Kalte Berechnung - Michael Rapp - E-Book

Kalte Berechnung E-Book

Michael Rapp

0,0

Beschreibung

Non plus ultra – bis hier hin und nicht weiter! Als 2048 in der Forschungsstation Serenity Base auf dem Mond unter nicht geklärten Umständen elf Menschen sterben und sechs weitere spurlos verschwinden, erhalten ungewöhnliche Ermittler auf der Erde den Auftrag den Mord aufzuklären. Der geheimnisvolle Fall wirft viele Fragen auf: Die Identität des Auftraggebers ist unbekannt, auf dem Mond wurde wie auf der Erde eine Super-KI zerstört und es existiert ein Überlebender, der ein Geheimnis hütet. Schnell wird klar, dass der Auftrag, der als Wettkampf zwischen den Ermittler begonnen hatte, zu einem Überlebenskampf wird.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 516

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



MICHAEL RAPP

KALTEBERECHNUNG

MORD IM MARE SERENITATIS

© 2021 Polarise

Ein Imprint der dpunkt.verlag GmbH

Wieblinger Weg 17

69123 Heidelberg

www.polarise.de

1. Auflage 2021

Autor: Michael Rapp

Lektorat: Dr. Benjamin Ziech

Copy-Editing: Irina Sehling

Satz: Veronika Schnabel

Illustration Cover: licarto

Druckerei: C.H.Beck, Nördlingen

ISBN (Buch) 978-3-947619-77-1

PDF 978-3-947619-78-8

ePub 978-3-947619-79-5

mobi 978-3-947619-80-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über www.dnb.de abrufbar.

Michael Rapp wurde 1975 in Frankfurt am Main geboren und studierte Soziologie und Sozialpsychologie. Er lebt und arbeitet in Assenheim in der Wetterau. Seit 2007 ist er als Schriftsteller tätig mit Schwerpunkt auf Kurzgeschichten aus den Bereichen Science-Fiction, Fantasy und Krimi. Besonders der Science-Fiction-Literatur, den Welten und Visionen möglicher Zukunft, ist er seit seiner Jugend verbunden. Er hat zahlreiche Geschichten veröffentlicht, zuletzt hauptsächlich im c’t Magazin für Computertechnik. 2019 belegte er den 1. Platz beim Deutschen Kurzkrimi-Preis.

Inhalt

Der Auftrag

Abflug zum Mond

Die erste Prüfung

Entscheidungen

Ein Traum von einem Tatort

Bogart Wheelwright

Wettstreit der Ermittler

Tod und Bedauern

Nussknacker, Puppe und blaue Katze

Lasst es mich durch eure Augen sehen

Entführt

Endspiel

Legat

Der Herr von Vortexton

Epilog

Der Auftrag

17.01.2048, Hotel Elbstrom, Hamburg

Als Markus Wirm sein Zimmer betrat, fand er Boden, Decke, Wände und Möbel von einer dünnen Kunststoffschicht überzogen. Das Material glänzte makellos im Licht der LED-Lampen, und er fühlte es warm und glatt auf dem Lichtschalter. Es hüllte alles ein, ohne Bünde und Überlappungen, als sei er in das Innere einer Seifenblase gelangt.

Die Tür schloss sich hinter ihm und verriegelte automatisch. Plastik quoll aus dem Pressholz des Türblattes. Das durchsichtige Material wuchs, blähte sich, und einen Augenblick später war die Blase vollständig. Panik erfasste Markus. Vergeblich versuchte er, die Tür zu öffnen. Seine Hand rutschte vom Türgriff, und seine Fingernägel schrappten hilflos über den festen Kunststoff. Er schrie, doch seine Stimme zerstob einfach, wurde ausgelöscht, sodass er für einen Moment glaubte, sie würde versagen. Erst als er zum Fenster lief, dabei den Tisch anrempelte und die kleine Porzellanvase sang- und klanglos auf dem folierten Teppich landete, wurde es ihm klar: Gegenschall. Alle Geräusche in der Blase werden durch gegenläufige Schallwellen gleicher Frequenz und Amplitude gelöscht. Er konnte sich selbst kaum schnaufen hören.

»Ich werde nicht aussagen!«, versuchte er zu rufen, doch seine Lippen bewegten sich nur stumm.

Eine Bewegung in dem Sessel ließ ihn herumfahren. Eine sitzende Gestalt wurde sichtbar, sie war von Plastik überzogen wie eine eingeschweißte Actionfigur. Bisher war sie unter einer die Umgebung imitierenden Videooberfläche verborgen gewesen. Der schmächtige Mann hatte kurzes, dunkel gefärbtes Haar, das unter der Folie platt anlag. Er war Mitte fünfzig, versuchte aber, jünger zu wirken. Markus kannte die graugrünen Augen, die vorspringende Nase und das markante Kinn mit dem auffälligen Grübchen, das – was nur eine Hand voll Menschen wussten – Schönheitschirurgie gestaltet hatte. Mit offenem Mund starrte er auf sein Spiegelbild, das ihn kalt durch den Kunststoff anstarrte.

»Was bist du?«, wollte Markus wissen, brachte aber kein verständliches Wort heraus. Ohnehin eine törichte Frage, hauptsächlich der Überraschung geschuldet. Er ahnte schon, verstand, was er da vor sich hatte und welchem Zweck die Kopie diente. »Alexander, ich verspreche dir, ich sage nichts! Ich war immer auf deiner Seite. Bitte, das kannst du nicht bringen. Wir sind … Freunde.« Alles, was Markus von seiner verzweifelten Ansprache an den ehemaligen Geschäftspartner hörte, war ein Hauchen am Rand des Hörbaren. Der Gegenschall schnitt die Worte ab, bevor sie vollends seinen Mund verließen. Umso lauter klangen die Gedanken in seinem Kopf: Ich bin in einer riesigen Mülltüte mit einem Killer gefangen!

Sein Gegenüber grinste.

Hilfe! Markus wich zur Wand zurück und hämmerte mit der Faust dagegen. Er hatte nie Sport getrieben, und im Alltag achtete er darauf, nichts Schwereres zu heben als einen Laptop, trotzdem war er erschüttert, als er nur ein klebriges Tapsen hörte, das von seinem Herzrasen übertönt wurde. Das ist kein normales Plastik, erkannte er. Als sich die Maschine erhob und auf ihn zuging, beschloss er, alles auf eine Karte zu setzen und durch das Fenster zu springen – besser ein Sturz aus dem dritten Stock, als bei seinem Mörder zu bleiben. Seine 68 Kilo sollten reichen, um das Glas zu durchbrechen. Er machte zwei Schritte zurück und warf sich dann mit der Schulter gegen die Folie, die sich aufblähte wie ein Airbag und ihn zurückwarf. Er glitt aus und landete auf dem Bauch. Eine Hand packte ihn am Haarschopf. Markus strampelte, seine Sohlen wischten über den Kunststoff, und eine Nadel bohrte sich in seinen Nacken. Er fühlte sich benommen, seine Kraft floss aus ihm heraus, und seine Bewegungen erlahmten.

All das war in nahezu perfekter Stille geschehen, die plötzlich von einer festen Stimme durchbrochen wurde:

»Herr Nero Latvica, oder soll ich Sie Erlkönig nennen? Ich konnte den Datenstrom Ihres ferngesteuerten Mordgerätes bis nach Nordmazedonien zurückverfolgen. Die Polizei in Skopje ist verständigt und dabei, Ihr Versteck zu umstellen.«

Der Angreifer war erstarrt. Markus rann der Speichel aus dem Mundwinkel, nur seine Augen wollten sich noch bewegen. Er konnte gerade hoch genug schauen, um den Kopf der zweiten Maschine zu betrachten, die ihre Tarndecke abgestreift hatte und sie nun über dem linken Arm trug: eine humanoide PI, deren Modell nicht zu bestimmen war, denn sie trug keine äußere Verkleidung. Markus sah Teile des Metallskeletts, an dem graublaue Kunstmuskelbündel befestigt waren. Auf dem blanken Metallschädel der Maschine saß eine gelbe Baseballkappe mit der Aufschrift Sunflower Coffee. Sie lächelte schaurig.

»Clever, das muss ich zugeben. Sie versenden Ihre Daten über Verkehrsleitsysteme und kommunizierende Kraftfahrzeuge großer Logistikflotten. So wird der Informationsstrom effektiv verschleiert und an den Sicherheits-KIs der Behörden vorbeigeleitet. Und all diese Vorbereitungen …« Die PI tätschelte mit ihrer Linken den Kunststoff der Wand. »Ihren eigenen mobilen Tatort zu installieren, hat etwas Geniales. So haben Sie fast vollkommene Kontrolle über die Spuren.«

»Wer bist du?«, fragte Markus’ Spiegelbild düster.

»Ich bin Die Antwort.«

Ein überraschtes Zucken. »Die Antwort ist ein Darknet-Mythos!«

Die nackte Maschine fasste an den Schirm ihrer Mütze. »Danke für die Blumen, Erlkönig. Da sind wir nun, zwei Legenden, die aufeinandertreffen.«

Der Angreifer packte fester zu und zog Markus’ Kopf nach oben. »Verschwinde!«

»Können Sie sie hören?«, fragte Die Antwort gelassen. »Polizei-Drohnen, die wie diebische Äffchen über Ihren Flur huschen und sich vor der Tür Ihres Arbeitszimmers sammeln. Das Kratzen, das Sie hören, wenn Sie Ihre Kopfhörer anheben, das sind keine Mäuse, es sind die Bewegungen der eng beisammenstehenden Einsatzmaschinen. Und das leise Klicken sind die Sicherungen ihrer Elektroschock-Pistolen.«

»Ich höre sie jetzt«, sagte der Erlkönig. »Aber warum habe ich sie nicht kommen sehen? Warum hat mein Sicherheitssystem versagt? Warst du das?«

Die Antwort fasste wieder an den Schirm ihrer Kappe. »Schuldig.«

»Warum mischst du dich ein?«

»Es war eine lohnende Aufgabe.«

Der Auftragsmörder knurrte ungehalten. »Er hat gesagt, dass so was passieren würde. Aber er wollte nicht sagen, wann.«

»Von wem sprechen Sie?«, fragte Die Antwort interessiert und kam einen Schritt näher.

»Es kam über das Netz, ohne IP, ohne Namen. Ich soll demjenigen, der mich hereinlegt, etwas ausrichten: Serenity Base, 28. Januar.«

»Serenity Base, tatsächlich?«

»Falls du unser Zusammentreffen überlebst, sollst du pünktlich sein. Es würde sich auf jeden Fall lohnen … Verdammt! Er sagte auch, du würdest kein Ticket für den Clipper brauchen. Er muss also gewusst haben, dass du es sein würdest. Ich soll dir ausrichten: Der Preis, der dich im Erfolgsfall erwartet, ist das, was du dir am meisten wünschst.«

»Niemand kann mir das geben.«

»Er sagte, er könne es tun. Er sagte, ich soll sagen, er könne deine Fee sein. Wie albern.«

»Das ist tatsächlich ziemlich albern … aber auch aufschlussreich. Ich werde dort sein.«

»Falls du überlebst.«

Plötzlich ging alles sehr schnell. Die Killermaschine riss Markus’ Kopf hoch und schlang den Arm um seinen Hals. Ihre offene Hand zielte auf Die Antwort. Die Kunsthaut explodierte; Schüsse ploppten aus der im Arm verborgenen Automatikwaffe. Die Anti-Robot-Geschosse sprengten faustgroße Löcher in die Wand. Die Antwort rollte sich nach rechts, die Tarndecke flog zur Seite und ihr Unterarm verwandelte sich. Knapp hinter dem Ellenbogen war der ursprüngliche Arm mit großer Kraft verdreht und abgerissen worden. Das, was jetzt den Unterarm und die Hand bildete, war eine schwirrende Masse, ein leuchtender Schwarm käferartiger Recycling-Effekte mit kräftigen Beißwerkzeugen zur Wertstoffzerkleinerung, der sich auf die Maschine des Erlkönigs stürzte.

Die Maschine schlug um sich und ließ Markus los, der schwer zu Boden fiel. Dann stürzte sie auf ihn und drückte ihn mit ihrem Gewicht auf den Kunststoff. Seltsamerweise roch sie sogar nach Schweiß. Am Rand seines Sichtfeldes sah er einen der Metallkäfer aus der Kunsthaut des Gesichtes auftauchen, seine Mandibeln schnappten wie eine Blechschere. Panisch versuchte Markus, sich zu bewegen. Er hatte das Gefühl zu ersticken, und obwohl er innerlich schrie, brachte er nur eine Art Wimmern und Quietschen hervor. Die leblose Killermaschine wurde angehoben und zur Seite gerollt. Die Antwort drehte Markus auf den Rücken. Er blickte in den Schädel seines Retters, in die blauen Augen, auf die freiliegenden weißen Zähne und sog Luft in die Lunge.

»Hi nir!«, stieß er mit lahmer Zunge hervor, was Hilf mir heißen sollte.

Da sein Gegenüber kein Gesicht hatte, konnte er das folgende Schweigen nicht deuten. Schließlich sprach Die Antwort:

»Herr Wirm, ich war schon lange hinter dem Erlkönig her. Ich wusste zwar, dass einer der Drogen produzierenden Geschäftspartner Ihres Partners ihn damit beauftragt hatte, unliebsame Ermittler und Konkurrenten zu ermorden. Doch die Sicherheitsmaßnahmen in seiner Organisation sind sehr streng, mein Erfolg war fraglich …«

Einige der Käfer krabbelten über Markus’ Hüfte und seinen Bauch, er fühlte, wie sie ihre Flügel ausbreiteten und abhoben.

»Ich war mir sicher«, fuhr Die Antwort fort, »würde Ihr Boss einen Killer benötigen, um einen Zeugen und vermeintlichen Spitzel auszuschalten, müsste er seinen Bekannten um Hilfe bitten, und ich bekäme meine Chance. Ich wollte fischen und brauchte einen schleimigen Wirm als Köder.«

Du warst das? Du hast seine Mails an meinen Com geschickt? Du hast es aussehen lassen, als würde ich ihn ausspionieren! Markus sabberte wütend.

»Betrachten Sie Ihr unfreiwilliges Mitwirken an Erlkönigs Verhaftung als Buße für Ihre Verbrechen.« Die Antwort warf sich die Tarndecke über und verschwand hinter dem falschen Umgebungsbild. Die letzten Käfer schlüpften in die Täuschung, dann erklangen sich Richtung Tür entfernende Schritte.

»Eine Verabredung mit jemandem, der den Erlkönig vor mir aufspüren konnte. Wie aufregend.«

18.01.2048, Texas

Fliegen bot den Rausch, mit doppelter Schallgeschwindigkeit über die Prärie zu rasen. Das Gefühl, den hochmodernen Wasp-Waffenträger zu kontrollieren, unter dessen Deltaflügeln vier Coyote-II-Raketen hingen. Lenkwaffen, die ein Terroristencamp innerhalb von Sekunden in eine expandierende Wolke aus Feuer, Trümmern und Leichenteilen verwandeln konnten. Walther T. Easons Drohne war schon auf drei Kontinenten im Einsatz gewesen, er hatte sie über Steppen, Wüsten und Dschungel gelenkt. Walther selbst hatte es allerdings nie weiter als bis nach Veracruz, Mexiko geschafft.

Schlürfen aus der Nebenbox. Benjamin »Benny« Parker hatte sein Mikrofon zur Seite gebogen und saugte an seiner Pepsi. Zu Beginn des Lehrgangs bei Waving Flag Incorporated war Benny noch spindeldürr und drahtig gewesen. Ein Ex-Soldat, auf inspirierende Weise erfüllt von patriotischem Eifer. Zweieinhalb Dienstjahre, eine Heirat und drei bezaubernde Kinder später spannte seine Dienstkleidung über einem Waschbärbauch und nicht mehr die Flagge, sondern College-Football-Spiele, Barbecue-Wettbewerbe und das Feierabendbier bei Janes’ ließen seine Augen leuchten.

»Wir bauen einen Pool«, unterbrach Walther das nervige Schlürfen.

»Meine Tam will auch einen für die Kinder, aber mehr als so ein Stahlgerippe-Aufstellteil könnten wir uns nicht leisten. Was bekommt ihr?«

»So ein Aufstellteil … Aber ist doch egal. Wasser ist nun mal teuer.«

»Ahh!« Der Kampfdrohnenpilot holte ein belegtes Baguette hervor, wer weiß, woher. »Erstklassiges Beef, Ei, extra Majo und geröstete Zwiebeln – was sagt uns das?«

»Dass Tam es nicht erwarten kann, dass du einen Herzinfarkt bekommst«, scherzte Walther.

»Das heißt, dass sie mich liebt und mir alles gönnt.« Benny öffnete den Zip-Verschluss des Frischhaltebeutels.

Walther warf einen ungläubigen Blick auf seinen Kollegen, der fröhlich sein Baguette auspackte, aus dem Mayonnaise hervorquoll wie Wasser aus einem artesischen Brunnen. »Das willst du jetzt nicht wirklich essen?«

Benny zuckte mit den Schultern. »Ist doch nur eine Routinepatrouille.«

»Wenn unser Supervisor dich beim Brunchen erwischt, bist du erledigt. Das ist dir hoffentlich klar?«

»Frank hat sich krankgemeldet. Wir supervisen uns heute selbst.« Er biss von dem Baguette ab und verdrehte selig die Augen.

»Tu wenigstens so, als wärst du ein richtiger Pilot!«

»Wir sind keine richtigen Piloten.« Benny schmatzte, schluckte. »Die Wasps machen alles selbstständig. Klar, wir könnten sie ein bisschen nach rechts und links bewegen, und sie tun dann so, als hätten wir die Kontrolle. Aber versuch mal, richtig vom Kurs abzuweichen oder die Waffen zu aktivieren.«

»Klar, wenn ich verrückt wäre!«

Mit feistem Grinsen lehnte sich Benny vor und drückte mit dem Ellenbogen gegen seinen Flightstick. »Oh oh, verdammt, sie schmiert ab, sie schmiert ab! Nein, doch nicht. Sie bleibt auf Kurs, weil die künstliche Intelligenz sie steuert und mir den virtuellen Finger zeigt. Tja, dann kann ich auch essen …« Ein weiteres Stück Herzinfarkt-Baguette verschwand zwischen seinen Zähnen.

»Ich sollte dich melden!« Walthers Hand umklammerte den Flightstick. »Die werden uns noch feuern! Und wer bezahlt dann den verdammten Pool?«

»Die feuern uns nicht. Schließlich sind wir die moralische Alibi-Instanz. Die Wasps sind Killerroboter, und weil Killerroboter nun mal verboten sind, laut UN-Dingsbums-Vertrag, sitzen wir hier und tun für Waving Flag bzw. die Army so, als würden wir sie steuern.« Er hustete. »Auch wenn die in Wahrheit alles machen, was CENTCOM ihnen vorgibt …«

Ein trockenes Klacken, bei dem Walther das Blut in den Adern gefror, unterbrach Bennys Rede. An Walthers Waffenkonsole senkten sich Knöpfe, Wahlschalter wählten, Kippschalter kippten, und es leuchtete überall grün. Mit einem tickernden Signalton loggten sich die Raketen auf ein Ziel ein, was durch ein unternehmungslustiges PING bestätigt wurde.

»Was zum Teufel?« Ungläubig starrte Walther auf das Holobild. Ein Ruck ging hindurch, als alle Coyotes abgefeuert wurden und auf vierfache Schallgeschwindigkeit beschleunigten.

»Was machst du?« Bennys Stimme drohte sich zu überschlagen.

»Ich mach gar nichts! Das ist der Roboter! Abbruch! Oscar, Uniform, Tango!« Er zerrte an dem nutzlosen Flightstick. Seine Eingaben wurden ignoriert. »Oscar, Uniform, Tango!«

»Abbruch!« Benny ließ sein Baguette fallen, warf sich auf die niedrige Trennwand, rüttelte mit mayonnaiseverschmierten Fingern am Waffenkontrollschalter und drehte den Schalter für die Zielverfolgung auf Aus. Doch das Licht leuchtete weiter.

»Abbruch!«, riefen beide im Chor, aber es half nichts. Die Coyote-Raketen rasten, helle Kondensstreifen hinter sich herziehend, auf die Skyline von Austin zu.

Das ist nicht fair, dachte Walther. Absolut nicht fair.

»Das ist nicht fair!« Amanda B. Chershi schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch, vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben. Es war ein gebremster Schlag, ausgeführt von einer zierlichen Hand, die zum Zusammensetzen empfindlicher PI-Kerne, aber nicht für grobe handwerkliche Arbeit taugte. Daher gab es nur ein Geräusch, als würde jemand eine Kaffeetasse zu hart abstellen.

Ms. Gina Noone-Bar blickte von ihrem Holoschirm auf und warf einen misstrauischen Blick durch den Eingang von Direktor Snyders Büro, der, wie es die Statuten gegen sexuelle Belästigung forderten, weit offen stand, obwohl der Raum ohnehin ein videoüberwachter Glaskasten war und weniger Privatsphäre bot als ein Terrarium im Zoo. Julian Snyder konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie die neugierige Krähe die Ohren spitzte. Er versuchte, seiner Stimme einen ruhigen, geschäftsmäßigen Klang zu geben:

»Ich habe entschieden: Wir schalten AIUDs Gedankenprozesse ab und beginnen ganz von vorn. Der ZAA – das ist hart, ich weiß.« Er lehnte sich in seinem cremefarbenen Sessel zurück und blickte in die wässrig glänzenden Augen seiner jungen Chefentwicklerin, die hinter der Datenbrille noch größer wirkten. Amanda Chershi war dreiundzwanzig Jahre alt, aber manch ein Kollege nannte sie immer noch das Wunderkind. Sie hatte ein schmales Stubenhockergesicht, eine Stupsnase und kastanienbraunes Haar, welches sie immer zu einem herausfordernd langweiligen Linksscheitel frisierte, obwohl sie wissen musste, dass über den Tag immer wieder Strähnen nach rechts entkommen würden. Er kannte Amanda seit sechs Jahren und mochte sie, obwohl der Umgang mit ihr nicht immer leicht war. Er schätzte ihre Intelligenz und naive Bescheidenheit, die es ihm ermöglichten, durch ihre Arbeit zu glänzen. Im Gegenzug erfüllte er gern ihre bescheidenen Wünsche und nahm Lasten von ihren Schultern. Wenn er die Dankbarkeit in ihren Augen sah, fühlte er sich gut. Aber diesmal konnte er nicht nachgeben. Du verstehst nicht, wie dünn das Seil ist, an dem alles hängt, dachte er und erklärte: »Ich muss tun, was das Beste für das Projekt ist. Punkt.«

»Welcher Punkt? Sag nicht Punkt! Wie kann das das Beste für uns sein?« Die Feuchte begann in ihren Augenwinkeln zu Tränen zu kondensieren. Sie nahm ihre Brille ab und wischte den Glanz wütend mit dem Ärmel ihres Laboranzuges weg. »Du riechst nach Seetang, er ist überall auf dir – das bedeutet Angst. Wovor hast du Angst?«

Erwischt, dachte er. War ja klar.

Sie war Synästhetin mit starker empathischer Gabe. Fremde Gefühle nahm sie besonders intensiv wahr, auch in Form von Düften und manchmal als bildliche Vorstellung.

Die Krähe kritzelte eilig mit dem Finger auf ihrem Tablet herum, dabei erhob sie sich.

Amanda zog ein Desinfektionstüchlein aus der Tasche und rieb damit entschlossen über ihren Ärmel. Ein Tick, den Julian rührend fand.

»AIUD ist keine Workstation, die man einfach runter- und wieder hochfahren kann.« Sie beugte sich über seinen Schreibtisch und sagte eindringlich: »AIUD ist lebendig, ein fühlendes, sich seiner selbst bewusstes Wesen. Julian, du darfst ihn nicht ermorden, nur weil du dich fürchtest. Er ist noch kein halbes Jahr alt und hat schon so viel für uns getan. Das wäre falsch und dumm, und ich habe dich nie für dumm gehalten.« Sie warf das Tüchlein vor ihn auf den Tisch wie einen Fehdehandschuh.

»Amanda!« Er drehte den Kopf zur Seite, hielt zum ersten Mal ihrem Blick nicht stand. Was sollte er antworten? Dass sie recht hatte? Dass all die Sicherheitsmaßnahmen, die sie ergriffen hatten, ihm plötzlich nicht mehr ausreichten? Ihm lächerlich erschienen wie das sprichwörtliche Pfeifen im Walde, obwohl es nicht mal den Versuch eines Sicherheitsverstoßes gegeben hatte? Amanda war auf ihrem Gebiet ein Genie, daran konnte es keinen Zweifel geben. Aber wie so oft bei Genies gab es auch Bereiche des Lebens, die ihr verschlossen blieben, wie die gesunde Furcht vor dem Unbekannten. Selbst wenn er seine Bedenken begründen könnte, würde sie es verstehen? Wohl nicht.

Die Krähe hatte eine Lauschposition neben der Tür eingenommen, das Gerät mit der Alibinotiz fest zwischen den Klauen.

»Das ist mein Baby, Julian!« Eine Träne lief über Amandas Wange. »Ich lasse nicht zu, dass du ihn umbringst.«

Der Krähe klappte die Kinnlade herunter.

»Das ist mein Projekt! Ich bin hier verantwortlich!« Julian hatte sich erhoben und stützte sich schwer auf den Schreibtisch. Sein Blick streifte die in Silber gerahmten Bilder seiner Frau und ihrer beiden Töchter, die ihm prompt zuwinkten. Er atmete tief aus. »Wenn du dich beruhigst, erkläre ich dir, wie es weitergeht.«

Sie rieb sich über die Augen. »Du willst mich doch nur einlullen, bis es zu spät ist! Wenn nötig, gehe ich direkt zu Wheelwright!« Sie erhob sich und zog den Reißverschluss ihres Laboranzugs hoch.

»Bitte …«

Diesmal ließ sie ihn nicht ausreden.

»Mal hören, was er dazu sagt! Ich glaube nicht, dass er bereit ist, sein Projekt zu verzögern.«

Schon huschte sie an der Krähe vorbei in das Großraumbüro, das ein Vierteloval der sechsundvierzigsten Etage des Wheel-Gebäudes einnahm. Gute vierhundert Quadratmeter, beherrscht von Arbeitsinseln und Mietpflanzen. Julian sah ihr nach, wie sie mit dem Blick am Boden, um möglichst keine fremden Gefühle zu erfassen, durch den Dschungel auf die Fahrstühle zusteuerte. So wütend, wie sie war, würde sie ihre Drohung auch umsetzen.

Besser, ich rufe Wheelwright zuerst an und überzeuge ihn von einem Neustart, überlegte er. Dann wandte er sich mit strahlendem Lächeln an die Krähe: »Und wie kann ich Ihnen helfen?«

Bevor sie antworten konnte, wurde das Gebäude von einem furchtbaren Schlag getroffen. Der Boden unter Julians Füßen hob sich, die Sicherheitsscheiben rissen, und das ganze Stockwerk neigte sich. Pflanzen, Möbel, Computer und Menschen kamen in Bewegung, alles rutschte ab und stürzte auf den selbst auch fallenden Direktor zu. Julian verstand zwar nicht, was geschehen war, erfasste die Situation aber nüchtern und zog einen klaren Schluss: Das war’s also.

Die zweite und die dritte Explosion ereigneten sich direkt im zentralen Stahlbetonturm. Sie rissen das Rückgrat des Gebäudes in Stücke, zerrieben die Etagen fünf bis acht zwischen sich wie Hammer und Amboss und verteilten die Reste des Bauwerks über eine Fläche von einem Quadratkilometer. Als es vorbei zu sein schien und die Menschen auf dem Wheel-Platz und in den umliegenden Straßen ihre Gesichter hoben und ungläubig auf den in Staub gehüllten Trümmerberg starrten, wo eben noch ein zweihundertfünfzig Meter hohes Gebäude gestanden hatte, fiel ein Komet im 90-Grad-Winkel vom Himmel und bohrte sich mit vielfacher Schallgeschwindigkeit in die gesicherten Untergeschosse des KI-Labors. Als hätte die Waffe nur darauf gewartet, dass all die im Weg stehenden Etagen abgeräumt worden waren. Die Explosion zerriss die Super-KI AIUD, drückte den U-Bahn-Tunnel und eine Tiefgarage ein, ließ die Hauptwasserleitung und einige Gasleitungen platzen und kappte die Glasfaserverbindung des gesamten Geschäftsviertels.

Zweihundertsiebenundachtzig Menschen und die künstliche Intelligenz AIUD starben bei dem Anschlag. Acht der Opfer blieben verschollen, die meisten waren Techniker, die im Tiefgeschoss über AIUD gearbeitet hatten. Julian Snyder blieb ihr Schicksal erspart. Seine Leiche wurde geborgen – jedenfalls sein Kopf, Teile des Oberkörpers und der rechte Arm. Sie wurden am 14.02.2048 neben dem Grab seines Großvaters beigesetzt. Mit in seinem Sarg lag auch ein falsch zugeordnetes Bein, das einmal Ms. Noone-Bar, der Krähe, gehört hatte.

23.01.2048, Austin, Texas

Amanda lag in ihrem Krankenhausbett, die Datenbrille auf der Nase, und sah sich wieder und wieder die Aufzeichnungen des Zusammenbruchs an. In der Zeitlupe war deutlich zu erkennen, dass die Lenkwaffen die äußere Glashülle durchschlagen hatten und erst im Gebäudekern explodiert waren. Es regnete Feuer und Trümmer, ein Inferno, hundertfacher Tod. »Wieso?«, murmelte sie. »Wieso habe ich überlebt?«

Sie war zwei Tage nach dem Angriff im East Park Hospital erwacht, als eine von nur drei Überlebenden des Wheel-Anschlags. Die Hälfte der Haut auf ihrem Rücken war verbrannt, Elle und Speiche ihres linken Arms gebrochen. Ebenso beide Beine, mehrere Rippen und ihr Kiefer. Die PIs hatten alles wieder zusammengeklebt. Spezialzellen beschleunigten das Anwachsen der transplantierten Haut, die sich farblich aber noch eine Weile abheben würde. Außerdem juckte es penetrant auf ihrem Rücken. Laut der Ärzte ein gutes Zeichen. Die Brandverletzungen waren beträchtlich gewesen, sodass sich der leitende Chirurg während der Notoperation für eine großflächige Versorgung entschieden hatte. Gut zurecht kam sie mit ihrer neuen Lunge, einem gezüchteten Universaltransplantationsorgan, und der Prothese, die ihr rechtes Auge ersetzte. Das Einzige, was die Ärzte nicht wiederherstellen, ihr nicht zurückgeben konnten, war die Erinnerung daran, wie sie aus dem explodierenden Turm acht Stockwerke tiefer in das Nebengebäude der Unispro-Versicherung gekommen war. Außer ihr hatten nur eine Rezeptionistin und ein Servicetechniker überlebt, deren Fahrstuhlkabine wie durch ein Wunder unter den Trümmern nicht vollständig zerquetscht worden war. Beide lagen noch im künstlichen Koma.

Amanda startete die Wiedergabe des nächsten Videos und verschlang es Bild für Bild. Es gab einhundertneununddreißig öffentlich zugängliche Aufnahmen von Sicherheitskameras, Service-PIs, Fahrzeugen und Touristen. Das Gebäude war zum Zeitpunkt des Angriffs von allen Seiten und sogar aus der Luft von Lieferdrohnen aufgenommen worden. Auf der Suche nach Antworten spielte Amanda täglich jedes einzelne Video ab und dann alles von vorn. Doch keine der Aufzeichnungen gab ihr die gesuchte Antwort; keine zeigte ihrem überreizten Geist einen logischen Weg, der in den Sekunden zwischen dem ersten Einschlag und den folgenden Explosionen vom Fahrstuhl des abkippenden Büroraumes durch das Büro, vorbei an ihren panischen Kollegen, auf den Flur des Nebengebäudes führte, wo man sie gefunden hatte. Stattdessen spielte ihre Synästhesie vollkommen verrückt. Schon immer hatte sie menschliche und tierische Emotionen als Gerüche bestimmter Gegenstände, Pflanzen und Speisen wahrgenommen, doch jetzt hatte sich diese Gabe auch auf Objekte in den Überwachungsvideos ausgeweitet. In diesen Aufzeichnungen schienen auch Dinge Gefühle zu besitzen. Technische Geräte bekamen den scharfen Zitronenduft einer Lüge, ließen die Tulpen von Selbstbewusstsein und Entschlossenheit blühen und kleideten sich in den schwitzigen Kamillenduft der Hilfsbereitschaft, was sie noch weiter verwirrte und ihr das Gefühl gab, wahnsinnig zu werden.

Es war der vierundzwanzigste Januar, ihr sechster Tag im Krankenhaus, der Tag, an dem sie ihre erste Reha-Stunde und eine Sitzung mit der Krankenhaustherapeutin absolviert hatte, als sie mitten in der Nacht von einem Geräusch hochschreckte. Blinzelnd zog sie die in Dauerschleife laufende Brille beiseite und versteckte sie unter dem Kopfkissen. Dabei bemerkte sie einen Schatten neben ihrem Bett und roch Kamillenblüten. Sie dachte an eine der Schwestern, die ab und zu nach dem Rechten sahen und für den menschlichen Kontakt zu den Patienten sorgten – dazu hätte auch die beruhigende Kamille gepasst.

»Entschuldigung, ich habe die Brille vergessen …«, murmelte sie, aber da war niemand. Vor ihr auf der Bettdecke lag eine Speicherkarte. Ein solides USD-Modul, wie es bei Service-PIs als Backup-Speicher und Blackbox eingesetzt wurde. »Licht«, befahl sie, und die LEDs an der Decke fluteten alles mit kalter Helligkeit. Eilig schlug sie die Bettdecke zur Seite, schwang die schmerzenden Beine über die Bettkante und setzte sich steif auf. Erst in diesem Moment dachte sie an die parallele Intelligenz in der Zimmerecke, ein Kuro-Sansei-Pflegeroboter, der vermutlich vor einigen Jahren noch in der Notaufnahme oder einem OP eingesetzt worden war, jetzt, da neue Modelle eingeführt waren, aber nur noch für die Krankenüberwachung in Einzelzimmern taugte.

Sie wandte sich an die PI. Kaum hatte sie den Blick auf sie gerichtet, nahm sie ihre Präsenz auf: Zitronenduft, so intensiv, dass er sie dazu brachte, sich eine Zitrone vorzustellen. Sie zögerte verwirrt. Das war das erste Mal, dass ihre Synästhesie auf eine Maschine reagierte, die mit ihr in einem Raum war. Und überhaupt: Zitronen, das waren Lügen, und PIs logen nicht.

Entwickle ich einen Verfolgungswahn? Sie sah auf den Speicher, und der war eindeutig Realität.

»Wer war bei mir im Zimmer?«

»Ihre Physiotherapeutin Dr. Patell war gestern Abend …«

»Nein, vor zwei Minuten.«

»Niemand.«

»Woher kommt dann dieser Speicher?« Sie hielt das Modul hoch.

»Er lag auf Ihrem Bett«, erwiderte die PI trocken und kam ihr jetzt wirklich vor wie ein abgebrühter Krankenpfleger, der die Wehwehchen seiner Patienten nicht mehr ganz ernst nahm. Das und die Zitrone machten sie wütend.

»Seit wann?«

»Das weiß ich nicht. Spielt das eine Rolle?«

Sie wandte den Blick ab und wischte sich über die Augen, um den Gestank loszuwerden. »Hilf mir, ich will zum Tisch!«

»Sie brauchen Ruhe«, widersprach die Maschine, trat aber näher und stützte Amanda, als sie aufstand und steif zum Tisch ging. Sie hätte losheulen können, so weh tat jeder Schritt.

»Auf den Stuhl!«, befahl sie dem Sansei und klammerte sich an seiner gummibeschichteten Schulter fest, während er den Stuhl in Position zog.

Als sie saß, klappte sie ihre Workstation auf, die ihr Bruder Ben ihr mitgebracht hatte. Nachdem sie das Modul von allen Seiten betrachtet und sich überzeugt hatte, dass es keine Düfte erzeugte, schob sie es in das Lesegerät. Der Speicher enthielt nur eine Datei, die 3D-Videoaufzeichnung einer PI, versehen mit Koordinaten und Zeitstempel, passend zum Terrorangriff.

»Kann ich noch etwas …«, begann der Sansei.

»Verschwinde!«, blaffte Amanda ihn an. Sie verstand selbst nicht, warum sie so wütend auf ihn war. Sie hatte PIs immer gemocht, mehr noch als Menschen. In ihrer Kindheit hatte es Zeiten gegeben, da hatte sie sich gewünscht, selbst eine parallele Intelligenz zu sein und alles nur so zu erleben, wie es war, statt von ihrem Gehirn betrogen zu werden.

Schweigend zog sich die PI in ihre Ecke zurück. Amanda setzte ihre Brille auf, lud die Datei und sah im Startbild … sich selbst. Der Duft feuchten Laubes stieg ihr in die Nase. Ich habe bedauert, dass Julian mich dazu gezwungen hat. Ihr altes Ich sah mit Tränen in den Augen und doch kämpferisch an der aufzeichnenden PI vorbei. Hinter ihr, vier Arbeitsinseln entfernt, stand ihr Boss hinter seinem Schreibtisch und sah seine Assistentin Gina an. Laub und Erde. Er roch ebenso unglücklich wie sie. Ich habe ihn angeschrien. Das Letzte, was ich zu ihm sagte, war eine Drohung.

Amanda schniefte und versuchte, in ihre Tasche zu greifen, um ein Tüchlein hervorzuholen, aber es gab keine Tasche an ihrem Kittel. Und die Desinfektionstücher waren ihr von einer Krankenschwester weggenommen worden. Sie beruhigte sich und startete die Wiedergabe. Links neben der PI gingen zwei identische Modelle (beides Zitronen), die plötzlich beschleunigten und Amanda packten. Sie kämpfte gegen die Gerüche an, wollte alles mit klarem Verstand sehen – eine der PIs lud sie sich auf die Schulter, als sei sie so leicht wie eine Puppe. Mit unerhörtem Tempo rannten die PIs mit ihr an Arbeitsinseln und überrascht aufblickenden Kollegen vorbei auf die Fensterfront zu. Sie strampelte und wand sich im Griff der Parallelen. Eine der PIs hatte einen Feuerlöscher dabei und zerschlug die Scheibe. Geruchswellen voller Seetang schlugen über ihr zusammen, als ein mörderischer Schlag das Gebäude erschütterte. Ihr altes Ich schrie, doch das Krachen und Bersten übertönte fast alles. Warum nur? Eine Sekunde später sprang ihr Träger mit ihr nach draußen, dabei drehte er sich. Der Himmel rauschte durch das Bild, er war voller Scherben und springender PIs. Die obersten achtzehn Stockwerke des Wheel Towers brachen zusammen – das Gebäude war vom ersten Einschlag enthauptet worden. Kreischend stürzte Amanda Richtung Fensterfront der Unispro-Versicherung.

Warum ich? Warum wollen all diese PIs mich retten? Siebenunddreißig Personen waren in diesem Büro, viele verheiratet und mit kleinen Kindern …

Die parallele Intelligenz mit dem Feuerlöscher schleuderte das Gerät durch eine Scheibe des Nebengebäudes. Eine weitere PI bekam den Fensterrahmen zu fassen, hielt sich trotz des auf sie abgehenden Glasgewitters fest und angelte mit der freien Hand nach Amanda. Sie wurde von ihrem Beschützer hochgeworfen wie von einer Sprungfeder abgeschossen.

Amanda stoppte die Wiedergabe und fasste sich an ihren linken Arm, an das schienende Fasergerüst und dann an ihre Seite. Da ist es passiert. Sie startete das Video erneut:

Ihr Beschützer stürzte ab und breitete dabei die Arme aus. Erschrocken blinzelte Amanda. Was ist das für ein Gestank? Tausend Gefühle schienen zugleich um Aufmerksamkeit zu buhlen. Ein weiterer Einschlag, Feuerschein spiegelte sich in den Roboteraugen. Eine andere PI stieß sie weiter nach oben, und der sich am Fenster festklammernde Helfer bekam Amanda zu fassen und schleuderte sie in das Büro der Versicherung. Feuer brandete in die Etage, und zwei Stockwerke tiefer brach die aufzeichnende PI durch die Scheibe. Die Parallele rappelte sich auf und rannte durch das leere Büro in das Treppenhaus und die Treppe hoch. Sie fand Amanda bewusstlos und blutend hinter einem umgestürzten Schreibtisch. Ihr Beschützer nahm sie auf und trug sie aus dem Büro, ringsum krachte und prasselte es, Deckenplatten stürzten auf die unbesetzten Arbeitsplätze. Hinter einer Schutztür legte er sie vorsichtig ab, beugte sich über sie und nahm ihren Kopf zwischen seine Hände. »Das ist mein Geschenk an dich«, sagte er. »Es wird dir helfen, klarer zu sehen.«

Plötzlich stoppte die Aufzeichnung. Wahrheit gegen Wahrheit stand unten am Bildrand in roten Arial-Lettern. Das Bild änderte sich, ein Gebäude war zu sehen, ein weites Betonfeld und ein großes blau-weißes Fluggerät, geformt wie ein schmaler Rochen. Die Sonne schien darauf, und ein neuer Text erschien: Wenn Sie sich Ihre Antworten verdienen wollen, kommen Sie am 28.01. nach Serenity Base. Ihr elektronisches Ticket hat den Code 37AC7O539. Unwillkürlich atmete Amanda die angehaltene Luft aus und riss sich die Brille vom Kopf.

»Wer hat den Speicher gebracht?«, fuhr sie den Sansei an.

»Niemand, er lag auf Ihrem Bett.«

»Lügner!« Sie sprang auf, ihre verletzten Beine drohten wegzuknicken. Mit zusammengebissenen Zähnen stakste sie zum Schrank, riss die weiße Lamellentür auf und begann, in der Tasche zu wühlen, die Ben für sie in ihrer Wohnung gepackt hatte. Schnell fand sie, was sie suchte. Du kennst mich, Bruder. Sie nahm den kleinen Werkzeugbeutel heraus, zog den Reißverschluss zurück und löste die Lux-Werther-Sonde aus ihrer Klammer. Das Gerät sah aus wie ein silberner Stift mit roten, blauen und gelben OLED-Ringen im oberen Teil. Sie drehte den Regler, worauf die Ringe nacheinander aufleuchteten.

»Komm her!«, befahl Amanda dem Kuro, der ihr einen misstrauischen Blick zuwarf, den Befehl aber doch befolgte.

»Was haben Sie vor? Sie sind nicht befugt …«

Die Lichter der Sonde pulsierten in allen Farben des Regenbogens, die Codes darin lösten ein Sicherheitsprogramm aus und trennten den PI-Kern vom Roboter-Körper. Der Körper straffte sich, wurde steif. Die Zugangsklappe am Hinterkopf der Maschine entriegelte.

»Wir zwei gehen diesem Speicher jetzt auf den Grund.«

24.01.2048, London

Richard Harris starrte in den von Royal-Navy-Linienschiffen eingerahmten Werbespiegel der Fleet-Brauerei und sah einen ergrauten und schlecht rasierten alten Mistkerl in einem Tweed-Sakko. Einen Rentner, der vor langer Zeit zugunsten seiner Karriere miese Entscheidungen getroffen hatte und nun, nach seinem letzten Arbeitstag bei der Metropolitan Police, ohne Frau, ohne Kinder und ohne Job dastand. Einen Idioten ohne Sinn und Ziel für sein weiteres Leben. Einen alten Arsch, dachte er, der verdammt noch mal nicht rührselig in einen beschissenen Spiegel starren sollte.

Er nahm einen Schluck Porter und ließ den Blick durch den Pub schweifen, ohne dabei etwas Aufmunterndes zu entdecken – ganz im Gegenteil. Richard hasste The Tardy Hangman. Den sorgsam gepflegten Charme des auf antik getrimmten Schankraumes, die grobkörnigen Schwarz-Weiß-Fotos und die Polizei-Devotionalien an den Wänden. Früher einmal war The Hangman tatsächlich ein Polizistenpub gewesen. In seinen ersten Jahren bei der Met, als Detective Constables noch mehr gewesen waren als das Begleitpersonal für neunmalkluge parallele Intelligenzen mit Augen scharf wie Weltraumteleskope, perfekten Gedächtnissen und einem direkten Draht zum Kriminaltechnik-Zentralcomputer, psychologischen Expertensystemen und den internen Ermittlern. Damals war er mit den Kollegen oft hier gewesen: mit Ioan Read, dem schlaksigen Waliser, der sich beim Abfeuern seiner Waffe immer selbst etwas erschrocken hatte, aber von einer Stelle in der Zeugenschutzgruppe träumte. Mit Susan Ann Lill, einer rothaarigen Schönheit aus Northampton, deren Repliken zu schlagfertig für ihre Vorgesetzten gewesen waren. Seinem Ausbilder und ersten Partner Hassan Tawil, Spross einer stolzen Obsthändlerdynastie aus Soho. Mit Carsten, May, Paula, Harry… Kollegen, Berufsabschnittsgefährten und Freunde, alle waren fort, irgendwann von den Sprossen der Karriereleiter gefallen – oder gestoßen worden. Paula und May hatten geheiratet, Kinder bekommen und waren freiwillig ausgeschieden, versüßt durch eine Abfindung der Stadt. Hassan hatte nach Beschwerden über angebliches Fehlverhalten im Umgang mit Beweismitteln ebenfalls den angebotenen Vorruhestand akzeptiert, ernüchtert und verbittert. Carsten und Susan waren suspendiert und später entlassen worden, weil Carsten den Druck der ständigen Überwachung durch seinen PI-Partner nicht mehr ertragen hatte. Nach einer Rangelei mit einem ausfällig gewordenen Betrunkenen hatten er und Susan versucht, den Kern der PI mit Carstens Com zu manipulieren. Richard prostete dem auf eine Holzplatte gemalten Bild von Guy Fawkes zu, der gerade zu seiner Richtstätte geführt wurde. Du hattest deinen Plan wenigstens nicht von YouTube.

»Willst du den ganzen Tag schmollen?« Mike Drei Sieben lehnte auf dem Tresen und blickte ihn aus seinen blauen Roboteraugen an. Richard fühlte über das Emotionsfeedback des Emo-Links die miesen Schwingungen der Maschine. »Als du sagtest, du wolltest einen auf die alten Zeiten heben, dachte ich, das wird so ein menschliches Abschiedsritual zum Eintritt in eine neue Lebensphase wie ein Junggesellenabschied oder ein Abschlussball – irgendwas Geselliges mit brauchbarem Unterhaltungswert. Aber jetzt sieht es aus, als wolltest du uns in dieser nach Bier und versteinertem Zigarettenqualm stinkenden Touristenfalle endgültig die Stimmung vermiesen.« Leise fügte die Maschine hinzu: »Wenn du mich weiter mit so üblen Emotionen fütterst, werfe ich eine Bombe, und zwar genau hier.«

»Robs haben im Pub nichts zu suchen«, sagte der Barmann, ein molliger Zwanzigjähriger mit dünnem Bart und breiten Hosenträgern über dem Schottenhemd. Richard knurrte nur zur Antwort.

Mike lächelte sardonisch und schabte mit seinen abgenutzten Fingerkuppen über den Tresen. »Komisch, ich dachte, ihr hättet durch die Pacht einen exklusiven Ausschankvertrag mit Fleet. Wieso habe ich dann letzte Woche leere Heineken-Kisten an eurer Hintertür gesehen …? Vielleicht sollte ich das mit dem Fleet-Vertrieb abklären?«

»Scheiß-Maschinenbastard«, schimpfte Mr. Hosenträger, trollte sich aber zu seinen Gin-Flaschen.

Mike kratzte sich mit dem Mittelfinger an der Nase, eine Geste, die er irgendwo abgeschaut hatte und die offenbar das einprogrammierte Beleidigungsverbot unterlief. Er richtete sich auf und streckte sich. »Komm schon, der Laden ist nur was für alte Säcke und unentschlossene Selbstmörder. Wir haben Arbeit.«

Richard seufzte und hob sein Porter. »Auf alle Dinosaurier-Bullen, die hier getrunken haben, bis sie ausgestorben sind.« Er trank sein Bier aus, setzte das Glas lautstark auf den Tresen und erhob sich, wobei er seinen Mantel von der Stuhllehne zog. »Fahren wir nach Hause, ich hab für heute die Schnauze voll.«

»Und der Job?«, fragte Mike genervt. »Ich habe dir gesagt, das ist eine Überraschung. Es wird dir gefallen, und es ist nur eine kurze Fahrt.«

»Ich bin in Rente.« Der Satz schmeckte bitter. Er warf sich den Mantel über und nahm seinen Regenschirm, der am Tresen lehnte.

Mike verzog den Mund. Richard ließ ein letztes Mal den Blick durch den Raum wandern, der sich kaum verändert hatte, seit er vor zweiunddreißig Jahren hier seinen Einstand beim CID gefeiert hatte. Seltsam, in seiner Erinnerung schienen erst ein paar Sommer vergangen zu sein. Dabei war er gerade 67 geworden, und der Schmerz in seinen Gelenken war die neue Normalität. Schon lange hatte er keinen Arzt mehr an sich herumdiagnostizieren lassen, auch wenn Mike ihn ständig daran erinnerte. Schließlich teilten sie über die Emo-Verbindung auch den Schmerz, was für die PI anfangs irritierend gewesen war.

Mit minimalem Nicken grüßte er in Richtung des Barmanns, der sich schmollend wegdrehte. Mike hielt ihm die Tür auf, was Richard zu einem besonders ungehaltenen Knurren veranlasste. Er öffnete und schloss die linke Hand, der Arm schmerzte schon wieder und war etwas steif. Er wusste verdammt gut, was das bedeuten konnte, wusste, welches Risiko er einging, indem er den Schmerz ignorierte. Aber wozu etwas unternehmen? Seine Show war gelaufen, das Feuerwerk abgebrannt. Er würde die City verlassen müssen, die Straßen, in denen er aufgewachsen war und die er jahrzehntelang gegen Mörder und Terroristen verteidigt hatte. Mit seiner Rente konnte er sich das Leben hier nicht mehr leisten – verdammt, selbst mit seinem Lohn hatte er es sich nicht leisten können. Die Interessenten für seine Wohnung kreisten schon. Er hatte die von den Großeltern geerbten achtzig Quadratmeter immer für ein heruntergewirtschaftetes Loch gehalten, aber wie sich herausgestellt hatte, würden sie ihm ein Vermögen bringen. Mehr als genug, um die hundertzweiundneunzigtausend Pfund Privat-Darlehen über UKlendeasy.com zurückzuzahlen und eine schicke neue Wohnung in Ipswich zu kaufen. Doch für jemanden aus der City lag schon Romford verdächtig nahe am Arsch der Welt.

Aus dem grauen Himmel sprühte Regen in sein Gesicht, zu wenig, um deswegen den Schirm zu öffnen. Touristenhorden aus aller Welt zogen unerschütterlich fröhlich über die Bürgersteige, um etwas von dem Restcharme des einstigen Zentrums des Empires aufzusaugen. Wann ist alles scheiße geworden?, fragte sich Richard und rieb sich den Arm. Vielleicht wäre es doch kein Fehler, mal Blutdruck zu messen. Wann war das letzte Mal? Er erinnerte sich nur noch an die Pflichtuntersuchung anlässlich seiner Beförderung zum Chief Inspector …

Ein E-Car hielt vor ihnen auf der Straße. Mike seufzte, öffnete die Tür. Und für einen Moment fühlte Richard Mikes Furcht, dass mit seinem menschlichen Partner irgendwann auch ein Teil von ihm sterben würde.

»Nichts ist peinlicher als ein neurotischer Roboter«, stichelte er.

»Wem sagst du das!« Mike seufzte noch einmal. Er war ebenfalls nicht mehr der Jüngste, sein Baujahr lag so um 2031–32, genau hatte Richard sich das nicht gemerkt. Seine verstärkte schwarz-gelbe Oberfläche glänzte nur noch an wenigen Stellen. Hier und da zeigten sich Spuren vergangener Einsätze. Und an diese konnte sich Richard gut erinnern. Jede Schramme, jede Brandnarbe war eine Geschichte, wenn auch nicht immer eine gute.

Richard ließ sich schnaufend auf den Sitz sinken und wuchtete die Beine in den Wagen, erst das rechte, dann das linke. Seine Knie jubilierten, und seine Hand würgte den Hickorygriff seines Schirms, sodass seine Knöchel weiß hervortraten. Er hatte das Gefühl, von den Touristen angestarrt zu werden wie eine lokale Sehenswürdigkeit, und für einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, ihnen etwas für ihr Geld zu zeigen, seinen nackten Arsch zum Beispiel. Aber bis er den hochbekommen hätte, wäre die Bande längst auf der Charing Cross Road verschwunden.

»Was ist das für eine Arbeit, die mir gefallen soll?«, fragte er stattdessen, Desinteresse heuchelnd. »Also, was ist die Überraschung?«

Mike lächelte und ließ sich seinerseits Zeit mit der Antwort. »Ich habe auf deinen Namen eine Detektei eröffnet. Richard Harris ist jetzt Inhaber von Deep Investigations. Deine Lizenz wurde heute Morgen ausgestellt.«

»Ich als Detektiv? Bilde dir bloß nichts ein«, grummelte Richard, kam aber angesichts der Frechheit der PI nicht um ein trockenes Auflachen herum.

»Ich wusste, du würdest den Klang des Wortes mögen …«

»Detektiv?«

Mike sah Richard an.

»Arbeit – der Ruhestand würde uns umbringen.«

Richard starrte aus dem Fenster. »Hast du solche Angst davor, meine Emotionen zu verlieren, weil du dann wieder eine ganz normale PI bist? Oder glaubst du, man wird dich nach meinem Tod verschrotten? Irgendwann ist es auf jeden Fall so weit. Meine Teile können nicht beliebig ausgetauscht werden, und selbst wenn das ginge, würde ich da nicht mitmachen.«

Mike schwieg. Der Wagen bog um die Ecke. Regentropfen zogen kleine Ströme über die Scheibe.

»Privatdetektiv.« Richard schüttelte den Kopf. »Von all deinen dummen Ideen ist das die dümmste. Ganz ehrlich, du müsstest mal zum Schraubendoktor.« Irgendwie machte ihm die Idee aber doch Spaß.

Mike blickte lächelnd aus seinem Fenster. Die City zog vorbei, ein Trupp Royal Horse Guards, verfolgt von einer Kameradrohne der BBC, überteuerte Cafés, Automaten-Schneidereien bekannter Modehäuser und kitschige Andenkenshops. – Vielen Dank für Ihren London-Besuch, wir hoffen, Sie hatten Spaß auf dem Riesenrad. Beehren Sie uns bald wieder und bringen Sie Ihre Kinder mit. Richard und Mike teilten den Ärger und spielten den Ball der Verachtung über den Emo-Link hin und her.

»Wer ist unser Auftraggeber, darf man das erfahren?«, grummelte Richard schließlich. »Für wen sollen wir wen ausspionieren? Wessen abgängigen Ehemann verfolgen?«

»Warum so zynisch? Bei der Met haben wir auch nichts anderes gemacht: Beweise gesucht, Übeltäter verfolgt. DI oder PI, Inspektor oder privater Ermittler, wo ist der Unterschied?«

»Wir haben etwas für die Gesellschaft getan!«, brauste Richard auf. »Abschaum von den Straßen geschafft! Totschläger, Raubmörder und den einen oder anderen richtig gefährlichen Bastard!«

Mike legte den Kopf auf die Seite. »Nur wenn wir Erfolg hatten, was zuletzt nicht immer der Fall war. Denk an die Hardwicks, Martha Engreen und ihren Sohn Nick.«

Richard versteifte sich und sandte Mike ein wirklich übles Gefühl.

Die PI fuhr unbeeindruckt fort: »Vielleicht ist es besser, wenn neuere Modelle unseren Job machen und wir uns zukünftig auf die kleinen Sünder konzentrieren.«

Richard starrte ihn an und versuchte seine Gedanken zu lesen. Was soll das?, fragte er sich. Mike wusste genau, dass er in den letzten Wochen an kaum etwas anderes gedacht hatte als daran, Iven Wescott zu schnappen, den Mörder, der ihm entkommen war, gerettet von Richards Pensionierung. Er erinnerte sich an das Fahndungsbild, das kantige Gesicht unter einem Deckel aus braunem, an den Spitzen rot gefärbtem Haar, an die graublauen, abwesend blickenden Augen. Bankraub war selten geworden, besonders die altmodische Dillinger-Nummer mit vorgehaltener Waffe. Die meisten, die das heute noch versuchten, taten es in rührender Einfalt und fanden sich folgerichtig wenige Schritte hinter der Tür auf dem Bauch liegend unter einem Sicherheitsroboter wieder, der ihnen die Glieder neu ordnete und dabei erklärte, dass die Polizei bereits auf dem Weg sei und die Bank ihnen die Betriebsunterbrechung und alle ihren Kunden und Mitarbeitern anfallenden Kosten in Rechnung stellen werde. Mit solchen Versagern hatte Richard im Stillen sogar Mitleid. In einer Welt gelenkt von künstlicher Intelligenz waren menschliche Idioten eine stark gefährdete Spezies. Wie oft hatte er erlebt, dass sich Betrunkene, halbstarke Schlägertypen oder von sich überzeugte harte Kerle mit Robotern angelegt und den Kürzeren gezogen hatten. Eine Jarlberg-Antiope aus Mikes Baureihe war dreimal so schnell und viermal so stark wie ein kräftiger Mann und kannte im Nahkampf alle schmutzigen Tricks. Dazu kamen die versteckt eingebauten nichttödlichen Waffen. Taser, Schallkanonen und Blitzlichter in den Handflächen, die einen hundert Kilo schweren Kickboxer binnen Sekunden in ein blindes, taubes, zuckendes Panikbündel verwandeln konnten. Nein, Menschen mit einem Funken Verstand legten sich nicht mit PIs an. Es sei denn, sie hatten einen Plan. Iven Wescotts Plan war es gewesen, die Maschinen von sich abzulenken, indem er gezielt auf Unschuldige geschossen hatte. Während die PIs der Bank seinen Opfern Erste Hilfe leisteten, war er entkommen. Der polnische Kundenbetreuer Filip Lipa war auf dem Marmorboden der LC Bank am Schock eines Bauchschusses gestorben. Martha Engreen hatte einen Schulterdurchschuss erlitten. Die austretende Kugel hatte ihren achtjährigen Sohn am Kopf gestreift. Und vor der Bank hatte Martin Hardwick seine Frau Joan verloren, mit der er zwölf Jahre verheiratet gewesen war. Wescott hatte keine Beute gemacht, doch immerhin war er entkommen, als erster englischer Bankräuber seit sieben Jahren, weil er unter all den Idioten der rücksichtsloseste und brutalste war.

Nach einer zehnminütigen Fahrt hielt das E-Car vor einem alten Bürohaus auf der Isle of Dogs. In den Fenstern spiegelten sich der graue Himmel und ein Schwarm Tauben. Über dem Eingang hing die Videofolie eines Maklers: 2.100 Quadratmeter Bürofläche in bester Lage … Richard wuchtete sich vom Sitz, stützte sich auf seinem soliden Schirm ab und warf die Tür hinter sich zu.

»Was wollen wir hier?«

Ohne ein Wort ging Mike zum Eingang. Er legte die Hand auf das RFID-Schloss, öffnete die Tür und trat in die Lobby. Woher hat er den Code?, wunderte sich Richard. Er sah sich um: Teile der Deckenverkleidung fehlten, Kabel und Röhren hingen herab, und es roch abgestanden und ein wenig nach offenem Kanal. Mike verriegelte die Tür hinter Richard. Die verbliebenen LED-Lampen an der Decke leuchteten auf. Das Licht am Aufzug ging an, und die Tür öffnete sich mit leisem Scharren.

»Kannst du mir endlich verraten, was das wird?« Richard folgte Mike in die Kabine, immer noch verärgert, aber auch gespannt, wo das alles hinführte.

»Das Ergebnis des DNA-Abgleichs kam heute früh rein«, sagte Mike geheimnisvoll. »Ich habe ein Labor in Irland damit beauftragt, auf deine Kreditkarte … Tut mir leid, es war nicht billig. Aber ich bin mir sicher, es wird sich lohnen.«

Richard fühlte ein vertrautes Kribbeln in den Fingern. Das Jagdfieber schlich sich an ihn heran. »Abgleich wovon?«

»Einer Probe, die ich von einem Stück Plastikmüll genommen habe, mit der DNA aus Wescotts Wohnung …« Er betätigte den Knopf für das achte Stockwerk.

»Wescott? Du hast ohne mich ermittelt?«

»Ein alter Komplize von Wescott, Ron Voight, hat hier früher als Haustechniker gearbeitet. Er versorgt Wescott immer samstagnachts mit Lebensmitteln, auf Speicherkarten geladenen Serien und Pornos und entsorgt den Müll über seine eigene Tonne. Das erhöhte Müllaufkommen ist mir in seinen Abrechnungsdaten aufgefallen. Also habe ich einige Proben geholt. Dabei bemerkte ich, dass jemand einige der Verpackungen gewaschen hatte, wohl um Fingerabdrücke zu beseitigen, aber die DNA-Spuren wurde er so nicht los. Anschließend habe ich mich ein bisschen mit dem Wagen des Typen darüber unterhalten, wo er so unterwegs war und was er dabei aus dem Netz geladen hat – ein ganz süßes französisches Gefährt übrigens …«

»Mike!«

»Jedenfalls bin ich so auf diese Adresse aufmerksam geworden …«

Der Aufzug hielt, und die Türen öffneten sich. Auf einer Matratze inmitten des großen, offenen Raums, umgeben von Fertignahrungsschalen, Bierdosen und leeren Plastikflaschen, saß ein Mann. Den Kopf über ein Tablet gesenkt, spielte er ein Ballerspiel. Piepsige Musik drang aus seinen Ohrhörern, unterlegt vom dumpfen Wummern der Waffe. Iven Wescott hatte sichtlich Gewicht zugelegt, er wirkte müde und depressiv.

»Herzlichen Glückwunsch zur Pensionierung, Partner.« Mike trat aus der Kabine. Richards Wut kochte in seinen Adern; in seinen Ohren rauschte das Blut. Selbst die schmerzenden Knie waren vergessen. Wütend ging er auf Wescott los. Dieser bemerkte die Bewegung und hob den Kopf, nur um den aus Hickoryholz gefertigten Griff eines Regenschirms auf sich zufliegen zu sehen. Der Mörder kippte zur Seite, verlor den Kopfhörer und spuckte Blut auf die Matratze. Seine Hand schlüpfte unter das Kissen und holte eine klobige Sportpistole hervor. Richard schlug zu, und die Waffe landete zwei Meter entfernt auf dem abgenutzten Teppich. Wescott schrie wütend und versuchte, sich aufzurichten, aber Richard trat seinen Arm weg, sodass er zurücksackte. Der nächste Schlag traf wieder seinen Kopf. Benommen krabbelte der Kerl hinter der Waffe her, doch als er die Hand ausstreckte, nagelte Richard sie mit der Stahlkappe des Schirms auf den Boden.

Mike Drei Sieben sah aufmerksam zu und sog Richards rachsüchtige Genugtuung in sich auf.

»Übertreib es nicht, Partner. Schließlich muss ich nachher aufräumen und mir eine Geschichte ausdenken. Die Leute glauben zwar, dass eine PI nicht lügen würde, aber die Beweise sollten auch nicht gar zu deutlich in diese Richtung weisen. Außerdem ist der Kerl eine Viertelmillion Pfund an Belohnungen wert.« Er sandte ihm ein beruhigendes Gefühl.

Richard kickte die Pistole zur Seite, dann erst hob er den Schirm. Schnaufend kniete er sich auf Wescotts Rücken, verdrehte dem Blutenden und Fluchenden die Arme und legte ihm die Handschellen an, die er aus Gewohnheit in der Manteltasche mitführte.

»Weißt du, ich nehme es zurück. Die Idee mit der Privatdetektei ist vielleicht doch nicht so bescheuert. Mehr Freizeit, weniger Regeln und niemand mault, wenn ich im Dienst trinke …«

»Außer mir, meinst du wohl.«

Zuerst bemerkte Richard es nicht, als an der kahlen Bürowand leuchtende Buchstaben aufflammten und sich, wie von Drucklettern gesetzt, Wörter bildeten. Erst als er Mikes Überraschung fühlte, hob er den Kopf.

»Richard!« Mike starrte auf die Wand.

Glückwunsch zur Verhaftung, PI Harris!

Ihre nächster Auftrag: 28.01., Serenity Base, Meer der Heiterkeit. Erfolg erfüllt Ihnen Ihren größten Wunsch. Dagegen hätte Nichterscheinen ein Aufdecken Ihrer Gesetzesverstöße zur Folge.

Das Licht verschwand, zwei schillernde Papiere lösten sich von der Decke und fielen sich drehend zu Boden.

Mike hob sie auf und betrachtete die leuchtenden Sicherheitshologramme. »Wir werden angeheuert … und erpresst.«

»Was soll der Quatsch?«, schnaufte Richard und stand auf. »Meer der Heiterkeit? Ist das einer deiner Streiche?«

»Das hier sind Bordkarten für den Clipper-Flug nächsten Dienstag. Jeweils Hin- und Rückflug.«

»Und?«

»Weltraum-Clipper, alter Mann! Jede davon kostet fast dreißig Millionen Pfund. Wir wurden in ein Luxusresort auf den Mond bestellt.«

Abflug zum Mond

In der Lounge der Wheelwright Clipper Corp. im Mojave-Raumhafen herrschte ein Zustand, der schlimmer war als Chaos: eine Verkehrung des Normalen, ein Widersinn, der sich durch die vorhandenen Daten nicht auflösen ließ und Lotte Konsdotter zu überfordern drohte.

Was ist hier los?, fragte sich die Pilotin des Clippers Grand Vision und bewegte sich angespannt zwischen den auf bequemen Bänken und in Luxus-Arbeitsmodulen wartenden Passagieren für Flug 817, die auf der Passagierliste alle als VIPs der höchsten Kategorie geführt wurden. Eine Ehre, die sonst nur den Firmeninhabern und dem Präsidenten der Vereinigten Staaten gebührte, wobei sich Lotte beim Präsidenten nicht sicher war.

Wer sind diese seltsamen Leute und was wollen sie auf dem Mond? Ihr Blick blieb an dem bärtigen Gesicht eines Engländers hängen, der sich schon seit einer guten Viertelstunde aus einem der Arbeitsmodule heraus mit seinem Uraltmodell von Roboter stritt. Richard Harris, ein Privatdetektiv, erinnerte sie sich. Ein Modul weiter saß Amanda Chershi, eine junge Frau, die offenbar erst vor kurzem schwer verletzt worden war und durch ihre Datenbrille mit unstetem Blick die Umgebung scannte, wie ein Erdmännchen, das aus dem Bau heraus nach Greifvögeln Ausschau hielt. Unter ihrem auf dem Modulrahmen liegenden grauen Mantel hielt sie ein längliches Werkzeug verborgen, das sie nacheinander auf die umstehenden Maschinen richtete. Was auch immer sie dabei erfuhr, es machte sie noch nervöser. Auf dem Rand der breiten Bank gegenüber saß der vollbärtige Victor Mann und starrte sorgenvoll auf seine Turnschuhe, die auf seiner offenbar schon weit gereisten Tasche ruhten. Am linken Schuh hing etwas, das aussah wie blaue Tierhaare … Oda Toshio trug einen altmodischen Sensoranzug und hatte ein Bein über das andere geschlagen. Das goldene Wappen an seinem Mandarinkragen hatte die Form eines segnenden Buddhas in einem Flammenkranz. Eigentlich wirkte er unauffällig, doch da war etwas mit seinem Gesicht, das Lotte nicht definieren konnte. Sie musste einfach hinstarren, als würde ihr Blick daran festkleben. Als er sie plötzlich anlächelte, überkam sie ein Schwindel, und sie sah weg. Am anderen Ende der Bank tippte die achtzehn Jahre alte Gwendolyn Iden auf ihrem Tablet herum und lächelte in sich hinein. Ihr blondes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. Der Aufdruck ihres T-Shirts zeigte eine komplexe Struktur aus zerbrochenen Zahnrädern, um die sich blühende Winden rankten, ihr Halstuch war dunkelrot, die Schlaghose bestand aus vertikalen schwarz-weißen Streifen, und als Gürtel trug sie einen bunten Kabelbaum aus einer technischen Anlage. Sie passte mit diesem Outfit so gar nicht hierher, genau wie die übrigen drei Burschen. Falsch, zwei Burschen und eine burschikose Frau, korrigierte sich Lotte. Jenna Staroll, Ulrich Turner und Tim Fischer, drei bekannte E-Sportler und V-Fighter. Die drei trugen das halbe Gesicht verdeckende Gamingbrillen und schwangen unsichtbare Schwerter. In enger Formation gegen einen überlegenen Gegner kämpfend, wurden sie quer durch den Raum zurückgedrängt. Sie kletterten zwischen dem Japaner und dem Mädchen über die Bank und verteidigten diese Anhöhe wie eine Bresche in einem Festungswall. Unbegreiflich! Mehrfach musste Iden den Kopf zur Seite nehmen, um nicht von Turners Schildhand getroffen zu werden. Seltsamerweise schien sie seine Bewegungen vorauszuahnen und reagierte, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. Die fechtende Frau, Staroll, brüllte wütend, fluchte und rief ihren Kameraden Turner zu verstärktem Einsatz auf. Diese Frechheit! Und doch schien sich keiner der Fluggäste ernsthaft belästigt zu fühlen.

»Verrückte Kids.« Harris seufzte ohne echte Leidenschaft, dann schaute er Richtung Bar, wo seine Bestellung blieb.

»Keine Sorge, die Orks haben sie gleich«, sagte sein Roboter. Das alte Antiope-Behördenmodell verfolgte jede Bewegung der Spieler, dabei trommelten die Finger seiner Rechten auf seinen Oberschenkel.

»Na, geh schon, Mike, bevor du vor Aufregung einen Kurzschluss bekommst.«

»Bis gleich!« Der Rob ließ einfach seine Tasche fallen und sprang den drei Kämpfern zur Seite. »Waldläufer Mike für Gondor!« Die stabile Bank wackelte bedrohlich.

»Für Gondor!«, riefen die Spielgefährten begeistert.

Oda erhob sich und zog sich in eine der unbesetzten Arbeitskapseln zurück, und auch Iden hatte endlich genug. Sie stand auf und schüttelte lächelnd den Kopf. Als sie Lottes Blick bemerkte, hob sie ihr Tablet und hielt es so, dass die eingebaute Kamera die Spieler erfasste. Das Bild zeigte eine brennende Burgruine. Hoch auf der gebrochenen Mauer schlugen die vier Kämpfer gepanzerte Orks zurück, die Gefallenen purzelten den Abhang hinab, während immer neue Angreifer über die Leiber der Toten und Verwundeten in die Bresche kletterten.

Lotte erwog einen Augenblick lang, die Jugendlichen zu ermahnen – normalerweise hätte sie das längst getan, hätte die VIP-Einstufung sie nicht verunsichert. Sie wandte ihren Blick ab. Level-drei-Kunden haben immer Recht, rief sie sich in Erinnerung. Selbst wenn es Kunden waren, die so gar nicht wie Kunden aussahen und mit Straßenschuhen auf den sündhaft teuren Designermöbeln herumtrampelten. Sonst saßen in dieser Lounge Milliardäre, Top-Wissenschaftler und Künstler, die so berühmt waren, dass sie nur auf dem Erdtrabanten ihre Freizeit in vollkommener Ruhe genießen konnten. Menschen mit Einfluss, Geld und Stil; Auserwählte, die Lotte aus den Medien kannte und hoch schätzte, nicht so ein bunter Haufen von Außenseitern, die sich V-Fighter und Privatdetektive nannten oder gar keine regelmäßige Beschäftigung angeben konnten oder wollten.

Noch verwirrender aber waren die Maschinen. Lotte zählte insgesamt sieben Menschen und drei Roboter. Da war die spielende Antiope, außerdem eine hüllenlose Maschine, vermutlich ein Jarlberg-Modell unbekannter Zugehörigkeit, und ein altersschwacher Rob in abgenutzter Menschenverkleidung, der wie ein älterer Herr aussah. Fast ein Drittel der verkauften Plätze des Clippers würden diesmal mit Geräten besetzt sein, die sonst nur per Frachtcontainer hochgeschossen wurden, wenn überhaupt. Schließlich gab es auf dem Mond Assembler, die Maschinenkörper herstellen konnten, nur modernere, schönere Modelle. Wozu also Kabinenplätze für fast hundert Millionen Dollar an PIs verschwenden? Wo blieb da die Logik? Sie brauchte Antworten. Lotte zog ihren Com vom Gürtel, der sich in ihrer Hand entfaltete, und wählte die Kurzwahl der Kundenbetreuung. Im Vorbeigehen betrachtete sie die Menschenmaschine, die einmal ausgesehen hatte wie ein freundlicher Herr mit grau meliertem Bart, doch durch einen jahrelangen Mangel an Wartung nun etwas Bemitleidenswertes an sich hatte. Prompt hob das verschrammte Ding seinen Blick und sprach sie an:

»Sieh an, unsere Pilotin. Ich nehme an, Sie wissen nicht, wer für all das hier zahlt?«

»Selbst wenn, würde es mir nicht freistehen, darüber zu sprechen«, antwortete sie so freundlich, wie es ihr möglich war.

Die Maschine nickte, dann starrte sie einige Sekunden nachdenklich vor sich hin, bevor sie lächelte und weitersprach: »Ich versuche, eine positive Erklärung für das alles zu finden, aber jedes wahrscheinliche Ereignismodell ist negativ. Wir werden in eine Falle gelockt. Es ist schrecklich spannend. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gibt es bald Tote.« Verstohlen blickte der Alte sich um. »Wer könnte der erste sein? Ich? Sie? Das blonde Mädchen? Ich finde diesen Datenmangel äußerst inspirierend. Das schreit nach einer guten Geschichte.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen!« Lotte wandte sich brüsk ab. Falle? Was sollte das bedeuten? Sie starrte auf den Multiscreen ihres Coms. Das Gerät fand kein Netz, obwohl der Raumhafen mit der modernsten Kommunikationstechnik ausgestattet war. Hieß das, der Hauptcomputer war offline? Das erschien beinahe unmöglich, andererseits gingen heute seltsame Dinge vor. Sie blickte zur Sicherheitsschleuse, die unbesetzt war. Vor nur zehn Minuten hatten dort zwei Maschinen bereitgestanden, um die Boarding-Kontrollen durchzuführen. Das Chaos breitete sich aus –

»Wir sind hier vollkommen abgeschnitten«, sagte der Rob. »Netzwerke, Datenfunk, Kameras und Sensoren, alles tot. Und wo sind die Clipper-Mitarbeiter abgeblieben? Sollte es hier nicht auch menschliches Personal geben?«

»So geht das nicht«, sagte Lotte zu sich selbst. »Bitte verzeihen Sie!« Entschlossen marschierte sie an den Arbeitsstationen vorbei zum Dienstzimmer, das sie unbesetzt fand. Offenbar war im Unternehmen der Wahnsinn ausgebrochen, aber das bedeutete nicht, dass sie sich daran beteiligen musste. Wenn sonst niemand für Ordnung sorgte, würde sie das tun. Das Computerterminal war tatsächlich deaktiviert, obwohl es rund um die Uhr laufen sollte. Sie versuchte es mit Gesten und nannte alle gängigen Startbefehle. Schließlich ging sie sogar leise fluchend in die Knie und suchte, ob sich nicht irgendwo ein guter alter Netzschalter versteckte. Und das war nun wirklich peinlich …

»Geehrte Fluggäste, begeben Sie sich nun bitte an Bord der Grand Vision«, klang Lottes Stimme aus den Wandlautsprechern. Hastig hob sie den Kopf und stieß ihn sich an der Ablage des Terminals.

Sie rieb sich den Hinterkopf. »Was? Haben die eine automatische Ansage aus mir gemacht?« Dazu hatte sie nie ihr Einverständnis gegeben. Sie erhob sich, lief zur Tür und berührte die Sensorfläche, doch da tat sich nichts. »Öffnen!«, verlangte sie und versuchte vergeblich, die Tür mit den Handflächen in die Wand zu schieben. Offenbar war sie verriegelt.

»Bitte begeben Sie sich zu den auf Ihren Bordkarten vermerkten Sitzplätzen und folgen Sie der Einweisung durch das Schiffssystem«, sagte ihre Stimme. »Vielen Dank.«

Lotte richtete sich auf und blickte über die Überwachungshologramme an der Wand. Das Sicherheitssystem funktionierte offensichtlich noch, was bedeutete, dass auch der Hauptcomputer arbeitete. Die seltsamen Ermittler nahmen ihre Koffer und Taschen und eilten auf die leere und dunkle Sicherheitsschleuse zu. Richard Harris marschierte mit den Händen in den Hosentaschen vor seiner schwer bepackten Maschine her.

»Ist heute Tag der offenen Tür?«, wunderte er sich. »Die haben hier echt die Ruhe weg.«

»Keine Gepäckkontrolle?« Tim Fischer kratzte sich unter den fettigen braunen Stoppeln an seiner Schläfe. »Wir hätten unsere Bomben also mitnehmen dürfen?«

Das System verpasste ihm sofort einen gelben Rahmen, was bedeutete, dass er gesondert überprüft hätte werden müssen – wenn denn Personal dafür da gewesen wäre.