Kalter Neid - Angela Lautenschläger - E-Book
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Kalter Neid E-Book

Angela Lautenschläger

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Beschreibung

Wenn der Tod das Urteil ist … Der fesselnde Hamburg-Krimi »Kalter Neid« von Bestsellerautorin Angela Lautenschläger jetzt als eBook bei dotbooks. Voller Unruhe wartet die Hamburger Anwältin Theresa Sommer vor Gericht auf ihre Mandantin – doch die erscheint nicht zum Scheidungstermin. In ihrer Not kann Theresa nur eine anrufen – und ihre pfiffige Tante Hedwig springt tatsächlich direkt ins Taxi, um Julia Sagmeister ausfindig zu machen. Doch die liegt tot in ihrer Wohnung. Hat etwa ihr Noch-Ehemann, ein undurchsichtiger Bauunternehmer, sie im Affekt erschlagen? Oder gibt es einen Zusammenhang mit dem rätselhaften Zeitungsartikel, der am Tatort gefunden wird? Obwohl Theresa eigentlich die Finger von diesem rätselhaften Fall lassen sollte, beginnt sie, zusammen mit Hedwig Nachforschungen anzustellen … was nicht nur Kriminalkommissar Lukas Kampmann ein Dorn im Auge ist, sondern womöglich auch einen Mörder auf sie aufmerksam macht! Nach der Krimi-Bestseller-Serie um das Ermittlerduo Engel & Sander nun der spannungsgeladene Reihenauftakt um die taffe Anwältin Theresa Sommer und Lukas Kampmann, einen Kommissar mit besonderen Ermittlungsmethoden. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der packende neue Kriminalroman »Kalter Neid« von Bestsellerautorin Angela Lautenschläger bietet den Fans ihrer Erfolgsserie natürlich auch ein Wiedersehen mit Nachlasspflegerin Friedelinde Engel und Kommissar Sander. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 673

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Über dieses Buch:

Voller Unruhe wartet die Hamburger Anwältin Theresa Sommer vor Gericht auf ihre Mandantin – doch die erscheint nicht zum Scheidungstermin. In ihrer Not kann Theresa nur eine anrufen – und ihre pfiffige Tante Hedwig springt tatsächlich direkt ins Taxi, um Julia Sagmeister ausfindig zu machen. Doch die liegt tot in ihrer Wohnung. Hat etwa ihr Noch-Ehemann, ein undurchsichtiger Bauunternehmer, sie im Affekt erschlagen? Oder gibt es einen Zusammenhang mit dem rätselhaften Zeitungsartikel, der am Tatort gefunden wird? Obwohl Theresa eigentlich die Finger von diesem undurchsichtigen Fall lassen sollte, beginnt sie, zusammen mit Hedwig Nachforschungen anzustellen … was nicht nur Kriminalkommissar Lukas Kampmann ein Dorn im Auge ist, sondern womöglich auch einen Mörder auf sie aufmerksam macht!

Nach der Krimi-Bestseller-Serie um das Ermittlerduo Engel & Sander nun der spannungsgeladene Reihenauftakt um die taffe Anwältin Theresa Sommer und Lukas Kampmann, einen Kommissar mit besonderen Ermittlungsmethoden.

Über die Autorin:

Angela Lautenschläger arbeitet seit Jahren als Nachlasspflegerin und erlebt in ihrem Berufsalltag mehr spannende Fälle, als sie in Büchern verarbeiten kann. Ihre Freizeit widmet sie voll und ganz dem Krimilesen, dem Schreiben und dem Reisen. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Katzen in Hamburg.

Bei dotbooks erscheinen die Bände ihrer »Sommer und Kampmann«-Reihe als eBook- und Printausgaben:»Kalter Neid«»Blendende Gier«Weitere Bände sind in Planung.

Auch bei dotbooks erscheinen die Bände ihre »Engel und Sander«-Bestsellerreihe, ebenfalls als eBook- wie auch Printausgaben:»Stille Zeugen«»Geheime Rache«»Tödlicher Nachlass«»Blindes Urteil«»Gerechte Strafe«»Brennende Angst«»Stummer Zorn«

Spannende Leseproben zu »Blendende Gier« und »Stille Zeugen« erwarten Sie am Ende dieses eBooks!

***

Originalausgabe Juli 2021

Copyright © der Originalausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Philipp Bobrowski

Titelbildgestaltung: © HildenDesign unter Verwendung eines Motives von Shutterstock.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96655-552-4

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Angela Lautenschläger

Kalter Neid

Der erste Fall für Sommer und Kampmann

dotbooks.

Prolog

»Hören Sie, ich habe einen wichtigen Termin. Ich muss dringend in mein Büro.« Der hagere Mann sah demonstrativ auf seine Armbanduhr.

Polizeiobermeister Zimmermann kannte sich mit Uhren nicht aus, aber sie sah wertvoll aus. »Sie sind Zeuge eines Verkehrsunfalls mit Todesfolge. Ihre Aussage ist deshalb von immenser Bedeutung«, belehrte er den Mann.

Der Hagere ließ die Arme sinken und verschränkte die Hände vor dem offen stehenden Trenchcoat. Darunter trug er einen grauen Anzug, ein weißes Hemd, aber keine Krawatte.

Zimmermann fragte sich, in was für ein Büro er zurückkehren musste. »Ihre Aussage und die Ihrer Begleiterin.« Zimmermann warf einen Blick zu der nicht ganz schlanken Frau, die an dem Wagen lehnte, aus dem der Hagere ausgestiegen war.

»Selbstverständlich.« Der Mann nickte in Richtung von Zimmermanns Tablet und gab seinen Namen, sein Alter und seinen Beruf zu Protokoll. Dann wartete er ab, während Zimmermann die Angaben in das Tablet eingab, das er auf der Kühlerhaube des Streifenwagens abgestellt hatte.

Das Blaulicht hatte Zimmermann ausgeschaltet, weil es ihn nervös machte. Über die Kreuzung zuckten ohnehin genug Blaulichter der Polizeiwagen, die die vier Straßen absperrten.

Die beiden Unfallwagen waren vermutlich ziemlich exakt in der Mitte der Kreuzung zusammengeprallt, der Mercedes hatte den Smart dann noch ein ganzes Stück weitergeschoben. Der weiße Smart der Carsharingfirma lag auf der Seite. Die Feuerwehrmänner hatten nur kurz darüber diskutiert, ob es sinnvoll wäre, den Wagen aufzurichten, um den Fahrer zu bergen. Der Wagen lag auf der Fahrerseite, und der eingeklemmte Fahrer war schwer erreichbar. Man hatte sich dann dazu entschlossen, die Lage des Wagens nicht zu verändern und den Fahrer durch die Beifahrertür zu bergen. Für den fünfundzwanzigjährigen Mann kam jedoch jede Hilfe zu spät. Der Leichnam war bereits abtransportiert worden.

Das zweite Fahrzeug, ein glänzend schwarzer Mercedes-Benz GLC 250 war nahezu unbeschädigt. Ein ungleiches Kräfteverhältnis, bei dem der kleine Smart durch den Aufprall des großen, schweren SUV auf die Seite gekippt war. Zu schnell dürften sie beide gewesen sein. Der Fahrer des Mercedes war mit einem Schleudertrauma zur Untersuchung ins Krankenhaus gebracht worden.

Zimmermann hatte Verständnis für die Ungeduld des Zeugen. Seit dem Unfall war mittlerweile eine Stunde vergangen, und während Polizei und Sanitäter ihre Arbeit machten, hatten die Zeugen untätig abwarten müssen, bis sie dran waren.

»Gut«, sagte Zimmermann. »Und welche Angaben können Sie zu dem Unfallhergang machen? Danach können Sie gehen.«

»Also, wir kamen aus Richtung Innenstadt.« Der Zeuge deutete auf den grauen Ford Focus, den zweiten Wagen vor der Straßenmündung. Die Beifahrertür war offen. Vermutlich war der Mann sofort nach dem Unfall aus dem Wagen gestürzt, um zum Unfallort hinüberzulaufen. Die Frau stand jetzt in der geöffneten Fahrertür, jederzeit bereit einzusteigen. »Der Mercedes war bereits in die Kreuzung eingefahren, als der Smart von dort drüben mit überhöhter Geschwindigkeit auf die Kreuzung raste. Der Fahrer muss schon Rot gehabt haben. Der Mercedes ist wie ein Panzer gegen den Smart gestoßen und hat ihn umgekippt. Ich bin ausgestiegen und zusammen mit anderen Leuten auf die Kreuzung gerannt.«

Zimmermanns Finger flogen über die Tastatur, um mitzuschreiben. »Konnten Sie am Unfallort etwas ausrichten?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Man kam an den Fahrer des Smart ja nicht heran. Ich habe mit zwei anderen Männern darüber diskutiert, was wir am besten machen. Einer schlug vor, den Wagen aufzurichten, aber das erschien mir zu unsicher.« Er rang die Hände. »Gott sei Dank hörten wir dann schon das Martinshorn, und die Feuerwehr traf ein.«

»Können Sie noch etwas zu dem Fahrer des Mercedes sagen?«

»Nein, ich glaube, dem waren andere Passanten zu Hilfe geeilt.«

»Fällt Ihnen sonst noch etwas ein, was Sie zu dem Unfall angeben können?«

»Nein. Aber falls mir etwas einfällt, werde ich die Polizei natürlich unterrichten.«

»In Ordnung. Sie müssten morgen ins Präsidium kommen, um Ihre Aussage zu unterzeichnen.« Zimmermann nickte in Richtung seiner Begleiterin. »Könnten Sie Ihre …« Er sah den Mann an. »Ist die Begleiterin Ihre Frau?«

»Einen Augenblick, ich hole sie eben.« Der Mann entfernte sich mit federndem Schritt, sprach einige Worte mit der Frau und fasste dann ihren Ellenbogen. Sie stand vermutlich unter Schock, jedenfalls schien sie ihm ein wenig widerwillig zu folgen.

Zimmermann nickte der Frau zu. »Können Sie bitte eine Aussage zu dem Unfallhergang machen? Ach so, und ich benötige noch Ihre Personalien.«

»Ich kann Ihnen wirklich gar nichts sagen. Ich habe auf meinen Vordermann geachtet.« Sie rieb sich den Nacken. »Ich glaube, ich habe ein Schleudertrauma. Ich würde das gern untersuchen lassen.«

»Natürlich. Wenn Sie wollen, rufe ich Ihnen einen Krankenwagen.«

»Das ist wohl nicht nötig. Danke. Ich werde meinen Arzt aufsuchen.«

»Ach, bitte kommen Sie morgen beide aufs Präsidium, um Ihre Aussage zu unterschreiben.«

»Das machen wir.« Der Mann legte der Frau fürsorglich den Arm um die Schultern.

»Dann danke ich Ihnen für Ihre Geduld. Auf Wiedersehen.« Zimmermann speicherte die Angaben ab und sah dem Paar nach.

Die Kollegen waren immer noch mit der Spurensicherung befasst, Schaulustige schossen Fotos. Die ersten Unfallzeugen kehrten in ihre Wagen zurück und wendeten. Dieser furchtbare Unfall hatte das Zeug, es auf die Titelseite der Tageszeitungen zu schaffen. Ein junger Mann war gestorben, der Unfallgegner fuhr einen SUV, dessen bloße Existenz die Gemüter erhitzte, auch wenn den Fahrer eher eine geringe Schuld traf. Das Szenario auf dieser Eppendorfer Kreuzung wirkte geradezu filmreif, und schließlich würde die Sperrung dieser verkehrsreichen Kreuzung zu erheblichen Verkehrsbehinderungen führen.

Zimmermann sah sich um und steuerte dann den nächsten Unfallzeugen an, um ihn zu befragen.

Kapitel 1

Peinlich.

Theresa verkniff es sich, ein weiteres Mal auf die Uhr zu sehen. Es wäre das gefühlt tausendste Mal, und zwar unter Beobachtung des Richters und des gegnerischen Rechtsanwalts. Sie sah auf und begegnete dem Blick von Richter Bartholomäus, der ihr ein nachsichtiges Lächeln schenkte. Theresa bemühte sich, eine zuversichtliche Miene aufzusetzen. »Es kann wirklich nicht mehr lange dauern«, versicherte sie.

Der Richter nickte ihr zu und vertiefte sich wieder in seine Akte. Vermutlich hielt er sie für völlig unprofessionell, weil sie es nicht schaffte, ihre Mandantin dazu zu bewegen, pünktlich zu ihrem Scheidungstermin zu erscheinen. Dabei hatte Julia Sagmeister ihr wochenlang damit in den Ohren gelegen, dass sie nicht schnell genug geschieden werden konnte. Es kam schon mal vor, dass Theresa Mandanten zu Hause abholte, um dafür zu sorgen, dass sie überhaupt vor Gericht erschienen. Aber nie im Leben wäre sie auf die Idee gekommen, dass Julia Sagmeister nicht erscheinen würde.

Theresa blies die Backen auf. Sergej Novok, der Rechtsanwalt des Ehemannes, trommelte leise mit allen fünf Fingern der rechten Hand auf den Tisch. Dieser aufgeblasene Wichtigtuer genoss diese unangenehme Situation natürlich. Und sein Mandant litt offenkundig unter Bluthochdruck. Theresa befürchtete wirklich, dass er gleich platzte.

»Wo bleibt die denn?«, rief Michael Sagmeister. »Die lässt uns jetzt alle warten, oder wie?«

Sergej Novok legte seinem Mandanten die Hand auf den Unterarm, nicht ohne Theresa einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen. »Ich kann den Unmut meines Mandanten verstehen, Frau Kollegin. Erst ging es Ihrer Mandantin nicht schnell genug, und jetzt sitzen wir uns hier alle den Hintern platt.« Novok deutete auf die Richterbank. »Und wir halten hier zudem das verehrliche Gericht auf.«

Theresa zog die Manschetten ihrer Bluse unter den Ärmeln ihrer Anwaltsrobe hervor. »Möglicherweise scheut meine Mandantin auch die Begegnung mit Ihnen, Herr Sagmeister. Sie soll ja von Ihnen geschieden werden.« Sie seufzte. »Ich werde noch einmal nachfragen. Vielleicht erreiche ich Frau Sagmeister jetzt auf dem Handy.«

Theresa verließ den Saal und trat in den Gerichtsflur. Durch die offen stehende Tür konnte sie den hämischen Blick des Kollegen deutlich im Rücken spüren. Dieser blöde Kerl konnte sie mal. Theresa drückte die Wahlwiederholung, aber nachdem es eine Weile geläutet hatte, sprang erneut Julia Sagmeisters Mailbox an. Theresa verzichtete darauf, zum fünften Mal daraufzusprechen, und wählte die Nummer ihres Büros.

»Hallo?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang verhalten, beinahe schüchtern und wie die einer älteren Frau. Nicht wie die Stimme ihrer energiegeladenen Mitarbeiterin Miranda.

Verdutzt nahm Theresa das Handy vom Ohr und sah auf das Display. Nein, sie hatte sich nicht verwählt und war mit der Kanzlei Winkler, Harms und Sommer verbunden. »Theresa Sommer hier, mit wem spreche ich?«

»Ach, Liebes, Gott sei Dank, dass du anrufst. Hör mal, hier ist ja kein Mensch in deinem Büro, und die Tür ist nicht abgeschlossen.«

»Tante Hedwig?« Theresa machte einige Schritte vom Gerichtssaal weg und ging zum Fenster. »Was machst du in der Kanzlei?«

»Ich wollte dich besuchen, Liebchen, aber als ich hier reinkam, war alles verwaist. Kein Mensch ist da. Sie könnten euch in aller Ruhe ausrauben.«

Seufzend schloss Theresa die Augen. Dass keiner ihrer Kollegen da war, überraschte sie nicht sonderlich, aber ihre Sekretärin könnte schon an ihrem Platz sein. »Ist Miranda vielleicht auf der Toilette?«

»Hab ich schon nachgesehen. Dort ist auch niemand. Ich war sogar auf dem Herrenklo.«

»Okay.« Theresa versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. »Tante Hedwig, kannst du mir einen Gefallen tun?«

»Sicher. Hier könnte ein bisschen Staub gewischt werden. Und vielleicht sollte die Ablage in Ordnung gebracht werden.«

»Später, Tante Hedwig. Kannst du dir bitte eine Adresse aufschreiben?«

»Mach ich. Moment.« Am anderen Ende der Leitung rumpelte es kurz. »Schieß los!«

Theresa diktierte ihrer Tante den Namen und die Adresse ihrer Mandantin. »Nimm dir bitte ein Taxi und fahr dorthin. Du holst Frau Sagmeister ab und kommst dann mit ihr hierher ins Gericht. Könntest du das tun?«

»Natürlich kann ich das tun. Ich frage mich nur, warum die Frau das nicht allein bewältigen kann. Stimmt etwas nicht mit ihr?«

»Tante Hedwig, ich weiß, dass ich dich um etwas Merkwürdiges bitte, aber du bist im Augenblick die einzige Person, die mir helfen kann. Die Kosten für das Taxi erstatte ich dir nachher natürlich, und bei einer Tasse Kaffee erkläre ich dir später alles. Ach so, Tante Hedwig, es eilt. Ist das in Ordnung?«

»Natürlich. Man hilft ja, wo man kann. Bis später, Liebes.«

Theresa beendete das Gespräch. Tante Hedwig. Ein vages Schuldgefühl überkam sie. Die Schwester ihres Vaters war seit einem Jahr Witwe, und Theresa hatte es gerade mal geschafft, sie seitdem dreimal anzurufen. Oder, wenn sie ganz ehrlich war, zweimal. Einmal hatte sie Hedwig nicht erreicht und es nicht wieder probiert. Offenbar hatte ihre Tante jetzt selbst die Initiative ergreifen und sie im Büro besuchen wollen. Und was tat Theresa? Sie spannte sie für die Arbeit ein, weil sonst niemand da war. Und mit Miranda würde sie auch noch ein Wörtchen reden. Außer der Portokasse gab es in der Kanzlei zwar nicht viel zu stehlen, aber das war noch kein Grund, einen Tag der offenen Tür abzuhalten.

Theresa atmete tief ein und kehrte in den Gerichtssaal zurück. »Herr Vorsitzender, ich habe eben meine beste Mitarbeiterin darauf angesetzt, bei Frau Sagmeister nach dem Rechten zu sehen. Ich mache mir allmählich wirklich Sorgen, weil ich meine Mandantin nicht erreiche. Meine Mitarbeiterin wird sie zu Hause aufsuchen.« Sie vermied es, einen Blick in Richtung des Tisches zu werfen, an dem Novok und der Ehemann ihrer Mandantin saßen. »Wenn es möglich ist, könnte das Gericht vielleicht den nächsten Termin vorziehen?« Sie schenkte Richter Bartholomäus ein entschuldigendes Lächeln.

»Wenn die Parteien anwesend sind, können wir das von mir aus machen.« Der Richter wandte sich an Novok. »Herr Rechtsanwalt?«

Sergej Novok warf mit einer empörten Geste die Hände in die Luft, als würde man von ihm verlangen, den Rest der Woche umsonst zu arbeiten. »Wenn wir die Sache dann endlich abschließen können, bitte.«

Michael Sagmeister schnappte nach Luft, schwieg aber nach einem Seitenblick seines Rechtsanwalts.

Theresa nahm ihre Akte vom Tisch und setzte sich in die erste Stuhlreihe für das Publikum. Novok und sein Mandant räumten ihren Tisch mit größtmöglichem Aufwand und nahmen ebenfalls im Publikum Platz, während Richter Bartholomäus die Parteien des nächsten Verfahrens aufrief.

Hedwig Fröhlich legte den Hörer auf. Das Telefonat anzunehmen, war keine Schwierigkeit gewesen. Davon, wie sie einen Anruf tätigen sollte, hatte sie hingegen keine Ahnung. Sie besaß immer noch ihren alten Apparat mit Wählscheibe. Dieses Ding hingegen hatte viel zu viele Tasten und blinkte. Hedwig nahm probeweise den Hörer auf, aber in der Leitung blieb es still. Vor der Eingangstür aus Milchglas, in das die Namen der Kanzleiinhaber geätzt waren, erschien ein Schatten. Hedwig hoffte sehr, dass jetzt kein Mandant oder der Paketbote auftauchte. Dann wäre sie aufgeschmissen.

Die Tür wurde aufgeschoben, und eine junge Frau taumelte herein. Sie ließ sich erschöpft in den Drehstuhl hinter dem Empfangstresen plumpsen und warf eine kleine Papiertüte mit dem Aufdruck einer Apotheke zwischen die Akten auf dem Tisch. Erst jetzt schien sie Hedwig zu bemerken. »Hey, was machen Sie hier?«

»Mein Name ist Hedwig Fröhlich. Ich bin die Tante von Frau Sommer. Und Frau Sommer hat Sie eben schmerzlich vermisst.«

Die junge Frau auf dem Stuhl nahm Haltung an. »Ja, mir ist furchtbar schlecht, deshalb bin ich kurz rüber zur Apotheke.«

»Sie sehen tatsächlich ein wenig grün aus im Gesicht. Hören Sie, Liebes, Theresa hat mich um einen Gefallen gebeten. Ihre Mandantin, diese Frau Sag…« Hedwig rang die Hände. »Wie hieß sie noch gleich?«

»Sagmeister. Was ist mit ihr?«

»Sagmeister, richtig. Sie ist wohl nicht zu einem Termin erschienen. Deshalb bat Theresa mich, sie zu Hause aufzusuchen und ins Gericht zu bringen. Sie könnten mir wohl nicht kurz ein Taxi rufen?«

»Julia Sagmeister ist nicht erschienen? Merkwürdig.« Die junge Frau griff zum Telefonhörer. »Klar kann ich Ihnen ein Taxi rufen. Und danach gehe ich mich übergeben.«

»Danke, meine Liebe.« Hedwig griff nach ihrer Handtasche und nahm den Notizzettel an sich. »Ich werde unten vor dem Haus warten.«

Sie fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten und war gerade aus der Tür getreten, als ein cremefarbenes Taxi vorfuhr. Sie stieg hinten ein und zog die Tür zu. Hedwig beugte sich vor und reichte dem Taxifahrer ihren Notizzettel. »Bringen Sie mich bitte zu dieser Adresse.«

Der Taxifahrer stieß beinahe mit der Nase auf das Papier. »Mann, was soll das heißen? Ist der erste Buchstabe ein B?«

»Ein L, mein Lieber.«

»Sieht eher aus wie ein besoffenes B.«

»Es heißt aber nicht Biebermannstraße, sondern Liebermannstraße.« Hedwigs Blick fiel auf das am Armaturenbrett angebrachte Kärtchen. »Herr Yildirim.«

Mustafa Yildirim warf ihr über den Rückspiegel einen Blick zu und legte den ersten Gang ein.

»Und ich sage es nur ungern, aber ich habe es eilig. Wir sollten uns dem Ziel sozusagen mit Siebenmeilenstiefeln nähern.«

Das ließ sich der Mann nicht zweimal sagen und nutzte jede Gelbphase bis zur letzten Sekunde aus. Hedwig schluckte eine kritische Bemerkung hinunter und gab stattdessen einem wohligen Gefühl nach. Dem Gefühl, gebraucht zu werden. Sie ruckelte sich im Sitz zurecht und stellte die Handtasche in ihren Schoß. Und das war doch eine ganz leichte Aufgabe. Diese Frau Sagmeister fürchtete sich vielleicht vor ihrem Gerichtstermin. Oder vor ihrem Mann. Oder davor, ihrem Mann vor Gericht zu begegnen. Es würde ja einen Grund für die Scheidung geben. Wie dem auch sei, wenn sie ihrer Nichte behilflich sein konnte, würde sie niemals zögern und tun, was getan werden musste. Eigentlich hatte sie Theresa einfach nur besuchen wollen, auch wenn ihr bewusst war, dass das Mädchen sehr beschäftigt war. Aber telefonisch erreichte sie Theresa kaum, und zu Hause ging nie einer ran. Nicht mal Theresas Ehemann Tim, ein ständig geistig abwesender Schriftsteller. Abgesehen davon verliefen Gespräche mit ihm immer sehr einsilbig, und das, was Hedwig wissen wollte, erfuhr sie von ihm ohnehin nicht. Die Aussicht darauf, später mit Theresa in Ruhe eine Tasse Kaffee trinken und ein wenig plaudern zu können, hob Hedwigs Laune.

Als sie die letzte Kurve nahmen, wusste Hedwig, wie die junge Frau in der Kanzlei sich fühlte. Hedwig tätschelte die Schulter des Fahrers. »Das haben Sie prima gemacht, junger Mann.« Sie legte die Hand auf den Türgriff. »Bitte warten Sie kurz hier. Ich komme gleich mit einer Dame zurück, und dann bringen Sie uns in demselben Tempo zum Gericht.« Hedwig schob die Tür auf und setzte einen Fuß auf den Asphalt.

Mustafa Yildirim wandte sich um. »Zum Gericht? Machen Sie Witze?«

»Keineswegs, mein Lieber. Das ist eine sehr ernste Angelegenheit. Und wichtig.« Hedwig stellte den zweiten Fuß aus der Tür. »Und Sie können gewiss sein, dass ich Sie auch bezahlen werde.«

Yildirim zögerte einen Augenblick, dann sagte er: »Okay.«

Hedwig stieg aus und schlug die Wagentür zu. Sie öffnete die Gartenpforte und ging auf das rot geklinkerte Giebelhäuschen zu. Hinter dem Jägerzaun blühte in einem Beet eine bunte Mischung Blumen. Sie entdeckte Mohnblumen, Margeriten, gelbe Astern, Kamille und Vergissmeinnicht. Allerdings wuchs auch Unkraut dazwischen, und der Rasen musste ebenfalls gemäht werden. An den Fenstern waren keine Gardinen angebracht, was das Haus von außen unbewohnt wirken ließ, an der grün gestrichenen Haustür hing ein etwas zerfledderter Kranz aus Trockenblumen.

Hedwig drückte auf den Klingelknopf und wartete. Es erfolgte keine Reaktion. Von drinnen war nichts zu hören, und sie läutete noch einmal. Um den Taxifahrer nicht zu beunruhigen, wandte Hedwig sich zur Straße um und schenkte dem Mann ein zuversichtliches Lächeln. Dann drehte sie sich wieder zur Haustür und betätigte noch einmal die Klingel. Hedwigs Zuversicht, die vermeintlich einfache Aufgabe lösen zu können, schwand. Frau Sagmeister war offenbar nicht zu Hause, und Hedwig hatte keine Idee, was sie in diesem Fall tun sollte. Ein Handy hatte sie nicht, und Telefonzellen gab es heutzutage auch nicht mehr. Sie würde noch einen letzten Versuch unternehmen und in die Fenster sehen. Und wenn das auch nichts brachte, würde sie ins Gericht fahren und Theresa die schlechte Nachricht überbringen müssen.

Um das Haus herum führte ein Plattenweg, in dessen Ritzen Unkraut wuchs. Die Fenster waren so hoch angebracht, dass Hedwig sich auf die Zehenspitzen stellen musste. Nach vorn raus lag die Küche, aber darin war niemand zu sehen. Hedwig bog rechts um die Ecke. In der rechten Hauswand gab es keine Fenster. Auf der Rasenfläche hinter dem Haus trocknete Wäsche auf einer Wäschespinne, und auf der Terrasse stand eine gemütliche Sitzgruppe. Auf dem Tisch stand ein Windlicht mit einer halb abgebrannten Kerze. Durch eine große Glasfassade hatte man einen schönen Blick in den Garten.

Hedwig legte die Hände an die Schläfen und sah durch das Fenster nach drinnen. Erst konnte sie nicht viel erkennen, aber als sie sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, traute sie ihren Augen nicht.

Mustafa Yildirim schrak zusammen, als sie gegen das Beifahrerfenster klopfte. Sein Smartphone, auf dem er herumgespielt hatte, fiel in den Fußraum. »Scheiße!«

Hedwig bedeutete ihm, das Fenster herunterzulassen. »Sie haben doch sicher so ein Telefon bei sich«, sagte sie hastig. »Rufen Sie die Polizei und am besten auch einen Krankenwagen, und dann kommen Sie mit mir.«

»Was?«

»Nun machen Sie schon!«

Yildirim beugte sich vor, fummelte zwischen seinen Füßen herum und hob sein Handy auf. Dann sah er sie fragend an.

»Herrje, jetzt machen Sie endlich. Es geht um Leben und Tod.« Hedwig wandte sich um. »Vielleicht auch nur noch um Tod.«

Yildirim stieg aus. »Ich denk, wir fahren zum Gericht?«

»Junger Mann, tun Sie einfach, was ich sage. Die Dinge haben sich geändert.« Hedwig eilte zurück auf das Grundstück.

Yildirim war ihr auf den Fersen und bog um die Ecke, als Hedwig sich damit abmühte, die Terrassentür aufzuschieben. »Ey, wir brechen da aber nicht ein, oder?«, fragte er.

»Haben Sie die Polizei gerufen? Den Krankenwagen?« Hedwig deutete in das Wohnzimmer. »Es ist dringend.«

Yildirim folgte ihrem Blick. »Ach du Scheiße!« Er wählte 110.

Hedwig gab es auf. Die Terrassentür ließ sich nicht öffnen. Während sie ungeduldig wartete, bis Yildirim den Beamten die Situation beschrieben hatte, ließ sie den Blick schweifen. In der Terrassenumrandung entdeckte sie einen großen Stein. Sie stellte ihre Handtasche auf den Platten ab und machte sich an dem Stein zu schaffen.

»Helfen Sie mir doch mal! Wir müssen die Scheibe einschlagen«, forderte Hedwig Yildirim auf.

»Ey, hier kommen gleich die Bullen.«

»Es geht um Sekunden.« Hedwig deutete auf den Stein. »Jetzt machen Sie schon.«

Yildirim blies die Backen auf. Erleichtert sah sie zu, wie sich der Taxifahrer bückte und den faustdicken Stein aufhob. Im Stillen bewunderte sie seinen Bizeps unter dem weißen Shirt. Sie schätzte den Mann auf etwa dreißig, und wenn er kein Taxi fuhr, verbrachte er seine Zeit vermutlich im Fitnessstudio. Das Training hatte sich gelohnt, der Stein durchschlug mühelos die Glasscheibe neben dem Türgriff der Terrassentür. Yildirim griff hindurch, klappte den Hebel um und zog die Tür auf. Dann blieben sie beide einen Augenblick unschlüssig stehen. Schließlich ließ Mustafa Yildirim Hedwig den Vortritt. Sie atmete einmal tief durch und betrat dann das Wohnzimmer von Julia Sagmeister.

Lukas Kampmann stieg aus seinem Dienstwagen. Vor dem Haus, in dem eine Frau tot aufgefunden worden sein sollte, standen ein Taxi, dahinter ein Polizeiwagen und ein Krankenwagen. Die Kollegen waren eben dabei, ein Flatterband vor dem Grundstück anzubringen. Tatsächlich hatten sich bereits einige interessierte Nachbarn eingefunden. Aber da sie sich in einer ruhigen Wohnstraße befanden, handelte es sich um eine überschaubare Menge. Gefolgt von seinem Kollegen Kai Lehmann, trat er durch das Gartentor. Merkwürdigerweise war die Haustür geschlossen, und auch sonst war keine Menschenseele zu sehen.

»Soll sich alles auf der anderen Seite des Hauses abspielen«, erklärte Kai und überholte Lukas. Lukas sah seinem jungen Kollegen nach, der um die Hausecke verschwand.

Lukas folgte ihm, und tatsächlich stand hinter dem Haus eine Gruppe aus zwei uniformierten Beamten, zwei Rettungssanitätern und einer älteren Dame im beigefarbenen Trenchcoat. Neben ihr stand ein großer Kraftprotz mit dichtem schwarzem Haar. Die Terrassentür war halb aufgeschoben, auf dem Parkettboden dahinter lagen Scherben, die Scheibe war eingeschlagen. Etwa drei Meter entfernt im Innern des Hauses befand sich eine weibliche Leiche auf dem Boden zwischen Couchtisch und Sessel. Sie lag auf dem Bauch, ihr rechtes Bein war angewinkelt, und unter ihrem Kopf hatte sich eine Blutlache gebildet.

»Kriminalhauptkommissar Lukas Kampmann, mein Kollege Kai Lehmann«, stellte Lukas sich und seinen Kollegen vor. »Ich nehme an, die Frau ist tot?«

Einer der beiden Rettungssanitäter nickte. »Keine Vitalzeichen. Sie muss schon eine Weile tot sein. Das Blut ist teilweise getrocknet, und die Leichenstarre geht bereits wieder zurück.«

Lukas wandte sich an die ältere Frau. »Und Sie sind eine Nachbarin?«

»Nein, mein Name ist Hedwig Fröhlich. Ich bin von der Kanzlei Winkler, Harms und Sommer. Frau Sagmeister, das ist die Tote, hat heute ihren Scheidungstermin. Und weil sie nicht vor Gericht erschienen ist, bat mich Frau Sommer, das ist die Rechtsanwältin von Frau Sagmeister, nach ihrer Mandantin zu sehen.«

»Verstehe.« Lukas wandte sich an den Muskelprotz. »Und Sie?«

»Mustafa Yildirim. Ich hab sie hierhergefahren.« Yildirim deutete mit dem Daumen auf die alte Dame, was ein beachtliches Muskelspiel an seinem Oberarm auslöste.

Lukas verspürte das dringende Bedürfnis, mal wieder was für seine eigene Fitness zu tun. »Okay, und die Scheibe, war die schon eingeschlagen?«

»Nein, das war der Herr Yildirim«, antwortete Hedwig Fröhlich. »In meinem Auftrag. Ich wollte ja wissen, ob wir noch etwas für die arme Frau tun können.«

»Okay. Außer Scheibe einschlagen und reingehen, haben Sie da noch was gemacht?«

Ihm entging nicht, dass die Alte und dieser Yildirim einen Blick wechselten, aber wenn die beiden hier etwas angefingert oder sogar eingesteckt hatten, würde er das ohnehin rausfinden.

»Selbstverständlich nicht«, erklärte die alte Dame. »Das überlassen wir der Polizei, getreu dem Motto: Schuster, bleib bei deinem Leisten.«

»Gut.« Lukas wies auf Kai. »Mein Kollege wird Ihre Personalien und Ihre Aussagen aufnehmen. Dann können Sie erst mal gehen.« Er wandte sich zur Terrassentür. »Ach so, diese Frau Sommer muss ich dringend sprechen. Können Sie die mal anrufen?«

Hedwig Fröhlich schlug sich gegen die Stirn. »Ach du Schande, die Theresa habe ich ja völlig vergessen. Sie reißt mir den Kopf ab.« Sie wandte sich an den muskulösen Türken. »Kann ich mal Ihr Mobiltelefon ausleihen?«

Mustafa Yildirim zog sein Smartphone aus der Gesäßtasche seiner Jeans und gab es ihr.

Nachdenklich musterte die alte Dame das Gerät. Mit den Worten »Äh, wenn Sie vielleicht so freundlich wären?« reichte sie es ihm zurück.

Lukas wollte nicht so lange warten, bis die beiden ihren Anfängerkurs Handybedienung für Senioren abgeschlossen hatten, und warf Kai einen Blick zu. Sie arbeiteten schon so lange zusammen, dass Kai ihn auch ohne Worte verstand. Kai war ein kleiner Sonnenschein, der immer gut informiert war. Und Kai kam auch mit etwas schwierigeren Kandidaten zurecht.

Lukas zog sich Überschuhe über seine Sneakers und betrat das Wohnzimmer der Toten. Er würde in jedem Fall von der Spurensicherung eins auf den Deckel kriegen, aber da hier schon zwei Nasen durch den Tatort gelatscht waren, konnte er nicht mehr viel verhunzen.

Die Tote trug eine graue Jogginghose, ein rosafarbenes T-Shirt und war barfuß. Schmuck entdeckte er nicht. Sie war brünett, die Haare vermutlich schulterlang. Jetzt lagen die Haare um ihren Kopf herum ausgebreitet und verdeckten das Gesicht. Auf dem Hinterkopf waren die Haare von Blut verklebt, denn dort prangte eine hässliche Wunde. Lukas sah sich nach einer möglichen Tatwaffe um. Es musste etwas Schweres mit einer scharfen Kante sein. Lukas nahm an, dass die Frau von hinten erschlagen worden war. Möglicherweise war sie im Fallen gegen den Couchtisch gestürzt, denn dort lag ein umgekipptes Rotweinglas, dessen Inhalt über das Holz gelaufen und auf das Parkett getropft war. Die Weinpfütze auf dem Boden war bereits eingetrocknet. Zusammen mit der Diagnose des Rettungssanitäters nahm Lukas an, dass die Tat am Vorabend geschehen war. Die Kleidung des Opfers wirkte, als habe es einen gemütlichen Fernsehabend genossen und sei dann von dem Mörder überrascht worden. Deshalb stellten sich gleich zwei Fragen: Wie war der Mörder hereingekommen, und wer hatte den Fernseher ausgestellt?

Er sah sich um. Die Einrichtung wirkte wie im Paket aus dem Möbelhaus gekauft. Auf einem zum Couchtisch passenden Sideboard stand ein Schild mit dem Wort »Home«. Überhaupt sahen die Einrichtungsgegenstände aus wie frisch aus dem Möbelhaus. Am liebsten hätte Lukas sich auf das Sofa gesetzt und die Umgebung auf sich wirken lassen. Dabei kamen ihm die besten Ideen, und er hatte das Gefühl, dass er das, was in einem Raum geschehen war, in sich aufnehmen konnte. Mochten ihn die anderen für überspannt halten. Ihn hatte diese Art der meditativen Ermittlung schon häufig inspiriert.

Lukas warf einen Blick durch die Terrassentür nach draußen. Der uniformierte Kollege verabschiedete die Sanitäter, deren Personalien er aufgenommen hatte. Der Taxifahrer fuhr sich gerade mit der Hand durch die Haare und wirkte einigermaßen verzweifelt, während diese Frau Fröhlich sein Smartphone bearbeitete, als befürchtete sie, es würde sie gleich beißen. Kai war aus seinem Blickfeld verschwunden und tauchte kurz darauf wieder auf, im Schlepptau die Kollegen von der Spurensicherung. Lukas lief schnell zur Terrassentür.

»Haben Sie hier etwa etwas angefasst?«, fragte ihn der Spurensicherer und kniff die Augen zusammen.

Lukas trat so würdevoll über die Türschwelle, wie es ihm möglich war. »Selbstverständlich nicht. Schließlich wurden die Spuren noch nicht gesichert.« Er entfernte sich einige Meter und stellte sich neben Kai.

»Was ist da los?«, fragte er Kai und machte eine Bewegung mit dem Kinn in Richtung des Taxifahrers und der alten Dame.

Kai grinste. »Der Türke hat der Lady jetzt praktisch eine halbe Stunde lang die Technik des Smartphones erklärt, und als sie es ausprobiert hat, war sie plötzlich mit der Freundin von dem Türken verbunden. Hat vermutlich die Wahlwiederholung gedrückt. Dann wollte sie es wiedergutmachen und hat verschiedene Knöpfe gedrückt, dabei einen Teil der gespeicherten Telefonnummern gelöscht und eine SMS an die Mutter des Türken geschickt.«

Lukas schüttelte den Kopf. »Mann, haben die es inzwischen geschafft, diese Anwältin zu erreichen? Wir hätten so schön mit ihr sprechen können, während die Jungs da drinnen ihre Arbeit tun.«

Kai verschränkte die Arme vor der Brust. »Also, ich finde es witzig. Und ich kann ein bisschen Spaß im Leben gut gebrauchen.«

Lukas seufzte. Jetzt wählte der Taxifahrer eine Nummer und reichte Hedwig Fröhlich das Handy. Sie befürchtete offenbar, dass dieses kleine Teil ihre Stimme nicht übertragen konnte, und brüllte hinein.

Verstohlen warf Theresa einen Blick auf ihre Armbanduhr. Wo blieben die denn nur? Hoffentlich war nichts passiert. Aber was sollte schon passieren. Julia Sagmeister war nicht der Typ, der sich und ihr Haus in die Luft sprengte. Ihr Blick wanderte zu Sergej Novok, der die Beine übereinanderschlug und gelangweilt einen Fussel von seiner Robe schnippte. Dadurch, dass Julia Sagmeister nicht aufgetaucht war, hatte sie der Gegenseite in gewisser Weise einen Vorteil verschafft. Sowohl Michael Sagmeister als auch sein Anwalt würden das gesamte Verfahren über keine Gelegenheit auslassen, sie daran zu erinnern, dass sie alle hier auf Julia Sagmeister warten mussten. Novok würde sich wie eine beleidigte Primaballerina aufführen, die nur durch ein Bonbon besänftigt werden konnte, und Michael Sagmeister würde vermutlich doch noch einen Infarkt erleiden. Theresa versuchte, sich durch die laufende Verhandlung abzulenken, aber was sich dort vor der Richterbank abspielte, war eher ein Trauerspiel. Die Ehefrau wollte partout nicht geschieden werden, obwohl Theresa ihr gern zugerufen hätte, dass alles besser war, als mit diesem ungehobelten Kerl verheiratet zu bleiben.

Sie fuhr erschrocken zusammen, als ihr Handy läutete. Hastig erhob sie sich, warf Richter Bartholomäus einen entschuldigenden Blick zu und eilte aus dem Verhandlungssaal. Die Nummer im Display kannte sie nicht. Vielleicht hatte Julia Sagmeister sich dazu durchgerungen, ihren Aufenthaltsort mitzuteilen oder besser noch ihre baldige Ankunft im Gericht anzukündigen.

»Sommer.«

»Theresa!« Tante Hedwigs Stimme drang so laut an ihr Ohr, dass sie das Handy auf Abstand halten musste.

»Tante Hedwig, was ist los?«

»Ja, Liebes. Du musst jetzt sehr stark sein.«

»Ist dir etwas passiert? Bist du verletzt? Gab es eine Explosion?«

»Eine Explosion? Nein. Es ist nur so: Diese junge hübsche Frau, deine Mandantin, also, sie wird nicht zum Gerichtstermin kommen.«

»Gib sie mir mal. Ich muss sie vielleicht nur daran erinnern, warum sie sich von diesem Mann scheiden lassen will.«

»Liebes, Theresa.« Hedwigs Stimme wurde leiser. »Sie kann nicht kommen. Sie ist tot.«

Theresa lehnte die Stirn gegen die kühle Scheibe des Fensters, durch das man in den Innenhof sehen konnte. »Tot?«

»Tot?«

Theresa fuhr erschrocken herum. Sie hatte nicht bemerkt, dass Novok ihr auf den Gerichtsflur gefolgt war.

»Ja, Liebes. Sie liegt in ihrem Wohnzimmer, und auf dem Boden ist Blut, und ich würde sagen, dass da jemand nachgeholfen hat.«

»Du meinst, sie wurde ermordet?«

»Sieht so aus, ja.« Hedwigs Stimme klang plötzlich nicht mehr verhalten, sondern klar.

»Ermordet?«, wiederholte Sergej Novok.

Theresa warf ihm einen Seitenblick zu. »Hedwig, ich muss hier mal eben etwas klarstellen. Wir sprechen uns gleich wieder.« Sie beendete das Gespräch. Julia Sagmeister tot? Ihre Mandantin war keine vierzig Jahre alt. Wie konnte sie da tot sein? Und was hieß überhaupt ermordet? Wer brachte denn Julia Sagmeister um? Und dann ausgerechnet genau vor ihrem Scheidungstermin?

Theresa richtete sich auf und stellte sich vor Sergej Novok auf, der sie immer noch mit einem durchdringenden Blick anstarrte. Plötzlich fühlte Theresa Wut in sich aufsteigen. Sie stach mit dem Finger auf Novoks Brust ein. »Ihr Mandant ist soeben Witwer geworden.« Sie kniff die Augen zusammen. »Aber falls er sich gedacht hat, er würde sie auf diese Weise loswerden und auch noch beerben, hat er sich geschnitten. Sie haben ihm hoffentlich erklärt, dass er nichts erbt, sobald der Scheidungsantrag gestellt ist.«

Novok umfasste Theresas Handgelenk. »Wovon sprechen Sie, Frau Sommer? Julia Sagmeister wurde ermordet? Und Sie glauben tatsächlich, dass es ihr Ehemann war? Meinen Sie, ich berate meinen Mandanten für den Fall, dass er vorhat, seine Noch-Ehefrau umzubringen?«

»Ich weiß nicht, was ich glaube.« Theresa löste ihren Arm aus seinem Griff. »Ich werde dem Richter sagen, dass sich das Scheidungsverfahren erledigt hat.«

Theresa fasste sich einen Augenblick, bevor sie den Gerichtssaal betrat, um Richter Bartholomäus mitzuteilen, dass ihre Mandantin nicht mehr geschieden werden musste.

Novok stand immer noch auf dem Gerichtsflur, als Theresa wieder aus dem Saal herauskam. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber im selben Augenblick läutete ihr Handy erneut.

»Sommer.«

»Frau Sommer, hier ist Mustafa Yildirim.«

»Herr Yildirim, kennen wir uns?«

»Nein, bisher nicht. Ich stehe hier mit Ihrer Tante Hedwig. Sie wollte Ihnen noch etwas sagen.«

»Hedwig? Ist alles in Ordnung?«

»Liebes, mit mir ist alles in Ordnung. Das ist hier vielleicht eine Show, Polizei, Spurensicherung, das volle Programm. So wie im Fernsehen. Na ja, ist natürlich ein schlimmer Anlass, aber spannend ist es schon. Wie auch immer, Liebes, der Kommissar würde dich gern sprechen. Könntest du herkommen?«

»Natürlich. Ich mache mich gleich auf den Weg. Ach, sag mal, wer ist denn dieser Herr Yildirim?«

»Ach, das ist ein freundlicher junger Mann, den ich heute kennengelernt habe. Er hat mir sehr geduldig die Funktionen seines Handys erklärt.« Eine Weile war am anderen Ende der Leitung nichts zu hören. Hedwig sprach offenbar zu jemand anderem, bevor sie sich wieder Theresa zuwandte. »Der Herr Yildirim meint, dass ich noch lange nicht alle Funktionen seines Handys kenne, aber er glaubt, dass er die gelöschten Nummern neu einspeichern kann.«

Plötzlich spürte Theresa etwas in ihrer Brust aufsteigen, von dem sie nicht wusste, ob es Trauer oder Heiterkeit war. Das hatte sie manchmal. Nur sehr, sehr selten, aber immer dann, wenn sich ihre sonst so gut verborgenen Gefühle Bahn brachen. Und bevor Sergej Novok in den Genuss kommen konnte, ihr dabei zuzusehen, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten und sie einen hysterischen Anfall bekam, verließ sie mit schnellen Schritten das Gerichtsgebäude.

Theresa stellte den Wagen in der Liebermannstraße hinter einem Polizeiauto ab. Bis zu diesem Augenblick hatte sie gehofft, dass Tante Hedwig in der Zeit, in der sie keinen Kontakt hatten, ein bisschen tüdelig geworden war und sich diese ganze Geschichte nach übermäßigem Fernsehkonsum einfach nur ausgedacht hatte. Aber das Großaufgebot von Polizei, Leichenwagen, einem Transporter der Kriminaltechnischen Untersuchung und einer Handvoll Schaulustiger raubte ihr diese Hoffnung. Eigentlich hätte Julia Sagmeister jetzt eine freie Frau sein und den Tag genießen sollen. Stattdessen war die junge Frau tot. Was würde Tante Hedwig, die eine Vorliebe für Sprichwörter hatte, sagen? Der Mensch denkt, Gott lenkt.

Theresa warf einen Blick in den Rückspiegel. Tatsächlich sah sie immer noch verheult aus, nachdem sie ihren Gefühlen während der Fahrt freien Lauf gelassen hatte. Kurz entschlossen kippte sie den Inhalt ihres kleinen Schminktäschchens auf dem Beifahrersitz aus und suchte den Concealer heraus.

Fünf Minuten später stieg sie mit abgedeckten Augenringen und frisch aufgetragenem Eyeliner aus dem Wagen und ging auf den uniformierten Beamten zu, der den Zugang zum Grundstück sicherte. »Guten Tag, mein Name ist Theresa Sommer, ich bin die Anwältin der To… von Frau Sagmeister.«

Der Polizist deutete auf die Gartenpforte. »Sie können reingehen. Sie werden hinter dem Haus erwartet.«

Nachdenklich betrat Theresa den Gartenweg. Sie war noch nie hier gewesen, und nach Julia Sagmeisters äußerem Erscheinungsbild hätte sie ein Grundstück erwartet, das besser in Schuss war. Hinter dem Haus stand Hedwig mit einigen Männern, die Theresa unbekannt waren. Theresa ging auf sie zu. »Guten Tag.«

Hedwig Fröhlich wandte sich um. »Theresa, Liebes.«

Die alte Dame kam auf sie zugelaufen, und Theresa schloss sie in die Arme. Die zierliche Person roch wie immer nach einer Mischung aus Haarspray und Maiglöckchenduft. Sie schob ihre Tante ein Stück von sich weg und sah ihr ins Gesicht. »Geht es dir wirklich gut, Hedwig?«

»Natürlich, einen alten Klepper wie mich kann so leicht nichts erschüttern.« Hedwig kam etwas näher. »Aber hier ist einiges nicht in Ordnung, und der Kommissar macht mir doch einen sehr müden Eindruck«, sagte sie mit leiser Stimme.

»Guten Tag.« Neben sie war der große, schlanke Mann getreten. »Kriminalhauptkommissar Lukas Kampmann. Frau Sommer?«

Theresa war nicht klein, aber sie musste zu Kampmann aufsehen. Er wirkte wirklich ein wenig verträumt, mit hellen blauen Augen, und sein braunes Haar sah aus, als sei er gerade mit der Hand hindurchgefahren. Er trug ein blaues Jackett, darunter ein weißes Shirt, dazu Jeans und weiße Sneaker. Keine unsympathische Erscheinung, aber für Theresas Geschmack ein wenig zu brav und nicht ihr Typ. Innerlich schüttelte Theresa den Kopf über sich. Ihre Gedanken waren völlig deplatziert.

»Liebes?« Hedwig berührte Theresas Arm.

»Äh, ja, ich bin Theresa Sommer.« Sie gab Kampmann die Hand. »Scheidungsanwältin.«

Lukas Kampmann nickte, und Theresa hoffte wirklich sehr, dass er jetzt nicht so etwas sagte wie »Scheidungsanwälte kann man immer gebrauchen« oder »So eine wie Sie suche ich gerade«.

»Gut, Frau Fröhlich hier sagt, dass sie Frau Sagmeister zu ihrem Scheidungstermin abholen wollte. Ist das bei Ihnen so üblich? Ich meine, dass Sie Ihre Mandanten von Ihrer Mutter abholen lassen?«

»Tante. Und nein, das ist nicht üblich. Aber Frau Sagmeister ist nicht zum Termin erschienen, und deshalb habe ich meine Tante gebeten, nach Frau Sagmeister zu sehen.«

Kampmann sah zum Haus hinüber. »Ihre Tante«, murmelte er. »Wenn ein Mandant einfach nicht erscheint, dann müssen Sie ihn doch nicht gleich abholen.«

»Herr Kommissar, Gerichtstermine sind etwas anderes als ein Kaffeekränzchen, zu dem man einfach mal nicht hingeht, weil man Migräne hat. Ich nehme an, dass Ihnen das auch bekannt ist und Sie mich mit Ihrer Nachfrage einfach nur provozieren wollten, was Ihnen auch gelungen ist.« Theresa atmete aus. »Dieser Scheidungstermin wurde vor Monaten anberaumt, Frau Sagmeister als Antragstellerin muss persönlich erscheinen. Die Geschichten, die im Internet kursieren, wonach man sich über Smartphone scheiden lassen kann, wenn man sich die richtige App runterlädt, ist eine Mär.«

»Verstehe. Und dass Frau Sagmeister es sich vielleicht anders überlegt haben könnte, wäre keine Option?«

Theresa hielt den Griff ihrer Handtasche mit beiden Händen fest. »So ein Typ war Frau Sagmeister nicht. Für sie war die Scheidung sehr wichtig. Sie wollte nicht länger mit ihrem Ehemann verheiratet sein.«

»Ist das nicht der Hauptgrund für eine Scheidung?«

Er mochte verträumt aussehen, war aber schlagfertig. Das gefiel ihr. »Wenn ich meine Tante richtig verstanden habe, ist Frau Sagmeister deshalb nicht zum Termin erschienen, weil sie tot ist. Ermordet. Ich weiß deshalb nicht, worüber wir hier eigentlich sprechen.«

»Nun, es kommt immer wieder vor, dass der Täter aufgebracht an den Tatort zurückkehrt und sich überrascht zeigt.« Kampmann hob die Hand. »Womit ich selbstverständlich weder Sie noch Ihre Tante verdächtigen will. Es ist nur sehr ungewöhnlich, dass eine Leiche von der Tante der Anwältin und einem Taxifahrer aufgefunden wird.« Kampmann machte eine Pause. »Wir bräuchten noch jemanden, der Frau Sagmeister identifiziert. Sehen Sie sich dazu in der Lage?«

»Selbstverständlich.«

Kampmann fasste Theresas Ellenbogen und wandte sich an den neben ihm stehenden Rothaarigen, der zwei Köpfe kleiner war als er. »Die anderen Herrschaften können eigentlich gehen. Du hast ihre Personalien doch aufgenommen?«

Der Rothaarige schüttelte den Kopf. »Dazu war keine Zeit.«

Kampmann sah ihn irritiert an.

»Es gab technische Probleme.«

»Gut, dann macht ihr das jetzt.«

»Du wartest hier, Tante Hedwig. Ich nehme dich natürlich mit«, sagte Theresa.

»Ey, und was ist mit mir?«

Theresa sah den Mann an. Das musste Herr Yilmaz sein. Oder wie hieß er noch gleich?

»Wir müssten Herrn Yildirim noch bezahlen«, erklärte Hedwig.

»Natürlich.« Theresa löste sich aus Kampmanns Griff und öffnete ihre Handtasche. »Wie viel?«

»Tja.« Er kratzte sich am Kinn. »Müsste ich mal auf das Taxameter gucken. Die Uhr läuft.«

»Wie?« Theresa hob eine Augenbraue. »Seit Sie die arme Frau gefunden haben, kassieren Sie hier Taxigeld?«

Yildirim breitete die Arme aus. »Na, seit ich die alte Lady hierhergefahren habe, hab ich erst gewartet, dann eine Scheibe eingeworfen, die Bullen gerufen, wieder gewartet, rumgestanden. Auf alle Fälle bin ich nicht Taxi gefahren.«

Theresa zog einen Zweihunderteuroschein aus dem Portemonnaie und drückte ihn Yildirim in die Hand. »Stimmt so.«

Yildirim betrachtete den Schein in seiner Hand. »Krass. Das geht in Ordnung.«

Kampmann hatte die Unterhaltung verfolgt und wirkte ein wenig ungeduldig. Theresa nickte ihm zu und ging über die Terrasse zur offen stehenden Glastür.

»Bereit?«, fragte Kampmann.

Theresa nickte und schritt über die Schwelle. Polizeibeamte waren nicht mehr im Wohnzimmer. Auf dem Parkettboden waren die Umrisse des Leichnams markiert, aber Julia Sagmeister lag nicht mehr in der aufgefundenen Position. Jemand hatte sie auf den Rücken gedreht und ihre Augen geschlossen. Sie wirkte friedlich, was Theresa angesichts der Umstände ihres Todes für unpassend hielt. Musste man nicht ängstlich oder wenigstens überrascht aussehen, wenn man ermordet worden war?

»Ist das Frau Sagmeister?« Kampmanns Stimme klang sanft, und Theresa hatte ein mulmiges Gefühl im Magen.

»Ja.« Sie schluckte. »Ich verstehe das nicht.«

»Was verstehen Sie nicht?« Kampmann sprach in einem Tonfall, der auch für die Aufnahme von CDs für autogenes Training geeignet war.

»Wer hat das getan?«

»Exakt die Frage, die ich mir auch stelle. Wie ist es denn mit dem Ehemann?«

Theresa sah den Kommissar an. »Ob Michael Sagmeister das war?«

»Wenn das der Ehemann ist, ist das meine Frage.«

»Also nein, das glaube ich nicht. Michael Sagmeister ist nicht besonders sympathisch, aber er hat eben mit mir, dem Richter und seinem Anwalt im Gerichtssaal auf seine Frau gewartet. Und er war ziemlich aufgebracht darüber, als seine Frau nicht erschien.«

»Erinnern Sie sich an das, was ich Ihnen über den Täter sagte, der an den Tatort zurückkehrt?«

Theresa deutete auf die eingetrocknete Blutlache. »Ich mache kein Strafrecht, und ich kenne mich nicht mit Tatorten aus, aber das Blut ist doch schon eingetrocknet.«

»Ich habe auch nicht gesagt, dass Herr Sagmeister seine Ehefrau heute Vormittag umgebracht hat. Der Gerichtsmediziner geht davon aus, dass die Tatzeit zwischen einundzwanzig Uhr und dreiundzwanzig Uhr gestern Abend liegt.«

»Dann müssen Sie ihn nach seinem Alibi befragen.« Theresa ertrug den Anblick ihrer toten Mandantin nicht mehr und sah sich um. Der Raum wirkte ungemütlich, irgendwie nicht vollständig eingerichtet. Es fehlte jeder Hinweis auf etwas Persönliches.

»Seit wann hat Frau Sagmeister hier gewohnt?«

»Seit einem Jahr. Seitdem sie sich dazu durchgerungen hat, sich von ihrem Mann zu trennen.«

»Gut. Sie sehen etwas blass aus. Vielleicht nehmen Sie jetzt Ihre Tante und gehen erst mal nach Hause. Mein Kollege und ich werden Sie morgen in Ihrer Kanzlei aufsuchen.«

Theresa hatte das Gefühl, dass der Kommissar sie loswerden wollte. So als wäre sie ihm lästig. Aber ihr sollte es recht sein. Sie fühlte sich plötzlich erschöpft wie nach einer Stunde Powertraining. Sie nahm eine Visitenkarte aus ihrer Handtasche und reichte sie Kampmann.

Der Kommissar betrachtete die Karte und steckte sie dann in die Brusttasche seines Jacketts. »Danke. Und erholen Sie sich von diesem Schock.«

Lukas sah der Anwältin hinterher. Eine gut aussehende Frau. Extrem beherrscht und klug. Er stellte sich vor, dass es Spaß machte, mit ihr über einen Fall wie diesen zu diskutieren. Aber erst einmal würde er sich ganz allein damit befassen. Auf seine Weise. Er entdeckte Kai auf der Terrasse und deutete auf den Leichnam. Kai nickte und gab dem Bestatter ein Zeichen. Die Männer trugen einen Sarg herein und transportierten die Tote ab. Kampmann schob die Terrassentür hinter den Männern zu und setzte sich auf das Sofa. Abgesehen von den Umrissen des Leichnams war der Tatort wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt. Die Aufsteller mit den Nummern der Beweismittel waren entfernt worden. Neben allen verdächtigen Gegenständen, die eine Rolle in dem Mordfall spielen konnten, hatte ein Zentimetermaß gelegen, um die Größe auf den Fotos zu dokumentieren. Der Polizeifotograf hatte alle Einzelheiten in einem Bericht und auf Fotos festgehalten, aber das war totes Papier. Die Spurensicherung hatte Fingerabdrücke genommen und DNA-Spuren sichergestellt.

Sein Kollege Kai, der an seinem Tablet festgewachsen zu sein schien, legte bei einem Mordfall als Erstes eine digitale Akte an, erstellte Unterordner und legte jedes Foto und jedes Dokument an der richtigen Stelle ab. Von Ordnung verstand Kai etwas. Das musste man ihm wirklich lassen. Er war pünktlich und strukturiert, und wenn man ihn fragte, wo dieses oder jenes Schriftstück zu finden sei, hatte Kai es im Handumdrehen gefunden. Mit seinen achtundzwanzig Jahren war er zehn Jahre jünger als Lukas, und Lukas erschienen diese zehn Jahre wie eine ganze Generation. Er selbst musste die Atmosphäre eines Tatorts in sich aufnehmen, ein Gespür dafür entwickeln, was an diesem Ort geschehen war. Jetzt, da alle Spuren gesichert waren, konnte er sich hier auch frei bewegen. Dafür, dass er nicht gestört wurde, würde Kai schon sorgen.

Lukas spürte, dass er gleichmäßig atmete, sein Pulsschlag langsamer wurde, und er allmählich die wirren Gedanken zu den beteiligten Personen und Mutmaßungen ausblenden konnte. Erst einmal musste er herausfinden, was für ein Mensch Julia Sagmeister gewesen war. Lukas konnte keine richtige Persönlichkeit in ihr erkennen. Seit der Trennung von ihrem Mann vor einem Jahr hatte sie dieses Haus eingerichtet, ohne ihm eine persönliche Note zu geben. Abgesehen von fehlenden Fotos gab es auch so gut wie keine Dekorationsgegenstände. Die Einrichtung wirkte, als hätte es sie im Paket im Möbelhaus gegeben, ohne dass irgendeine eigene kreative Leistung bei der Zusammenstellung erforderlich gewesen wäre. Der technisch produzierte und ebenfalls gekaufte Schriftzug Home wirkte darin geradezu wie Hohn. Ob Julia Sagmeister heimlich der gescheiterten Ehe nachgetrauert und es nur zu einer anständigen Einrichtung gebracht hatte, weil man nun einmal so wohnte? Und weil dieses Haus nur eine Station in ihrem Leben war, ehe sie wieder zu ihrem Mann zurückkehrte? Oder bevor sie einen Schritt weiter ging? Zu einem anderen Mann? Ins Ausland? Ihm war aufgefallen, dass der Garten vielleicht nicht gerade einen verwahrlosten Eindruck machte, aber doch ein bisschen Pflege oder gestalterisches Geschick gebraucht hätte. Nach seiner Erfahrung waren das eher die Lebensumstände eines Mannes als einer Frau.

Einen Unfall hatte der Gerichtsmediziner bereits bei der ersten äußeren Leichenschau ausgeschlossen. Nach der Hutkrempentheorie konnte sich Julia Sagmeister die Kopfverletzung nicht infolge eines unglücklichen Sturzes zugezogen haben. Jemand hatte ihr von hinten oben den Schädel eingeschlagen, und dann war sie gestürzt. Wie die Kopfverletzung genau aussah, ließ sich erst bei der Obduktion feststellen, aber schon jetzt stand fest, dass ein einziger Schlag mit einem schweren Gegenstand innerhalb kurzer Zeit den Tod herbeigeführt hatte. Der Täter musste dann vom Tatort geflohen sein, oder er hatte noch abgewartet, bis sein Opfer auch wirklich tot war.

Aber was war davor geschehen? Lukas sah sich um. Julia Sagmeister hatte vermutlich ferngesehen und dabei Rotwein getrunken. Er zog sich Latexhandschuhe über und griff nach der Fernbedienung, die auf dem Couchtisch neben der Weinflasche lag. Beim Einschalten flackerte eine Telenovela über den Bildschirm, in dessen rechter oberer Ecke das Logo eines Privatsenders erschien. Lukas zog sein Smartphone aus der Tasche und rief die Webseite des Senders auf. Am Vorabend hatte es erst eine offenbar nicht allzu ernst zu nehmende Serie über einen Lehrer gegeben, anschließend eine Serie über einen Kommissar, der mehrere Jahre im Koma gelegen hatte und jetzt wieder ins Leben zurückgekehrt war. Julia Sagmeister konnte zufällig bei diesem Sender gelandet sein oder war vermutlich bei der Krimiserie gestört worden. Kai hatte das Handy der Toten zur Untersuchung mitgenommen, aber er hatte schon feststellen können, dass Julia Sagmeister am Vorabend keinen Anruf erhalten hatte. Lukas nahm deshalb an, dass sie durch die Türklingel gestört worden war. Das spätere Opfer war zur Tür gegangen und hatte den mutmaßlichen Täter hereingebeten, was bedeutete, dass es ihn gekannt haben musste. Allerdings schien der Grad ihrer Bekanntheit nicht so eng gewesen zu sein, dass Julia Sagmeister ihrem späteren Mörder ebenfalls ein Glas Wein angeboten hatte. Oder sie war nicht mehr dazu gekommen. Aber wie sollte sich innerhalb so kurzer Zeit eine Situation entwickelt haben, die zum Mord führte? Oder war der Täter bereits mit Mordabsicht hereingekommen, weil er die Tat nicht in der offen stehenden Haustür begehen wollte? Als Lukas den Fernseher eingeschaltet hatte, war der Ton nicht abgestellt gewesen. Julia Sagmeister hatte den Fernseher also nicht einfach nur leise gestellt, sondern ganz ausgeschaltet. Lukas nahm an, dass sie das getan hatte, als sie mit ihrem Besucher ins Wohnzimmer zurückkehrte. Sie war vom Läuten der Türglocke gestört worden und hatte geöffnet, weil sie dachte, dass nur ein Nachbar etwas fragen oder leihen wollte. Deshalb hatte sie das Gerät weder ganz ausgeschaltet noch den Ton abgestellt. Mit einem Gast, der sie länger aufhalten würde, hatte sie nicht gerechnet. Die beiden waren in das Wohnzimmer zurückgekehrt, wo Julia Sagmeister den Fernseher ausstellte und erschlagen wurde, bevor sie Gelegenheit hatte, sich wieder zu setzen. Beide Personen mussten also auf dem Weg von der Haustür ins Wohnzimmer in einen echten Streit geraten sein, ohne dass sich Julia Sagmeister allerdings bedroht fühlte. Wenn sie sich vor ihrem Besucher gefürchtet hätte, hätte sie ihm weder den Rücken zugedreht noch sich die Zeit genommen, den Fernseher auszuschalten. Der Täter musste aber jemand gewesen sein, dem sie sich ganz widmen wollte, ohne dass ein flackernder Bildschirm sie ablenkte. Das sprach eher dafür, dass der Besucher keine Julia Sagmeister nahestehende Person war.

Lukas seufzte. Es konnte natürlich alles auch ganz anders gewesen sein. Aber dass Julia Sagmeister die alte Tageszeitung, die ebenfalls auf dem Couchtisch lag, gelesen hatte, glaubte er nicht.

Er stand auf, um sich den Rest des Hauses anzusehen. Im Erdgeschoss gab es außer dem nach hinten gelegenen Wohnzimmer eine Küche und ein Gäste-WC neben der Haustür. Die Treppe knarrte, als er hochstieg. Auch die Wand des Treppenhauses war nackt. Dort hing kein einziges Bild oder ein anderes Zeichen dafür, dass hier ein Mensch gelebt hatte. Im oberen Stockwerk gab es zwei Zimmer und das Bad. In einem der Räume standen ein Kleiderschrank, ein aufgestelltes Bügelbrett und ein Hometrainer. Die über das Lenkrad und den Sattel geworfenen Kleidungsstücke waren die ersten echten Lebenszeichen in diesem Haus.

Als Letztes warf Lukas einen Blick in das Schlafzimmer, und hier gab es die größten Anzeichen für Leben in der Bude. Alle Schranktüren standen offen, die Schubladen waren herausgezogen, und der Inhalt lag auf dem Boden verstreut. Hier hatte die Spurensicherung am meisten zu tun gehabt. Aber einen Hinweis darauf, was der Täter gesucht haben konnte, gab es nicht. Und das Dumme daran, wenn etwas gestohlen worden war, war ja, dass das, was gestohlen wurde, jetzt weg war.

Lukas stieg die Treppe hinunter und ging zur Terrassentür. Während er die Glastür aufschob, schaute er im Garten nach Kai. Sein Kollege hatte sich einen Gartenstuhl unter einen üppig wachsenden Strauch in den Schatten gestellt und befasste sich mit seinem Tablet.

»Kai?«, rief er.

Sein Kollege sah auf. »Hm?«

»Ich mache hier jetzt zu. Wie sieht es aus mit einem Glaser?« Lukas deutete auf die eingeschlagene Glasscheibe.

»Soll demnächst eintrudeln.«

»Kann ein Kollege hierbleiben, bis er kommt?«

»Ich sag Bescheid.«

»Gut. Und hinterher soll er alles abschließen und die Haustür und die Terrassentür versiegeln. Und wir beiden fahren jetzt ins Präsidium zurück.«

Theresa räumte ihre Schminkutensilien vom Beifahrersitz, und Tante Hedwig ließ sich auf den tief liegenden Sitz des Cabrios fallen.

Theresas Hände umschlossen das Lenkrad. »Also, Tante Hedwig, ich weiß wirklich nicht, wie ich das wiedergutmachen soll.«

»Liebes.« Hedwig legte ihr eine Hand auf den Unterarm. »Nun mach dir mal nicht so viele Gedanken. Ich war zwanzig Jahre lang Chefsekretärin in der Privatklinik von Dr. Hansen-Obendrauf, und du kannst mir glauben, dass ich dort mehr gesehen habe, als ich jemals sehen wollte.« Sie kuschelte sich gemütlich in den Sitz. »Obwohl, gegen so einen kleinen Lütten hätte ich jetzt nichts einzuwenden. So zur Beruhigung der Nerven.«

Sie fanden ein plüschiges Café, wo sie sich an einem Fensterplatz niederließen. Theresa bestellte nur eine Tasse Kaffee, während Hedwig ein Kännchen Kaffee, einen Cognac und eine Donauwelle nahm.

Theresa ließ Hedwig Zeit, ihren Cognac zu trinken und ein bisschen Kuchen zu essen, bis sie sie ansprach. »Das war sicher ein großer Schock, als du Frau Sagmeister gefunden hast.«

»Na, das kann ich dir sagen. Ich kannte die Frau ja nicht, aber als sie nicht öffnete, habe ich einfach gedacht, sie hätte sich in ihrem Haus verkrochen und wollte von der Welt nichts sehen und nichts hören.«

Theresa sah ihre alte Tante an. »Warum hast du das gedacht?«

»Weil alles so lieblos aussah. Im Garten hätte doch dringend etwas getan werden müssen, und auch auf der Terrasse sah es für meine Begriffe nicht so richtig gemütlich aus.«

Genau dieser Gedanke war Theresa auch durch den Kopf gegangen. »Aber sie wollte unbedingt geschieden werden. Deshalb wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, dass sie kneift.«

»Und was hast du stattdessen gedacht?« Hedwig leerte ihr Cognacglas und stellte es wieder ab.

Nachdenklich betrachtete Theresa das faltige Gesicht ihrer Tante. Hedwig Fröhlich war früher eine sehr schöne Frau gewesen, und jetzt, da sie in Würde alterte, war sie immer noch sehr ansehnlich. Und sehr gepflegt. In ihren Ohrläppchen steckten Perlenohrringe, sie trug einen dezenten Lidschatten und ein wenig rosa Lippenstift.

»Das weiß ich gar nicht so genau«, antwortete Theresa. »Ich war so überrascht darüber, dass sie nicht erschienen ist und nicht erreichbar war, dass ich nicht klar denken konnte. Am ehesten habe ich an einen häuslichen Unfall gedacht. Dass sie beim Gardinenaufhängen von der Leiter gefallen ist oder so.«

»Wenn sie denn mal Gardinen hätte«, stellte Hedwig fest. »War sie in dem Haus nur auf der Durchreise, oder warum sah es darin aus wie in einem Wartesaal zweiter Klasse?«

Theresa sah ihre Tante verwundert an. Für eine Sechsundsiebzigjährige verkraftete sie den Vorfall nur mithilfe eines Glases Cognac sehr gut, und sie schien auch eine gute Beobachterin zu sein. »Mir ist das auch aufgefallen, aber ich habe Frau Sagmeister nur zwei- oder dreimal in meiner Kanzlei gesehen. Ansonsten haben wir telefoniert. Bei ihr zu Hause war ich nie. Und sie war immer gut gekleidet. Nicht besonders spektakulär, aber eben gut.«

»Und dieser Mann, von dem sie geschieden werden wollte? Was ist das für ein Kerl?«

»Michael Sagmeister ist Bauunternehmer. Ein ziemlich aufbrausender Mann. Ich fand, sie passen nicht gut zusammen, aber das kann ein Außenstehender ja ohnehin schlecht beurteilen. Nur in diesem Fall trifft es wohl zu, denn sie wollten nicht mehr zusammenleben.«

»Glaubst du, er hat seine Frau gestern Abend aufgesucht, weil er doch nicht geschieden werden wollte, und dann hat er sie im Streit erschlagen?«

Theresa hob die Schultern. »Das weiß ich nicht. Soll sich doch die Polizei drum kümmern. Kann natürlich sein, dass er sie im Affekt erschlagen hat. Allerdings ginge es dann vermutlich nicht um die Scheidung, sondern darum, dass Julia Sagmeister einen Zugewinnausgleich und Unterhalt von ihrem Mann verlangt hat. Er selbst behauptet, pleite zu sein.« Unauffällig warf Theresa einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie hatte um vierzehn Uhr einen Termin in der Kanzlei, und jetzt war es bald halb zwei. Diese Sache hatte ihren ganzen Tagesplan durcheinandergebracht.

»Wenn du losmusst, Liebes, lass dich durch mich nicht aufhalten.« Hedwig legte die Kuchengabel auf ihren leeren Teller. »Ich habe eine Monatskarte und kann mit der Bahn nach Hause fahren.«

Theresa legte ihre Hand auf die ihrer Tante. »Tante Hedwig. Das tut mir alles so schrecklich leid. Du wolltest mich besuchen, bist auf ein leeres Büro gestoßen, ich habe dich als Boten missbraucht, und dann findest du auch noch eine Leiche.«

»Ach, nun mach dir doch nicht so viele Gedanken. Da habe ich doch ordentlich was zu erzählen.« Hedwigs Miene wurde ernst. »Weißt du, es ist kein besonders großer Spaß, den ganzen Tag in der Wohnung zu hocken und den Nippes gerade zu rücken, der ohnehin schon am richtigen Platz steht, und sehnsüchtig auf den Mittwoch zu warten, weil ich da mit den Damen Bridge spiele.« Hedwig legte ihre rechte Hand auf Theresas. »Sag mir doch lieber, wie es dir geht. Du siehst ein bisschen blass aus. Arbeitest du zu viel?«

Theresa betrachtete die perlmuttfarben lackierten Nägel ihrer Tante. »Im Moment läuft es nicht so richtig. Weißt du, mit Tim ist es im Augenblick ein bisschen … schwierig. Und die viele Arbeit macht mir nichts aus, aber die Abläufe in der Kanzlei könnten optimiert werden.«

»Also, deine Mitarbeiterin, Melinda …«

»Miranda.«

»Richtig. Miranda, die machte einen guten Eindruck, allerdings sah sie auch ein bisschen …« Hedwig wiegte den Kopf.

»Wie sah sie aus?«, fragte Theresa misstrauisch.

»Tja, also, wenn du mich so fragst, sah sie ein kleines bisschen schwanger aus.«

»Was?«, kreischte Theresa und entzog ihrer Tante die Hand. »Schwanger?«

»Das geht vorüber, Liebes. Wenn sich ihre Schwangerschaftsübelkeit allerdings länger hinzieht, werdet ihr euch Gedanken über eine Vertretung machen müssen.«

Theresa stützte den Kopf auf. »Das hat mir gerade noch gefehlt.«

»Es gibt für alles eine Lösung. Kann ich dir vielleicht etwas Gutes tun? Was hältst du davon, wenn ich dich morgen Abend zum Essen einlade, und wir reden mal in Ruhe über alles?«

Ein warmes Gefühl durchströmte Theresa. Sie hielt sich selbst für eine gestandene Frau, aber der Gedanke, ihrer warmherzigen Tante ihr Herz auszuschütten, hatte etwas sehr Tröstliches. »Das finde ich toll. Wenn du Lust hast, hole ich dich ab, und wir gehen in dein Lieblingsrestaurant.«

»Och, das kenne ich schon zur Genüge. Mir wäre es lieber, wenn wir uns in einem schicken Laden in der Stadt treffen könnten.«

Das verstand Theresa. Ihre Tante hatte ganz offensichtlich das Bedürfnis, mal rauszukommen und etwas anderes zu sehen und zu erleben. »Gut. Es gibt ein sehr gediegenes Lokal in der Innenstadt. Dort werde ich uns einen Tisch reservieren. Ist dir neunzehn Uhr recht?«

»Das ist prima. Ich hole dich dann in der Kanzlei ab. Du hast jetzt sicher etwas zu arbeiten.«

Theresa lächelte und öffnete ihre Handtasche.

»Liebes, diese Rechnung geht auf mich. Mein Karl hat mir eine schöne Witwenrente hinterlassen, und deine Tasse Kaffee ist da auch noch mit drin.«

»Danke.« Theresa stand auf und gab ihrer Tante einen Kuss auf die Wange. »Für alles. Bis morgen. Ich freue mich.«

»Ich auch. Tschüss, Liebes.« Hedwig winkte dem Kellner. »Herr Ober, ich hätte gern noch einen Cognac.«