Kalte Schnauzen, heiße Fährten - Cathy Aydemir - E-Book

Kalte Schnauzen, heiße Fährten E-Book

Cathy Aydemir

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Beschreibung

Diese Spürnasen auf vier Pfoten lösen jeden Fall! In den 12 Geschichten spielen die Vierbeiner die Hauptrollen, agieren als unbestechliche Zeugen, verhindern Entführungen, apportieren Beweismaterial oder entlarven den Mörder. Begleiten Sie unsere tierischen Protagonisten durch aufregende Abenteuer und skurrile Begegnungen. Jede Geschichte, verfasst von hundeverliebten Autorinnen und Autoren, bietet ein einzigartiges Zusammenspiel aus Spannung und Humor. Ein Muss für alle Krimifans und Hundeliebhaber!

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Ingrid Werner (Hrsg.)

Kalte Schnauzen, heiße Fährten

Krimis rund um den Hund

Zum Buch

Auf den Hund gekommen Von witzig und herzerwärmend bis spannungsgeladen und gruselig: Diese Krimis mit tierischen Helden sind ein Muss für jeden Hundeliebhaber und Krimifan.

Fiebern Sie mit, wenn unsere vierbeinigen Freunde den Mörder in eine Falle locken, die Spur eines Entführungsopfers aufnehmen, jemanden vor dem Erfrieren retten oder Leichen aus dem Wasser ziehen. Folgen Sie ihnen ins Künstlermilieu Münchens, ins gewitterumwölkte Nordrhein-Westfalen, in einen Schweizer Schrebergarten und ins Punk-Berlin der 80er-Jahre. Die Tatorte und Verbrechen sind genauso vielfältig wie die Fellnasen.

Mit Beiträgen von Catharina Aydemir, Raoul Biltgen, Bettina Brömme, Nadine Buranaseda, Stefanie Gregg, Laszlo Hartmann, Thomas Kastura, Beatrix Mannel, Edith Polkehn, Barbara Saladin, Ingrid Werner und Christine Ziegler.

Ingrid Werner hat sich mit ihren Berufen Bankkauffrau, Juristin, Heilpraktikerin und Mutter von drei Kindern perfekt auf das Schreiben von Krimis vorbereitet. Seit 2010 mordet sie auf dem Papier – in kurz oder lang. Ihre Kurzkrimis wurden mehrfach für Krimipreise nominiert und sie bekam das begehrte Stipendium »Tatort Töwerland«. Neben Krimis sind Hunde ihre Leidenschaft. Diese Anthologie widmet sie ihrer wundervollen Retriever-Mix-Hündin Sammi.

Mehr Informationen zur Autorin: www.werner-ingrid.de

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

Coverdesign: Ingrid Werner mit einer Illustration von Icons8 via Canva

ISBN 978-3-8392-7828-4

Qualität seit 2002

Bettina Brömme

»Brigitte?« Ich sah irritiert von dem eng beschriebenen Dokument auf. »Der Hund heißt Brigitte?«

Der Notar schüttelte sanft den Kopf und betrachtete mich nachsichtig.

»Sie hat es vorgezogen, ihn ›Brieschiett‹ zu nennen. Wie die Bardot. Brieschiett Bardot. Sie kennen die Schauspielerin bestimmt.«

Weit hinten aus meinem Gehirnkasten wurde das Bild einer blonden Frau mit großem Mund und großem Busen abgerufen. War sie nicht in den 60ern ein Star gewesen? Und hatte es nicht vor ein paar Jahren einen Skandal um sie wegen Rassismusvorwürfen gegeben? Ich würde das googeln.

»Wie kam sie denn da drauf?«

»Na ja, der Pudel ist genauso blond, wie es Brigitte Bardot einmal war. Crème, um genau zu sein. Wie Café au Lait«, erläuterte er. »Ihre Tante hat die Französin zeit ihres Lebens verehrt.«

»Ist mir neu«, entfuhr es mir und der Notar hakte sofort nach: »Wann, sagten Sie, Herr Grützke, haben Sie Ihre Tante das letzte Mal gesehen?«

Ich kratzte mich am Hinterkopf. »Zu meiner Abiturfeier. Also vor knapp 18 Jahren. Über Brigitte Bardot haben wir damals jedenfalls nicht gesprochen.«

»Vermutlich eher über den Smart, den sie Ihnen zum bestandenen Schulabschluss geschenkt hat.«

Der Mann wusste Bescheid, das musste man ihm lassen. Ich rutschte ein wenig unbehaglich auf dem harten Besucherstuhl herum, auf dem ich vor seinem protzigen Schreibtisch saß.

»Schauen Sie, es ist nicht so, wie Sie es sich vermutlich vorstellen. Ich hatte immer ein gutes Verhältnis zu meiner Tante«, erläuterte ich. »Wenn auch kein allzu enges. Ich habe sehr viel gearbeitet in den vergangenen Jahren. Ich habe ja keine Familie. Außer … meiner Tante. Bis vor vier Wochen.«

»Das geht mich alles nichts an.« Der Notar hob abwehrend die Hände. »Ich bin nur dafür da, Ihnen den letzten Willen der Verstorbenen darzulegen.«

Ich nickte. »Und das mit dem Hund ist unvermeidlich?«

»Wenn Sie den Nachlass annehmen möchten, ja. Ohne Hund kein Erbe.« Er lehnte sich in seinem überdimensionierten Chefsessel zurück und kreuzte die Arme vor der lavendelfarbenen Krawatte. Dem einzigen Farbtupfer in diesem grauen Büro.

»Falls Sie sich nicht um Brieschiett kümmern wollen – oder können –, bekommt das örtliche Tierheim alles.«

Ohne es verhindern zu können, entfuhr mir ein Stöhnen.

»Und wie alt ist Brieschiett?«

»Vier. Im besten Alter. Das Tier wird Ihnen noch locker zehn Jahre treu zur Seite stehen.«

Ich stützte den Ellenbogen auf der schmalen Armlehne ab und vergrub mein Kinn in der Hand. Was sollte ich mit einem Hund anfangen? Als Kind hatte ich mich schrecklich vor den Vierbeinern gefürchtet. Ich hatte nie um ein Haustier gebettelt, nicht mal um einen Goldfisch. Nie hatte ich Froschlaich nach Hause gebracht, um die Entwicklung bis zum Minifrosch zu beobachten. Ich war Geisteswissenschaftler, kein Biologe. Ich fand Tiere eher unappetitlich und sie verunsicherten mich. Ich hatte nur einen einzigen Freund, der einen Hund besaß –, und von dem hatte ich bestimmt seit zwei, drei Jahren nichts mehr gehört. Oder war es eine Katze?

»Ähm«, kam es mir da in den Sinn. »Aber dürfte ich Brieschiett fremd betreuen lassen?«

Die Geschwindigkeit, in der der Notar mit dem Kopf schüttelte, machte jede Hoffnung in Sekundenschnelle zunichte.

»Sie kontrollieren das?«

»Wir haben da unsere Möglichkeiten«, teilte er mir mit einem breiten Grinsen mit. »Vielleicht sollte ich Ihnen noch einmal zusammenfassen, was das Erbe alles umfasst.«

Ehe ich mich wehren konnte, begann er schon vorzulesen: »Erstens: ein Barvermögen von 234.000 Euro. Zweitens: eine 120 Quadratmeter große Eigentumswohnung im Dachgeschoss des Anwesens Bergerstraße 35. Drittens: vier Ladengeschäfte im Erdgeschoss des Anwesens Bergerstraße 35, drei davon verpachtet, eins leerstehend. Viertens: ein Nummernkonto …«

»Ist ja schon gut«, unterbrach ich ihn.

»Sie werden den Hund mögen«, versprach mir der Notar.

Zwei Stunden später versuchte ich, eine riesige Kiste voller Hundeaccessoires in meinem Auto unterzubringen. Ich fuhr zwar nicht mehr den Smart, den mir Tante Hella vor bald 18 Jahren geschenkt hatte, aber auch der Fiat 500 war nicht gerade für eine Großfamilie gedacht. Als literarischer Übersetzer waren meine finanziellen Mittel sehr überschaubar.

»Vielleicht packen Sie die Sachen lieber einzeln ins Auto?«, hörte ich die Stimme der jungen Mitarbeiterin aus der Hundepension. Ich fuhr herum und stieß mir den Kopf am Türrahmen. Sie lächelte mich etwas gequält an und stellte eine zweite, immerhin kleinere Kiste neben dem Wagen ab.

»Ja, das ist vermutlich besser«, stimmte ich zu, platzierte meinen Karton daneben und öffnete ihn. Futternäpfe, Decken, ein Körbchen, verschiedene Leinen, Dosen voller Hundefutter, Kackbeutel, Spielzeug und ein paar Dinge, deren Zweck ich auf den ersten Blick nicht erkennen konnte, lagen darin wild durcheinander.

»Dann hole ich solange mal Brieschiett.« Sie nickte mir aufmunternd zu, und als sie sich umdrehte, hatte ich für einen kurzen Moment die Vision, einfach davonzufahren. Sollte das Tierheim doch all das Geld bekommen. Besitz macht unfrei, das wusste jeder!

Aber dann fiel mir die Steuernachzahlung ein, die ich tätigen musste. Und mein altersschwacher Computer. Die Schulden bei meinem Freund Meini. Und die Tatsache, dass ich seit bestimmt fünf Jahren keinen Urlaub mehr gemacht hatte.

Das Körbchen passte gerade so hinter den Beifahrersitz, den ich, so weit es ging, nach vorne schob. Die Dosen quetschte ich mit den Leinen und den Decken hinter den Fahrersitz, und kaum hatte ich das Spielzeug in die letzten freien Ecken verfrachtet, hörte ich ein garstiges Knurren.

»So, und das ist jetzt die Brieschiett.« Lag in der Stimme der Tierpensionsmitarbeiterin etwa Erleichterung? Als sei sie froh, den Hund loszuwerden?

Langsam drehte ich mich um. Der Pudel war viel kleiner, als ich erwartet hatte. Er ging mir kaum bis zum Knie. Nahm ich zumindest an, denn im Moment lag Brieschiett flach auf dem Asphalt und die junge Frau schleifte sie an der Leine hinter sich her. Vermutlich der Grund, warum Brieschiett so knurrte.

»Sie mag keine roten Autos«, erklärte die Mitarbeiterin. Na, das ging ja gut los. »Und getragen wird sie auch ungern.«

Sie drückte mir die Leine in die Hand, verabschiedete sich mit einem »Ich muss dringend weiterarbeiten« und ließ mich mit meinem Neubesitz allein zurück.

Brieschiett lag weiter flach auf dem Boden und knurrte vor sich hin.

»Ähm, ähm …«, rief ich der Frau nach. »Was mache ich denn jetzt?« Aber da fiel schon die Tür der Hundepension ins Schloss. Ein paar Minuten stand ich ratlos vor dem Hund, der zutiefst beleidigt wirkte. Brieschiett war mittlerweile aufgestanden und versuchte, zurück zur Pension zu laufen, was ihr natürlich nicht gelang, da ich ja die Leine fest in der Hand hielt. Sie ignorierte mich komplett und bellte nun laut und durchdringend. Es war völlig klar: Ich wollte Brieschiett nicht und sie wollte mich nicht.

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Aber wir müssen irgendwie miteinander klarkommen. Ich muss meine Steuerschulden zahlen. Ich habe keine Wahl.«

Brieschiett kläffte weiter und ich kam mir vor wie der größte Depp. Es waren noch keine fünf Minuten vergangen und ich sprach mit einem Hund. Was erwartete ich? Dass sie sich umdrehen und sagen würde: »Ach so, du, klar. Jetzt, wo du’s sagst … Na, dann komme ich eben mit.«

Natürlich geschah nichts dergleichen. Im Gegenteil, aus dem Bellen wurde ein erbärmliches Winseln und ich hatte die Befürchtung, gleich würde mich irgendein Passant wegen Tierquälerei anzeigen.

Stattdessen ging die Tür der Hundepension auf, die Mitarbeiterin kam mit genervtem Gesichtsausdruck heraus und streckte mir ein kleines Beutelchen entgegen.

»Das habe ich noch gefunden. Damit bekommen Sie sie sicher ins Auto.«

Ehe ich nachfragen konnte, was sie meinte, war die Frau schon wieder verschwunden. Ich öffnete den lila Beutel mit den goldenen Applikationen und starrte auf kleine, hellbraungraue Würmchen. Sofort stellte Brieschiett ihr Rumgeheule ein, kam auf mich zu und sprang an meinem Bein hoch. Ihre schwarzen Knopfaugen betrachteten sehnsuchtsvoll das Behältnis. Ich senkte es und sie vergrub ihre Nase darin. Ah, Hundeleckerli!

Während sie alles um sich herum vergessend schnabulierte, packte ich sie unter dem Bauch, hob sie vom Boden auf und setzte sie in den Fußraum vor dem Beifahrersitz. Brieschiett zuckte nicht mal mit dem Stummelschwanz. Eins zu null für mich. Oder nein, eher für sie. Denn ich hatte sofort verstanden: Willst du, dass dein Hund kooperiert, dann gib ihm eine Belohnung. So einfach war es für sie, mich zu konditionieren.

Die nächsten Tage vergingen ganz im Modus »trial and error«. Musste Brieschiett dringend pinkeln oder hatte sie Hunger? – Meist beides. Konnte ich sie morgens um halb sieben irgendwie davon überzeugen, dass es noch nicht Aufstehzeit war? – Nein. Wie viele Leckerli waren okay, ohne dass sie sich überfraß? – Nicht zu viele. Kam sie beim Spaziergang zu mir zurück, wenn ich sie von der Leine lassen würde? – Ja, nach langem Geschrei. Und vor allem: Würde ich ihr ihre Marotten austreiben können? Denn eines wurde mir schnell klar: Tante Hella hatte das Tier offensichtlich so verwöhnt und verhätschelt, wie es nur ging. Ohne mit der Wimper zu zucken, erkor Brieschiett mein Bett zu ihrem Schlafplatz. Sie bettelte beim Essen so vehement, dass ich nicht anders konnte, als ihr etwas abzugeben. Und sie hörte auf meine Kommandos nur, wenn ihr der Sinn danach stand und ich mich schon fast heiser gebrüllt hatte.

Eigentlich hätte ich stinksauer sein müssen – auf Tante Hella, die mir dieses Tier beschert hatte, und auf Brieschiett, die meinen Tagesablauf komplett durcheinanderbrachte. Doch irgendwie … ich hätte es nicht erklären können … gewöhnte ich mich schnell an ihre Anwesenheit. Und sie sich offensichtlich an meine. Denn wenn sie morgens mit ihrer rauen Zunge über mein Gesicht fuhr, erwachte ich anders als sonst. Ich fühlte mich … munterer. Ich freute mich darauf, mit ihr herumzutoben, ihr seidenweiches, herrlich lockiges Fell zu streicheln und ihr geschäftiges Treiben rund um den Futternapf zu beobachten. Ich spürte, dass mir die viele Bewegung im Freien mindestens so guttat wie ihr, und mich durchströmte purer Stolz, wenn ich bemerkte, dass sie immer besser auf Kommandos hörte. Ich vernachlässigte vor lauter Hund sogar meine Arbeit und mein Sozialleben. Ein Blick aus ihren tiefschwarzen Augen gab mir mehr, als es ein Kneipenabend vermocht hätte.

Und ich bemerkte, wie klug Brieschiett tatsächlich war. In meine zum High five dargebotene Hand mit ihrer Pfote einzuschlagen, war für sie ein Kinderspiel. Auch die Befehle »Platz« oder »Bring das Stöckchen« erfüllte sie traumwandlerisch. Und mir machte es unerwarteten Spaß, ihr die absurdesten Dinge beizubringen. So hob sie bald ihre Pfoten im gleichen Takt wie ich Arme und Beine, sodass es aussah, als würden wir miteinander tanzen. Auch auf Kommando eine Tür zu schließen, verstand sie rasch. Die allermeiste Freude bereitete es uns jedoch, wenn ich mit den Fingern eine Pistole formte, »Peng« rief und sich Brieschiett wie von einer Kugel getroffen zur Seite fallen ließ und tot stellte. Wir erweiterten das Kunststück sogar. Ich packte sie spielerisch am Hals, schüttelte sie sanft hin und her und tat so, als würde ich sie erwürgen. Nach kurzer Zeit schnaufte sie einmal kräftig aus und entspannte alle Muskeln so, als hätte sie das Zeitliche gesegnet. Die Hundeleckerli, die für diesen Trick draufgingen, waren nicht mehr zu zählen.

Vor lauter Hund war ich gar nicht dazu gekommen, mich um den Rest meines ja doch beträchtlichen Erbes zu kümmern. Erst als ich das Gefühl hatte, das Zusammenleben mit Brieschiett verlief in ruhigeren Bahnen, entschloss ich mich, endlich die Dachgeschosswohnung und die vier Ladenlokale zu besichtigen. Es war längst überfällig, dass ich meine Mieterinnen, von denen ich bisher nur die Namen wusste, kennenlernte.

An einem der ersten warmen Frühlingstage zogen wir also gegen Mittag los, Brieschiett und ich. Die Bergerstraße lag in einem in die Jahre gekommenen Neubauviertel am Stadtrand und sie beherbergte neben Hochhäusern auch eine Ladenzeile mit Geschäften des täglichen Bedarfs. Ein Supermarkt, einen Bäcker, eine kleine Pizzeria, ein paar Ärzte und eine Sozialstation gab es hier. Und »meine« Läden. Wie an einer Perlenkette aufgefädelt lagen sie nebeneinander: ein Massagesalon, ein Nagelstudio, ein Hundefriseur und eine Änderungsschneiderei. Letztere stand leer, und wie ich dem umfangreichen Nachlass hatte entnehmen können, hatte Tante Hella diese persönlich betrieben. Ich spähte durch das mit löchrigen Gardinen verhangene Schaufenster ins schummrige Innere. Mit Mühe machte ich eine Theke aus, auf der eine altmodisch wirkende Kasse stand. Daneben ein paar Garderobenständer mit nackten Bügeln, eine Schneiderpuppe, einige offenstehende Kartons mit Stoffballen darin. Der Laden wirkte heruntergekommen und armselig. Zum ersten Mal fragte ich mich, wie es Tante Hella geschafft hatte, so ein Vermögen anzusparen. Nur durch die Vermietungen? Aber wie hatte sie sich den Kauf der Immobilien leisten können? Sicherlich hatte sie immer sparsam gelebt, der Hund war ihr einziger Luxus gewesen. Dennoch: Mit Änderungsarbeiten an zerschlissenen Hosen und ausgeleierten Rockbünden war doch gewiss kein solcher Staat zu machen. Und selbst wenn sie mir damals in einer großzügigen Geste den Smart geschenkt hatte – Tante Hella hatte mir kaum je eine Weihnachtskarte geschrieben oder mir zum Geburtstag gratuliert, geschweige denn mich irgendwie finanziell unterstützt. Obwohl wir die letzten Nachfahren der schmalen Äste des Familienstammbaums waren, unser Verhältnis war noch deutlich dürrer gewesen. Vielleicht war das so eine Marotte bei uns: Wer blutsverwandt war, hielt Abstand voneinander. Sie und mein Vater hatten sich, soweit ich das wusste, nie viel zu sagen gehabt, zu ihren gemeinsamen Eltern hatte es kaum Kontakt gegeben. Und auch zwischen meinen Erzeugern und mir war immer Distanz gewesen. Meine Eltern hingegen hatten in einer ziemlich symbiotischen Beziehung gelebt. Kein Wunder vielleicht, dass sie zusammen gestorben waren.

»Ah, die Brieschiett!«, rief plötzlich eine Frauenstimme in den höchsten Tönen. Der Hund begann, eifrig an der Leine zu ziehen und bellte begeistert. Kaum fünf Meter entfernt entdeckte ich eine blonde Frau, deren grelle Schminke und üppige Tattoos an den Unterarmen nicht davon ablenken konnten, dass sie die 50 vermutlich überschritten hatte. Ich löste den Pudel von der Leine und er warf sich der Frau geradezu in die Arme. Sie kraulte ihn, ließ sich unbekümmert das Gesicht abschlecken und bedachte ihn mit einer Kaskade an Kosenamen. »Meine Hübsche! Du Süße! Ja, du putzige, kleine Briiiiiieschiiiiiett! Bist du endlich wieder da? Wo warst du denn die ganze Zeit, du Racker? Brauchst du ein Leckerli? Du brauchst doch ein Leckerli!«

Mich beachtete sie nicht weiter und zog den Hund durch die Tür des Nagelstudios. Die sechs Plätze darin waren unbesetzt, offenbar hatte die Frau nach einer Mittagspause gerade erst wieder aufgesperrt.

»Ähm, hallo!«, rief ich hinterher und folgte den beiden. Ein chemisch-beißender Geruch empfing mich, der mir fast den Atem nahm. Neidisch sah ich auf die FFP2-Maske, die um das Handgelenk der Nageldesignerin baumelte. Ich blickte mich rasch um: Der Laden wirkte steril und unpersönlich, nur die Großaufnahmen an den Wänden von Fingernägeln mit den bizarrsten Mustern lockerten die Atmosphäre etwas auf.

»Ich bin Theo Grützke. Der Erbe von Frau Grützke, meiner Tante«, stotterte ich. Ich fühlte mich, als wäre ich vor den Rektor meines Internats zitiert worden.

Die Frau ließ Brieschiett irgendwelche Hundekekse aus ihrer Hand knabbern. Sie blickte nur kurz auf, stieß ein »Aha« hervor und wandte sich wieder dem Pudel zu.

»Meine Tante ist vor vier Wochen verstorben«, erklärte ich und endlich richtete die Frau sich auf.

»Ich weiß. Mein Beileid.«

Täuschte ich mich oder war ihre Kondolenzbezeugung etwas schmallippig ausgefallen?

»Und Sie haben jetzt alles geerbt?«, wollte sie als Nächstes wissen. Mit einem Mal wurde mir klar, warum sie so kurz angebunden war. Vermutlich hatte sie Angst, dass ich die Pacht erhöhen oder sie gar rausschmeißen würde.

»Ja, hab ich«, antwortete ich also. »Aber keine Sorge, ich habe nicht vor, irgendwas anders zu machen als meine Tante.«

Statt der erwarteten Erleichterung sah ich ein tiefes Misstrauen in ihre Züge treten.

»Sie können hier genauso weiterarbeiten wie bisher …«, versicherte ich ihr.

»Das ist doch die Brieschiette! Meine Brieschiette! Komm her, du kleiner Fellknäuel!«, war da die nächste Frau zu vernehmen. Durch die Ladentür war eine zierliche Asiatin in einem beigen Gymnastikanzug getreten. »Warum hast du nicht gleich gerufen mich, Carola?«, fragte sie vorwurfsvoll und kauerte sich zu Brieschiett auf den Boden. Das wilde Gefiepe und Gekraule ging von vorne los.

»Hab ich dich schlimm vermisst! Wo du gesteckt hast?«

Erleichtert stellte ich fest, dass auch andere Menschen so mit Hunden redeten, als erwarteten sie eine Antwort. Die gab statt Brieschiett ich.

»Ich bin das neue Herrchen von Brieschiett«, erklärte ich. Genau wie zuvor diese Carola beachtete mich die Asiatin kaum.

»Dao, er will alles so machen wie Hella«, zischte Carola und nun ließ die zweite Frau den Hund doch los und richtete sich auf.

»Okay«, sagte sie leise und ich bemerkte, dass Carola sich mit Mühe zurückhielt, sie in die Seite zu stoßen. Dao fuhr fort: »Waren Sie schon bei die Nicole? Von die Hundefrisur? Wo alles passiert ist?«

»Sch«, machte Carola.

Erstaunt sah ich zwischen den Frauen hin und her.

»Wo was passiert ist?«, fragte ich nach.

Die beiden warfen sich einen bedeutungsschwangeren Blick zu.

»Kommen Sie mit«, forderte mich Carola schließlich auf. Brieschiett schien genau zu verstehen, was Carola plante, denn sie schoss aus dem Laden hinaus, bog nach rechts ab und begann, mit den Vorderpfoten an der geschlossenen Tür des Hundefriseurs nebenan zu kratzen. Das Schaufenster war mit großen Folien abgeklebt, auf denen Fotos von putzigen Hunden aufgedruckt waren. Man konnte kaum erkennen, dass Licht im Laden brannte.

Carola klopfte lautstark gegen die Tür und endlich erschien eine ausgesprochen attraktive dunkelhaarige Frau in meinem Alter, die zögerlich von innen aufschloss. Wir betraten den Laden und ich fühlte mich eher wie in einem Operationssaal als in einem Hundesalon. Rollwagen voller Gerätschaften standen in dem nüchternen, dunkelgrau gestrichenen Raum herum, in einer Ecke war ein riesiges metallenes Waschbecken angebracht, in der Mitte wartete ein höhenverstellbarer Trimmtisch auf Kundschaft. Ringsum war es blitzsauber, alles wirkte unbenutzt, als sei es brandneu, und es roch angenehm nach Shampoo. Eine Wohltat im Gegensatz zu Carolas Nagelstudio.

»Der Erbe«, sagte Carola zur Begrüßung nur und die Besitzerin wich zurück. Die Blässe in ihrem ebenmäßigen Gesicht ließ mich an Schneewittchen denken. Nur der rotgeschminkte Mund leuchtete, während sich ihre strahlend blauen Augen verfinsterten.

»Äh, Entschuldigung«, nuschelte ich. »Ich wollte nicht … also, mein Aufkreuzen hier ist rein informativer Natur … Wir können alles lassen, wie es war.«

Nicole, Carola und Dao blinzelten einander zu. Carola nickte kaum sichtbar und Nicole wandte sich zu mir. Als Erste der drei streckte sie mir die Hand entgegen. Ihr Griff war warm und weich. Dann bückte sie sich und hob Brieschiett behutsam vom Boden auf. Anstandslos ließ sich der Hund das gefallen.

»Nun, irgendwann musste es so weit sein«, sagte sie und bemühte sich um ein Lächeln. »Bitte, schauen Sie sich gerne um.«

Ich stand da und verstand nur Bahnhof. Warum reagierten die drei so merkwürdig auf mich? Sah ich aus wie ein Mafia-Pate?

Nicole vergrub ihre Nase in Brieschietts Fell und stieß weitere, diesmal unverständliche Kosenamen aus.

»Sie müssen bald mit ihr zum Scheren kommen«, sagte sie dann und setzte den Hund wieder ab.

»Gerne«, antwortete ich und spürte, dass ich unbedingt dafür sorgen musste, diese wunderschöne Frau nicht einfach nur dämlich anzustarren.

»Und wenn Nicole schnittet den Hund, ich mach Massag’. Bei Sie«, erklärte Dao. »Ganz sportlich. Oder Füße. Wie Sie mögen.«

Beinahe wartete ich darauf, dass mir Carola ein paar hübsche Gelnägel anbot. Doch die starrte auf den Boden und stieß dann hervor: »Ich mach auch medizinische Fußpflege. Falls Sie Bedarf haben.«

»Danke schön, das ist sehr freundlich von Ihnen.« Ich nickte in die Runde. »Aber was meinten Sie vorhin mit ›wo es passiert ist‹?«

Nicole wies auf den blank gewienerten PVC-Boden unter dem Trimmtisch.

»Hier hatte Ihre Tante den Unfall«, erklärte sie.

»Hier? Den Unfall?«

Wieder warfen sich die drei Blicke zu.

»Hat man Ihnen nichts gesagt?«, wollte Carola wissen.

Ich schüttelte den Kopf.

»Ähm, man sagte mir, sie sei bei einem Unfall ums Leben gekommen, da bin ich automatisch von einem Autounfall ausgegangen. Der Notar meinte, ihm seien keine Details mitgeteilt worden.«

»Sie ist hier …« Nicole deutete wieder neben den Trimmtisch. »Also, ich konnte wirklich nichts dafür … Ich habe sie hundertmal drauf hingewiesen, sie kannte die Abläufe …«

»Machen Sie sich keine Vorwürfe«, sagte ich und sie schenkte mir ein wunderhübsches Lächeln.

»Hundehaare sind sehr, sehr rutschig. Ich habe sie immer gebeten, auf Abstand zu bleiben. Aber sie wollte Brieschiett unbedingt selbst festhalten. Na ja, und da hat sich unsere kleine Pudeldame beim letzten Mal wegen irgendwas erschreckt, hat geschnappt, Hella ist nach hinten ausgewichen und dabei ist sie auf den Hundehaaren ausgerutscht.«

»Und mit dem Hinterkopf sehr unglücklich auf die Kante des Heizkörpers da geknallt«, ergänzte Carola. »Wir konnten nichts mehr für sie tun. Gar nichts!«

»Obwohl wir ganz schnell alle waren da«, meldete sich Dao. »Nixe zu machen.« Sie schob die Unterlippe etwas vor, aber irgendwas an ihrem Blick ließ mich glauben, dass sie nicht aufrichtig war.

»Haben Sie sehr an Ihrer Tante gehangen?«, fragte Nicole.

»Nun ja, wir hatten nicht so engen Kontakt«, erklärte ich. »Wäre ich nicht das einzige lebende Mitglied unserer Familie, hätte ich vermutlich nichts geerbt.«

»Oh, das tut mir leid.« Zum ersten Mal an diesem Tag klang ein Ausdruck des Bedauerns aufrichtig.

»Ich stehe schon lange auf eigenen Füßen«, betonte ich und machte eine wegwerfende Handbewegung. Und es entsprach der Wahrheit: Meine Eltern waren bei einem Segeltörn ums Leben gekommen, als ich 16 gewesen war. Da ich zu diesem Zeitpunkt bereits seit vier Jahren auf ein Internat gegangen war, hatte ich mich erstaunlich schnell an mein Dasein als Waisenkind gewöhnt. Und auch wenn ich damals einen etwas engeren Kontakt zur Schwester meines Vaters gehabt hatte, hatte sich unser Umgang nach meinem Abitur immer mehr verflüchtigt. Ich hätte gelogen, hätte ich gesagt, ich vermisste sie. Meine Eltern hatten keine Reichtümer besessen, aber das Erbe hatte gereicht, um mich durchs Studium zu bringen. Ich war bis heute froh, von niemandem abhängig oder jemandem verpflichtet zu sein.

»Also, die Damen«, leitete ich meinen Abschied ein. »Ich werde mir die Mietverträge in Ruhe anschauen, aber ich kann jetzt schon sagen, dass Sie keine Erhöhungen befürchten müssen. Falls Sie irgendein Anliegen haben, melden Sie sich gerne.« Ich pulte aus der Innentasche meines abgewetzten Jacketts drei Visitenkarten heraus, die ich extra eingesteckt hatte.

»Aber kommen Sie mit Brieschiett zum Scheren.«

»Und zur Massag’.«

»Und zur Fußpflege.«

Mit wirren Gedanken im Kopf und Brieschiett an der Leine ging ich zum Aufzug des Hochhauses, das sich über der Ladenzeile auftürmte. Von außen war der Bau potthässlich. Mit der gräulich verblichenen Fassade wirkte er ziemlich heruntergekommen, an zugestellten Balkonen prangten zerschlissene orangefarbene Markisen, die Wände rechts und links des Eingangs waren von Schmierereien verunziert und ein paar der Briefkastenklappen hingen schief in ihren Angeln.

Während ich in den zwölften Stock hinauffuhr, sinnierte ich darüber, ob die drei Frauen bei meinem Auftauchen so zurückhaltend gewesen waren, weil sie Angst gehabt hatten, ich würde sie für den Tod meiner Tante verantwortlich machen. So etwas käme mir niemals in den Sinn. Unfälle geschahen nun mal, wie ich früh hatte lernen müssen. Vielleicht sollte ich ihnen das noch einmal erklären.

Als ich die Tür zur Wohnung von Tante Hella öffnete, dachte ich zuerst, ich hätte mich geirrt. Statt der erwarteten düsteren Bruchbude empfing mich gleißender Sonnenschein, ein dicker Perserteppich dämpfte meine Schritte und vom Flur gingen zahlreiche Türen ab.

Brieschiett flitzte sofort ins Wohnzimmer und hüpfte in einen ausladenden, flauschig verkleideten Hundekorb. Sie zerrte einen alten Kauknochen hervor und machte sich genüsslich darüber her. Keine Frage: Brieschiett war begeistert, wieder daheim zu sein. Nach einer ersten Besichtigungstour stellte ich fest, dass Tante Hella hier offensichtlich in Saus und Braus gelebt hatte. Überall standen teure Markenmöbel herum und manche der Deko-Objekte wie chinesische Vasen oder goldene Kerzenständer kosteten vermutlich mehr als der Monatslohn, den ich mir schwer verdienen musste.

Neben dem großzügigen Wohnzimmer, an das über die gesamte Breite eine geräumige Dachterrasse grenzte, gab es eine riesige Küche, zwei Schlafzimmer, ein Büro, zwei Bäder und sogar ein kleines Ankleidezimmer. In dessen Schränken befanden sich nicht nur säuberlich nach Farben sortierte Kleider, Hosen und Röcke, sondern auch unzählige Hundeaccessoires. Kaum zu glauben, was es alles gab – von fellbesetzten Regenmäntelchen über strassverzierte Futterschalen bis zu einem regelrechten Hundekinderwagen. Ich rechnete es Brieschiett hoch an, dass sie trotz all dieser Verwöhnkinkerlitzchen so ein bodenständiger Hund war. Sie hatte einfach Charakter.

Nachdem es mir gelungen war, der Jura-Kaffeemaschine in der Küche einen Espresso abzuringen, setzte ich mich mit diesem in Tante Hellas Büro. Es gab in den Regalen nicht allzu viele Aktenordner, dafür prangte ein fetter Apple-Computer auf einem modernen Schreibtisch mit dicker Glasplatte. Ich fuhr das Gerät hoch, und nachdem ich ein paar Schubladen in dem schwarzen Metallrollcontainer unter dem Schreibtisch geöffnet und durchwühlt hatte, fand ich einen zerknitterten Zettel mit Passwörtern. »Bardot_29_09«, lautete eines davon und ich probierte es aus. Bingo. Mit einem Schnurren gab der Computer seinen Inhalt preis. Ich erwartete, nichts großartig Interessantes zu finden. Was sollte eine Frau Ende 60 schon abgespeichert haben? Vielleicht ein paar Briefe an alte Freundinnen? Fotos von Kurzurlauben? Okay, vermutlich die Mietverträge und all den Verwaltungskram für ihre Immobilien. In der Tat fand ich sehr schnell eine Übersicht über die Objekte. Als ich jedoch die Mietsummen las, fiel mir vor Erstaunen beinahe der Unterkiefer herunter. Die Frauen zahlten um die 5.000 Euro Pacht pro Monat. Das kam mir ziemlich überteuert vor. Ich rechnete kurz nach und kam auf einen Quadratmeterpreis von um die 150 Euro. Und das in dieser Gegend! Wie machten die drei das bloß? Au weia, und ich hatte versprochen, alles so beizubehalten wie bisher – kein Wunder, dass sie mir nicht gerade freundschaftlich gesonnen waren.

Ich suchte weiter und fand in einem Ordner namens »Umsätze« Dutzende Dateien, die nur mit fortlaufenden Datumsangaben benannt waren. Wahllos klickte ich auf eine.

»23. März 2022«, las ich. Darunter stand: »Nagelstudio«, und dann waren wohl Kunden aufgelistet:

Schneider 37,50

Baumann 61,90

Kötter 46,20

Filser 19,90

Mindestens 20 Namen waren hier verzeichnet. Sollten das alles Kunden sein, die an einem Tag einen Termin gehabt hatten? Da musste Carola sich aber ganz schön ins Zeug legen, um alle zu bedienen. Doch vermutlich hatte sie noch weitere Mitarbeiterinnen. Immerhin gab es im Laden Platz für sechs Kundinnen gleichzeitig. Ähnliche Eintragungen fand ich für den Hundefriseur, den Massagesalon, die Pizzeria an der Ecke sowie einen Waschsalon und ein Sonnenstudio, die mir bisher nicht aufgefallen waren. Die letzten drei waren wohl von Tante Hella verwaltet worden. Offensichtlich liefen die Geschäfte prächtig. Konnte das sein?

Ich arbeitete mich durch die fast zwei Jahrzehnte umfassenden Dateien und bemerkte, dass die Namen und Geldsummen einigermaßen konstant waren. In mehreren Fällen hatten die Geschäftsinhaber wohl aufgegeben, alle paar Jahre tauchten neue Personen auf. Darunter auch Nicole. So wie es aussah, führte sie den Salon erst seit rund elf Monaten. Spaßeshalber recherchierte ich im Internet den einen oder anderen der Ausgestiegenen. Die Suchergebnisse ließen mich frösteln.

Fathi Cukur, früherer Inhaber des Sonnenstudios, hatte sich vom Dach des Hochhauses in den Tod gestürzt. Als Grund dafür wurden Überschuldung und eine bevorstehende Pleite genannt. Eine Pleite? Bei den Umsätzen? Auch Wladimir Uschinskow hatte ein unrühmliches Ende gefunden und sich von einem Zug überfahren lassen. Hier waren ebenfalls Existenznöte angenommen worden.

Erschrocken fuhr ich zusammen, als mich etwas am Hosenbein zupfte. Zum ersten Mal, seit sie bei mir lebte, hatte ich Brieschiett für mehrere Stunden vergessen. Nun aber kauerte sie neben dem Stuhl und ihr Blick wollte mich eindeutig mahnen, sie nicht dermaßen zu vernachlässigen.

»Gleich, Brieschiett, gleich!« Ich hob sie auf meinen Schoß, wo sie sich wie eine Kugel zusammenrollte, und kraulte sie mit der einen Hand, während ich mit der anderen weitere Dateien durchklickte.

Nach etwa drei Stunden beschloss ich, dass sowohl Brieschiett als auch ich einen Spaziergang benötigten. In meinem Kopf fuhren die vielen Zahlen Karussell und etwas frischer Sauerstoff war dringend notwendig.

Die erwünschte Klarheit brachte er leider nicht. Immer wieder stellten sich mir die Fragen: Was hatte Tante Hella da getrieben? Schutzgeld erpresst? Aber wie sollte das gehen? Vermutlich hatte die alte Dame ja nicht damit drohen können, jemanden krankenhausreif zu schlagen, um irgendwelche Gelder einzufordern. Soweit ich mich erinnerte, war Tante Hella von ebenso zierlicher Statur gewesen wie mein Vater. Bis heute war es für mich ein Wunder, dass ich es selbst bis zu einer Größe von gut einem Meter achtzig gebracht hatte.

Meine Tante als Mafia-Patin? Das konnte ich mir kaum vorstellen. Aber irgendetwas musste es mit diesen Zahlen ja auf sich haben. Vielleicht war der frostige Empfang der drei Ladeninhaberinnen weniger Ausdruck eines schlechten Gewissens gewesen als vielmehr der Tatsache, dass sie irgendetwas zu verbergen hatten? Nur was?

Ich sollte noch einmal mit den Frauen sprechen. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es gleich sechs war. Kurz vor Ladenschluss.

Auf mein »Komm, Brieschiett« reagierte der Hund inzwischen tadellos und wir machten uns auf den Weg in die Einkaufspassage.

Nicole steckte gerade den Schlüssel von außen in ihren Laden. Im Massagesalon brannte noch Licht und aus dem Nagelstudio hörte ich Geschepper.

»Können wir kurz reden?«, hielt ich die schöne Frau auf. In der ersten Sekunde wollte sie meine Bitte am liebsten ausschlagen, dessen war ich mir sicher. Aber da stürmte Brieschiett auf sie zu und Nicole hockte sich zu ihr und kraulte sie liebevoll. Jetzt wäre eine Ausrede sehr unglaubwürdig.

Sie nickte also zu mir hoch, stand auf und öffnete die Tür wieder. Ich stupste Brieschiett an, sodass sie Nicole folgte, dann holte ich Dao und Carola dazu.

»Okay«, fing ich an. »Was für Geschäfte hat meine Tante betrieben?«

»Eine Änderungsschneiderei«, sagte Carola und ihre Miene wirkte wie versteinert. Dao nickte zustimmend.

»Hatte Zaubererfinger. Konnte mache, dass ich aussah in alte Kleid wie neue Königin.«

»Ja, schön, und in echt?«