Kalte Seelen - Eduard Breimann - E-Book

Kalte Seelen E-Book

Eduard Breimann

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Beschreibung

In diesem Roman mit zeitgeschichtlichem Background gibt es Mord und Totschlag, Verbrechen an Juden und Kunstraub während der Nazizeit, eine Prostituierte, der nicht nur die Wandlung in eine angesehene Kunsthändlerin gelingt, sondern auch das jüngste Glied frappanter familiärer Verbindungen ist. Im Mittelpunkt des Geschehens steht ein angesehener Kölner Kunsthändler der eine skurille Idee für seine Nachfolge erfolgreich umsetzt und die kalte Seele seines verbrecherischen, vermeintlichen Vaters aufdeckt. Der Roman spielt in Köln, der Eifel und Jerusalem. In Israel streiten die rechtmässigen Erben der geraubten Gemälde mit allen Mitteln um die Rückgabe und schrecken nicht vor der Einschaltung von Mitarbeitern des Mossads zurück. Es zeigt sich, dass die auf verschiedenen Ebenen agierenden Beteiligten Berührungspunkte hatten oder haben. Die vorgesehene Rückgabe der Kunstwerke führt schliesslich zu einer überraschenden Lösung. Der Roman zeigt einen Abriss menschlicher Schwächen, Habgier und Skrupellosigkeit, aber auch die Erkenntnis, dass selbst scheinbar aussichtslose Situationen zu überwinden sind.-

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Eduard Breimann

Kalte Seelen

Roman

Universal Frame

Alle Rechte

vorbehalten

All rights reserved

Copyright © 2010

Verlag Universal Frame GmbH, Zofingen

Umschlaggestaltung und Foto:

Werner Hense

ISBN 9783905960747

Für die,

die meine Seele nackt gesehen,

die alles Verborgene erkannt,

die sie zärtlich umhüllt und fortan

mit ihrer Liebe für immer schützt.

Worte sind der Seele Bild

Worte sind der Seele Bild –

Nicht ein Bild! Sie sind ein Schatten!

Sagen herbe, deuten mild,

Was wir haben, was wir hatten. –

Was wir hatten, wo ist‘s hin?

Und was ist‘s denn, was wir haben? –

Nun, wir sprechen! Rasch im Fliehn

Haschen wir des Lebens Gaben

J. W. v. Goethe, Aussicht,

den 16. August 1815

„Nein. Wieso denn das? Quatsch! Ich hatte keine Angst.“

Ihre Stimme klang seltsam hohl aus der Gästetoilette. Sie hatte die Tür nur angelehnt und er konnte hören, wie sie Wasser ließ. Sie war sogleich verschwunden, als sie die Wohnung betreten hatten.

„Mensch, ich muss dringend; bestimmt wegen der Saukälte“, hatte sie gesagt und war dabei von einem Bein aufs andere gehüpft.

Er hatte sie lächelnd betrachtet, wie man ein ungeduldiges Kind anschaut, hatte in den Flur gezeigt und „hinten rechts“ gesagt. Und da war sie schon verschwunden.

Es war wirklich eisig kalt und vor allem windig gewesen. Er hatte seinen Mantelkragen hochschlagen müssen und den Hut tief in die Stirn gezogen. Trotzdem hatte die Kleidung den Wind nur unvollständig abhalten können. Es war ein eisiger Januartag, wie er hier am Rhein nur selten vorkam.

„Bin gleich fertig. – Eh! Dein Spiegel ist cool. Sieht man jeden Scheißpickel drin.“

„Das dürfte ja nicht sehr ergiebig sein“, dachte er. „Ich muss aber unbedingt die Matten wieder hinlegen und die Gardinen aufhängen lassen von der Schmitz. Müsste doch schon alles trocken sein. Wie das schallt, so ohne“, dachte er und notierte „Anne Schmitz: Matten, Gardinen“ auf dem Notizblock, der neben dem Telefon lag.

In der letzten Zeit musste er sich alles notieren, sonst vergaß er, was er erledigen wollte. Er war es einfach nicht gewohnt, auf solche Dinge zu achten.

Diese und andere Erinnerungsposten hat früher die Weingarten für ihn notiert und erledigt. Als sie vor einem halben Jahr starb – sie hatte ihren Kummer, von dem er nichts gewusst hatte, im Rheinwasser ertränkt – da erst vermisste er sie, diesen „guten Geist“, wie er sie manchmal nannte, wenn sie ihn vor einem Reinfall bewahrt hatte. Sie war wie diese große, teure Vitrine in der Galerie. Fragte man ihn, wie lange es die schon dort gäbe, dann sagte er „Schon immer.“ Die Weingarten war ein Stück aus der Galerie. Sie gab es schon immer. Auch wenn sie erst 1957 von Kurt Holländer eingestellt worden war. Das wusste er aus ihrer Personalakte. Siebzehn war sie damals gewesen und hatte als Ungelernte sich langsam zur guten Seele der Galerie hoch gearbeitet.

„Nein“, gestand er sich manchmal, „nicht sie, nicht sie als Mensch; aber ihr unauffälliges Wirken, mit dem sie mich unterstützte – das war der gute Geist.“

Ihre Sorgfalt bei Terminen und Problemen, damit nur ja nichts vergessen wurde, was für ihn und das Geschäft wichtig war, das genau war es, was er nach ihrem Verschwinden aus dem täglichen Leben am meisten vermisste; aber auch ihren morgendlichen Tee mit braunem Kandis, genau so, wie sie ihn schon seinem Vater gebracht hatte.

Nur dass der ihn nie angerührt hatte, ihn stehen ließ und kein Wort sagte, wenn sie den kalten Tee am Abend aus dem Büro holte und in den Ausguss schüttete. Er aber trank ihn, heiß und süß.

„Ob der was zu ihr gesagt hätte, wenn sie ihn einmal nicht auf seinen Schreibtisch gestellt hätte? Ob er das überhaupt bemerkt hätte?“

Die Weingarten war wichtig, sogar unverzichtbar, aber ohne jede persönliche Beziehung. Sie war „die Weingarten“, hatte in seinem Kopf nicht einmal einen Vornamen. Er wusste zwar, dass sie Elisabeth hieß, aber er dachte und sagte nie „Elisabeth Weingarten“. Oh nein, es war immer nur „die Weingarten“, die vergessen hatte, das Licht im Büro zu löschen, „die Weingarten“, die gerade nicht da war, wenn er sie brauchte.

Er hatte nicht bemerkt, dass sie Sorgen oder gar Liebeskummer hatte. Wie denn auch? Warum sonst aber, hatte er sich gefragt, springt eine Frau ins Wasser? Wegen eines Mannes? Hatte sie einer sitzengelassen? Wer denn? Unsinn, dachte er. Sie traf sich doch nie mit jemandem. Außer ihn kannte sie ja wohl keinen Mann; auch privat und außerhalb der Galerie nicht. Mindestens hatte sie das mehrfach betont, wenn sie von ihrer Schwester erzählte, die schon mehrfach den Mann gewechselt hatte.

„Ich brauche keinen Mann. Ich bin ganz anders als meine Schwester; ich lebe gerne alleine“, sagte sie, als er sich nach ihrer Schwester erkundigt hatte, nachdem die in der Galerie eine Miniatur erworben hatte. Doch die Weingarten wirkte bei diesen Worten seltsam bedrückt – trotz der lächelnden Augen.

Dann war sie für immer gegangen. Ohne auf ihn und seine Bedürfnisse, seine Abhängigkeit – was er sich nur ungern eingestand – Rücksicht zu nehmen. An einem späten Abend im letzten Spätsommer, als nur noch wenige Leute unterwegs waren, ist sie von der Hohenzollern gesprungen. Es gab einen Zeugen, der den Sprung von der Eisenbrücke beobachtete und die Polizei rief. Sie hätte geweint und etwas geschrien, das wie Seelenloser geklungen habe, sagte der Mann, ein Obdachloser, der bedauerte, dass er zu weit weg gewesen war um sie aufzuhalten.

Konrad Holländer schüttelte den Kopf, warf die Weingarten und alles andere aus seinen Gedanken.

„Vorbei!“, murmelte er.

Da hinten im Flur, in der Gästetoilette, da war sie. Sie, die mehr als ein Ersatz werden sollte. Sie, die ihm helfen würde. Sie, die ein fester Bestandteil seiner Pläne war.

„Angst solltest du aber haben; es gibt eine Menge Schweinehunde“, rief er laut, um das Rauschen der Spülung zu übertönen.

„Ach ja? Und? Biste so einer?“

„Ich? – Nein, Silvia, vor mir brauchst du keine Angst zu haben.“

„Ich heiße nicht Silvia! Angst hab ich auch nicht. Hab nie vor nichts Angst.“

Er lächelte über diesen Satz, der alles umkehrte, was sie tatsächlich meinte. Für solche Sprachschnitzer hatte er früher kein Verständnis gehabt, außer bei der Weingarten, die es natürlich fand, am Abend, wenn er die Galerie abschloss, zu sagen: „Sie schließen die Hintertür nie nicht richtig zu.“

Dann half es auch nicht, dass er antwortete: „Dafür haben Sie es noch nie nicht vergessen.“

„Jawoll!“, sagte sie dann nur.

„Die Weingarten!“, dachte er verblüfft. Er bekam sie einfach nicht aus den Gedanken raus. „Ist ja wie verhext. Was soll da?“, fragte er sich und wusste, dass da mehr war, als er sich eingestehen wollte.

Ach ja, die Weingarten, deren Vornamen er nie gesprochen, nicht einmal gedacht hatte, die hatte zu seinem Leben gehört. Sonst gab es niemanden, dem er ein solches Kompliment machen konnte. Bisher wenigstens, aber das würde sich nun ändern.

Das Mädchen kam noch nicht zurück. „So lange braucht man doch nicht, um sich zu waschen“, dachte er.

Die Weingarten war vier Jahre älter gewesen als er, aber das sah man ihr nicht an; sie pflegte sich, wirkte wesentlich jünger als sie es laut Ausweis war.

1957, mit 17 Jahren, hatte sie bei seinem Vater angefangen und als der ihn in sein Haus übernahm und später in der Galerie als Lehrling beschäftigte, hatte sie, die nicht ganz fünf Jahr älter war, sofort damit begonnen den „mutterlosen Jungen“ zu betütteln und zu verhätscheln. Er hatte sie auf Distanz gehalten, ließ nie Nähe zu. Weder am Anfang, als er noch ein Schuljunge und dann ein Lehrjunge war, noch später, als er ihr Chef wurde. Er hatte es von Anfang an nicht erklären können, was ihn zu diesem Abstandhalten bewog. Zuerst war es wohl altersbedingt gewesen. Sie war für ihn eine alte Frau, als er sie, gerade mal zwölf Jahre alt, kennen lernte. Aber dann, später war es etwas anderes. Oft stieß ihn die eigentümliche Vertrautheit zwischen ihr und Kurt Holländer, seinem Vater, ab. Und genau so oft wunderte er sich über ihr Erschrecken, wenn Kurt Holländer sie berührte. Er verstand sie nicht und wollte es auch gar nicht. Oft lag er stundenlang wach in seinem Bett, dachte an den Tag, an den nörgelnden Vater, an die schöne Weingarten. Einmal, er hatte tief in ihren Ausschnitt blicken können, als sie vor ihm kniete und etwas vom Boden hob, da hatte ihn der Anblick ziemlich erregt. Im Bett liegend nannte er sich einen Arsch und war wütend über die Erregung, die er noch immer spürte und die ihm keine Ruhe ließ. Später, als Kurt Holländer tot war, vermied er jeden, selbst den kleinsten Körperkontakt mit ihr.

Er war schon immer ein Verfechter der gepflegten, der wohl durchdachten Sprache gewesen – was ihm in der Schule stets beste Note verschaffte – und achtete genau darauf was und wie andere sprachen. Er bildete sich seine Meinung über die Gesprächspartner, indem er ihre Art zu reden beurteilte.

Die Weingarten war darin das Gegenteil; sie plapperte daher, wie er das in Gedanken nannte, ohne ihre Worte und Sätze zu beachten.

„Es passt schon“, sagte sie ihm, wenn er sie korrigierte. „Du hast mich doch verstanden. Was willst du mehr? Also?“

Damals duzte sie ihn noch, was sie schlagartig änderte, als sein Vater starb und er die Galerie erbte. Darauf hatte sie bestanden, ihm wär’s egal gewesen.

„Sie sind jetzt der Chef. Wie sieht das denn aus, wenn ich Sie duze?“

„Wie hört sich das an. Sehen kann man das nicht“, hatte er sie korrigiert, war aber mit ihrem Vorschlag einverstanden.

Erst durch sie hatte er begriffen, dass es Menschen gibt, die ihre locker und schnell daher gesagten Sätze nicht auf ihre Logik, ihren Sinn, überprüften, ihn einfach nach Gefühl ausplapperten. Bei ihr wirkte das nie primitiv, eher charmant.

1976, als sein Vater starb, hat er nicht nur die Galerie übernommen, sondern auch sie – und ihre lockere Art, in der sie mit ihm und den Kunden sprach.

Ihre sehr persönliche, fast intime, Art ihn zu betreuen, zu verwöhnen und ihn wie einen geliebten – zunächst Sohn dann Ehemann – zu behandeln, die gab sie nicht auf. An dem Tag, als sie für immer die Galerie verließ, legte sie ihre Schlüssel auf das kleine Tischchen in seinem Büro, auf dem sie sonst die Teekanne abstellte. Das war das einzige Signal, mit dem sie ihren Abschied ankündigte.

Erst seitdem er sich mit den Leuten vom Bahnhof befasste, mit diesen „Gescheiterten“, wie er sie in seinen Notizen nannte, hatte er begriffen, dass es keine ausschließliche Marotte seiner Weingarten gewesen war, so Widersprüchliches zu sagen. Und er hatte noch etwas ganz anderes begriffen, etwas, was er nicht zu Ende denken wollte.

„Schade um sie. Sie wäre die Richtige gewesen. Mit ihr wäre alles glatt und einfach gegangen. Warum musste sie diesen elenden Entschluss fassen? Ohne mit mir zu sprechen!“, dachte er und verspürte Reste der Wut, die ihn damals, als er so hilflos ohne sie dastand, befallen hatte.

Im Bad rauschte das Wasser, kurz aber heftig. „Sie wäscht sich die Hände. Gut!“, dachte er. „Das wenigstens tut sie.“

Als er den Notizblock aus der Hand legte, kam sie zurück ins Wohnzimmer. Er starrte ihre kleinen weißen Brüste an, die sich wie winzige schneebedeckte Hügel mit hellbraunen Knospen von dem mageren Körper abhoben, an dem sich die Rippen zählen ließen.

„Hier bin ich. Und jetzt?“

Ihre Stimme zitterte, so als fröre sie; ihre Augen waren unruhig, sie schaute nicht in sein Gesicht.

Er spürte das Blut, das ihm in den Kopf schoss. Ein leichter Schwindel befiel ihn. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er das Mädchen an, schluckte, spürte, wie sein Adamsapfel hüpfte. Die Hände sonderten Schweiß ab.

„Du … Spinnst du? Was soll das?“, würgte er hervor, war sich dabei bewusst, dass er sich gerade lächerlich machte. Er, ein Mann von über sechzig. Er stierte sie an, als sähe er einen Renoir, den man ihm als Schundbild anbot.

Die fahlblonden Haare hingen vor ihrem Gesicht; ein Auge war fast völlig verdeckt. Ihr Schamhaar war dunkel, fast schwarz.

„Also hat sie sich die Haare blond gefärbt“, dachte er verwirrt, drehte den Kopf zur Seite und schielte doch auf den Körper des Mädchens. Er war sehr weiß, sehr zart, wirkte zerbrechlich.

„Was – was, verdammt, was machst du da? Wieso hast du dich ausgezogen? Ich habe das nicht verlangt, das weißt du. Zieh dich sofort wieder an. Sofort!“

„Haste noch nie ’ne Nackte gesehen?“ Es klang, als mache sie sich selber Mut. „Also! Hier bin ich.“ Sie wiederholte diese Feststellung, als sei er blind und taub.

Er schluckte nervös. Sollte er ihr sagen, dass er tatsächlich noch nie eine nackte Frau gesehen hatte? Außer gemalte, gezeichnete, als steinerne oder bronzene Skulptur dargestellte? Sollte er diesem Kind offenbaren, dass er noch nicht einmal in einem der Puffs in Köln gewesen war? Die einzigen weiblichen Brüste, die er gesehen hatte, waren die der Weingarten gewesen, die damals keinen BH trug als sie vor ihm kniete. Aber das galt alles nicht. Das waren Penälerfantasien gewesen.

Sollte er beim Betrachten dieses mageren Körpers gestehen, dass er später nicht einmal das Verlangen danach gehabt hatte, die Brüste eins Mädchens zu berühren? Sollte er ihr gestehen, dass nicht einmal die unverheiratete Weingarten, die ihn mehr als fünfzig Jahre begleitet hatte, es gewagt hätte, ihn zu berühren, sich ihm im Gespräch privat zu nähern? Auch wenn sie ihn immer bemutterte und ihn mit diesem Lächeln anschaute, das ihn nervös machte, war und blieb sie zeitlebens eine fremde Person, eine …

Jedenfalls war da nie etwas Erotisches gewesen.

„Nein“, dachte er. „Das kann sie nicht verstehen. So ein Kind kann nicht in ethischen und moralischen Grundsätzen denken, die für dich normal sind.“

Er holte tief Luft. Sie hatte ihn missverstanden. Er musste das korrigieren. „Was ich dir vorschlagen wollte, hat nichts mit Sex zu tun. Es geht viel weiter als du dir …“

„Masoscheiße? So weit? Nee, so was mache ich nicht. Musst dir eine andere suchen.“

„Nein, nein. Du verstehst nicht. Gar nichts mit Sex, welcher Art auch immer. Ich will dir doch etwas ganz …“

„He! Alter, was du auch immer erzählst, es geht an mir vorbei“, unterbrach sie sehr heftig und warf mit ihrer kleinen Linken einen imaginären Gegenstand am Ohr vorbei über die Schulter. „Verstehst du? Jeder und Jedes hat seine Bestimmung. Mit einem Auto fährst du und quatscht es nicht an – wenn du keinen Dachschaden hast. Mit mir kannst du nur Sex haben, normalen, wenn du verstehst, was ich meine. Vögeln nennt man das. Kapiert? Einfach, oder? Vögeln! Alles andere funktioniert mit mir nicht.“

Er war sprachlos. Diese Art Rede war ihm fremd. Ihre Ausdrücke stießen ihn ab. Sollte dieses feingliedrige, verletzlich und sanft ausschauende Mädchen so eine rohe Seele haben?

„Du glotzt mich an, als wenn ich Pickel auf der Brust hätte. Warum bin ich sonst hier? Wozu hast du mich denn mitgenommen? Biste pervers?“

„Unsinn!“, sagte er heftiger als beabsichtigt und schluckte mühsam die Spucke runter.

Er wusste nicht, was er tun sollte, fühlte sich völlig übertölpelt, kam sich vor wie ein Schuljunge, der mit dem gesparten Taschengeld in den Puff geht und die erste nackte Frau sieht.

„Du bist dürr; viel zu dürr bist du“, sagte er schließlich hilflos und seine Stimme klang heiser. „Kriegst nicht genug zu essen, was? Da müssen wir mächtig was drauffuttern.“

„Fängst du schon wieder an? So lange, bis ich kilomäßig zugelegt habe, bin ich nicht hier. Wenn ich dir zu dürr bin, hättest du dir eine andere am Bahnhof aussuchen sollen. Gibt ja Typen, die stehen auf Dicke mit Riesentitten. Ich bin die andere Sorte; meine sind klein und fest.“

Er riss sich zusammen, schaute sie direkt an, betrachtet die marmorierten, blassen Schenkel, ihre kleinen Zehen, die nervös auf und ab wippen.

„Machst du das gerne? Ich meine, macht dir das wirklich Spaß?“

„Spaß? Du fragst mich, ob mir das Spaß macht? Bist du verrückt? Solche Fragen stellt man nicht. Nicht mir! Ob das Spaß macht, fragt der! Himmel! Mann, ich könnte kotzen!“

Langsam erhob er sich aus dem Sessel, stand nun dicht vor ihr, schaute auf den Mittelscheitel, der bestätigte, dass ihre Haare von Natur schwarz waren. Jetzt wirkte sie noch kleiner, noch zarter. Ihre Augen waren groß, sehr groß – und tiefschwarz. Er konnte ihren Blick nicht ertragen, glitt weg von den starr aufgerissenen Augen zu ihrem Mund mit den vollen Lippen, der leicht geöffnet war.

„Der ist viel zu sinnlich für so ein Kind“, dachte er. „Da müssen die Kerle sich ja was bei einbilden. Doch wie’s da drinnen aussieht …“

„Mein Gott, Mädchen. Du siehst richtig verfroren aus. Komm, zieh dich an. Ich mach dir – uns – jetzt einen heißen Tee und dann wird dir warm.“

„Spinnst du? Mir ist warm. Hier ist es ja wie in Afrika – so heiß, meine ich.“

„Warst du schon mal da?“, fragte er spontan, obschon er gleich dachte, dass es wohl nicht der richtige Zeitpunkt war, um in Konversation zu machen.

„Konrad! Du bist nicht auf einer Vernissage“, ermahnte er sich.

„Da? – Wo?“, fragte sie und streichelte dabei ihre linke Brust.

„Afrika. – Weil du meinst, hier wär’s ähnlich heiß.“

„Quatsch. War noch nie weg von Köln. Heiß soll’s da sein. Sagt man doch so – oder?“

„Ja, sagt man so. Ich mach uns einen Tee, schwarzen Tee – und du ziehst dich gefälligst wieder an. Habe noch nie mit einer Nackten Tee getrunken und werde das auch jetzt nicht tun.“

„Hör mal zu, Alter. Ich bin mitgegangen, weil ich Kohle brauche; echte, gute Euro. Verstehst du? Ich will keinen Tee, ich will Bares auf die Hand – ich muss das haben. Das verstehst du doch? Ich liefere auch. Kannst mich nehmen und zahlst. Dafür bin ich ja da; sagte ich bereits.“

Sie war nervös, wirkte fahrig. Ihre Blicke wanderten von ihm zu den Möbeln, ihre Hände fanden keine Ruhe, strichen Haarsträhnen aus dem Gesicht, rutschten am Bauch entlang, als wollten sie die Blöße bedecken, ruckten hoch, krabbelten kurz am Kinn und falteten sich hinter ihrem Rücken.

„Dafür bist du nun gerade nicht da. Keiner ist dafür da. Mein liebes Kind …“

„Ich bin kein liebes Kind und deines schon gar nicht. Ich bin auch älter als vierzehn. Brauchst also keine Angst zu haben wegen Verführung Minderjähriger oder so.“

„Minderjährig bist du sicher. Oder willst du behaupten, du wärst schon achtzehn?“

„Quatsch! Ich bin doch keine alte Tussi. Sehe ich so aus? Wo ist dein Schlafzimmer?“

„Die Tür links hinten im Flur. – Halt! Halt!“, schrie er, als sie sich auf den Flur zu bewegte. „Blödsinn! Ich will nicht mit dir ins Schlafzimmer; ich will, das du dich anziehst.“

„Gefall ich dir nicht?“, fragte sie und drehte sich im Kreis. Mit beiden Händen fasste sie sich unter die Brüste und schob sie hoch.

Endlich fand er seine Gedanken wieder, ordnete sie und legte sich blitzschnell all das zurecht, was ihn zu diesem Vorgehen veranlasst hatte.

„Lass das! Meine Güte, bist du widerspenstig. Ich sage es noch einmal: Ich habe dich am Bahnhof angesprochen, weil du so verfroren, einsam und traurig aussahst. Ich wollte mich mit dir unterhalten, dir eine Möglichkeit zum Aufwärmen geben, einen ordentlichen Schluck heißen Tee als Zugabe – und deine Zukunft besprechen. Es gibt eine Zukunft für dich, eine ganz andere, als die, die du jetzt vor dir hast. Das, was dazu nötig ist, das müssen wir beide besprechen, Verstehst du?“

Sie schwieg, schaute ihn an, als wäre seine Nase plötzlich grün geworden. Lange, mit starrem Blick aus dunklen Augen blickte sie in sein Gesicht; sie dachte offensichtlich nach. Er hörte Stimmen und Lachen von der Straße. Ein Auto hupte.

Ihr Schweigen machte ihn nervös; genau so wie ihr Blick aus diesen schwarzen, großen Augen. Hatte er sich tatsächlich verrannt? War er mit seiner skurrilen Idee übers Ziel hinausgeschossen oder hatte er sich falsch ausgedrückt? Seine Gedanken überschlugen sich.

Am Morgen, als er wach im Bett gelegen hatte, war ihm das alles so selbstverständlich, einfach und einleuchtend erschienen. Was war falsch an seiner Idee? Nichts, hatte er entschieden festgestellt.

Und nun? Sie würde es verstehen und begreifen, dass er nicht auf ihren Körper aus war. Er musste es ihr nur richtig erläutern, dann würde sie „Ach so!’“ sagen und ihren Irrtum begreifen. Es war sein Fehler. Er hatte es falsch angefangen, hatte nicht die richtigen Worte gebraucht, als er sie ansprach. Ausgerechnet er, der alles so bedachte und vorformulierte.

„Also, das ist so. – Guck nicht so, Kind. Du hast mich ja nie erklären lassen. Ich wollte dir sagen, dass du da raus musst, raus aus dem Milieu, in dem du steckst. Raus aus dem Dreck, aus der Kälte. Du bist doch noch ein Kind, also hör zu und reg dich nicht auf. Ich sorge für dich, ich kann mir das leisten. Du bekommst bei mir in der Galerie eine gute Arbeit und ich helfe dir, bis du auf eigenen Füßen stehst. Das heißt, ich bilde dich richtig aus, verstehst du? Eine Lehrstelle! Ich hab keine … Also, ich bin kinderlos. Verstehst du? Kannst sogar hier wohnen, wenn du willst; bis du was Eigenes hast. Da hinten ist ein Gästezimmer.“

„Sag mal, bist du von der Bahnhofsmission? Von der Heilsarmee?“, fragte sie leise und ihr Blick hatte etwas, was er nicht entschlüsseln konnte.

So viel Überraschung und Unsicherheit hatte er noch nie im Blick eines Kindes – das war sie für ihn trotz ihres Widerspruchs – gesehen.

„Nein. Ich bin ein ganz normaler Mann. Ich will nur …“

„Ha, das möchte ich bezweifeln“, fiel sie ihm ins Wort und machte einen halben Schritt auf ihn zu. „Ihr Männer wollt doch alle nur das“, sagte sie und zeigte auf einen Punkt, irgendwo unter ihrem Bauchnabel.

„Nein! Nicht!“, rief er heiser. „Du siehst gut aus, bist sehr, sehr jung, hast ein hübsches Gesicht. Warum hast du so einen, einen … Beruf? So etwas wie … du weißt schon – da auf dem zugigen, kalten Bahnhofsplatz?“

Sie trat etwas zurück und betrachtete ihn von oben bis unten. „Weil die Bahnhofsbullen uns nicht in die Halle lassen.“

„Du bist zu dumm – entschuldige. Ich meine, warum überhaupt? Du könntest doch sofort da raus. Ich helfe dir. Hast du kein Zuhause? Komm mir nicht mit faulen Ausreden und erzähl mir nicht, Mama und Papa hätten dich nicht lieb. Von den Männern da hat dich bestimmt keiner lieb; die wollen bloß …“

„Mit mir vögeln, meinste? Die wollen mich ficken? Ja, meinste das?“

„Lieber Gott! Rede nicht so vulgär. Ein junges Mädchen wie du sollte so nicht sprechen – und es vor allen Dingen nicht tun. Kinder und Sex, das schließt sich aus! Verstanden?“

„Also gut. Sex heißt das. – Sex machen. Ich will sofort Sex machen. Sex, Sex, Sex“, sang sie mit einer eintönigen, traurig klingenden Melodie. „Kannst du das wenigstens aussprechen?“

„Nein – ja, sicher, schon. Aber du bist noch ein Kind. Ein Kind sollte solche Worte nicht kennen und schon gar nicht sagen und besonders sie … es … also solche Sachen nicht tun.“

„Ach, du dicke Scheiße! Soll ich dir mal alle Worte vorsagen, bei denen ein Pastor rot wird? Ich wette mit dir, dass ich mehr kenne als du. Machste mit? Also: Vögeln …“

„Ich wette nie – und mit einem nackten Mädchen, das unanständige Worte sagen will, schon gar nicht“, unterbrach er sie hastig.

„Hast du Gummis? Ohne is’ nicht. Verstehst du doch, oder?“

„Gummis? – Lieber Gott, du meinst Kondome? Nein, die habe ich nicht. Wozu auch?“

„Ja, wozu auch. Dachte ich mir schon fast. Hab aber immer welche dabei. Für Typen wie dich, die nur ohne wollen. Ohne mich! Ich mach’s nie ohne.“

„Wir brauchen deine, deine … Gummis nicht.“ Er verstand sie nicht. Ihr Auftreten, ihre Stimme, ihre Augen, zeigten die Unsicherheit, sogar Angst und so etwas wie Abscheu, glaubte er zu bemerken. Ihre Worte, die aus diesem kindlichen Mund kamen, waren Worte aus einer anderen, einer vulgären Welt, die er nicht kannte, nicht kennen wollte.

„Was ist mit diesem Mädchen los? Was, wie, ist sie wirklich? Ein ängstliches, verirrtes Kind? Oder eine, die mit den vulgären Ausdrücken ihr wahres Gesicht zeigt, die durch und durch verdorben und nur auf Geld aus ist? Dann habe ich mich vergriffen, dann war das hier umsonst, ein Fehler in der Abschätzung, in der Beurteilung dieses Mädchens.“

Sie stand noch immer dicht vor ihm, völlig nackt, wippte auf den Zehen und betrachtete ihn vom Kopf bis zu den Füßen, drehte sich dann, schaute auf seine Einrichtung.

Er sah, wie ihre Augen sich von manchen Gegenständen nicht lösen konnten, etwa bei dem Glasschrank, in dem er das kostbare Porzellan, mehrere königliche Tettau Hundertwasser Kaffeetassen, zur Schau stellte.

Die Polstermöbel streifte sie nur kurz, schaute aber länger auf ein Bild, das auf einem kleinen Beistelltisch stand. Es zeigte einen Mann und eine Frau vor einer weiß verputzten Villa. Sie hatten sich umarmt, schauten sich von der Seite her an, und doch darauf bedacht, das Gesicht zur Kamera zu wenden. Beide lachten.

„Wer ist das? Deine Eltern?“

„Meine Großeltern. Sie sind schon lange tot.“

„Aha! Ist das deine Familie?“

„Ja, das ist meine ganze Familie.“

„Die ganze Familie!“ Sie nickte und dann blieben ihre Blicke an den Gemälden hängen. Fünf Bilder, verteilt auf der langen Rückwand des Raumes, eingefasst in schwere Barockrahmen, jedes angestrahlt von einer in der Decke versteckten Lampe. Lange musterte sie die auffällig gerahmten Kunstwerke, fing links an. An ihrem Kopf sah er, wenn sie sich das nächste Bild vornahm.

Als sie mit der Musterung fertig war, alle Gemälde betrachtet hatte, drehte sie sich um, schaute ihn fragend an, dann wieder die Bilder, die gleichmäßig auf der Wand verteilt waren.

„Hast du diese Schinken gemalt?“

Er atmete tief durch, dachte daran, wie er vor langer Zeit den vergeblichen Versuch gemacht hatte, einer zwar reichen, aber ungebildeten, Dame – der die Kölsch-Brauerei in der Friesenstraße gehörte –, das Besondere eines Gemäldes von Gerhard Richter zu erklären, das aus der Phase des ‚kapitalistischen Realismus’ stammte. Dabei wissend, dass er es genau so gut einem ihrer Bierbrauer erzählen könnte.

Aber dass sie es haben wollte, nur weil der Name des Kölner Malers Richter gut zu erkennen war, egal zu welchem Preis, nur darauf aus, damit ihren Freundinnen zu imponieren – das allerdings wusste er auch. Das gab schließlich den Ausschlag – wie immer.

„Geschäft ist Geschäft“, hatte er zur Weingarten gesagt, als die sich über die „Schnepfe“ aufregte. „Die sollte das Geld lieber einem Waisenhaus spenden und sich eine Plakette aus Messing an deren Hauswand hämmern lassen. Aber Ihre Seele ist so zart, lieber Herr Holländer, sie können da wohl nicht nein sagen. Ach!“, hatte sie geseufzt und ihn lange angesehen.

Das stimmte wohl, das mit dem „Nein sagen“. Aber noch nie hatte ihn eine Kundin mit ihrem Körper bei der Erklärung von Gemälden abgelenkt.

Er hustete nervös, atmete tief durch. „Oh nein, ich kann nicht malen. Das sind auch keine Schinken, sondern wertvolle Originale. Ich bin Galerist – also ich kaufe und verkaufe solche Gemälde. Zwei sind von bekannten Expressionisten.“

„Express? Das Wort kenn ich vom Bahnhof; gibt da solche Züge. Malen also schnell, die Leute, oder? Damit machste Kohle? Einfach, was? Musste nicht groß für malochen, was? Und malen musste auch nicht. – Sind die teuer.“

„Ja, einige. Aber das ist nicht wichtig. Außerdem meint Express…“

„Teuer und nicht wichtig?“, unterbrach sie ihn und schüttelte den Kopf, dass die Haare flogen. „Wie das? Kenn ich anders. Teuer ist immer wichtig. Welches ist das teuerste von denen hier? Bestimmt das da.“ Dabei zeigte sie auf das Gemälde ganz links, dicht beim Fenster. Er staunte. Sie hatte ihre Nacktheit offensichtlich völlig vergessen.

„Das? Nein, das nicht. Das gefällt mir trotzdem, weil es gut gemalt ist und weil ich das Motiv liebe. ‚Liebespaar im Mondschein’ heißt es. Hat van Gogh gemalt, der …“

Er stockte, schüttelte leicht den Kopf. „Lieber Gott! Was erzähle ich dem Kind da? Wenn die am Bahnhof verbreitet, dass bei mir solche Werte an der Wand hängen! Ich sollte sie längst abgehängt und in den Tresor gelegt haben“, dachte er erschrocken. „Ein van Gogh – und ich erzähl das, als wenn es ein Pappenstiel wäre. Himmel hilf!“

„Ah! Geilt dich mächtig auf, das Liebespaar, was? Hat ne tolle Figur, die Nackte da. Solche magst du? Deshalb bin ich zu mager, was? Ich kenne Typen, die brauchen solche Pornobilder um …“

„Quatsch! – Entschuldige. Porno! Das ist ein klassisches Motiv dieser Zeit. Van Gogh, Monet, Renoir und andere haben viele solcher Motive gemalt.“

„Wer? Kenn ich die? Du meinst die Typen, die das da gemalt haben? Leben die noch?“

Wenigsten fragte sie ohne Hemmungen, dachte er. Wenn er da an die Pelzmantelwesen dachte, die so taten, als bestünde ihre Freizeit ausschließlich aus dem Besuch von Vernissagen und Museen; so als hätten sie Kunst studiert.

Er seufzte. „Nein, die leben nicht mehr. Die Künstler, die heute leben, die malen anders“, sagte er und wusste nicht, wie er ihr Malepochen erklären konnte, ohne sie zu überfordern, wenn sie ihn danach fragen sollte.

„Zieh dich bitte an. Sofort!“, sagte er noch einmal, ohne Hoffnung, dass sie auf ihn hören würde. Sie zuckte die schmalen Schultern und kratzte sich mit dem rechten Fuß die Wade.

Er war erleichtert, als sie das Thema wechselte, offensichtlich nicht an einem Schnellkurs in Malerei interessiert war.

„Sag mal. Haben die alle Namen, die Bilder, meine ich? Bestimmt. Sonst kann man sie ja nicht kaufen. Müsstest dann Das da! sagen, oder? – Also, welches ist das teuerste Bild?“

„Das hast du gut erkannt. Jedes Bild hat einen Namen. So stehen sie in Katalogen und so werden sie auf Auktionen ausgerufen. Wirklich, ohne Namen, das ginge einfach nicht. – Also, teuer ist … Warum fragst du? Bist du nur am Geld interessiert? Du sagst nicht: Das da, das gefällt mir weil die Farben leuchten, das Motiv herrlich ist. Du fragst nur nach dem Preis. Das ist wohl meistens so. Na ja. Aber das kannst du wissen: alle, alle sind teuer. Es sind besondere Gemälde. – Das in der Mitte, das da, das kleine Gemälde, das könnte es sein, das teuerste.“

„Das kleine Bild? Eh! Das ist geil. Klein aber fein. Heißt das nicht so?“

„In deinen Kreisen … Ich muss wohl umdenken. Also, es ist von Cranach. Adam und Eva. Er streckt die Hand aus, in der er den Apfel trägt. Damit hat alles angefangen. Die Zerstörung unserer Seelen. Gier, Neid, Verlangen. Siehst du die Tiere zu ihren Füßen? Löwe und Lamm. Symbol für den Charakter des Paradieses: Niemand tötet, verletzt oder bedroht ein anderes Lebewesen. Friedlich ist es dort – friedlich war es dort.“

„Du liebst Bilder mit Nackten.“

„Deine Schlüsse aus Zufällen sind … also… Du zwingst mich in die Verteidigung. Du siehst das alles aus deiner Erfahrung. Es kommt nicht auf den nackten Menschen an. Es kommt überhaupt nicht auf einen Körper, ein Gesicht oder dessen Schönheit an. Das alles ist unwichtig. Die Seele des Menschen, die ist alleine von Bedeutung. Wenn man sie so betrachten könnte wie diese Körper, so ohne Hülle, dann … Makellose, kaputte, zerstörte, hässliche und wunderbare Seelen. Es gibt sie ja, nur kann man sie nicht darstellen. Nicht einmal erklären.“

„Echt? Ich habe keine, ich meine dieses komische Ding. Seele! Wüsste ich doch. Und was du redest. Bist du ein Professor? Ein Gemäldeprofessor?“

„Kunstprofessor, Professor der Kunstgeschichte – das wäre ich schon gerne. Nein, bin ich nicht. – Aber die Seele, sie ist doch wichtig. Weil jeder Mensch anders ist, weil alle eine Seele haben.“

„Blödsinn! Ich bin Körper, nur Körper. Das andere ist Gequatsche von der Kirche. Die Seele kommt in die Hölle! Huhu! Gespenstergeschichten. Biste tot, biste weg. So ist das!“

„Irrtum! Du hast eine. Jeder Mensch hat eine. Sie ist untrennbar mit dir verbunden – bis zum Tod. Seele und Geist sind eigenständige Wesensteile des Menschen; jedes Menschen. Egal ob er gut oder schlecht ist.“

Sie hatte sich zu ihm umgedreht, schaute ihn nachdenklich an. Er sah nur diese schönen großen und dunklen Augen, bemerkte ihre Nacktheit nicht; sie störte ihn auf einmal nicht mehr.

„Na, ich weiß nicht. Dann hat der Robert auch eine?“

„Wer ist Robert? – Egal. Es gilt für jeden: Es existiert eine Seele, die unser Bewusstsein, unsere Persönlichkeit und unsere Bestimmung enthält.“

„Du redest Sachen, die ich nicht einmal denken könnte. Bist du so klug? Oder ist das was mit Religion? Sag nicht ja. Ich hasse diesen Reli-Scheiß.“

„Du verwechselst Göttlichkeit und unseren Glauben daran mit dem irdischen, mangelhaften Versuch, das alles bildlich zu machen. Dein Reli-Scheiß, wie du es nennst, hat nichts mit Gott oder unseren Seelen zu tun, das war vielleicht das, was du in der Schule lernen durftest.“

„Musste! Na, meinetwegen. Willst du es mir nicht sagen? Was kostet das Bild von diesem – wie hieß der noch? Der die im Paradies gemalt hat. Tausend?“, fragte sie und drehte sich wieder zur Wand.

„Cranach hieß der. Liebte das Motiv mit Adam und Eva. Hat bestimmt zweihundert davon gemalt. Was es kostet? Weiß ich nicht. Müsste auf einer Auktion aber eine Menge bringen. Jedenfalls mehr als die Summe, die du dir denken kannst.“

„Ach nee? Ich kann mir schon ganz schön unanständige Summen denken. Bin gut im Verhandeln. Also, ich sag mal Hunderttausend. – Quatsch, was?“, fragte sie und klang erschrocken.

„Nein, nein! Viel zu wenig. Hänge eine Null dran, dann kommst du der Zahl schon näher.“

„Echt? Mann! Du hast Recht. Solche Zahlen kann ich mir nicht vorstellen. Wie spricht man die?“

„Million.“

„Million! Million? – Ach, du dicke Scheiße! Du verarscht mich?“

Er musste bei ihrem erschrockenen Ausruf lachen. „Nein, tue ich nicht. Ist wirklich ein bisschen teurer als ein Auto. – Willst du wissen, was die anderen drei Bilder darstellen?“, fragte er und verspürte eine Lust an der Erklärung von Bildern wie schon lange nicht mehr.

„Ja, klar doch. Sehen gut aus. Wie im Museum.“

„Warst du schon mal in einem unserer Museen?“

„Nee. – Oh doch. Im Dezember erst. War Tag der offenen Tür im Museum Ludwig. Kennste das? Hinten am Bahnhof. Kein Eintritt. Musste mich mal aufwärmen. War aber langweilig. Zu viele Bilder und zu viele Zuschauer. Alte Leute. Alles Gruftis. Und ständig erklärte einem einer Sachen, die man nicht hören wollte. Was der alles in so einem Bild erkannte! Angeblich hat sich der Maler was ganz anderes gedacht, als er gemalt hat. Quatsch mit Farbe, habe ich einem von denen gesagt und da wollten die mich an die Luft setzen. “

„Ah! Ich dachte schon, du hättest Spaß an Gemälden. Nun, das zweite Bild von links, heißt ‚Turm der blauen Pferde’. Ist von Franz Marc. Ein Original, verstehst du?“

„Nee, versteh ich nicht. Ist aber auch egal. Gefällt mir nicht. Wer malt schon blaue Pferde. Hat wohl doch Recht, der Typ aus dem Museum. Hat sich ein braunes Pferd gedacht und dann hat er an den Himmel gedacht und da wurde es blau. Oder hat der sich gar nix gedacht?“

„Da geht es dir wohl wie den Ausstellungsbesuchern vor rund hundert Jahren, die sich das auch fragten.“

„Na, ja. Aber schöne Farben hat es. Wer ist das auf dem nächsten Bild? Der Typ, dieser komische mit langen Haaren, wie heißt der?“

„Nun, dieser komische Typ heißt nur ‚Junger Mann’. Hat Raffael Santi gemalt. Runde 500 Jahre alt und sehr gut erhalten.“

„Ich glaub’s nicht! Das ist eine Verarsche, was? Fünfhundert Jahre! Die konnten damals schon malen? Ach, Quatsch, klar konnten die. Aber wieso hast du das?“

Er spürte die Röte in seinem Gesicht, fühlte das Klopfen der Ader an seiner linken Schläfe. Es war ja klar, dass selbst dieses einfache Mädchen solche Fragen stellen würde. Was hatte er sich bloß gedacht? War es Eitelkeit?

Er schüttelte den Kopf. Nein, er war noch nie eitel gewesen, hatte auch diesem Mädchen nicht damit imponieren wollen. Besitzstolz, nannten es manche Sammler, die er auf Versteigerungen traf, wenn sie von ihren Gemälden erzählten, ihren Kaufrausch auslebten. Männer, die ihre Kostbarkeiten vor fremden Blicken sicher aufbewahrten, sie in Tresore einschlossen.

„Bitte zieh dich an. Ich erkläre dir die Gemälde gerne, wenn du deine Sachen angezogen hast. Bitte!“

„Quatsch. Mich stört es nicht, dass ich nackt bin. Erzähl schon.“

Er gab es auf. Sie machte ihn regelrecht fertig. Einen Moment lang dachte er, was wohl die Weingarten sagen würde, wenn sie diese Szene sehen könnte.

„Sie kann sie sehen!“, dachte er erschrocken.

„Und das da“, sagte er. „Das ist ein Lenbach-Porträt. Sagt dir nichts, ist aber eine Kostbarkeit. Wie alle Bilder, die du siehst.“

„Was machste denn, wenn die einer klaut? Könnte doch passieren?“, fragte sie und schaute ihn an.

„Diese Augen!“, dachte er, löste seinen Blick, schaute auf ihren zarten Körper, dann auf die Gemälde, versuchte sich zu sammeln. Sie war mit dieser Frage auf einen Nerv gestoßen.

„Ja, was ist dann? Könnte ich den Raub anzeigen? Was würde in der Öffentlichkeit losgetreten werden? Was würden sie über ihn berichten? Verdächtigungen, Unterstellungen. Dann würden sie ihn wieder ausgraben, meinen Vater, den Kurt Holländer.“

Er kannte die Kommentare und Berichte aus Kölner Stadtanzeiger, Express und anderen Blättern zur Genüge. Hinter jedem Gemälde im Privatbesitz vermuteten die eine Nazi-Hinterlassenschaft.

Kurt Holländers verschlossenes Wesen, seine unerklärlichen Geschäfte mit Händlern aus der Schweiz. Was könnte er der geifernden Öffentlichkeit denn schon sagen? Es war immer alles legal? Er war ein grundehrlicher Mann? Mit welchem Recht denn? Was wusste er denn wirklich über ihn?

Er schrak zusammen, als er ihre klare Stimme hörte. „Haste nie dran gedacht, was? Da wo ich herkomme, da reden sie nur über Brüche machen, Klauen und so was. Ist nicht deine Welt, was?“

„Ja, da hast du wohl Recht. Das ist nicht ganz meine Welt. Die kenne ich so wenig, wie du meine kennst. Aber so dunkle, hässliche Seelen, die gibt es in deiner wie in meiner Welt. Nur mehr versteckt, schön be- und verkleidet, das sind sie in meiner.“

„Echt? Ich dachte, deine Typen wären alles Leute, die in die Kirche rennen und wenn sie tot sind, in den Himmel kommen.“

„Die Hälfte stimmt, nur die erste Hälfte. Die in die Kirche rennen. Der Rest … Wer weiß schon. Wer sieht hinter die Fassade?“

Er seufzte bei dem Gedanken, dass er noch nie mit einem Menschen so eine Diskussion geführt hatte. Da musste so ein Mädchen kommen, eine die sich nackt vor ihm aufbaute und sich anbot, um ihn zu einem Gespräch zu bewegen, das ihn bestürzte. Tief berührte. Unfassbar!

Was war das für ein Kind? Ihre Seele hätte er gerne gekannt, sie betrachten und verstehen wollen. Einmal erschien sie ihm wie ein naives Kind, dann wieder wie eine wissbegierige Schülerin und dann machte sie plötzlich mit einem einzigen Satz alles wieder kaputt, stellte sich als billige Nutte dar. Er verstand so wenig von anderen Menschen, das wurde ihm gerade wieder schmerzhaft bewusst.

„Warum hängen die hier?“, fragte sie leise. So als befürchte sie, eine sehr dumme Frage zu stellen. „Verkaufst du die nicht in deinem Geschäft?“

„Galerie heißt das, so nennt man mein Geschäft. Nein ich will sie nicht verkaufen. Manches muss man auch für sich selber aufbewahren. Sie hängen hier in meiner Wohnung, damit sie schön aussieht, damit ich mich hier wohlfühle, darum sind sie hier.“

„Nur wegen Bilder kann man sich wohl fühlen? Du bist doch alleine? Ganz alleine? Deine Familie ist doch tot, stimmt’s? Du lebst hier mit ein paar teuren Bildern und kannst dich deshalb wohl fühlen?“

„So dachte ich auch immer. Bisher. Vielleicht hast du Recht. Vielleicht braucht man zum Wohlfühlen jemanden, der sich selber auch wohl fühlt. – Wie wär’s mit dir? Könntest du dich hier auch wohl fühlen?“

„Ich? Wohlfühlen? Wie geht das denn?“, fragte sie und ging auf die Wand zu, an der die Kenwood-Anlage stand. „Ich gehöre hier nicht hin. Ich kann mit dem hier nichts anfangen.“

Er sah ihr an, dass es eine Aussage war, die sie selber nicht glaubte, konnte den Trotz vom Gesicht ablesen. Er glaubte, dass sie sich nur selber damit schützen wollte. Mehr nicht.

„Weißt du, als ich ein Kind war, gab es da einen reichen Jungen in der Nachbarschaft. Der hatte immer die tollsten Sachen. Zum Beispiel ein Modellflugzeug. Als der mich fragte, ob ich auch gerne eins hätte, habe ich gesagt, dass ich die Dinger hasse. Verstehst du? Ich hätte sehr gerne eins gehabt. Ich wollte das nur nicht zugeben. – Ist das gerade bei dir auch so?“

„Quatsch mit Soße! Ich hasse dein Wohlfühlen. Ist mir nicht wichtig. Ich denke an andere Sachen. Geld, satt sein, nicht frieren müssen und so.“

„Sag das nicht. Ich zum Beispiel fühle mich wohl, wenn ich gemütlich hier im Sessel sitze, Musik höre, in einem Katalog mit Gemälden blättere. Dir würde es ähnlich ergehen.“

„Glaub ich eher nicht. Ist doch zum Gähnen. Was du da erzählst, das reicht dir? Wohlfühlen! Tolles Wort. Wie macht man das?“

„Machen? Das geht nicht so einfach. Sieh dich hier um. Alles ist sauber, warm und gemütlich. Das ist so, weil ich mich wohl fühlen möchte. Das Ambiente muss stimmen, ob im Restaurant oder in der eigenen Wohnung. Wohlgefühl stellt sich dann von ganz alleine ein.“

„Ambiwas? Gehört das auch zum Wohlfühlen? Ich mein solche Scheißworte zu kennen?“

„Ambiente ist kein Scheißwort! – Jetzt spreche ich schon wie du. Das Wort meint deine Umgebung, in der Wohnung oder im Restaurant.“

„Aha! Machste mal Musik? Bei Musik fühl ich mich wohl. Oder kannste damit nur Eier kochen?“, fragte sie und strich mit der Hand über die Schalter. „Haste sicher viel Geld für bezahlt, was? Kannste die überhaupt bedienen?“

„Ich kann. Was möchtest du hören? Romantik? Klassik? Oper? Klavierkonzert?“

„Was? Ich will tanzen. Hab ich früher oft gemacht. Früher, bevor …“

Ganz langsam wurde ihm mulmig und er fragte sich, ob er es richtig angefangen hatte. Es lief alles ganz anders, als er es geplant hatte. Sie trieb ihn mit ihren Fragen, mit ihrem Auftreten, in die Enge. Reagieren, mehr war gar nicht drin.

Dabei hatte er sich das Konzept so intensiv überlegt. Er musste schließlich damit rechnen, dass es Fallen gab. Wo sollte er beginnen, bei diesem Kind? Sie war undurchsichtig, so anders als alles, was er bisher gekannt hatte; in allem was sie tat und sagte.

„Errare humanum est“, hatte er oft zur Weingarten gesagt, wenn die sich für einen Irrtum entschuldigte. Dieses junge Mädchen gehörte wohl doch zu einer anderen Schicht Menschen. Die Leute, die er bisher gekannt hatte – rein geschäftlich –, die sprachen, dachten und handelten anders. Deren Absichten kannte er, konnte sie einkalkulieren und ihre Reaktionen voraus sehen.

Er kam sich hilflos vor, sprach aggressiver als er wollte. „Ich habe keine Tanzmusik und ich will nicht tanzen – mit einem nackten Mädchen schon mal gar nicht.“

„Also keine Musik.“

„Nein. Keine Musik und auch sonst nichts mit einem nackten Mädchen. Zieh dich endlich an!“

Sie lachte hell auf und schüttelte den Kopf. Es sollte selbstsicher und verächtlich aussehen, das verstand er. Aber als er ihr Gesicht betrachtete, war da ein ganz anderer Mensch. Unsicherheit, zittrige Verlegenheit und noch etwas ganz anderes sah er in diesen schönen Augen. Trotz? Angst? Abscheu? Oder alles das? Er wusste, dass sie sich nur mit ihrer Schale für ihn offenbarte. Ihr Inneres sah bestimmt ganz anders aus.

Und doch. Sie war ganz anders, als er gedacht hatte. Als er sie ansprach, war sie sofort mit ihm gegangen, so als hätte sie auf ihn gewartet. Das hat ihn verwundert und hätte ihn warnen müssen. Seinen Erläuterungstext, der ihr klar machen sollte, was er von ihr wirklich wollte, den er geübt hatte, den brauchte er nicht. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihm folgte, verwirrte ihn total. Er konnte ihr nicht sagen was ihn motivierte, was sein Anliegen war.

Er hatte sich alles so gut und intensiv ausgedacht – und dann ging sie einfach mit. Einfach so, ohne eine Frage, ohne seine Gründe hören zu wollen. Sie hatte ihm ganz einfach andere Gründe unterstellt; Gründe, die für sie das Normalste auf der Welt waren.

So zart, verletzlich und ängstlich hatte sie ausgesehen. Er hatte sie beobachtet. Nicht erst heute, nein, jeden Tag in diesem Winter.

Er stand fast an jedem Abend, wenn er seine Galerie abgeschlossen und bei ‚Schmitzens Lang’ zu Abend gegessen hatte, auf dem belebten und zugigen Platz, dicht neben dem Kiosk. Samstags und sonntags verbrachte er dort einen Teil seiner Freizeit, schlenderte dann auch mal durch den Bahnhof, ging über den Platz und betrachtete die Menschen, bevor er wieder seinen Platz am Kiosk einnahm. Er kam sich nicht vor wie ein Voyeur, nein, das nicht. Eher wie einer, der Studien für ein Projekt macht.

„Ein Projekt! Genau das war es doch auch. Eines mit unsicherem Ausgang.“

Oben auf der Domplatte las er meistens eine Zeitung, schielte über deren Rand, studierte die Passanten, verfolgte ihre Bewegungen, wenn sie aus dem Bahnhof traten, den Platz begutachteten, hoch zum Dom schauten, zögernd erst, dann entschlossen die breite Treppe hochstiegen. Er betrachtete ihre Schuhe, die Gesichter und die Kleidung.

Er sah sofort wer Tourist und wer Besucher aus dem Umland war; wer zum Einkaufen oder als Stadtbummler aus dem Bahnhof trat. Die zu erkennen, das war einfach. Manchmal hätte er wetten mögen, dass die Pärchen gleich zum Römisch Germanischen Museum abbiegen würden, oder, wenn sie die passende Kleidung trugen und es auf den Abend zuging, in die Philharmonie eilen würden.

Aber sie interessierten ihn nicht wirklich, sie waren Durchlaufposten. Die anderen, die, die hier hingehörten, die Teil der Stadt waren, verwurzelt mit dem besonderen Flair dieses Bahnhofs, die mit ihm verwachsen waren, alle, die mit diesem zugigen Platz auf irgendeine Weise verbunden waren, nur die waren für ihn von Bedeutung.

Er kannte sie inzwischen alle, die Bettler, Dealer, Kiffer, Prostituierte, Trinker und Taschendiebe. – Und die „alten geilen Knacker“, wie er die Kerle mit zorniger Stimme nannte, die sich immer die jüngsten Mädchen aussuchten. Diese Mädchen, so hatte er beschlossen, waren auch sein Klientel. Aus dieser Gruppe musste er sie aussuchen.

„Oh, ich kenne sie alle. Ihre Tricks und Ticks. Was sie anstellen und wovor sie Respekt oder Angst haben“, dachte er. Nicht alle passten in das Schema, das er sich gebastelt hatte.

Er hatte dieses Muster mehrfach angepasst. Jetzt, da war er sich sicher, war es richtig. Sie passte in diese Schablone. Jung, musste sie sein. Ja, sie war sogar sehr jung. Dass es eine Frau, ein Mädchen, sein musste, das war von Anfang an klar gewesen. „Wegen der Weingarten?“, hatte er sich gefragt und keine Antwort gewusst. Unabhängig musste sie sein. Das war wichtig. Und bereit zum Ausstieg musste sie sein, raus aus diesem Sumpf, der sie gepackt hatte, der sie immer tiefer ziehen würde.

Sie – er nannte sie in Gedanken Silvia – war immer da gewesen, von Anfang an, an jedem Tag, an dem er da draußen am Dom stand.

Zuerst dachte er, sie wäre noch zu jung, sie passte nicht ganz in seinen Entwurf. Außerdem ärgerte ihn etwas. Mehrere Male hatte er gesehen, wie sie neben dem Lokal ‚Alt Köln’ in Autos gestiegen war, schnell, als wolle sie nicht erwischt werden.

Es hatte ihn getroffen, betrübt und wütend gemacht – auf die „Scheißkerle, diese geilen Böcke“, wie er sie in Gedanken nannte – nicht auf sie. Sie konnte ja nicht anders. Genau aus diesem Dreck wollte er sie ja raus holen.

Sie war sein Ziel. Er wusste, dass sie anders war als die anderen Mädchen, die er beobachtet hatte.

Bevor er sie endlich ansprach, hatte er einige Vorstellungen über Bord geworfen. Zum Beispiel diese Frage nach dem Alter. Sie war wirklich jung; vielleicht zu jung für die Aufgabe. Auch die Tatsache, dass sie nicht unabhängig, nicht alleine war, dass in ihrer Nähe immer so ein komischer, pseudoelegant gekleideter, Typ herumstrich, zu dem sie offensichtlich eine Beziehung hatte. „Ein Aufpasser? Zuhälter?“, fragte er sich und musste sich schütteln bei diesem Gedanken.

War es Angst, wenn sie den Kopf senkte, diesen langhaarigen Typ im Gespräch nicht anschaute? Er gab ihr Anweisungen, gestikulierte und drohte schon mal mit der Faust. Sie nickte immer nur, steckte ihm oft etwas zu, was er kritisch betrachtete. Er schubste sie voran, wenn sie zögerte, drückte seine Faust in ihren Nacken. Dieser Mann störte ihn sehr. Aber das alles musste er in Kauf nehmen. Sie war trotzdem sein Mädchen.

Keine war wie sie, so jung, so zart, so hilflos aussehend – und so engelhaft hübsch. Mit ihr würde es klappen, das hatte er gewusst, als er sie mit seinen Plänen abglich. Er wusste, was er wollte, hatte sich endgültig entschieden.

Heute hat es reichlich unter null Grad gehabt, die Luft war feucht, der Wind, der in Böen vom Dom herunterfiel, war heftig und darum waren nur wenige Leute vor dem Bahnhof zu sehen gewesen. Silvia aber war da. Sie tat ihm noch mehr Leid als sonst. Dieser Typ war nicht zu sehen gewesen; aber er wusste, dass der oft im Bahnhof stand, sich wärmte und durch die Glaswände die Mädchen beobachtete.

Sie stand da, mitten auf dem Platz, trat von einem Bein aufs andere, hatte die Hände um den Körper geschlungen und schaute ständig auf die Schwingtüren des Bahnhofs, aus denen nur wenige Menschen traten, meistens ältere Paare.

Dann hat er sie tatsächlich angesprochen. „Hast du Zeit? Kannst du mit mir kommen?“, hat er sie gefragt. Sie hat nur genickt, sich bei ihm eingehakt, sich zitternd geschüttelt und „Saukälte!“ gesagt.

„Wo ist dein Auto“, hat sie gefragt und sich umgeschaut.

„Wir gehen zu mir, da ist es warm“, hat er geantwortet und sie hat nur „Prima!“ gesagt.

Ja, er würde sie aus diesem Dreck und der Kälte rausholen – und wenn’s nur für einige Monate sein würde; vielleicht bis zum Sommer, wenn die Abende angenehm waren. Aber vielleicht auch für immer. Er würde sehen.

„Gefällt´s dir hier?“, fragte er das Mädchen, das mit der rechten Hand über den weichen Stoff der Sessellehne strich.

„Wie heißt das, was stimmen muss? Was meint das in Echt? In der Kneipe, hier und so? Dieses Ambi… Du weißt schon.“

„Ambiente. Entschuldige, ich hab … Hast du es vergessen? Ich hab’s dir ja schon erklärt. Das Wort bedeutet nichts als Umgebung, als Flair; also sagt man damit und meint das auch, dass die Umgebung so sein muss, dass man sich wohl fühlt.“

„Hab’s nicht vergessen. Dachte nur, da wär was drin versteckt, was du nicht sagen wolltest. Ist nicht so, oder? Na, dann hab ich auch ein Ambiente. Da wo ich lebe, stimmt auch alles. Deutzer Brücke! Kennste die? Trocken und dunkel, Geruch vom Rhein nach Öl und totem Fisch. Und nach allem, was mir was bedeutet. Andere Mädchen, lautes Lachen, Witze machen über die Leute und so. – Und Freiheit.“

Sie fuhr sehr vorsichtig mit dem nackten Fuß über die glatte bronzefarbene Oberfläche der Buddhafigur, die neben dem Sessel stand.

„Was ist denn das für ein Fettwanst? Haste den vom Trödel?“

„Nein, aus Nordindien. Stand mal in meiner Galerie. Ich … Also gut, ich interessiere mich für den Buddhismus. Die Figur habe ich von meiner letzten Reise aus der Schweiz mitgebracht.“

„Aha! Hab ich schon von gehört. Bin ja nicht blöde. Biste darum so komisch? Wegen dem Buddhadingsbums?“

„Wieso bin ich komisch, Kind?“

„Weil du mich nicht vögeln willst, darum. Du hast mich bestimmt schon tausend Mal Kind genannt. Bist du einer, der’s nur mit denen kann? Mein Adoptivvater, der Arsch, der war so einer; kann ich ’n Lied von singen.“

„Hat er dich? – Oh, nein!“

„Ach Mist! Wollte ich nichts zu sagen. Halt dich da raus, ja? Geht dich nichts an. Ist Scheiße von Gestern. Lass bloß das Scheißwort Kind weg.“

„Warum? Das ist doch kein Schimpfwort.“

„Warum! Warum! Weil ich es hasse! War ich nie, bin ich nie, will ich nie, nie sein. Hör auf, mich so was zu fragen.“

„Ich war auch nicht immer gerne Kind; nur bis zwölf. Bei meinen Großeltern in Bonn, die auf dem Bild da. War eine gute Zeit. Meine Eltern waren … Ach, stimmt nicht. Ich hatte gar keine. Meine Mutter ist 1944, bei meiner Geburt gestorben. War wohl meine Schuld. Wenigstens hat mein Vater das angedeutet. Jedes Kind braucht …“

„Scheiße! Schluss! Aufhören, hab ich gesagt! Red’ nicht von dir; du bist uninteressant für mich. Schreib ein Buch drüber; das ist mir egal, weil ich nie lese. Will gar nichts von dir wissen. Mann! Du nervst! Ich will über so einen Scheiß nicht reden. Komm lieber und lass es uns machen. Schnell! Ich will weg. Ich brauch’ die Kohle und ich will weg von hier.“

Erschrocken starrte er sie an, fühlte sich von diesem Gefühlsausbruch regelrecht erschlagen. In seinem Leben hatte er nur einmal so eine Gefühlsexplosion erlebt. Die würde er bestimmt nie vergessen und das hier kam dem schon ziemlich nahe.

„Ganz ruhig Konrad“, dachte er.

„Nein, ich glaube nicht, dass du das wirklich willst. Also, bitte, geh in die Gästetoilette und zieh dich an. Ich mache uns jetzt den Tee. Und alles ist gut.“ Er ging an ihr vorbei, streifte sie fast.

„Was hindert dich? Seh’ ich so Scheiße aus?“, rief sie ihm nach und er war froh, dass er ihr Gesicht nicht sehen konnte, denn dann würde ihn ihre Traurigkeit in den Augen, die er in der Stimme hören konnte, verrückt machen.

Während das Wasser sich erhitzte, suchte er einen Assam Tee heraus und stellte das Porzellan aufs Tablett. Das besondere Porzellan. Das hatte er in der Schweiz ersteigert. Viel Geld hatte er dafür hinlegen müssen und nachher lange überlegt, warum er es getan hatte. Warum er nicht hatte widerstehen können, als der Auktionator das besondere Service aus der Zeit des chinesischen Kaisers Daoguang ausrief. Doch dann war ihm klar gewesen, dass er alles, was ihm gefiel, stets nur für sich besitzen wollte. Nie für andere. Nie, um anderen damit zu imponieren. Das galt für die fünf Bilder wie für den Buddha. Das galt selbstverständlich nicht für die Stücke, die er in der Galerie zum Verkauf ausstellte. Das waren auch Durchlaufposten; wie die Touristen am Bahnhof.

Bei Silvia konnte er sicher sein, dass sie das Porzellan nicht bewunderte. Bestimmt hielt sie es für Ware aus einem Ein-Euro-Laden.

„Wo wohnst du? Ich meine, wenn du nicht am Bahnhof stehst?“, rief er und drehte dabei den Kopf zum Wohnzimmer.

„Sagte ich doch schon; meistens unter der Deutzer. Wie’s gerade so kommt. Wenn einer zahlt, bleib ich auch über Nacht. Kann ich heute bei dir schlafen?“

„Nicht für das, was du dir denkst. Nur als ganz normale Einquartierung, als mein Gast. Ich wollte dir das sowieso anbieten. Kannst im Gästezimmer schlafen und die Tür verschließen. Übrigens: Ich könnte dein Großvater sein.“

„Dacht’ ich mir schon. Haste überhaupt mal ’ne Frau gehabt?“

„Was hast du gesagt?“, fragte er, weil er nur „Hast du überhaupt …“ verstanden hatte; der Rest ging im Pfeifen des Wasserkessels unter.

„Nee, is’ schon gut. Geht mich nichts an.“

Als er ins Wohnzimmer kam, stand sie noch immer nackt da. Er stellte das Tablett vorsichtig auf den Tisch und ging auf sie zu. Sie lächelte nicht, sah ihn starr an. Er zögerte einen Augenblick, fasste sie an den Schultern, drehte sie um und schob sie vor sich her, in den Flur, auf die Toilettentür zu.

„He!“, sagte sie leise. „Was wird das jetzt?“

Ihre Haut fühlte sich weich, warm und glatt an. „Angenehm“, dachte er und schämte sich.

Sie drehte sich blitzschnell um, legte die Arme um seinen Nacken, hob sich auf die Zehenspitzen und drückte ihren Körper an seinen.

„Knutschen is’ nicht. Aber alles andere“, flüsterte sie. Er spürte die kleinen Brüste, die sich an ihm rieben, und fühlte ihren Atem, der seinen Hals streifte.

„Schluss! Aus! Lass los!“, rief er und schob sie von sich.

„Meine Güte! Du bist wirklich komisch. Ich koste übrigens nur fünfzig Euros – für alles, was du willst – für die ganze Nacht aber hundert. Also, das kannst du dir doch leisten, oder? Wer solche Bilder hat, der …“

„Hör auf!“, befahl er, schob sie vor sich her, bugsierte sie in die Gästetoilette und machte das Licht an. Ihre Sachen lagen verstreut auf den Fliesen. Unterwäsche mit schwarzen Spitzen, eine Strumpfhose mit Laufmasche, Pulli, der mal weiß gewesen sein musste, Jeans mit Rissen an den Knien, Socken mit undefinierbarer Farbe, Turnschuhe mit krummer Sohle. Am Handtuchhalter hing ihr bunter Umhang.

„Zieh das an. Sofort!“, sagte er scharf und drückte die Tür ins Schloss.

„Scheißkerl!“, schrie sie durch die geschlossene Tür und dann hörte er sie weinen.

„Was für ein Kind“, dachte er und fühlte sich furchtbar schlecht.

Er setzte sich an den Tisch im Wohnzimmer, betrachtete seine Hände, mit denen er gerade ihre Haut berührt hatte, als gehörten sie ihm nicht. Er wusste nicht wohin mit ihnen und klemmte sie schließlich zwischen die Beine.

Er wartete. Sie kam schnell, viel schneller, als er gedacht hatte. Während des Gehens stopfte sie sich den Pulli in die Hose. Ihr Gesicht war rot und nass. Die Augen glänzten wie im Fieber und ihre kleinen Hände fummelten fahrig an dem karierten Umhang, den sie über der Schulter trug.

„Setz dich, bitte. Der Tee ist … Ich hole auch etwas zum Knabbern.“

„Oh nein! Scheiße, Scheiße!“, schrie sie, „Lass das Gesülze.“

„Was hast du denn, Mädchen? Ich meine es gut mit dir. Gefällt es dir hier nicht?“, fragte er leise und zeigte, den Arm schwenkend, auf seine Einrichtung. „Das ist doch alles besser, als das, was dich da draußen erwartet.“

„Ja? Das weißt du? Woher denn? Du blöder, reicher, einsamer alter Mann. Quatsch doch mit deinen Bildern, mit den nackten Weibern da. Nichts weißt du, gar nichts. Da draußen, wie du das nennst, da lebe ich. Da lache und weine ich. Da fühl ich mich wohl, verstehste? Das ist mein Ambiente. So was, wie das hier“, und sie zeigte dabei, wie er, mit dem ausgestreckten Arm auf die Bilder, „dafür kann man sich da draußen nicht mal ’nen Joint kaufen. Ich brauch’ diese Scheiße nicht. Unter der Deutzer Brücke, im Schlafsack, ist es angenehmer als hier – da fühl’ ich mich wohl. Hier ist es nicht warm, hier ist es stickig heiß wie in der Wüste. Ich könnte kotzen!“

Sie weinte immer noch, holte tief Luft, wischte sich mit dem Ärmel durchs Gesicht, ging in den Flur, öffnete die Wohnungstür, verharrte, drehte sich um und schaute ihn an.

„Warte!“, rief er schnell. „Warte, ich gebe dir Geld. Du brauchst nicht anschaffen zu gehen. Ich gebe dir was.“

Sie schnaufte, rüttelte wütend an der Türklinke. „Hör zu, du Seelenretter. Ich will kein Geld von dir. Das hier, das war Stress für mich, wenn du verstehst, was ich meine. Stress pur! So einen Scheiß, den kann ich nicht abhaben, verstehst du?“ Sie schluchzte und er wollte aufstehen, um sie in die Arme zu nehmen.

„Bleib sitzen! Wenn du meinst, du könntest eine arme Seele retten, sie aus dem Strichsumpf ziehen, dann hast du dich in der Adresse geirrt. Willst du damit in diesen … diesen Buddhahimmel kommen? Oder haben die so was gar nicht? Scheißegal! Ich verzichte auf deine Kohle, auf deinen Tee, dein Ambiente und dein Wohlfühlen. – Du, du kannst mich mal!“

„Halt! Bitte!“, rief er verzweifelt und sprang hoch. „Bleib doch. Ich habe es wirklich gut gemeint.“

„Ach, du Scheiße! Du hast doch keine Ahnung. Du lebst in einer anderen Welt. Meine verstehst du nicht – nie! Und Tschüss!“, rief sie und knallte die Tür hinter sich zu.

Er fiel matt in den Sessel zurück, saß hoch aufgerichtet da, lauschte auf ihre schnellen Schritte, zählte die Stufen, hörte die Haustür knallen und dann wurde es still.

Er blickte auf die Uhr; sie war nur eine Stunde hier gewesen. Er spürte die Enttäuschung, lauschte auf die Stille.

„Was hab ich falsch gemacht? Was? Hätte ich es anders anpacken sollen? Ich hab sogar vergessen zu fragen, wie sie wirklich heißt. Hast dich geirrt, Konrad. Bist und bleibst ein einsamer alter Tölpel. Vergiss alles. Stirbst irgendwann, wirst verscharrt und das war es dann. Bloß nicht unter den Granitstein vom Holländer auf dem Südfriedhof. Vielleicht sollte ich mich verbrennen lassen.“

Er lehnte den Kopf an die Sessellehne und blickte zur Decke. Als die Tränen seinen Hals erreichten, wischte er einmal mit dem Ärmel über das Gesicht. Lange saß er da, lauschte auf die Geräusche von der Straße und weinte.

Als es langsam dunkelte, die Möbel nur noch Schatten waren, stand er auf, brachte das Tablett mit dem Tee in die Küche und putzte die Anrichte sauber.

Sie fröstelte und zog die Schultern zusammen. Die Kälte kniff nach der molligen Wärme wie mit Zangen in die Nase. Die Kopfhaut zog sich zusammen und als sie am Bahnhof ankam, kroch der Frost bereits an den Beinen hoch. Trotz der Socken, die sie im Winter über die Strumpfhose zog, hatte sie eiskalte Füße.

Sie liebte die Sommersonne, ihre Wärme, in der niemand an dicke Klamotten denken musste.