich ...“ Sie zischte ihrem Mann zu: „Bei diesem unhöflichen Ton hab ich ja schon gar keine Lust mehr auf die Messe. Ts!“

„Beruhige dich, Liebes“, sagte Gottfried. „Der Mann macht nur seine Arbeit.“

„Ja, ja. Aber wie!“ Sie schüttelte den Kopf und wollte an dem Kontrolleur vorbeigehen. Doch der streckte den Arm aus und versperrte ihr den Weg.

„Amulette? Ringe? Spitze Gegenstände?“

„Nein.“

„Mhm ...“ Er musterte sie scharf. „Führen Sie Waffen oder waffenähnliche Gegenstände mit sich?“

Gesine von Greifendorf stützte die Hände in die Hüften. „Hören Sie, Herr Sicherheitsbeauftagter!“ Das letzte Wort unterstrich sie durch eine besondere Betonung jeder einzelnen Silbe und eine leicht wippende Kopfbewegung. „Wir möchten diese Messe besuchen und sie nicht mit einem Arsenal an Waffen auseinandernehmen!“

Der Vampir streckte ihr sofort den Zeigefinger entgegen. „Nicht in diesem Ton, meine Dame, ja!?“

„Was ist denn da vorne los?“, rief ein Vampir genervt von weiter hinten in der Schlange. „Wieso geht es nicht voran?“

„Es herrscht eine erhöhte Sicherheitslage“, meldete der Wachvampir und schob die Kiste mit dem Umhang in etwas, das wie ein aufrecht stehender Sarg aussah, aus dem sogleich ein hohes Piepsen ertönte. „Da müssen wir schon ein wenig genauer hinsehen, wenn Sie wissen, was ich meine!“

„Eine erhöhte Sicherheitslage?“ Opa Gismo streifte seinen Umhang ab und legte ihn in die nächste freie Holzkiste. „Was ist denn los?“

„Wir haben unsere Gründe, glauben Sie mir“, antwortete der Wachvampir und schob auch die Kiste mit Opa Gismos Umhang in den aufrechten Sarg. „Amulette? Ringe? Spitze Gegenstände? Waffenartige Gebilde?“

„Nein.“

„Eventuell Blutkonserven?“

„Blutkonserven?“

„Flüssigkeiten sind nur wohlportioniert in durchsichtigen Behältnissen mit einem Fassungsvermögen von weniger als einhundert Milliliter gestattet, der Herr!“ Der Wachvampir schob sein Gesicht ganz nah an Opa Gismo heran. „Wobei eine zulässige Gesamtmenge von einem Liter nicht überschritten werden darf!“

„Äh, ... so viel Vorrat trage ich nie bei mir.“ Opa Gismo wich einen Schritt zurück. „Zudem habe ich bereits gefrühstückt.“

„Dann bitte hier entlang!“ Der Wachposten zeigte auf einen Durchgang, an dessen Seiten und Decke Fledermäuse hingen. Als der Vampirvater und die anderen ebenfalls ihre Umhänge in Kisten gelegt hatten, die in dem Sarg verschwanden, bedeutete der Wachvampir auch ihnen, den Steinbogen zu durchschreiten. „Schön einer nach dem anderen, bitte!“

Kai ging als Letzter durch den Bogen. Als er genau darunter stand, hörte er ein helles: „Anhalten, bitte!“ Er stoppte. Die Fledermäuse drehten die Köpfe und richteten die Blicke auf ihn und Kurt. „Ah, ein Mensch“, sagte eine leise Stimme.

„Ja, aber ein seltsamer“, stellte eine andere fest.

„Interessant. Er hat kein Spiegelbild.“

„Hm ...“

„Und der Rabenvogel?“

„Unauffällig.“

Die Nasenflügel der Fledermäuse bebten aufgeregt und piepsende Geräusche drangen aus ihren Kehlen, während sie die Köpfe wild hin- und herbewegten und Kai und seinen Freund von oben bis unten musterten.

„In Ordnung. Bitte weitergehen!“

Schlagartig wandten sich die Tiere von Kai und Kurt ab.

„Das war ja komisch“, krächzte der Rabe, als sie wieder bei den anderen standen.

„Ich war ja erst zwei Mal auf dieser Messe“, sagte Opa Gismo, „und das ist auch schon lange her. Aber so etwas habe ich nicht in Erinnerung.“

„Na ja. Hauptsache, wir sind endlich hier.“ Gesine warf ihren Umhang wieder über und strich ihn glatt.

„Und nun?“ Gerrith sah zu einer Gruft, über der ein Banner mit der Aufschrift „Reflektor – die Zeitschrift für den modernen Spaltspiegelbesitzer“ gespannt war. Einige Vampire im Schottenrock gingen gerade dort hinein.

„Hier muss doch irgendwo ein Informationsstand sein“, murmelte Gutta und duckte sich, als eine Gruppe von Fledermäusen knapp über sie hinweg flatterte. Sie trugen Zettel und kleine Briefumschläge in den Krallen und stoben in alle Richtungen davon. „Aber es ist ja so voll, dass man kaum etwas erkennen kann.“

„Guten Abend, die Herrschaften!“ Eine kleine, rundliche Vampirin lächelte sie freundlich an. „Sie sehen so aus, als wüssten Sie nicht recht wohin.“ Sie lachte ein gackerndes, schrilles Lachen und wackelte mit dem Kopf. „Da komme ich ja wohl gerade richtig, was? Gestatten, mein Name ist Praeguntia, ich bin hier für Auskünfte und Orientierung zuständig.“ Sie zeigte auf ein riesiges, rotes „I“, das auf ihrem schwarzen Kleid leuchtete. „Wie kann ich Ihnen denn helfen, hm?“

Kai biss sich auf die Lippe, um nicht zu lachen. Die Vampirin, die sie mit großen, funkelnden Augen ansah, hatte eine unglaubliche Frisur. Ihr Haar war derart hochtoupiert, dass es wie ein Busch auf dem Kopf saß. Eine dicke Spinne hatte sich dort eingenistet und spazierte gerade seelenruhig über dem Ohr Richtung Scheitel, wo Heerscharen von Fliegen das Haupt der Vampirin umschwirrten.

„Also, ... äh, ... wir sind auf der Suche nach jemandem“, sagte Kai schließlich.

„Natürlich. Und nach wem, bitte?“

„T.

---ENDE DER LESEPROBE---