Leseprobe
Walter Krämer
Kalte Enteignung
Wie die Euro-Rettung uns um Wohlstand und Renten bringt
Campus Verlag Frankfurt/New York
Leseprobe
Über das Buch
SO ENTSCHWINDET UNSER GELD
Wen rettet der Rettungsschirm? Uns jedenfalls lässt er im Regen stehen und bringt uns um unser Erspartes sowie unsere Rente. Der streitbare Ökonom Walter Krämer enthüllt, wie die deutschen Sparer und Rentner in den nächsten Jahren enteignet werden und wer davon profitiert: die Gläubiger der europäischen Banken, griechische Milliardäre und spanische Fußballclubs ...
Was sind die aktuellen Gefahren für unser Geld, wie sind wir so weit gekommen, und wie geht es weiter? Mit Walter Krämer kommen Licht und deutliche Worte in eine undurchsichtige Materie.
Über den Autor
Walter Krämer, geboren 1948, ist Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der TU Dortmund. Zu seinen bekanntesten Büchern zählen »So lügt man mit Statistik« und »Das Lexikon der populären Irrtümer«. Er ist Initiator des im letzten Jahr gestarteten und heftig diskutierten »Ökonomenaufrufs« zu den Risiken der Rettungspolitik.
Leseprobe
Es ist gut, dass die Menschen unser Banken- und Geldsystem nicht verstehen. Sonst hätten wir noch vor morgen früh eine Revolution. Henry Ford
Inhalt
Vorwort
1Eine folgenschwere Entscheidung in Berlin
ESM – das Tor zum Geld der Sparer ist offen
2Geld, was ist das überhaupt?
Vertrauen und Stabilität – von Geldmengen und ihrer Vermehrung
3Die kurze Geschichte der D-Mark
4Geburt per Kaiserschnitt: So kam der Euro auf die Welt
Streng geplant und lax gehandhabt – Wackelkandidaten willkommen
5Glückliche Kindheit
Wie die Chancen einer starken Währung vertan wurden
6Euro-Gewinner Deutschland?
Reich wird man eher anderswo – das deutsche Investitionsdesaster
7Exporte sind kein Selbstzweck
Bedenkliche Defizite – wem nützt der Zaubertaler Euro?
8Das verflixte siebte Jahr
Immobilienkrise, Lehman und die Folgen
9Jetzt reicht’s: Der große Ökonomenprotest vom Juli 2012
Staatenrettung, Bankenrettung – und russische Profiteure
10Augen zu und durch
Wie die Europäische Zentralbank Deutschlands Zukunft ruiniert
11Das große Missverständnis
Die wahren Motive der deutschen Europhorie
12Wie es weitergeht
Ende mit Schrecken oder Schrecken ohne Ende? – Auf der Suche nach einer neuen Stabilität
Danksagung
Register
[Leseprobe] Vorwort
Die Idee zu diesem Buch entstand auf einer öffentlichen Vortragsveranstaltung der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste in Düsseldorf. Es sprach Jens Weidmann, der Präsident der Deutschen Bundesbank. Sein Thema war die Eurokrise und was daraus für deutsche Sparer, Rentner und Investoren folgt. Das trug er sehr kompetent und überzeugend vor, wenn auch leicht verklausuliert und weit weniger drastisch, als auf den folgenden Seiten nachzulesen ist. In der nachfolgenden Diskussion erlaubte ich mir die Frage, wie er denn die Konsequenzen der sogenannten Target-Salden sehe und ob das nicht vielleicht nur verkappte Kredite in einem atemberaubenden Umfang zu geradezu irrwitzigen Konditionen seien. »Na ja«, sagte er sinngemäß, »das kommt drauf an, wie man die Dinge sieht.« Und dann erklärte er mir, wie er die Dinge sieht (weit weniger dramatisch als ich selbst), auf eine recht gut nachvollziehbare Weise.
Aber das ist nicht der Punkt. Das eigentliche Aha-Erlebnis folgte einige Tage später, als ich mit Akademiekollegen über diesen Vortrag sprach. »Was soll denn dieses technische Gerede über Target-Salden? Das versteht ja doch kein Mensch«, war einer der Kommentare. Und wie ich dann auch von anderen hochdekorierten Chemikern, Physikern und Ingenieuren hören musste, war kaum einem dieser Experten die potenzielle Dramatik dieser Sachlage bewusst: Da lösen sich vor unseren Augen unsere Sparkonten und Renten in niemals eintreibbare Forderungen gegen bankrotte Krisenstaaten auf, und neun Zehntel der führenden Wissenschaftler des Landes stehen davor und sehen diese Krise nicht. |9|
Wenn selbst die den Zusammenhang nicht durchschauen, wie soll das dann dem Rest des Wählervolkes gelingen? Ganz offensichtlich ist die Materie trotz der verdienstvollen Aufklärungsarbeit meines Münchner Kollegen Hans-Werner Sinn immer noch zu undurchsichtig und zu kompliziert.
Mit diesem Buch trage ich also eine Bringschuld der Wirtschaftswissenschaften ab. Zumindest ist es ein Versuch. Es ist mein Ehrgeiz, auch Lesern ohne Diplom in Volkswirtschaftslehre zu erklären, wo wir mit unserer gemeinsamen Euro-Währung heute stehen, wie wir dahin gekommen sind, vor allem aber: Wo wir in wenigen Jahren stehen könnten.
Ich sage könnten, denn als bekennender Anti-Marxist glaube ich nicht an die Vorherbestimmtheit des Wirtschaftsgeschehens wie auch irgendeines anderen Geschehens auf dieser schönen Erde. Aber die Optionen werden immer enger, und viele davon sind nicht erfreulich. Ein großer Teil des deutschen Auslandsvermögens ist bereits verloren, aber noch immer unterstützt die deutsche Politik Kredite, mit denen etwa der spanische Fußballklub Real Madrid den 94-Millionen-Einkauf seiner Superstars Cristiano Ronaldo (und dessen Jahresgage von weiteren 6 Millionen Euro) finanziert. Derzeit diskutiert man in Spanien über einen Schuldenschnitt für die hoch verschuldeten Fußballklubs – diese Forderungsausfälle würden das Europäische Zentralbanksystem eines Teils seiner Sicherheiten berauben (denn als solche wurde eine Kreditforderung gegen den Fußballklub Real Madrid bei der Europäischen Zentralbank eingereicht). Und ginge daraufhin dann auch noch die eine oder andere, ohnehin mit faulen Immobilienkrediten überladene spanische Bank in Konkurs, so finanzierten deutsche Steuerzahler Ronaldos Transferkosten und Gehalt zumindest mit.
Ich finde das schon etwas seltsam. Und dies ist nur ein Beispiel von vielen, solche Auswüchse produziert das Eurosystem in seiner aktuellen Ausgestaltung am laufenden Band. Viele Rettungsaktionen dienen u. a. leider auch dazu, dass superreiche Bankpräsidenten sich weiterhin jährliche Millionenboni überweisen oder russische Wirtschaftskriminelle ihre nach Zypern geschmuggel|10|ten Milliarden auch in Zukunft ungestört genießen dürfen (die in Deutschland so gefeierte Zwangsabgabe als Preis für die Bankenrettung ist für diese Leute nur ein Taschengeld). Dringend für Infrastrukturen und andere Realinvestitionen benötigtes Kapital wird weiter in ineffiziente Verwendungen gedrängt, griechische Millionäre und Milliardäre, die problemlos mit ihrem Vermögen einen großen Teil der griechischen Auslandsschulden decken könnten, kaufen sich stattdessen auf den Immobilienmärkten von Berlin, Paris und London ein, und der Deutsche Bundestag nickt eine Hilfsmaßnahme nach der anderen ab.
Sollte er eines Tages anders handeln, hätte dieses Buch sein Ziel erreicht. Und die Chancen dafür stehen gar nicht mal so schlecht. Denn die Mitglieder des Bundestags werden immer noch gewählt. Und wir, die Wähler, sind es, die für diese fehlgeleiteten Geldströme auf die eine oder andere Weise zahlen müssen, aus deren Taschen diese Milliarden letztendlich herausgezogen werden. Man muss ja gar nicht so weit gehen wie Henry Ford, der eine wahrhaftige Revolution voraussah, sollten die Wähler eines Tages verstehen, wie sie von einer unheiligen Allianz von Politik und Hochfinanz fast nach Belieben ausgenommen werden: Aber mit etwas Druck vom Souverän, dem Wahlvolk also, wären verschiedene schon jetzt programmierte Zwangsabgaben vielleicht noch abzuwenden.
Das klingt jetzt so, als würde hier zur Attacke auf den Euro geblasen. Das kann man so sehen, muss es aber nicht. Natürlich hätte niemand in Deutschland, im Jahr 1992 mit den Informationen von heute ausgestattet, den Euro damals eingeführt. Und so, wie bisher konstruiert, in dem politischen und sozialen Umfeld, in dem Europa sich gerade befindet, ist der Euro tatsächlich klinisch tot. Die aktuelle Eurozone, mit 17 ökonomisch derart disparaten Mitgliedsstaaten und einer Zentralbank, die sich als Vollstrecker von Umverteilungswünschen sieht, wird diese Dekade in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung nicht überleben.
Auf der anderen Seite kann man aber auch aus Fehlern lernen. Einige Lektionen sind in den folgenden Kapiteln nachzulesen. |11|Insbesondere sollten wir aufhören, den Euro mit Europa zu verketten. Die europäische Idee ist eine zu wertvolle Vision, als dass sie mit einem solch schwierigen Kind belastet werden sollte. Oder aber es gelingt tatsächlich, das für den Euro so ungünstige politische und soziale Umfeld besser an eine gemeinsame Währung anzupassen. Dann überlebt sogar dieses Sorgenkind und wird aus einem hässlichen Entlein doch noch mal ein weißer Schwan. Viele würden es ihm wünschen.
Eins ist sicher, die nächsten Jahre werden spannend. Wie aber auch immer die Sache ausgeht: Die deutschen Rentner und Sparer sind auf jeden Fall dabei.
Walter Krämer
Dortmund, im Mai 2013|12|
Kapitel 1
Eine folgenschwere Entscheidung in Berlin
ESM – das Tor zum Geld der Sparer ist offen
Die Europäische Union ist kompliziert, weil sie auch Kompliziertes leisten soll. Sie hat es verdient, dass ihre Bürgerinnen und Bürger Interesse zeigen und sich informieren. Joachim Gauck, Bellevue-Forum Berlin, 22. Februar 2013|13|
Am 29. Juni 2012, einem Freitag, schien in Berlin 13 Stunden lang die Sonne. Das ist auch für Juni ungewöhnlich viel. Aber in der Nacht zum Samstag wurde die Stadt von einem schweren Unwetter heimgesucht. Auf YouTube ist diese »irre Blitzshow« anzusehen. »In Tegel bietet sich ein Bild der Verwüstung«, schrieb der Tagesspiegel, »mehr als hundert Autos sind zerstört, Häuser beschädigt, Balkone abgerissen.« Ein derartiges Sommergewitter hatten die Berliner lange nicht erlebt.
Aber kurz vorher, um 9 Uhr abends, lag die Kuppel des Reichstags noch im abendlichen Sonnenlicht. Da hatten die Abgeordneten des Deutschen Bundestags gerade den sogenannten »Euro-Rettungsschirm«, das Gesetz zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) beschlossen. Es war die letzte Sitzung vor der Sommerpause. 604 Abgeordnete hatten abgestimmt, davon 493 mit Ja, 106 mit Nein, 5 hatten sich enthalten.
An diesem Abend hatten 493 gewählte Volksvertreter eine gefährliche Wette abgeschlossen. Ihr Wetteinsatz: die Ersparnisse und Renten ihrer Wähler. Sie setzten ihre Ja-Stimme auf die Hoffnung, dass die zuvor schon Dutzende Male gebrochenen EU-Vereinbarungen zu gemeinsamen Finanzen endlich eingehalten und die bis dato schon aufgelaufenen Risiken – mit gigantischen möglichen Verlusten für die deutsche Volkswirtschaft – zumindest nicht noch größer werden würden. Und dies verbunden mit dem frommen Wunsch, dass auch die Menschen und deren gewählte Vertreter in den anderen Ländern der Eurozone bitte erkennen möchten, dass eine gemeinsame Währung nur in einem besser als bisher vereinten Europa zu unser aller Nutzen ist.
Um diese gefährliche Wette dreht sich dieses Buch. Es gibt wohl kaum jemanden in Deutschland, der sich nicht wünscht, dass die 493 Ja-Sager diese Wette gewinnen. Aber was ist, wenn die 106 Nein-Sager recht behalten? Wenn die großen Hoffnungen, die vor allem in Deutschland mit dem Projekt Euro verbunden worden sind, nicht in Erfüllung gehen? Wenn diese in Berlin von den deutschen Volksvertretern abgesegnete weitere Rettungsaktion nur einen letztendlich dennoch unvermeidlichen Konkurs verschleppt? |14|Wenn der Euro-Zug also tatsächlich einmal eines Tages entgleisen sollte, wem werden dann die Aufräumkosten aufgebürdet?
Wenn man schon wettet, dann sollte man zumindest Bescheid darüber wissen, was alles zu verlieren ist. Das ist weit mehr, als viele Bundesbürger ahnen, ihre Volksvertreter eingeschlossen. Denn die deutsche Wirtschaft, die deutschen Rentenkassen, das deutsche Sozialsystem als Ganzes sind durch die Eurokrise großen künftigen Belastungen ausgesetzt, sie steuern wie die Titanic auf einen Eisberg zu, der, wenn man ihm nicht rechtzeitig ausweicht, ebendieses Sozialsystem an kritischen Stellen gefährlich aufschlitzen und danach untergehen lassen könnte. Und dessen bösartigste Stellen, wie bei Eisbergen üblich, unter Wasser liegen und nur schwer zu sehen sind. Beziehungsweise nur dann zu sehen sind, wenn man sich die Mühe macht, einmal verschiedene Positionen der Außenhandelsstatistik und der Bilanzen der Europäischen Zentralbank in greifbare Fakten zu übersetzen und auch dem Mysterium des Geldes etwas auf den Grund zu gehen. Denn dieser Eisberg ist zum großen Teil, so wie modernes Geld, rein virtuell, er existiert allein auf dem Papier, er besteht aus Forderungen, Verbindlichkeiten, Zusagen und Versprechen, die eingehalten werden können oder auch nicht, aus Wechseln auf die Zukunft, aus Vertrauensvorschüssen und Enttäuschungspotenzialen. In dem Umfang, wie diese Vertrauensvorschüsse sich auflösen und die Enttäuschungspotenziale sich verfestigen, wird aus der virtuellen eine tatsächliche und greifbare Gefahr.
*
Das amtliche Protokoll der 188. Sitzung des Deutschen Bundestags, die an diesem Freitag im Juni stattgefunden hatte, verzeichnete als weitere Tagesordnungspunkte die Pflegeversicherung (»Pflege neu ausrichten – ein Leben in Würde ermöglichen«, so ein Antrag der Linken), die erste Beratung eines Gesetzes zur Flexibilisierung von haushaltsrechtlichen Rahmenbedingungen außeruniversitärer Wissenschaftseinrichtungen, die erste Bera|15|tung eines von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzes zur Stärkung der deutschen Finanzaufsicht, die Kundenfreundlichkeit der Deutschen Bahn AG, die erste Beratung eines von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Entwurfs zur Neuregelung des Tierschutzgesetzes und, sozusagen außer der Reihe, als Zusatzpunkt 10 die »Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zur Schaffung einer Stabilitätsunion«.
Diese Regierungserklärung hatte zwei Themen. Das erste war der sogenannte Fiskalpakt (offiziell »Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion – VSKS«). Der Fiskalpakt ist eine Verschärfung der Maastrichter Verträge, auf die sich die Regierungschefs der Euroländer auf dem Brüsseler Gipfel vom 9. Dezember 2011 mehr oder weniger einvernehmlich verständigt hatten. »Mit dem Fiskalvertrag binden sich nationale Regierungen und nationale Parlamente in bislang noch nicht dagewesener Weise, die Wirtschafts- und Währungsunion zu einer Stabilitätsunion zu formen«, so Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung.
Nach diesem Vertrag muss der allgemeine Staatshaushalt der Unterzeichnerstaaten immer ausgeglichen sein oder einen Überschuss aufweisen (es sei denn, dass »außergewöhnliche Umstände« vorliegen (Artikel 3, Absatz 1, Buchstabe c)). Zu diesen »außergewöhnlichen Umständen« in diesem Buch später noch mehr. Denn im Erfinden und Konstruieren »außergewöhnlicher Umstände« sind gewisse Politiker gewisser Staaten von keinem Sterblichen zu übertreffen. Der Fiskalpakt besagt, dass die Mitgliedsstaaten bis zum Erreichen eines ausgeglichenen Staatshaushalts ihre Schulden von Jahr zu Jahr verringern und diese Regeln in der nationalen Verfassung verankern werden. Abweichungen lösen automatische Korrekturen aus; Mitgliedsstaaten, die diese Regeln verletzen, haben der EU-Kommission und dem Europäischen Rat zu erklären, wie sie ihre Defizite dauerhaft zu senken gedenken, die jährlichen Haushaltspläne werden von der EU-Kommission und dem Europäischen Rat überwacht.
Das liest sich wie so vieles, das man zu Europa und zum Euro |16|hört, auf dem Papier sehr gut. Am 2. März 2012 war dieser Vertrag von 25 EU-Regierungen unterzeichnet worden: Jetzt war das deutsche Parlament gefragt. Zwei der 27 EU-Staaten, Großbritannien und Tschechien, hatten wegen grundsätzlicher Bedenken abgewinkt.
Die Dringlichkeit eines solchen Fiskalpakts war zum Zeitpunkt der Merkel’schen Regierungserklärung nur zu klar (dass er vermutlich wie fast alle EU-Sparbeschlüsse nicht eingehalten werden wird, steht auf einem anderen Blatt): Bis Juni 2012 waren aus Schutzschirmmitteln bereits mehr als 150 Milliarden Euro an durch eigenes Fehlverhalten in Not geratene Krisenstaaten überwiesen worden, weitere Staatsbankrotte drohten, ein Fass ohne Boden schien sich aufzutun: 110 Milliarden Euro gingen an Griechenland, 12 Milliarden Euro an Irland, 18 Milliarden Euro an Portugal. Und weitere Länder standen bereits vor der Tür. Zusätzlich waren private Gläubiger weltweit durch den Schuldenschnitt für Griechenland vom März 2012 um über 100 Milliarden Euro erleichtert worden. »Wenn die europäische Staatsschuldenkrise eines gezeigt hat, dann, dass die unverantwortliche Haushaltspolitik eines Euro-Staats die Finanzstabilität der gesamten Euro-Zone als Ganzes gefährden kann«, begründete Angela Merkel diesen Pakt in ihrer Regierungserklärung. Und so hatte sie auch kaum Probleme, 491 Abgeordnete für den Vertrag zu gewinnen. 111 Abgeordnete stimmten dagegen und 6 enthielten sich.
Am 1. Januar 2013 ist der Fiskalpakt dann in Kraft getreten, die Euroländer Österreich, Zypern, Deutschland, Estland, Griechenland, Spanien, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Portugal, Slowenien und Slowakei haben ihn bereits ratifiziert.
*
Der Fiskalpakt war aber nur eines der beiden großen Gesetze, die an diesem Abend zur Abstimmung anstanden. Das zweite hatte den unromantischen Titel »Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen |17|Stabilitätsmechanismus« und nahm in der Merkel’schen Regierungserklärung weit weniger Raum ein. Wie so oft, wenn wirklich wichtige Dinge verhandelt werden, geschah dies auch in diesem Fall quasi nebenbei. »Zusammen mit dem Fiskalvertrag liegt heute dem Bundestag und dem Bundesrat auch der Vertrag zur Einrichtung des dauerhaften Krisenbewältigungsmechanismus ESM zur Abstimmung vor,« sagte Angela Merkel und präsentierte dem Deutschen Bundestag ein weiteres Gesetz. Die Besonderheit, die man anscheinend nur zu gerne ins Kleingedruckte packt: Es stößt die europäische Tür zu den Rentenkassen und Sparkonten ihrer Wähler weit auf – und auch zu denen aller anderen Bürger, deren Vermögen und Ersparnisse sie als Bundeskanzlerin bei ihrer Vereidigung zu schützen geschworen hatte.
Der Text klingt auf den ersten Blick harmlos:
Artikel 1 Dem in Brüssel am 2. Februar 2012 von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichneten Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus zwischen dem Königreich Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, der Republik Estland, Irland, der Hellenischen Republik, dem Königreich Spanien, der Französischen Republik, der Italienischen Republik, der Republik Zypern, dem Großherzogtum Luxemburg, Malta, dem Königreich der Niederlande, der Republik Österreich, der Portugiesischen Republik, der Republik Slowenien, der Slowakischen Republik und der Republik Finnland wird zugestimmt. Der Vertrag wird nachstehend veröffentlicht.
Artikel 2 (1) Erhöhungen des genehmigten Stammkapitals nach Artikel 10 Absatz 1 des Vertrags bedürfen zum Inkrafttreten einer bundesgesetzlichen Ermächtigung zur Bereitstellung weiteren Kapitals.
(2) Der deutsche Gouverneur im Gouverneursrat des Europäischen Stabilitätsmechanismus und im Falle einer Delegation der |18|Entscheidung nach Artikel 5 Absatz 6 Buchstabe m des Vertrags der deutsche Direktor im Direktorium des Europäischen Stabilitätsmechanismus dürfen einem Beschlussvorschlag zur Änderung der Finanzhilfeinstrumente nach Artikel 19 des Vertrags nur zustimmen oder sich bei der Abstimmung über einen solchen Beschlussvorschlag der Stimme enthalten, wenn hierzu zuvor durch Bundesgesetz ermächtigt wurde.
(3) Änderungen des Stammkapitals nach Artikel 10 Absatz 3 des Vertrags und Änderungen des Beitragsschlüssels nach Artikel 11 Absatz 3 und 4 in Verbindung mit Artikel 11 Absatz 6 und Anhang I des Vertrags sind im Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen.
Artikel 3 (1) Dieses Gesetz tritt mit Inkrafttreten des Gesetzes zur finanziellen Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus, frühestens jedoch am Tag nach der Verkündung in Kraft.
(2) Der Tag, an dem der Vertrag nach seinem Artikel 48 Absatz 1 für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft tritt, ist im Bundesgesetzblatt bekannt zu geben.
Berlin, den 20. März 2012 Volker Kauder, Gerda Hasselfeldt und Fraktion Rainer Brüderle und Fraktion
Der eigentliche Sprengsatz ist nicht in diesem Gesetz, sondern in dem dort erwähnten »Vertrag zur Einrichtung des europäischen Stabilitätsmechanismus« versteckt; der ESM-Vertrag war von den Regierungschefs der Euro-Gruppe auf dem Gipfel des Europäischen Rates am 16./17. Dezember 2010 in Brüssel als Erweiterung von Artikel 136 des Vertrags zur Arbeitsweise der EU beschlossen und am 2. Februar 2012 von den Botschaftern der Euro-Staaten unterzeichnet worden. Er begründet eine mit 700 Milliarden Euro Anfangskapital ausgestattete (das entspricht rund einem Viertel des bundesdeutschen Bruttosozialprodukts) und in ihrer Lebens|19|dauer unbegrenzte neue Behörde in Luxemburg, an die sich bedrängte Staaten demnächst um Notkredite und Bürgschaften wenden dürfen; vor allem komatöse Geldinstitute sollen so am Leben erhalten werden. Dieses Gesetz verschleppt, verlängert und verteuert damit eine Krankheit, die schon jetzt einen guten Teil derjenigen Mittel aufgefressen hat, von denen viele in Deutschland tätige Wirtschaftsteilnehmer heute immer noch irrtümlich glauben, dass sie davon im Alter einmal leben werden.
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Abbildung 1Bisher (Stand Frühjahr 2013) aufgelaufene gesamteuropäische Haftungssummen (Mrd. Euro)
Quelle:ifo Institut|20|
Die Grafik fasst die bisher (Stand April 2013) aufgrund des genannten Gesetzes und verwandter Zusagen aufgelaufenen, zu einem guten Teil aus deutschen Spar- und Steuermitteln aufgebrachten Nothilfen zusammen. Details dazu in den weiteren Kapiteln dieses Buches. Insbesondere werden die sogenannten »Target-Schulden« in Kapitel 10 ausführlich erklärt. Pikanterweise haben Politik und Banken bis vor Kurzem abgestritten, dass ein derartiger Schuldenposten überhaupt existiert.
Wegen absehbarer Verfassungsklagen hatte Bundespräsident Gauck dieses Gesetz erst am 13. September 2012 unterzeichnet, seit dem 27. September 2012 ist der ESM mit der Hinterlegung der deutschen Ratifikationsurkunde beim Generalsekretariat des Rates der Europäischen Union in Kraft.
*
Vorausgegangen war dieser Sitzung des Deutschen Bundestags ein dramatischer Verhandlungsmarathon in Brüssel in der Nacht zuvor, »die Nacht, in der Merkel verlor« (Spiegel Online). Denn diese Nacht hatte nicht nur der deutschen Fußball-Nationalmannschaft eine schmerzliche EM-Halbfinalniederlage gegen Italien, sie hatte auch der deutschen Stabilitätspolitik eine ebenso schmerzliche und weitaus teurere Niederlage gegen die mit Italien verbündeten Mittelmeerländer eingebracht. So sah sich die Bundeskanzlerin zu zahlreichen nicht geplanten, mit großen Gefahren für deutsche Privat- und Staatsfinanzen verbundenen Zugeständnissen gezwungen, die in dem ursprünglichen Vertragstext nicht vorgesehen waren: Denn im ESM-Vertrag wird vereinbart, dass alle Euro-Staaten, sofern sie nur die jährlichen Zielvorgaben der EU-Kommission erfüllen, künftig ohne zusätzliche Konditionen Geld erhalten können. Zudem wurden damit auch viele andere bis dato gültige Schranken abgebaut und der Internationale Währungsfonds als Aufpasser in die Wüste geschickt. »Die Mittelmeerländer konnten einen echten Durchbruch feiern«, schrieb der Spiegel. Er sei sehr zufrieden mit dem Erreichten, kommentierte Italiens |21|Premierminister Monti, in Madrid sollen Sektkorken geflogen sein.
Für die Südländer, also für Italien, Spanien und Griechenland, war klar: Fiskalpakt nur gegen ESM. Der eine war das Ziel, der andere der Preis. Und zwar ein mehr als widerwillig akzeptierter Preis, den man zu zahlen von Anfang an nicht wirklich vorzuhaben schien. »Montis Aufstand begann am Donnerstagabend gegen 19 Uhr«, schreibt der Spiegel. »Da wollte EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy die erste Arbeitssitzung des Gipfels beenden und den Wachstumspakt vor der Presse verkünden. Monti wurde nach Angaben von Teilnehmern fuchsteufelswild. Wohin er denn wolle, fragte er Van Rompuy. Ob er ihn vielleicht nicht richtig verstanden habe? Er könne diesen Gipfel nicht ohne konkrete Maßnahmen gegen die hohen Zinsen auf italienische Staatsanleihen verlassen. Er werde dem Wachstumspakt nicht zustimmen, solange das nicht geklärt sei. Rajoy stellte sich hinter Monti und sagte, auch er könne dem Pakt noch nicht zustimmen.«
Die Südländer brauchten Geld, um ihre fälligen Staatsschulden zu bedienen. In normalen Zeiten ist das kein Problem: Man leiht sich neues Geld. In Krisenzeiten ist das anders: Die Investoren haben Angst, sie verleihen ihre Gelder nicht oder nur zu strengen Konditionen. So sah die Lage für Italien, Spanien und Portugal aus, als man sich im Juni 2012 in Brüssel traf. Wenn die Investoren aber sicher sein dürfen, so das Argument von Monti und Rajoy, ihre ausgeliehenen Gelder in fünf oder zehn Jahren wiederzusehen, dann werden auch die Zinsen sinken. Und all die Spekulanten, die auf einen Staatsbankrott gewettet haben, gucken in die Röhre.
Hier wurde die sogenannte Schaufenstertheorie genutzt: Man muss den Investoren, deren Geld man gerne hätte, das Geld zur Rückzahlung nur zeigen, dann investieren sie auch. Das funktioniert sozusagen wie das Gegenstück zur heiligen Inquisition des Mittelalters: Da wurden den Delinquenten die Folterwerkzeuge erst einmal nur gezeigt, um ihnen das Gestehen ihrer |22|Sünden zu erleichtern. Hier wird den Eigentümern der Gelder, die man selber gerne hätte, die Belohnung ins Schaufenster gelegt, um diese Gelder leichter zu erhalten. Dieses Schaufenstergeld mag tatsächlich, ähnlich wie ein Schmerzmittel, zur Beruhigung der Märkte beigetragen haben.
Aber genauso wenig, wie ein Schmerzmittel die eigentliche Krankheit heilt, kann dieses Schaufenstergeld die eigentliche Ursache für die Schwierigkeiten der Krisenländer beseitigen, neue Schulden aufzunehmen. Nämlich dass gewisse Länder angesichts ihrer selbst verschuldeten internationalen Wettbewerbsunfähigkeit auch in Zukunft kaum in der Lage sein werden, diese Schulden jemals zu begleichen. Auf diese zentrale Diagnose kommt dieses Buch noch oft zurück.
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Ein weiterer Sprengsatz war in einem auf den ersten Blick unbedeutend erscheinenden Zusatz der Gipfelerklärung vom 29. Juni 2012 verborgen, der den Kreis der potenziellen Hilfsempfänger mit einem Federstrich sozusagen explodieren ließ:
Sobald unter Einbeziehung der EZB ein wirksamer einheitlicher Aufsichtsmechanismus für Banken des Euro-Währungsgebiets eingerichtet worden ist, hätte der ESM nach einem ordentlichen Beschluss die Möglichkeit, Banken direkt zu rekapitalisieren.
Die Eurozone hat 17 Staaten, aber mehr als 5000 Banken. Und nun dürfen auch diese sich künftig an dem Steueraufkommen der EU-Bürger gütlich tun. »Rekapitalisieren« heißt dabei: Banken, die fällige Schulden nicht bedienen können oder deren Eigenkapital durch Wertverfall ihrer Aktiva unter die zulässige Grenze abgeschmolzen ist, bekommen neues Geld vom ESM. Während diese Zeilen entstehen, wird das gerade für die großen Banken Zyperns diskutiert. Da allerdings die Voraussetzung für das Anzapfen der EU, die gemeinsame europäische Bankenaufsicht, noch nicht vor|23|liegt, funktioniert das noch nicht automatisch, ansonsten hätten die Zyprioten diese Gelder schon.
Mit diesem einfachen Satz verdreifachte sich die potenzielle Haftung Deutschlands: von 3 Billionen auf 9 Billionen Euro. Denn die privaten Banken Spaniens, Griechenlands, Portugals, Italiens und Irlands – und wie später deutlich wurde: auch Zyperns – hatten bis zum Jahr 2012 weit mehr Schulden angehäuft als die Staaten, in denen sie ihre Geschäfte machten. Und auch für diese Schulden stehen demnächst alle Euro-Länder gemeinsam ein.
Das ist eine derart ungeheuerliche und ganz offensichtlich von der deutschen Regierung nicht geplante und auch nicht gewollte Erweiterung der deutschen Haftung für andere Länder der Eurozone, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestags dieses Monstrum wegen seiner Größe in ihrer Debatte am 29. Juni völlig übersahen, kein einziger Redner ging auf diesen Aspekt des ESM-Vertrags ein. Vielleicht hatten die meisten auch ihre Manuskripte schon Tage vorher abgeschlossen und kannten diesen Passus einfach nicht.
Als Erster sprach Sigmar Gabriel, er bekräftigte vor allem den Wunsch der SPD, den Zinsdruck von den Krisenstaaten wegzunehmen: »Sie lassen für Staaten der Euro-Zone eine Senkung des Zinsdrucks über die europäischen Rettungsschirme für die Fälle zu, in denen die betreffenden Staaten die europäischen Auflagen für ihre wirtschaftliche Entwicklung und Finanzlage einhalten«, erklärte er zustimmend. »Das ist mehr, als SPD und Grüne in den Verhandlungen mit der Bundesregierung Ihnen gegenüber durchsetzen konnten.« Es folgte das übliche parteipolitische Kleingezänk plus die obligatorische politisch korrekte Dankbarkeitsgeste: »Wenn wir jetzt für europäische Rettungsschirme mit bürgen, dann geben wir nur einen Teil dessen zurück, was wir selbst an der europäischen Einigung verdient haben.«
Es folgte Rainer Brüderle für die FDP. Auch er stellte allein die Vorteile des Vertrags heraus: »Wir müssen in Europa investieren, auch wenn der Weg lang und teuer wird; denn am Ende ist er kürzer und preiswerter als das Auseinanderfallen Europas«. Allenfalls |24|Sahra Wagenknecht von den Linken erwähnte kurz die Tatsache, dass es ja auch um Banken ging: »Tatsächlich ist es die Bankenkrise, die die Schulden der Staaten immer weiter nach oben treibt, weil Sie einerseits milliardenschwere Rettungsschirme aufspannen und riesige Brandmauern errichten und weil Sie andererseits nichts dafür tun, den eigentlichen Brandherd zu löschen.« Aber die möglichen Risiken für die deutsche Wirtschaft kamen auch bei ihr nicht vor. Und der Fiskalpakt ist für eine Linke natürlich Teufelswerk: »Wenn der Fiskalpakt eingehalten wird, müssen die europäischen Staaten in den nächsten Jahren über 2000 Milliarden Euro aus ihren Haushalten heraushacken: bei Gesundheit, bei Sozialem, bei Bildung und bei Renten. Was soll dann denn noch von Europa übrig sein?«
Auch Jürgen Trittin von den Grünen ging kurz auf die Rolle der Banken ein: »Sie wollten bis gestern Nacht keine Bankenunion«, sagte er zu Merkel gewandt. »Bis gestern Nacht wollten Sie keine direkte Rekapitalisierung von Banken. Sie wollten keine Hilfe aus dem Rettungsschirm ohne vereinbarte Austeritätsprogramme. Das war Ihre Position. Was lesen wir heute in den Beschlüssen des Rates? Sie sind für eine Bankenunion. Sie machen den Weg frei für eine direkte Rekapitalisierung von Banken.« Aber die möglichen Konsequenzen dieser direkten Rekapitalisierung sprach auch er nicht an. Und so redete ein Redner nach dem anderen an den wahren Problemen vorbei: Volker Kauder, Renate Künast, Philipp Rösler, Hubertus Heil, Gregor Gysi, Wolfgang Schäuble. Und selbst die Abgeordneten, die in persönlichen Erklärungen ihr Nein zu dem Vertrag begründeten, führten als Gründe eher völkerrechtliche (Peter Gauweiler) oder formaljuristische Argumente an: »Die mit dem Fiskalpakt … schleichend einhergehende Änderung bzw. Beeinflussung unserer Verfassung über europäische Verträge ist eine neue Staatspraxis, die ich persönlich nicht akzeptieren kann« (Peter Danckert, SPD). Nur Frank Scheffler von der FDP mahnte an, wenn auch eher indirekt, dass die durch den ESM-Mechanismus geschützten Banken für ihre Fehlentscheidungen selber einstehen sollten: »Wer Risiken als Investor |25|eingeht, der muss auch für diese Risiken haften. Er darf sie nicht zulasten der europäischen Steuerzahler sozialisieren.«
Auch dass der ESM-Vertrag nur zu offensichtlich der von Merkel zu zahlende Preis dafür war, dass sich die anderen Partner auf den Stabilitätspakt eingelassen hatten, wurde kaum zum Thema und auch von Frau Merkel selber sehr geschickt kaschiert: »Deshalb bilden auch für die Bundesregierung und die sie tragenden Parlamentsfraktionen diese beiden Verträge eine inhaltliche Einheit. Sie gehören zusammen«, hatte sie in ihrer Regierungserklärung gesagt, und so wiederholten es die anderen: »Es ist richtig, dass wir den ESM und den Fiskalpakt parallel auf den Weg bringen. Sie sind Zwillingsschwestern der Stabilitätsunion. Wir bauen eine neue Stabilitätsarchitektur in Europa. Es wird nationale Schuldenbremsen geben, quasiautomatische Sanktionen, Klagemöglichkeiten vor dem Europäischen Gerichtshof. Das alles hat entscheidend diese Bundesregierung durchgesetzt« (Rainer Brüderle). Auch die Grünen hatten nichts gegen diesen Kuhhandel einzuwenden: »Wir halten den ESM für ein notwendiges Instrument« (Jürgen Trittin). »Deswegen halten wir es für richtig, einem Fiskalpakt und einem Europäischen Stabilitätsmechanismus – unter der Maßgabe von mehr Investitionen für nachhaltiges Wachstum und einer vernünftigen Finanzierung durch eine Finanztransaktionssteuer – zuzustimmen.«
Nur Peter Danckert von der SPD befand: »Die Diskrepanz zwischen dem, was heute hier verbreitet wird, und dem, was zum Beispiel die Italiener und andere Staaten, zum Beispiel auch Frankreich, aus der gemeinsamen Erklärung herauslesen, ist erstaunlich.« Denn genauso entschieden, wie in Berlin vor allem Haushaltsdisziplin und Schuldenbremse als die Marksteine der zur Abstimmung anstehenden Verträge gesehen wurden, sah man in Athen, Madrid und Rom die Möglichkeit, nun bis zum Ende aller Zeiten neue Schulden aufzunehmen. Auf diese zentrale Diskrepanz kommen die weiteren Kapitel dieses Buches noch ausführlich zurück. Denn an Gutgläubigkeit und Wunsch|26|denken macht der deutschen Bundesregierung und erst recht den deutschen politischen Oppositionspartien kaum jemand etwas vor, es ist genau diese von Danckert benannte »Diskrepanz« zwischen dem, was [aus deutscher Sicht] vereinbart wird, und dem, was andere herauslesen, die zusehends die Fundamente des europäischen Hauses unterspült.
Als Einziger hatte wohl Peer Steinbrück die Tragweite der anstehenden Entscheidungen erfasst. Hier sein Redebeitrag:
Bei der Bundesregierung wird die neue Bankenunion zu einer Umwälzanlage von Kapital aus den Staatshaushalten in Bankbilanzen; denn anstatt beim Europäischen Rat Ende Juni 2012 endlich einen europäischen Abwicklungsmechanismus zu etablieren und damit die Staatshaftung zu beenden oder zumindest deutlich einzugrenzen, haben die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen zugestimmt, dass der Europäische Stabilitätsmechanismus in Zukunft – jetzt kommt es – Banken direkt rekapitalisieren kann, und das, obwohl weite Teile von Ihnen im Haushaltsausschuss vorher aus einer richtigen Erkenntnis heraus explizit das Gegenteil beschlossen haben. Jetzt haften die Steuerzahler in Deutschland nicht nur für die Banken im eigenen Land – siehe das Finanzmarktstabilisierungsgesetz und Folgegesetze, die wir hier gemeinsam beschlossen haben –, sondern auch für Banken in der gesamten Euro-Zone.
Diese Rede hielt Steinbrück allerdings nicht am 29. Juni 2012, sondern am 17. Januar 2013. In der Juni-Debatte trat er nicht als Redner auf, und er hat auch der Regierungsvorlage zugestimmt. Die Debatte im Bundestag war damit jedenfalls zu Ende. »Wir kommen zur dritten Beratung und zur Schlussabstimmung«, verkündete Bundestagspräsident Norbert Lammert kurz vor zehn. »Ich weise darauf hin, dass zur Annahme des Gesetzentwurfes gemäß Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes die Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Deutschen Bundestags erforderlich ist. Das sind mindestens 414 Stimmen.|27|
Wir stimmen nun über diesen Gesetzentwurf namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen und mir zu signalisieren, wenn das an allen Urnen der Fall ist. – Ich eröffne die erste namentliche Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? Das ist nicht der Fall, jedenfalls nicht erkennbar. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.«
*
Die Auszählung endete mit dem bekannten Ergebnis. Sie war der vorläufig letzte, langfristig aber vielleicht der entscheidende Schritt in ein Abenteuer, auf das sich die deutsche Politik zwanzig Jahre zuvor in Maastricht in guter Absicht, aber unvollkommener Kenntnis ökonomischer, politischer und geldtheoretischer Fundamentalzusammenhänge und voller Illusionen über die Absichten und Pläne ihrer Partnerstaaten hineinbegeben hatte. Dieses Abenteuer kann immer noch ein gutes Ende nehmen. Muss es aber nicht, und wird es auch wahrscheinlich nicht. Vor allem dann nicht, wenn die dafür Verantwortlichen weiter vor der so zentralen wie unangenehmen Tatsache die Augen schließen, dass diese am 29. Juni beschlossenen Rettungsmilliarden kaum mehr als ein kurzfristiges Sedativum sind: »Die Krankheit wird unterdrückt und bricht vollständig wieder aus, wenn man die Mittel absetzt«, so Hans-Werner Sinn in seinem Plädoyer vor dem Bundesverfassungsgericht einige Tage später. »Schlimmer noch: Weil die Schmerzmittel die Krankheit verschleiern, verzögern und behindern sie die Therapie der Ursachen. Man wähnt sich gesund und ist es nicht. Man verliert nur Zeit bis zur notwendigen Operation, und währenddessen breitet sich die Krankheit weiter aus.«
Die Geschichte, die Ursachen und das Wesen dieser Krankheit sind das Thema dieses Buches. Sie bedroht das Finanzvermögen der in Deutschland tätigen Wirtschaftsteilnehmer auf mindestens |28|dreifache Weise (und zu diesen Wirtschaftsteilnehmern gehören auch der türkische Gemüsehändler, der Teppich-Großimporteur aus Teheran, der thailändische Restaurantbesitzer oder der erfolgreiche Taxiunternehmer, der vor Kurzem mit seiner Großfamilie aus Bulgarien eingewandert ist): Einmal durch die Inflation. Davon ist im Augenblick noch nichts zu sehen, aber das dafür nötige Geld wird bereits gedruckt (u. a. auch zum Einspeisen in den vom Bundestag beschlossenen Euro-Rettungsschirm). Mit dieser Inflation verlieren alle heutigen Geldansprüche an Wert. Dazu gehört das idealtypische Sparkonto auf der Bank, aber auch die Kapitallebensversicherung, die mir in 20 Jahren 200 000 Euro auszahlt, wenn ich dann noch lebe, ganz allgemein sämtliche Ansprüche, die heute schon in Euro festgeschrieben oder versprochen sind, auch künftige Renten und Pensionen. Für viele Bundesbürger machen diese sogar den größten, wenn auch nirgends offiziell erfassten Teil ihres Vermögens aus.
Diese Inflation könnte es im Prinzip auch ohne Eurokrise geben, sie ist seit König Midas das erprobte Mittel aller Schuldner dieser Welt, ihre Schulden kostengünstig wieder loszuwerden. Der legendäre König Midas war noch gezwungen, seinen Gold- und Silbermünzen zwecks Ausweitung der Masse heimlich Kupfer beizumengen, selbst das ist heute nicht mehr nötig. Insbesondere wird im weiteren Verlauf dieses Buches gezeigt, wie die Eurokrise und die Europäische Zentralbank das Gelddrucken in bislang unbekannter und ungeahnter Weise fördern. Und spätestens seit dem 29. Juni 2012 haben sie dazu auch die Genehmigung des Deutschen Bundestags.
Der zweite Angriff auf das Geldvermögen aller in Deutschland tätigen Wirtschaftsteilnehmer ist der potenzielle und durch den Bundestagsbeschluss wahrscheinlicher geworden Wertverfall desjenigen Teils des deutschen Auslandsvermögens, der direkt oder indirekt aus nicht einklagbaren Forderungen der Bundesbank besteht. Wie bei der Inflation findet hier die Enteignung auf eher kaltem Wege statt: Die Betroffenen merken es kaum, ihr Vermögen stirbt wie ein Schwindsüchtiger einen sanften |29|Tod. Denn der Zusammenhang zwischen diesen zukünftig vielleicht wertlos werdenden Forderungen der Bundesbank (im Fachjargon auch Target-Salden genannt) und dem Vermögen der in Deutschland tätigen Wirtschaftsteilnehmer ist sehr delikat und indirekt, selbst Experten sind sich hier nicht einig, wie das alles funktioniert.
Der dritte Angriff ist dagegen offen und ehrlich, eine heiße Enteignung sozusagen. Dies ist der Fall der Fälle, dass die gigantischen, von der deutschen Bundesregierung eingegangenen und vom Deutschen Bundestag am 29. Juni 2012 sanktionierten Bürgschaften eines Tages tatsächlich einmal fällig werden sollten. Und wenn die deutsche Politik so weitermacht wie bisher, dann werden sie eines Tages zumindest in Teilen fällig werden.
Diese drei Angreifer helfen sich gegenseitig. Indem die Bundesregierung versucht, die dritte Gefahrenquelle zu bekämpfen, das heißt den Haftungsfall zu verhindern oder wenigstens so lange hinauszuzögern, bis die nächste Wahl vorbei ist, werden die potenziell wertlosen Auslandsguthaben und die Inflationsgefahren immer größer. Versucht man dagegen, die Inflation zu bremsen, etwa indem man die Target-Salden nach oben beschränkt, steigt dadurch das Risiko des Haftungsfalles, steigt die Gefahr, dass die von Deutschland eingegangenen Bürgschaften tatsächlich eines Tages fällig werden. Damit kann man den Bundestagsbeschluss vom 29. Juni auch als eine indirekte Einladung zur Erpressung sehen: Ab jetzt ist es für die deutsche Regierung fast unmöglich, bei künftigen Rettungsbeschlüssen, und diese werden so sicher wie das Amen in der Kirche kommen, jemals wieder Nein zu sagen. Die deutsche Politik steckt in einer Falle, in die sie – halb zog sie ihn, halb sank er hin – selbst hineingestolpert, aber auch gestoßen worden ist.
Diesen künftigen potenziellen Enteignungen vorgeschaltet ist bereits eine aktuelle Teilenteignung aller deutschen Sparer, nämlich durch die negativen Realzinsen, die sie auf ihre Ersparnisse erhalten. Auch diese sind eine direkte Folge der Eurokrise, wie die weiteren Kapitel zeigen werden, insbesondere eine Folge |30|der systematischen Zinssubventionen der Europäischen Zentralbank für bankrotte Krisenstaaten. Beim Verfassen dieser Zeilen lag der Zinssatz für auf ein Jahr festgelegte Sparguthaben bei knapp 1 Prozent, so niedrig wie noch nie. Die aktuelle Inflationsrate in Deutschland beträgt dagegen über 2 Prozent, das heißt, wer heute in Deutschland Geld für sein Alter auf die hohe Kante legt, wird systematisch ausgeraubt. Grob geschätzt halten in Deutschland tätige Wirtschaftsteilnehmer rund 1,5 Billionen ihres insgesamt rund 5 Billionen Euro umfassenden Brutto-Geldvermögens in Form von Festgeld oder Sparguthaben, dafür erhalten sie mindestens 1 Prozentpunkt weniger an Zinsen, als sie ohne Euro erhalten könnten. So führen die deutschen Sparer schon jetzt jährlich eine Zwangsabgabe in Höhe von aufsummiert 15 Milliarden Euro ab. Damit könnte man Stuttgart 21 dreimal bauen.
Dieses Gemisch von aktuellen und potenziellen Enteignungsversuchen ist höchst explosiv, und was auch immer die deutsche Politik in Zukunft in Sachen Euro tut, es ist sehr riskant und mit den Berliner Beschlüssen noch um einiges riskanter geworden. Und zu gewinnen gibt es auch nicht viel, es sind vor allem Schäden zu begrenzen, der Überschuss der Kosten über den Nutzen darf nicht aus dem Ruder laufen. Aber dazu muss man zuerst einmal diese Kosten kennen, muss zumindest ansatzweise wissen, was Zahlungsbilanzen, Kapitalexporte und Target-Salden sind, wie man die Geldmenge definiert, was diese von der sogenannten Geldbasis alias dem Zentralbankgeld unterscheidet und wie die Europäische Zentralbank überhaupt funktioniert. Wer verstehen will, warum die Euro-Rettung zu einem Fass ohne Boden und zur größten Vermögensvernichtungsmaschine der deutschen Geschichte zu werden droht, kann das nicht ohne Kenntnisse unserer Finanzverfassung tun. Zumindest die wichtigsten Wirkungskanäle, die uns dahin geführt haben, wo wir heute stehen, werden deshalb zunächst erklärt. Als Erstes folgt ein Kapitel, wie modernes Geld überhaupt entsteht, wer es macht und wie durch Geld eine moderne Wirtschaft überhaupt erst möglich wird.|31|
Ergänzende Literatur
Das Plädoyer von Hans-Werner Sinn vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am 10. Juli 2012 ist nachzulesen im ifo Schnelldienst 15/2012. Die Sitzungsprotokolle und Gesetzentwürfe des Deutschen Bundestags sind über die Netzseiten http://www.bundestag.de/dokumente/drucksachen/index.html abrufbar. Für die obigen Ausführungen wurden benutzt: Bundestagsdrucksache 17/9045: Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP. Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus sowie Plenarprotokoll 17/188: Stenografischer Bericht, 188. Sitzung. Zur Medienresonanz des Brüsseler Eurogipfels vom Juni 2012 siehe etwa Carsten Volkery: »Euro-Gipfel: Die Nacht, in der Merkel verlor«, Spiegel Online, 29.6.2012.|32|
Kapitel 2
Geld, was ist das überhaupt?
Vertrauen und Stabilität – von Geldmengen und ihrer Vermehrung
Nach Golde drängt,/Am Golde hängt/Doch alles. Johann Wolfgang von Goethe: Faust – Der Tragödie erster Teil|33|
Dies ist ein Buch über den Euro. Der Euro ist unser Geld. Aber was ist das eigentlich: unser Geld?
Zu Jesus’ Zeiten war die Antwort einfach: Judas bekam seine 30 Silberlinge. Davon hätte er sich dann so und so viel Scheffel Weizen, so und so viele Krüge Wein oder auch einen kleinen Olivenhain am Rande von Jerusalem kaufen können. Dazu kam es nicht, wie wir alle wissen, denn Judas zog es vor, aus Reue über den Verrat am Herrn freiwillig diese schöne Erde zu verlassen.
Geld waren damals in Münzform gepresste seltene Metalle, mit Gold und Silber an der ersten Stelle. Aber auch Kupfer oder Bronze, wie im alten China, kamen zuweilen vor. Die ersten derartigen Münzen sind für das 7. Jahrhundert v. Chr. in Kleinasien im Reich der Lyder nachgewiesen. Bis zu dieser Erfindung hatte die Menschheit also ziemlich lange gebraucht, die Pyramiden waren damals schon 2000 Jahre alt. Vorher hatte man einfach Metallbarren ausgetauscht, auch seltene Steine, Schnecken oder Muscheln dienten oft als Geld.
Das ist die erste Bedingung, damit irgendetwas als Geld funktioniert: Es darf nicht beliebig vermehrbar sein. Aus diesem Grund waren nach dem Zweiten Weltkrieg die amerikanischen Zigaretten auf deutschen Schwarzmärkten als Geldersatz so beliebt. Die Amerikaner hatten zwar beliebig viel davon, die Deutschen aber nicht. Diese Bedingung der beschränkten Vermehrbarkeit wird später in diesem Buch sehr wichtig werden, denn augenblicklich laufen in Europa die Notenpressen heiß.
Halten wir aber zunächst fest: Geld in Form von nicht vermehrbaren seltenen Dingen ist etwas Wunderbares. Hier muss der Schwarzmarkthändler nicht zwei Wochen warten, bis ihm jemand für ein gebrauchtes Radio, das er gerne loswerden möchte, eine warme Winterjacke gibt, die er gerade braucht. Er verkauft das Radio für 40 Zigaretten, kauft sich am Stand daneben für 35 Zigaretten eine dicke Winterjacke und begießt das Geschäft für 5 Zigaretten in der Kneipe an der Ecke mit einer Lokalrunde illegal gebrannten Schnapses. Das erleichtert den Austausch von Waren und Dienstleistungen ganz ungemein. Die Ökonomen nennen das |34|auch die Tauschfunktion des Geldes. Neben dem Rad ist das vermutlich die wichtigste Erfindung der Menschheit überhaupt.
Denn das Tolle am Geld ist: Für sein Radio kann sich der Schwarzmarkthändler nur von den Leuten etwas kaufen, die gerade ein Radio benötigen. Mit Geld kann er sich (fast) alles kaufen. Wenn auch die besten Dinge im Leben, so Albert Einstein, vielleicht die sind, die man nicht für Geld bekommt, ist es dennoch kein Wunder, dass diese Vielzweck-Besitzergreifungsmaschine namens Geld die Menschen fasziniert, seitdem sie existiert. »Geprägte Freiheit« hat Dostojewski das Geld einmal genannt.
Natürlich haben auch wunderbare Dinge ihre Schattenseiten. Zum Beispiel verändert Geld die menschliche Psyche. In seinem aktuellen Bestseller Schnelles Denken,langsames Denken berichtet der Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman von äußerst aufschlussreichen einschlägigen Experimenten. In einem zeigt man einer Hälfte einer Versuchsgruppe auf einem Bildschirm einen Haufen Dollarscheine, der anderen einen Blumenstrauß. Dann sollen alle Teilnehmer eine knifflige Aufgabe lösen, sie dürfen den Versuchsleiter um Hilfe bitten. Die mit den Dollars warten doppelt so lange mit der Bitte wie die Blumenkinder. Oder man bittet sie in ein Besprechungszimmer zwecks Unterredung mit einem anderen Versuchsteilnehmer, sie möchten schon mal zwei Stühle aufstellen. Dann geht der Versuchsleiter vor die Tür, um die zweite Person abzuholen. Die Blumen-Probanden stellen die Stühle mit durchschnittlichem Abstand 80 cm auf, die Dollar-Probanden lassen 118 cm Zwischenraum. Kahneman schließt daraus, dass allein schon der Gedanke an Geld die Menschen einerseits selbstbewusster, andererseits aber auch distanzierter gegenüber ihrer Umwelt macht.
Was aber auch immer die psychologischen Nebeneffekte sein mögen: Unter dem Gesichtspunkt des Gütertauschs ist Geld ein reiner Segen. In gewissen Kreisen gilt es zwar als Ausweis einer höheren Bildung, über Geld zu lästern, aber diese Leute würden heute noch in Höhlen hausen, wenn es die moderne Geldwirtschaft nicht gäbe. Vielleicht lebten sie psychisch ausgeglichener, aber dennoch nur in Höhlen.|35|
Dazu kommt ein weiterer großer Vorteil des Geldes, der unser Leben sehr erleichtert. Ohne Geld müsste der Bauer, der seine Milch gegen Brot eintauscht, das Brot bald essen. Mit Geld verkauft er heute seine Milch und kauft sich später dafür Brot. Die Ökonomen nennen das auch die Wertaufbewahrungsfunktion des Geldes. Unter anderem auch aus diesem Grund war sogenannten Naturalgeldprojekten wie Fellen, Kamelen oder Getreide, mit denen man in manchen Gegenden der Erde noch bis vor wenigen hundert Jahren zahlte, kein langfristiger Erfolg beschieden (»tut mir leid, kann nicht bezahlen, mein Geld ist gestern gestorben«) und eignen sich auch Metalle wie Eisen schlecht als Geld. Wer das in seinem Garten vergräbt, um es vor dem Finanzamt zu retten, wird sich 50 Jahre später gewaltig wundern. Gold und Silber dagegen rosten nicht. Auch diese Wertaufbewahrungsfunktion des Geldes wird in diesem Buch noch oft zur Sprache kommen. Denn Geld erfüllt seine Funktion nur dann, wenn seine Besitzer sicher sein können, dass sie auch in 10, 20 oder 50 Jahren dafür noch etwas bekommen. Auch das ist mit Geld in Form von Gold und Silber im Wesentlichen garantiert.
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Soweit ergeben sich also nur Vorteile und nirgends ein Problem. Diese fingen 200 Jahre v. Chr. im alten China an. Da erfanden die Chinesen das Papier. Und daraus fertigten sie die ersten Banknoten der Welt.
Die Idee ist gut: Will ich in einer weit entfernten Stadt eine Herde Kühe kaufen, so müsste ich mühsam eine große Menge Münzen dorthin bringen. Stattdessen trage ich die Münze zu einer Bank meines Vertrauens, die gibt mir einen Zettel, worauf steht: Zahle an den Überbringer dieses Zettels soundso viele Münzen aus. Noch heute ist etwa auf englischen Fünf-Pfund-Noten zu lesen: »I promise to pay the bearer on demand the sum of 5 Pounds« (»Ich zahle dem Überbringer 5 Pfund Sterling aus«). Gemeint war damit Sterling-Silber, daraus wurden in England |36|die frühen Silberpennies hergestellt. Statt einer schweren Truhe Silberpennies übergibt der Verkäufer dann einfach diesen Zettel, und alle Beteiligten haben sich viel Mühe und Arbeit gespart.
Vorausgesetzt natürlich, dass die Bank das nötige Silber im Ernstfall dann auch hat. Man sagt auch: das Papiergeld ist gedeckt. Man muss nicht lange nachdenken, um zu sehen, welche Versuchungen sich hier auftun. Schon der Bericht von Marco Polo über das erste Papiergeld in China lässt an dessen Deckung gewisse Zweifel aufkommen. »In der Stadt Kambalu (= Peking) befindet sich die Münzanstalt des Großkhans Kublai Khan, von dem man wirklich sagen kann, dass er das Geheimnis der Alchemisten kennt, da er die Kunst versteht, Gold zu machen.« So schreibt Marco Polo Ende des 13. Jahrhunderts. »Er lässt nämlich die Schale von den Maulbeerbäumen, deren Blätter den Seidenraupen als Futter dienen, abstreifen und nimmt davon die dünne Innenrinde, die sich zwischen der raueren Borke und dem Holz des Baumes befindet. Diese lässt er einweichen und in einem Mörser zerreiben, bis sie zu Brei geworden ist. Daraus wird das Papier gemacht, das dem aus Baumwolle hergestellten gleicht, aber ganz schwarz ist. Dieses wird nun in Goldstücke von verschiedener Größe geschnitten, die fast viereckig, aber meistens etwas länger als breit sind. Von diesen gilt der kleinste einen Pfennig, ein etwas größeres einen venezianischen Silbergroschen, das nächste zwei Groschen, dann fünf, dann zehn Groschen, wieder größere gelten einen, zwei, drei bis zu zehn goldene Byzantinen; und all dieses Papier wird so aufwendig hergestellt, als sei es lauter echtes Silber und pures Gold.«
Als sei es lauter echtes Silber und pures Gold. Welche Versprechen genau mit diesem Papier verbunden waren, erwähnt Marco Polo nicht. Aber irgendetwas Regierungsamtliches wird es schon gewesen sein: »Denn auf jedes dieser Stücke schreiben mehrere Beamte, die dazu besonders angestellt sind, nicht allein ihre Namen, sondern drücken auch ihre Siegel darauf, und anschließend taucht der oberste Münzmeister das ihm anvertraute Siegel in Zinnober und stempelt damit das Papier; auf diese Weise erhält es volle Kraft als gültige Münze.«|37|
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Abbildung 2Chinesisches Papiergeld der Hongwu-Ära, ca. 1380|38|
Aber diese volle Kraft als gültige Münze war offensichtlich nicht von Dauer, irgendwann müssen sich die Chinesen geweigert haben, dieses Papier, und sei es auch noch so aufwendig hergestellt und mit Siegeln versehen, als Zahlungsmittel anzunehmen – Anfang des 15. Jahrhunderts wurde das Papiergeld in China wieder abgeschafft.
In Europa war Spanien der Papiergeldpionier: Während der Belagerung der Festung Alhambra durch die Mauren im Jahr 1483 galten vom Kommandanten unterzeichnete Papierscheine dort als Geldersatz. Später kam dann auch in anderen, von der Münzversorgung abgeschnittenen belagerten Städten derartiges Notgeld zum Einsatz, etwa im Jahr 1793 bei der Belagerung von Mainz. Aber dergleichen Münz-Ersatzscheine wurden dann bald wieder aus dem Verkehr gezogen.
Die ersten offiziellen europäischen Banknoten emittierte die private schwedische »Bank von Stockholm« im Jahr 1661. Es folgte England – dort hatte König William im Jahr 1694 dem schottischen Kaufmann Paterson die Genehmigung zur Gründung der Bank of England inklusive des Rechts zur Ausgabe von Banknoten erteilt – und dann auch Deutschland; hier gab die »Banco di gyro d’affrancatione« im Jahr 1705 die ersten sogenannten »Banco-Zettel« aus, gefolgt von den sächsischen und preußischen Staatspapier- und Tresorscheinen des 18. Jahrhunderts. So wurde dann das Bezahlen mit Papier immer populärer. Ab der Goethezeit war die Banknote in Deutschland als Zahlungsmittel flächendeckend anerkannt.
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Die Akzeptanz von Banknoten steht und fällt natürlich mit dem Glauben, dass man im Bedarfsfall dafür tatsächlich »echtes« Geld bekommt. Papiergeld ist also in erster Linie eine Vertrauenssache. Worauf man da unter Umständen vertraut, hat niemand besser ausgedrückt als Goethe im ersten Akt von Faust, der Tragödie zweiter Teil. Hier schlägt Faust dem Kaiser vor, für noch nicht gehobenes Gold Papierscheine als Pfänder auszugeben: »Zu wissen sei es jedem, der’s begehrt: Der Zettel hier ist tausend Kronen wert«, verkündete der Kanzler voller Stolz. »Ihm liegt gesichert, als gewisses Pfand, Unzahl vergrabnen Guts im Kaiserland.«
Und zumindest in Faust II scheint dieses Schema, so der Schatzmeister, auch gut zu funktionieren:
So stempelten wir gleich die ganze Reihe, Zehn, Dreißig, Fünfzig, Hundert sind parat. Ihr denkt euch nicht, wie wohl’s dem Volke tat. Seht eure Stadt, sonst halb im Tod verschimmelt, Wie alles lebt und Lust genießend wimmelt!
Der Marschall sieht das ebenso:|39|
Mit Blitzeswink zerstreute sich’s im Lauf. Die Wechslerbänke stehen sperrig auf: Man honoriert daselbst ein jedes Blatt Durch Gold und Silber, freilich mit Rabatt. Nun geht’s von da zum Fleischer, Bäcker, Schenken; Die halbe Welt scheint nur an Schmaus zu denken, Wenn sich die andre neu in Kleidern bläht. Der Krämer schneidet aus, der Schneider näht. Bei ›Hoch dem Kaiser!‹, sprudelt’s in den Kellern, Dort kocht’s und brät’s und klappert mit den Tellern.
Dito Mephistopheles:
Ein solch Papier, an Gold und Perlen Statt, Ist so bequem, man weiß doch, was man hat; Man braucht nicht erst zu markten, noch zu tauschen, Kann sich nach Lust in Lieb’ und Wein berauschen. Will man Metall, ein Wechsler ist bereit, Und fehlt es da, so gräbt man eine Zeit. Pokal und Kette wird verauktioniert, Und das Papier, sogleich amortisiert, Beschämt den Zweifler, der uns frech verhöhnt. Man will nichts anders, ist daran gewöhnt. So bleibt von nun an allen Kaiserlanden An Kleinod, Gold, Papier genug vorhanden.
Solange also an Kleinod und Gold genug vorhanden ist, tun Banknoten hervorragend ihren Dienst. Aber schon im deutschen Kaiserreich rückte man von der vollständigen Deckung der Banknoten durch Goldbestände ab, und nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Deckung durch Gold oder Silber vollständig aufgegeben.
Und so ist es bis heute geblieben: Den Euro-Noten in unseren Brieftaschen entspricht kein realer Wert, ihren einzigen Nutzen ziehen Sie daraus, dass jeder Privat- und Geschäftsmann in der EU verpflichtet ist, diese Noten als Bezahlung anzunehmen. Und der Staat als der Hersteller der Noten sowieso.|40|
Wenn aber der Bestand an Banknoten nicht an reale Güter gekoppelt ist, lässt er sich im Prinzip beliebig vermehren. Man braucht dazu nur eine Druckerpresse und Papier. Und die Versuchung, sich auf diese Weise wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem wirtschaftlichen Sumpf zu ziehen, ist nur allzu groß. Schon die ersten Papiergeldversuche im Frankreich des frühen 18. Jahrhunderts endeten deshalb in einer wirtschaftlichen Katastrophe. Als im Jahr 1715 der Sonnenkönig Ludwig XIV. gestorben war, saß sein Nachfolger auf einem derart gewaltigen Schuldenberg, dass man seriöserweise den Staatsbankrott hätte erklären müssen. Die Ähnlichkeiten mit aktuellen Finanzkrisen liegen auf der Hand. Damals erschien der Retter in Gestalt des schottischen Bankiers und Ökonomen John Law; er zeigte dem Finanzminister, wie man Papiergeld druckt und damit seine Schulden tilgt. Gedeckt war dieses Geld u. a. durch noch nicht realisierte Gewinne aus diversen Überseegeschäften, und als diese Gewinne ausblieben, dämmerte vielen Franzosen, was sie da in den Händen hielten – nichts als wertloses Papier. Auch hier sind Vergleiche mit dem modernen Retter EZB und dessen Unterstützungspolitik für bankrotte Krisenstaaten durchaus angebracht, später dazu mehr.
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Die Deutschen denken bei dem Stichwort Notenpresse vor allem an die große Inflation von 1923. Um für die Kosten des verlorenen Krieges aufzukommen, speziell um die Reparationen an Frankreich zu bezahlen, hatte die Reichsregierung damals einfach Geld gedruckt (die Bindung an das Gold war schon zu Beginn des Krieges aufgegeben worden). Und da sie für ihr Geld immer weniger Devisen zur Bezahlung der Kriegskosten bekam – natürlich bestanden die Kriegsgewinner auf Dollar, Pfund und Franc –, druckte sie einfach noch mehr Geld, so lange, bis man im November 1923 für einen amerikanischen Dollar über 4 Billionen DM zahlen musste. Damit hatte eine der größten Geldvermögens-Ver|41|nichtungsaktionen der ganzen Menschheitsgeschichte ihren Höhepunkt erreicht. Unter Historikern gilt es als ausgemacht, dass die Machtergreifung der Nationalsozialisten zehn Jahre später erst durch diese monetäre Katastrophe möglich oder zumindest aber sehr erleichtert wurde.
Andere Länder hielten noch eine gewisse Zeit an der Bindung ihrer Banknoten an wahre Werte fest. In England etwa wurde im Jahr 1925 vom damaligen Finanzminister Churchill die bei Kriegsausbruch ausgesetzte Konvertibilität des britischen Pfundes gegen Gold wieder eingeführt. Allerdings war dadurch das britische Pfund dermaßen überbewertet, dass englische Güter auf den Weltmärkten nur schwer verkäuflich waren und als Folge der resultierenden Importüberschüsse immer mehr englische Pfund auf ausländische Konten flossen. Und die Ausländer tauschten diese Pfund dann wie versprochen gegen Gold, mit der Folge, dass binnen Kurzem die Goldbestände der englischen Zentralbank fast aufgebraucht gewesen wären. Deshalb schaffte auch England im Jahr 1931 den Goldstandard endgültig ab.
Einige Jahrzehnte länger hatten noch die USA versucht, ihre Dollars mit Gold zu hinterlegen. Bis dann der französische Präsident de Gaulle auf die Idee verfiel, für die von der französischen Nationalbank angehäuften Dollarscheine tatsächlich das Gold der Amerikaner einzufordern: Im Jahr 1966 ließ er mit U-Booten Woche für Woche rund 10 Tonnen Gold von New York nach Frankreich bringen.
Vielleicht hätten das die Deutschen genauso tun sollen. Denn noch heute liegt ihr Gold zum großen Teil in New York, 1536 Tonnen insgesamt (weitere 374 Tonnen liegen übrigens in Paris, dahin wurden sie im Kalten Krieg zum Schutz vor den Russen ausgelagert; aktuell ist die Heimholung geplant). Im Jahr 1973 kündigte Präsident Nixon dann endgültig das Recht zur Einforderung von Gold gegen Dollars auf. Seitdem gibt es weltweit keine einzige durch irgendwelche wahren Werte gedeckte Währung mehr. |42|
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Für Ökonomen ist das natürlich ein alter Hut, aber für viele andere Leser dieses Buches vielleicht nicht. Alles Geld auf der Welt ist heute Kunstgeld, »fiat money«, wie die Ökonomen sagen, sein innerer Wert ist null, es ist beliebig vermehrbar und lebt nur davon, dass die Menschen darauf vertrauen, dass die zuständigen Instanzen genau das nicht tun, dass andere Menschen auch in Zukunft dieses Geld als Zahlungsmittel akzeptieren.
Im Prinzip könnte also jede wie auch immer definierte Gemeinschaft auf dieser Erde ihr eigenes Geld erfinden. Und manche tun das auch. So haben etwa die als besonders eigensinnig bekannten Basken im französischen Teil des Baskenlandes zu Beginn des Jahres 2013 ihren eigenen Eusko eingeführt. Wer damit bezahlen oder bezahlt werden will, tritt der lokalen Vereinigung »Euskal Moneta« bei, und hat hinfort eine Währung mehr. Die Scheine werden nur in baskischen Geschäften angenommen und ausgegeben und sollen vor allem der lokalen Wirtschaft helfen. Zwar wird die französische Nationalbank nicht müde zu betonen, dass auch in dieser Gegend Frankreichs weiterhin der Euro das einzige legale Zahlungsmittel sei, aber wenn die Bürger sich freiwillig darauf verständigen, auch andere Scheine als Zahlungsmittel anzunehmen, kann keine Nationalbank der Erde dagegen irgendetwas tun. In England beispielsweise haben die Bürger der Stadt Bristol das Bristol Pound in den Verkehr gebracht, und auch in Deutschland ist seit einigen Jahren Privatgeld sehr beliebt: Der Sterntaler im bayrischen Ainring, die Landmark im thüringischen Reinstätt, die Bürgerblüte in Kassel oder der Volme Taler in Hagen. Insgesamt zählt die Bundesbank in einer Studie aus dem Jahr 2006 (»Regionalwährungen in Deutschland – Lokale Konkurrenz für den Euro?«) 16 aktive und über 30 geplante regionale Geldmacherinitiativen auf.
Die erfolgreichste und bekannteste ist wohl das Projekt Chiemgautaler: »Chiemgauer – Das bessere Geld für die Region«, wirbt der Urheber der Aktion, der Verein Chiemgauer e. V., auf seiner Netzseite www.chiemgauer.info: »In der Satzung des Chiemgauer e. V. ist der Chiemgauer als gleichberechtigtes Zahlungs|43|mittel festgelegt. Alle Nutzer des Chiemgauer werden Mitglied im Chiemgauer e. V. Die Regeln des Chiemgauer beschließt die Mitgliederversammlung.« Die Aktion gibt es seit dem Jahr 2003, inzwischen ist man auch schon im Ausland, etwa in Griechenland, daran interessiert: »Im Rahmen einer Tagung [in Griechenland] zur ›Vermarktung landwirtschaftlicher Erzeugnisse‹ wurde auch der Chiemgauer vorgestellt«, ist auf den Netzseiten zu lesen. »Die Einladung wurde vom Deutschen Generalkonsul in Thessaloniki, der Konrad-Adenauer Stiftung in Griechenland und der Stadt Langadas im Bezirk Thessaloniki ausgesprochen. Diese Institutionen wollen die Zusammenarbeit der beiden Länder im Rahmen der ›Deutsch-griechischen Versammlung‹ fördern. Ziel ist der Erfahrungsaustausch auf vielen Gebieten der Kommunalpolitik sowie eine Verbesserung der wirtschaftlichen Möglichkeiten für griechische Erzeuger und Unternehmen.«
Also: Geld ist das, was die Menschen zu Geld erklären. Auch die Zigaretten auf den deutschen Schwarzmärkten nach dem Zweiten Weltkrieg waren eine solche private Währung. Und für die Kinder auf dem Schulhof waren das früher die Murmelkugeln – zehn Murmeln für ein mäßig zerlesenes Micky-Maus-Heft, zwei Murmeln für ein Pausenbrot. Wichtig für das Funktionieren eines solchen Geldsystems ist allein, dass die Besitzer dieses Geldes darauf vertrauen dürfen, jederzeit und auch in Zukunft dafür reale Gegenwerte einzutauschen.
Dieser Glaube hält eine Währung am Leben. Das kann man nicht oft genug betonen: Geld ist nichts als Vertrauen, Geld ist nichts als Glaube. Geht der verloren, geht auch das Geld verloren. So konnte man in weiten Teilen des Balkans in den 90er-Jahren die lokale Währung sozusagen als Klopapier benutzen – die Menschen bestanden auf Bezahlung in deutscher Mark. Und auch heute sind Euro und Dollar in vielen Weltgegenden als Zahlungsmittel populärer, als es die nationalen Noten sind.
Warum war die Deutsche Bundesbank, als es sie noch in ihrer alten Fassung gab, die mit Abstand höchstgeachtete Institution der ganzen Republik? Weil man ihr glaubhaft zutraute, den Geld|44| wert stabil zu halten. Das nächste Kapitel erzählt diese Erfolgsgeschichte nochmals nach. Und nicht ohne Grund ist die Stabilität des Geldwerts – zumindest offiziell auch das wichtigste Ziel der Europäischen Zentralbank (EZB). In Artikel 282 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ist festgelegt: »Die Europäische Zentralbank und die nationalen Zentralbanken bilden das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) […] Sein vorrangiges Ziel ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten.«
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Abbildung 3Das ist der aktuell wertvollste Geldschein der Welt: 10 000 Singapur-Dollar sind mehr als 6 000 Euro wert.
Dass die EZB dem konsequent zuwiderhandelt, indem sie hinter dem Rücken der EU-Bürger die Druckerpresse laufen lässt, wird in den weiteren Kapiteln dieses Buches leider nur allzu deutlich werden.
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Mit der deutschen Inflationskatastrophe von 1923 lässt sich nochmals einer der fundamentalen Wirkungsmechanismen des modernen Wirtschaftsgeschehens in Erinnerung rufen: der Zusam|45|menhang zwischen Geldmenge und Preisniveau. Ob diese beiden Größen wirklich proportional zueinander verlaufen – das ist die sogenannte Quantitätstheorie – oder mehr oder weniger um einen Proportionalitätsfaktor herum schwanken, ist dabei unerheblich. Fest steht: Jede Erhöhung der Geldmenge bietet einen Anreiz zur Preiserhöhung, und dieser Anreiz setzt sich langfristig auch in höheren Preisen durch. Wenn die Kinder auf dem Schulhof doppelt so viele Murmeln haben wie vorher, dann kostet ein Micky-Maus-Heft bald nicht mehr 10 Murmeln, sondern 20. Das mussten schon die Spanier im 16. Jahrhundert leidvoll erfahren, als sie sich im Glanz des Goldes der Inkas und Azteken sonnten. Durch dieses neue Gold, und noch mehr durch die neu entdeckten Silberminen, kam so viel Geld ins Land, dass sich die Preise für Brot und Fleisch im späten 16. Jahrhundert fast verzehnfachten. Wirtschaftshistoriker sprechen auch von der ersten großen Inflation.
Da aber Gold und Silber nicht durch einen Federstrich zu erschaffen waren, blieb die Inflationsrate begrenzt. Kann man das Geld dagegen billig selber drucken, gibt es für Inflationen keine Obergrenze. Die in Deutschland 1923 mit einer Preissteigerungsrate von (auf das Jahr umgerechnet) mehreren Millionen Prozent war zwar die vielleicht folgenreichste, mit der größten Zahl an enteigneten Geldvermögensbesitzern und der Nazi-Diktatur am Schluss, aber an reinem Ausmaß der Preissteigerung wird sie noch von der gar nicht lange zurückliegenden Inflation in Simbabwe übertroffen: Am 16. Januar 2009 gab man dort eine Banknote mit dem Wert von 100 Billionen (100 000 000 000 000) Simbabwe-Dollar aus. Dafür gab es in etwa so viel Benzin, Brot und Getreide wie für einen einzigen Simbabwe-Dollar fünf Jahre zuvor.
Den Besitzern des Benzins und des Getreides ist das gleich, viele profitierten sogar davon. Aber wer im Jahr 2004 etwa 1 000 Simbabwe-Dollar verliehen hatte, was damals eine Familie einen Monat lang hätte ernähren können, konnte sich dafür fünf Jahre später gerade noch ein Reiskorn kaufen.
Umgekehrt ist eine große Inflation für Schuldner aller Art natürlich wie Weihnachten und Ostern an einem Tag. Das gilt be|46|sonders für den Superschuldner Staat. So hat etwa die deutsche Reichsregierung ihre Kriegsschulden nach dem Ersten Weltkrieg von damals 154 Milliarden Mark (dies klingt heute wenig, war damals aber ein Mehrfaches des deutschen Sozialprodukts) durch die Inflation von 1923 auf – bitte mitschreiben – ganze 15 Pfennig reduziert. Davon träumen die Finanzminister heute noch.
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