KALYPTO - Der Wächter des schlafenden Berges - Tom Jacuba - E-Book

KALYPTO - Der Wächter des schlafenden Berges E-Book

Tom Jacuba

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Beschreibung

Der entscheidende Kampf um die Freiheit entbrennt!

Gabrylon, der Wächter des Schlafes, ist verzweifelt: Seit Tausenden Sonnenwenden wacht er im Inneren eines Vulkans über den magischen Schlaf seiner Brüder und Schwestern - der Magier von Kalypto. Doch nach und nach sterben sie, und Gabrylon kann es nicht verhindern. Nur wenn endlich das eine Dienstvolk gefunden ist, würdig das Zweite Reich von Kalypto zu errichten, darf er die Magier wecken. Nun aber bahnt sich etwas Ungeheuerliches an, von dem Gabrylon nichts ahnt: Ein einfacher Sterblicher aus dem Volk der Waldstämme, macht sich auf den Weg zum Vulkan, um gegen die Magier zu kämpfen. Im fulminanten Abschlussband der epischen Fantasy-Trilogie lässt auch der letzte Feind seine Maske fallen, und der finale Kampf ist unausweichlich ...

Ein großer Weltenentwurf, Magie, Intrigen und Helden, die über sich hinauswachsen — Tom Jacuba schreibt große Abenteuerfantasy!

eBooks von beBEYOND - fremde Welten und fantastische Reisen.


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Inhalt

Cover

Weitere Titel des Autors

Über dieses Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Zitat

Prolog

Erstes Buch DER GNOM

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

Intermezzo I

Zweites Buch DER STILLE

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

Intermezzo II

Drittes Buch DER WÄCHTER

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

Epilog

Danke

Weitere Titel des Autors:

Der Große Waldfürst – Die Trilogie:

Band 1: KALYPTO - Die Herren der Wälder

Band 2: KALYPTO - Die Magierin der Tausend Inseln

Einzeltitel:

Der Sturm

Über dieses Buch

Der entscheidende Kampf um die Freiheit entbrennt!

Gabrylon, der Wächter des Schlafes, ist verzweifelt: Seit Tausenden Sonnenwenden wacht er im Inneren eines Vulkans über den magischen Schlaf seiner Brüder und Schwestern – der Magier von Kalypto. Doch nach und nach sterben sie, und Gabrylon kann es nicht verhindern. Nur wenn endlich das eine Dienstvolk gefunden ist, würdig das Zweite Reich von Kalypto zu errichten, darf er die Magier wecken. Nun aber bahnt sich etwas Ungeheuerliches an, von dem Gabrylon nichts ahnt: Ein einfacher Sterblicher aus dem Volk der Waldstämme, macht sich auf den Weg zum Vulkan, um gegen die Magier zu kämpfen. Im fulminanten Abschlussband der epischen Fantasy-Trilogie lässt auch der letzte Feind seine Maske fallen, und der finale Kampf ist unausweichlich ...

Ein großer Weltenentwurf, Magie, Intrigen und Helden, die über sich hinauswachsen — Tom Jacuba schreibt große Abenteuerfantasy!

eBooks von beBEYOND – fremde Welten und fantastische Reisen.

Über den Autor

Tom Jacuba ist das Pseudonym eines deutschen Autors. Jacuba war bis Mitte der 90er Jahre Diakon und Sozialpädagoge und schrieb vorwiegend Satiren, Kurzgeschichten und Kinderbücher. Seither ist er freier Autor und verfasst Fantasyromane, historische Romane, Spannungs- und Science-Fiction-Geschichten. Er erhielt 2001 den Deutschen Phantastik-Preis als Autor des Jahres.

TOM JACUBA

KALYPTO –Der Wächter des schlafenden Berges

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf die Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln

Für diese Ausgabe:Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Friederike Haller, Wortspiel, BerlinKarte: © Markus Weber, Guter Punkt, MünchenTitelillustration: © Rainer Kalwitz, RecklinghausenUmschlaggestaltung: Guter Punkt, MüncheneBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-9130-5

www.be-ebooks.dewww.lesejury.de

Wer geboren werden will, muss eine Welt zerstören.

Hermann Hesse, Demian

Prolog

Ein Sarkophag schwebte über ihm. Wuchtig und kantig verharrte er unter der Kuppeldecke. Anders als die Sarkophage in der Gewölbewand leuchtete er nicht. Seine Mondsteinwände wirkten stumpf, ihr Blau düster und schmutzig.

Ein trauriger Anblick. Kein Wächter des Schlafes wollte so etwas sehen.

Den weißblonden Kopf in den Nacken gelegt und die Arme erhoben blickte er zu dem erloschenen Sarkophag hinauf. »Auch du, mein Bruder?«, flüsterte er. Stück für Stück ließ er die Arme sinken, und Stück für Stück schwebte der Sarkophag durch das blaue, türkisfarbene und violette Flimmern und Gleißen der lichtdurchfluteten Mittelhalle. Bis der Steinsarg schließlich auf dem Boden aufsetzte.

Mit der Kraft seines Willens schob der Wächter des Schlafes den Deckel zur Seite und beugte sich über die Mondsteinkuhle darunter: wenige Knochen und viel Staub, beides in vagen Formen einer menschlichen Gestalt angeordnet. Weiter nichts mehr.

»Auch du, mein Bruder Mikalon?« Der Wächter des Schlafes legte seine schmalen Hände zusammen und drückte die Fingerspitzen an die Lippen. »So dicht vor der Schwelle zum Zweiten Reich von Kalypto?« Fassungslos schüttelte er den Kopf. Schon der dritte Erloschene seit der letzten Wintersonnenwende. Und dieser hier war Gabrylons leiblicher Bruder gewesen.

Gabrylon – so hieß der Wächter des Schlafes. Seit 166 Wintersonnenwenden hüteten er und seine Gefährtin den Schlaf der Magier von Kalypto.

Er richtete sich auf, hob den Blick, ließ ihn prüfend über die leuchtende Gewölbewand gleiten, von Lichtkammer zu Lichtkammer. Siebenhundert Sarkophage hatten hier in siebenhundert Wandkammern geruht, als vor vielen tausend Sonnenwenden die Mütter und Väter von Kalypto das Bergtor von außen verschlossen und das erste Wächterpaar es von innen versiegelte.

Jetzt zählte Gabrylon 59 dunkle, wabenartige Flächen inmitten der vielen Lichtkammern: die Kopfseiten erloschener Sarkophage. In den zentralen Gewölbehallen der unteren vier Ebenen hatte er etwas weniger verlorene Schläfer gezählt, in den vier oberen dafür umso mehr. Allein in der Kuppelhalle der zweiten Ebene steckten hundertzwanzig lichtlose Sarkophage in der Gewölbewand.

Von den siebentausend meist blutjungen Magiern, die hier, im Berg, die Große Verwüstung verschlafen hatten, waren bereits mehr als tausendfünfhundert erloschen.

Das ERSTE MORGENLICHT hatte die Schläfer irgendwann nicht mehr erreicht.

Der Wächter des Schlafes drehte sich um, schirmte die Augen ab und blinzelte zur leuchtenden Mittelsäule. In ihr pulsierte das magische Licht, aus ihr strahlte es grellblau, türkisfarben, himmelblau, nachtblau und violett. Es erfüllte jede Mittelhalle auf jeder Ebene mit seinem Glanz, drang durch feinste Mondsteinkanäle im Granitgestein zu jedem Sarkophag und erhielt den Schläfer darin am Leben. Und so jung wie am Tag, als die Mütter und Väter ihn in den magischen Tiefschlaf versenkten.

»Sollte zu jedem Sarkophag durchdringen«, murmelte der Wächter des Schlafes. »Sollte jeden Schläfer am Leben erhalten. Vorbei.« Seufzend wandte er sich wieder dem Sarkophag mit den sterblichen Überresten seines Bruders zu. Knochen und Staub. Der Anblick erfüllte ihn mit Trauer. Mit der Kraft seines Willens verschloss Gabrylon den erloschenen Mondsteinsarkophag.

Unzählige Sonnenwenden her, dass er mit seinem Bruder Mikalon gesprochen hatte. Zum Abschied hatten sie ihre Meister und Eltern umarmt, und dann einander. Damals, bevor jeder in seinen Mondsteinsarkophag stieg. »Auf Wiedersehen im Zweiten Reich von Kalypto!«, hatten sie einander zugerufen; damals, während die Mondsteindeckel sich über ihre Sarkophage schoben.

Vorbei.

Gabrylon ließ den erloschenen Sarkophag wieder nach oben steigen und in die leere Wabenkammer schweben. Mit gesenktem Haupt wandte er sich ab, ging zur leuchtenden Mittelsäule und stieg in die Wendeltreppe, die sie umgab. Seine Gefährtin wartete.

Nach wenigen Stufen stand er noch einmal still, schützte seine Augen vor dem pulsierenden Licht und blickte zurück zu den leuchtenden Sarkophagen in der Gewölbewand. »Bald!«, rief er. »Wir stehen schon auf der Schwelle zum Zweiten Reich von Kalypto!« Mehr noch als den Sarkophagen, schleuderte er den Satz seiner Trauer und seinem Schmerz entgegen. »Bald werden wir euch wecken!«

Auf dem Weg hinauf in die sechste Ebene grübelte er zum hundertsten Mal über mögliche Ursachen nach, die einen Sarkophag vom ERSTEN MORGENLICHT abschneiden mochten. Welche Kräfte waren stark genug, die feinen Mondsteinkanäle zwischen Mittelsäule und Schläfer zu durchtrennen?

Seine Gefährtin glaubte an Erosionen durch Schmelzwasser, das sich Jahrtausende nach der Großen Verwüstung und der folgenden Eiszeit durch das Gestein arbeitete. Nur Mondsteinkanäle, die neu entstandene Wasseradern kreuzten, seien gefährdet, behauptete die Wächterin des Schlafes.

Er hingegen hielt einen zunehmenden Gesteinsdruck für wahrscheinlicher. Das allerdings hieße: Der Berg arbeitete wieder. Bis jetzt hatte Gabrylon vergeblich versucht, seine Gefährtin dafür zu gewinnen, die magischen Fesseln zu erneuern, die die Erzmütter und Erzväter dem Vulkan einst angelegt hatten.

Stufe für Stufe stieg er durch das pulsierende Farblicht aus der Mittelsäule dem Tor zur fünften Ebene entgegen. Er zwang seine Gedanken, sich mit erfreulicheren Entwicklungen zu beschäftigen. Mit dem Sieg von Kauzers Waldstämmen über Catolis’ Insulaner etwa. Kauzer, der Meister des Willens, stand im Begriff, die Waldstämme nach Norden zu führen, in den Krieg gegen das Volk der Eiswilden. Augustos, ein erfahrener Großmeister des Willens, unterstützte ihn.

War der Kampf zwischen Waldstämmen und Eiswilden erst einmal entschieden, stand erst einmal Kalyptos Dienstvolk fest, war es nicht mehr weit bis zum Zweiten Reich. »Bald«, murmelte Gabrylon und öffnete das Tor zur fünften Ebene.

Leider fielen sogar auf die guten Nachrichten von Kauzer und Augustos düstere Schatten: Die zweite Magierin, die der Wächter des Schlafes Kauzer und Catolis zu Hilfe geschickt hatte, war erloschen. Der Bastard hatte sie getötet. Und von Catolis hatte Gabrylon schon viel zu lange nichts mehr gehört.

Der Wächter des Schlafes durchquerte die Mittelhalle. Düstere Ahnungen beschlichen ihn. Das blaue, türkisfarbene und violette Licht aus der Mittelsäule und den Sarkophagen ringsum sprühte den Schattenkranz seiner schmalen Gestalt nach allen Seiten. Seine Gefährtin entdeckte er nirgends in all dem Geflimmer. Das Portal zu ihrer Granitkammer jedoch stand weit offen – also war sie bereits aus dem ERSTEN MORGENLICHT zurückgekehrt. Dort wollte sie Catolis rufen, die Großmeisterin der Zeit. Und Violis, die Meisterin des Lebens. Die war im Land der Eiswilden verschollen. Doch weder Gabrylon noch seine Gefährtin mochten sie verloren geben.

Er trat in den kleinen mit Harz ausgegossenen Kuppelraum. Das bunte Licht aus der Mittelhalle brach sich im schwärzlich schimmernden Gewölbe. Raphelia saß nicht, sie hing in einem gepolsterten Holzsessel neben der Luke, die zu ihren Gemächern führte.

Ihre zusammengesunkene Haltung verblüffte Gabrylon so sehr, dass er stehen blieb und die weißblonden Brauen runzelte – verkrümmt ihre sonst so stolze Gestalt, halb geschlossen ihre sonst so hellwachen Rotaugen, und die sonst so energischen Züge seltsam schlaff und kraftlos.

»Du wirkst erschöpft.« Er ging zu ihr, blieb vor ihr stehen. Ohne ihren schönen, kahlen Kopf zu bewegen, geschweige denn ihn von der Sessellehne zu heben, hob Raphelia lediglich die Lider ein wenig und drehte die Augäpfel nach oben. In dieser Haltung musterte sie ihn gleichgültig. Kein Wort sprach sie, und der Wächter des Schlafes erschrak: So kannte er seine Gefährtin nicht – so ermattet, so trübsinnig, so stumm.

Raphelia stammte in direkter Linie von der Erhabenen ab, von der Großen Erzmagierin LAUKARIS, und war eine stolze Großmeisterin des Willens. So stolz und sich ihrer Herkunft und Würde so sehr bewusst, dass sie sich nur ganz selten einmal gehen ließ. Viel zu selten auch ihm gegenüber, wie Gabrylon im Laufe der Sonnenwenden hatte lernen müssen.

»Schon wieder ein erloschener Sarkophag«, sagte er, nur um überhaupt etwas zu sagen. »Mein leiblicher Bruder diesmal, Mikalon. Erinnerst du dich an ihn?« Sie antwortete nicht, musterte ihn nur schweigend. »Wir müssen jeden einzelnen Mondsteinkanal zwischen der Quelle des ERSTEN MORGENLICHTES und den Schläfern überprüfen.« Raphelia reagierte nicht. »Auch werden wir dem Vulkan neue magische Fesseln anlegen müssen.« Seine Gefährtin zuckte nicht einmal mit der Wimper. Er ging vor ihr in die Hocke. Tiefer Schrecken machte ihm das Atmen schwer. »Du warst lange im ERSTEN MORGENLICHT unterwegs.« Forschend betrachtete er sie. Es schien ihm, als würde sie nicken.

»Ich auch«, fuhr er erleichtert fort, »und wenigstens von Kauzer und Augustos bringe ich gute Nachrichten mit. Sie haben die Waldstämme im Griff. Der widerspenstigste Rebell unter den Waldmännern hat endlich kapituliert. Nach seiner Bestrafung wird Augustos selbst den neuen Ringträger der Waldleute in den Krieg gegen die Eiswilden im Norden begleiten. Nur der Bastard …« Er seufzte und zuckte mit den Schultern. »Der Bastard ist genauso gefährlich, wie wir es befürchtet haben. Er hat Rubynis im magischen Zweikampf besiegt.«

Hass funkelte jetzt aus den roten Augen seiner Gefährtin, doch noch immer antwortete sie mit keinem Wort.

»Bei allen guten Mächten des Universums!« Gabrylon griff nach ihren Händen. »Warum sprichst du nicht?« Ihre Finger fühlten sich eiskalt an. »Ist etwas geschehen? Bringst du schlechte Nachrichten mit aus dem ERSTEN MORGENLICHT?«

»Der Bastard ist auf dem Weg nach Kalypto«, sagte sie mit tonloser Stimme. Schlaff lagen ihre kühlen, knochigen Finger in seinen Händen.

»Woher weißt du das?« Er drückte zu, wollte endlich Raphelias gewohnte Kraft wieder spüren.

»Von Violis.« Sie entzog ihm ihre Hände. »Und von Catolis.«

»Du bist Violis begegnet?!« Gabrylon ließ sie los und sprang auf. Seit so vielen Sonnenwenden keine Nachricht von der Meisterin des Lebens, und jetzt das! »Wo hält sie sich auf? Wie geht es ihr?«

»Glaube mir, das willst du nicht wissen.« Raphelia stieß ein bitteres, knurrendes Lachen aus. »Doch weit mehr Sorgen muss man sich um die Großmeisterin der Zeit machen.«

»Um Catolis? Warum denn das? So rede doch endlich, Raphelia!«

»Sie will uns beide sehen. Im ERSTEN MORGENLICHT. Bald. Sie habe uns etwas Wichtiges zu sagen.« Als wäre sie maßlos erschöpft, schloss seine Gefährtin die Augen und sog tief die Luft ein. »Catolis ist krank«, flüsterte sie.

»Krank? Catolis?« Gabrylon schüttelte ungläubig den Kopf. »Eine Großmeisterin, die sich nicht selbst zu heilen vermag? Das kann nicht sein!«

»Schmerzen und Wunden. Viele Wunden.« Raphelia murmelte nur noch.

»Aber wer sollte einer Großmeisterin der Zeit denn Wunden zufügen können?«

»Der Bastard. Er hat sie überwältigt.« Die Wächterin des Schlafes flüsterte; es klang, als fürchtete sie ihre eigenen Worte. »Der Bastard hat sie gefangen genommen und gefoltert. Und was kein Menschlicher über Kalypto wissen sollte, das weiß er nun. Alles.«

»Bei allen guten Mächten des Universums, Raphelia – was redest du da …?« Dem Wächter des Schlafes brach die Stimme. »Catolis ist in den Händen des Bastards?«

»Sie war es.« Raphelia schlug die Augen auf. »Sie konnte fliehen. Doch nun ist sie schwer krank. Catolis ist wahnsinnig geworden.«

Erstes BuchDER GNOM

1

Ein Schwarzvogel sang. Lasnic blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken, entdeckte den Sänger über sich in der Birkenkrone. Der Vogel pfiff und tirilierte, als gälte es sein Leben. Sie lauschten – Lasnic und auf seiner linken Schulter Schrat. Der schnalzte, gurrte und schnurrte; beinahe andächtig klang das.

Von Glück und Liebeslust sang der Schwarzvogel dort oben im Birkenwipfel, so kam es Lasnic vor. Vom Leben sang er, von der Freiheit, vom wilden Flug über Wälder, Flüsse und Berge. Jedenfalls nicht von Unterwerfung und Krieg. Und er ließ sich nicht stören von dem Waldmann und seinem Kolk tief unter sich zwischen Haselnuss und Brombeerhecke.

Lasnic bog einen Zweig zur Seite, folgte weiter dem Pfad zur Lichtung. Schon roch er Menschen und Tiere. Auch Palaver, Flüche und Gelächter wehte warmer Südwestwind ihm entgegen. Und das Blöken von Elchen und Trompeten von Waldelefanten.

Der schöne Gesang des Schwarzvogels übertönte alles. Noch.

»Beim Großen Waldgeist, singe, kleiner Piepmatz«, murmelte Lasnic. »Singe, solange du noch singen kannst. Und ich gehe zur Großen Versammlung, solange ich noch gehen kann, wohin ich gehen will.«

Vielleicht der letzte Schwarzvogel, den Lasnic in seinem Leben zu hören bekam. Wusste man’s denn? Unergründlich, die Launen des Wolkengottes. Lasnic machte sich nichts vor: Die so lautstark seine Unterwerfung verlangten, wünschten heimlich seinen Tod. Ganz wehmütig stimmte der jubelnde Vogelgesang ihn auf einmal.

Er schlug tiefhängendes Laub aus dem Weg, Vorjahreslaub raschelte unter seinen Stiefeln, morsche Äste brachen. Er achtete nicht darauf, lautlos zur Lichtung zu gelangen. Dort und im Gemeinschaftshaus wussten sie sowieso, dass er kommen würde. Die Gefährten sorgten seit einem halben Mond dafür, dass die Nachricht von seiner bevorstehenden Unterwerfung sich verbreitete – den Stomm hinauf und hinunter und durch die Wälder und Sümpfe nach Süden, nach Norden, nach Osten.

Ja: Unterwerfung. Heute, am ersten Abend der Großen Versammlung sollte es geschehen.

Was hätte Vogler getan, sein Vater? Hätte er sein Versteck verlassen, um vor den Feinden niederzuknien? Lasnics linkes Auge zuckte.

Ein Schatten glitt links über ihm durchs Gehölz, schwarz, lautlos und pfeilschnell. Ein Habicht. Einen Wimpernschlag später ein Kreischen, ein jämmerliches Fiepen, eine Wimmern. Der Gesang des Schwarzvogels war verstummt. Lasnic stand wie festgewachsen und mit offenem Mund. Er lauschte.

Nichts mehr. Tot.

»Beim Arsch des Schartans …«

Ein Zeichen? Schrat quorkte mürrisch. Eine Warnung des Großen Waldgeistes? Der Waldmann verharrte, zögerte, blinzelte zum nahen Waldrand, wo er zwischen Bäumen und Sträuchern schon die ersten Waldleute und Reittiere erkennen konnte.

Das Gedicht des baldorischen Weißmantels fiel ihm ein. Dreh dich nicht um …, blick nicht zurück … Lasnic widerstand der Versuchung. Bloß nicht zum Birkenwipfel hinaufspähen, bloß nicht die kleinen, schwarzen Federn unter den Schnabelhieben des Habichts zerstieben sehen. Bloß das nicht!

»Verdammte Marderscheiße …« Sein Auge zuckte, die Narbe darunter zuckte, er musste pissen.

Was hätte sein Vater gesagt? Unterwerfung – nichts für einen Waldmann, hätte er gesagt. Unterwerfung kommt nicht in Frage für einen Sohn Voglers.

Und eine tödliche Unterwerfung zehnmal nicht.

Er wollte weitergehen, konnte nicht. Der arme Schwarzvogel, verdammter Habicht! Er dachte an Ayrin und Belice.

Schrat legte den Kopf schräg, beäugte ihn, pickte an seinem Ohrläppchen herum, an seiner zuckenden Narbe. »Glotz nicht!« Schrat pickte nach seiner Braue. Mit einer unwilligen Geste scheuchte Lasnic den Kolk von seiner Schulter. »Hör auf damit!« Der Kolk schwang sich in die nächste Buchenkrone hinauf. Von dort schimpfte er auf den Waldmann herunter.

Unterwerfung, verdammte Marderscheiße.

Lasnic lauerte durchs Gehölz, lauschte zur Lichtung hin. Stimmengewirr, einzelne Rufe, Umrisse von Tieren und Menschen. Sie warteten auf ihn. Kauzer, Augustos, die Waldleute, seine Gefährten. Wer würde hier der Habicht sein, wer der Schwarzvogel? Sein Herz klopfte bis hinauf in seinen Kehlkopf, er wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab.

»Weiter«, sagte er zu sich selbst. »Los. Mach schon.«

Es ging nicht. Keinen Schritt wollten seine Füße mehr vorangehen. Das Gedicht. Lasnic griff in seinen Eulenfedermantel, zog ein Lederröllchen heraus. He, Waldmann, du … Er entrollte den zerlesenen Pergamentfetzen, hielt ihn sich vor die Augen, atmete tief durch, las den ersten Satz. He, Waldmann, du! Dreh dich nicht um! Hinter dir verbrennt dein Hausbaum … Verse in baldorischer Sprache. Der Weißmantel in Eldora hatte sie ihm zum Abschied geschenkt, der Wutdichter. Seinen Namen kannte Lasnic nur, weil er unter dem Gedicht stand. Elend langer Name.

»Halt nicht fest dein Leben …« Lasnic las nun murmelnd. »Du, Waldmann, glaubst, etwas zu sein?« Er rollte das Pergament zusammen, steckte es zurück in den Mantel. »Und nun wieg’ deine Lanze, Waldmann, wieg’ deinen Zorn, dein Lachen …«

Seine Füße gehorchten wieder, endlich. Er ging weiter, schneller als zuvor.

Lasnic konnte das Gedicht auswendig. Ayrin hatte es ihm ins Garonesische übersetzt und verstehen und sprechen gelehrt. Geliebte Ayrin. »Das Ei will nicht zerbrechen?« Er kämpfte mit seiner brechenden Stimme. »Nie wird ein Greif ihm je entschlüpfen. Bewahr’ dein Leben …« Lasnic stapfte auf die Lichtung zu, das Stimmengewirr schwoll an. Elche röhrten, ein Waldelefant trompetete. »Bewahr’ dein Leben, und du wirst es verlieren. Du, Waldmann, sieh nach vorn.« Der alte Kolk landete wieder auf seiner Schulter. Lasnic ließ es geschehen.

Aus dem Unterholz schritt er hinein in die Lichtung, vorbei an gezäumten Elchen und gesattelten Waldelefanten. »Wirf es weg, und du gewinnst es. Und nun, und nun …« Er schritt durch die Reihen der Waldleute und auf das Gemeinschaftshaus zu. Manche wichen seinem Blick aus, manche klopften ihm auf die Schultern und sprachen ihm Mut zu.

Auf dem Flachdach des Gemeinschaftshauses warteten sie. Die Magier. Kauzer verschränkte die dürren Ärmchen vor der Brust, als er ihn in der Menge entdeckte. Augustos stemmte die Fäuste in die Hüften. So lauerten sie auf ihn herab.

Lasnic solle sich ihrem Willen unterwerfen, hatten sie ihm ausrichten lassen. Er müsse sich ihrer Macht und ihren Kriegsplänen beugen, bedingungslos, müsse die Strafe annehmen, die sie wegen seiner Rebellion und seines Angriffs auf Kauzer über ihn verhängen würden. Nur so könne er seine kleine Familie retten, nur dann würden sie ihm das Leben schenken.

Sich das Leben schenken lassen? Von Kerlen aus Fleisch und Blut? Lasnic zog den Rotz hoch und spuckte aus. Nichts für einen Waldmann, nichts für Lasnic von Strömenholz.

Ganz still war es auf der Lichtung geworden. Als hätten Menschen und Tiere den Atem angehalten. Die Waldleute bildeten eine Gasse. Er schritt durch sie hindurch, ohne Eile und dennoch wie ein Mann, der ein Ziel hatte. Die beiden Magier dort oben auf dem Flachdach würdigte er keines Blickes. Sein Mund war staubtrocken; er achtete nicht darauf. Seine Miene wirkte hart und verschlossen; stur geradeaus guckte er – zum Eingang des großen Gemeinschaftshauses.

Dort hatte er eine kleine, kugelige Gestalt in einem schwarzen Bärenfellmantel entdeckt: Ulmer, den Wettermann von Blutbuch, den »Hexer«, wie er sich gern nennen ließ. Er sollte Nachfolger des toten Birks werden. Er sollte die Waldstämme nach Norden in den Krieg gegen die Eiswilden führen. Ihn wollten die Magier heute zum Großen Waldfürsten wählen lassen. Lasnic spuckte noch einmal aus.

Schrat, sein alter Kolk, hatte ihm die Botschaft der Magier überbracht. Vor einem Mond, ein paar Tage nach Belices Geburt. Lasnic hatte sich mit seinen engsten Vertrauten beraten – mit Pirol Gumpen, der Waldfurie, Lord Frix, der Kriegsmeisterin Loryane, dem Schwertweib Tigrit und den Jagdbrüdern der Waldstämme, die es mit ihm hielten. Und natürlich mit der Mutter seiner Tochter, der Königin Ayrin.

Die plötzliche Stille verblüffte Lasnic. Niemand sprach mehr, seit er aus dem Waldrand getreten war, niemand lachte oder fluchte mehr. Nicht einmal Grünspross hörte er noch plärren. Dabei hatten sich Tausende auf der Lichtung versammelt.

Aus allen vier Waldgauen waren sie gekommen, um den Großen Waldfürsten zu wählen und das Urteil der Magier über Lasnic zu hören. Aus den südlichsten Berghängen von Düsterholz waren sie hierher an den Unterlauf des Stomms gewandert oder geritten, sogar aus den nördlichsten Sümpfen Wildans.

Und sie alle sahen es nun mit eigenen Augen: Lasnic, der Sohn Voglers, hatte sein Versteck in der Wildnis verlassen und war dem Befehl der Magier gefolgt. Sie alle – vier Waldfürsten, Dutzende Eichgrafen, Hunderte Siedlungsälteste, Tausende Jäger, Morsche, Flaumbärte, Mütter, Jungweiber und Halbwüchsige – sie alle wurden nun Zeugen, wie Lasnic mitten durch die Versammlung der Waldstämme schritt, die Kauzer und Augustos einberufen hatten. Sie alle würden gleich mit eigenen Augen sehen, wie er zu den verhassten Magiern hinauf aufs Flachdach des Gemeinschaftshauses steigen, wie er sogar niederknien würde vor den neuen Herren der Waldstämme. Vor Kauzer, dem Meister des Willens. Vor Augustos, dem Großmeister des Willens.

»Scheißhaufen, verfluchte!«, zischte Lasnic zwischen zusammengebissenen Zähnen. Sein Herz schlug schneller; er achtete nicht darauf.

Ayrin und das Kind hatte der Waldmann bei Gumpen, Lord Frix und der Waldfurie zurückgelassen. Besser so. Schrat, auf seiner Schulter, quorkte, als wittere er Gefahr. Lasnic witterte sie auch. Die Narbe unter seinem linken Auge zuckte und kribbelte. Dagegen war kein Kraut gewachsen.

Näher und näher kam er dem Gemeinschaftshaus. Sein Schritt stockte nicht, er sah weder nach links noch nach rechts. Auch nicht, um sich die Gesichter derer zu merken, die ihm die Schultern tätschelten oder ihm Seerosen und Eichensprösslinge ins lange Haar steckten oder ihm Segenssprüche zuflüsterten oder den Beistand des Wolkengottes und des Großen Waldgeistes wünschten.

Die meisten hier verabscheuten Kauzer und Augustos, wollten sie lieber heute als morgen in die Flammenhölle des Schartans fahren sehen; dessen immerhin konnte er sicher sein.

Schon beinahe am Ende dieser Gasse aus Leibern angekommen erkannte er Tajosch und Rottnic in der Menge. Freunde und Verbündete – lauter hochgewachsene Jagdkerle deckten sie mit ihren Körpern vor den Blicken der Magier und der misstrauischen Parteigänger Ulmers. Wie alle, die sich nach dem Sieg über die Tarkaner zu oft mit Lasnic gezeigt hatten, galten auch Tajosch und Rottnic als heimliche Rebellen und mussten um ihr Leben fürchten.

Von allen Vertrauten hatten Tajosch, der Eichgraf von Stommbösch, und Rottnic, der Flaumbart aus Wildan, es am häufigsten gewagt, ihn in seinem Versteck in der Wildnis aufzusuchen. Von allen, die es im Geheimen mit Lasnic, dem Sohn Voglers, hielten, drängten sie am leidenschaftlichsten zum offenen Kampf gegen die unwürdige Tyrannei der beiden Magier aus Kalypto und ihrer Anhänger.

»Wohl dem, der solche Freunde hat«, murmelte er. »Bewahr’ dein Leben, und du wirst es verlieren. Wirf es weg, und du gewinnst es.«

Nur einen Wimpernschlag lang streifte Lasnics Blick die beiden Vertrauten. Keine Spur seiner Erleichterung und seiner Freude fand den Weg in seine harten und verbitterten Gesichtszüge. Ja, Erleichterung empfand er angesichts der beiden Jagdbrüder. Erleichterung und wilde Freude.

Er schöpfte sogar Hoffnung – wenn es ihnen, den beiden Verfemten, gelungen war, sich unter die Menge zu mischen und so nahe an das Gemeinschaftshaus zu gelangen, dann durfte er damit rechnen, dass es auch die beiden Garonesinnen Loryane und Tigrit von ihrer Galeere aus ans Stommufer und in den Wald geschafft hatten. Und danach hierher zur Großen Versammlung der Waldstämme.

Lasnic stieg die beiden Stufen zum offenen Gemeinschaftshaus hinauf und trat ein. Keine drei Schritte vor der Wendeltreppe zum Dach wartete Ulmer neben seinem Waldfürsten und einigen Eichgrafen von Blutbuch auf seine Wahl zum Großen Waldfürsten. »Scheißkerl!«, zischte Lasnic ihn an.

Die meisten Jagdkerle rund um den Wettermann standen offen oder insgeheim auf Lasnics Seite. Der alte Waldfürst Hirscher sowieso. Der hochgewachsene Graubart hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass er Kauzer für einen üblen Verräter und diesen Augustos für einen gerissenen Eroberer hielt. Krieg gegen die Eiswilden im hohen Norden? Schwachsinn!

Verwundert, beinahe erschrocken musterte er Lasnic. Wahrscheinlich konnte der alte Hirscher es nicht fassen, dass einer wie er freiwillig gekommen war, dass einer wie Lasnic sich freiwillig unterwerfen und bestrafen lassen wollte.

Ulmer wich zurück, als Lasnic sich der Wendeltreppe näherte. Schämte er sich doch ein wenig für seinen Verrat? So viel Anstand hätte Lasnic ihm gar nicht zugetraut. Mochte dem kleinen Fettsack doch das habgierige Hirn unter der Schädeldecke verfaulen!

Ulmer wollte sich hinter zwei Eichgrafen drängen, doch Lasnic sprang zu ihm. »Du bist ein Saftarsch, Ulmer!« Er packte ihn und riss ihn an seine Brust. »Ein erbärmlicher Möchtegernhexer bist du!« Die Wut tat gut, dämpfte seine Angst ein wenig. »Und bald wird es jeder am Stomm erfahren. Versprochen!«

»Was fällt dir ein, Jagdkerl?« Der kleine Wettermann zappelte in Lasnics hartem Griff, blaffte zu ihm herauf, schlug ihm auf die Hände. »Weißt du nicht, wen du vor dir hast?«

»Doch. Einen Schwachkopf, dem der Schartan ins Hirn geschissen hat!« Lasnic schüttelte den kugeligen Wettermann, als wäre er ein Sack voll toter Enten. »Den verfluchten Ring willst du besitzen! Ein echter Hexer werden willst du! Und bezahlst mit deinem Stolz und deiner Ehre dafür.« Lasnic spuckte aus. »Schäm dich!«

Keiner der Eichgrafen griff ein. Vier Jungjäger jedoch eilten herbei, Radaubrüder aus Blutbuch, die Ulmer sich neuerdings als Leibgardisten hielt. Sie gingen dazwischen, drohten Lasnic mit Lanze oder Messer, machten ebenso wichtige wie grimmige Gesichter und konnten doch ihre Furcht vor dem Sohn Voglers nicht ganz verbergen.

»Wer mich anrührt, frisst Dreck!« Lasnic stieß den schnaufenden und fluchenden Ulmer von sich. »Noch bin ich ein freier Waldmann.« Er schoss einen letzten giftigen Blick auf den Wettermann ab, fuhr herum und stapfte die Treppe hinauf.

Immer seltener war Ulmer zu den heimlichen Versammlungen der Verschwörer in die Wildnis heraus gekommen. Nach dem Winter gar nicht mehr. Zu groß die Macht, die Kauzer und der Großmeister dem Wettermann von Blutbuch boten. Zu verlockend der Ring und das böse Licht aus dem Jenseits, das er damit entfesseln konnte. Ulmer, der sich schon immer gern »Hexer« nennen ließ, hatte nicht widerstehen können.

Zur Belohnung wollten sie ihn jetzt zum Großen Waldfürsten wählen lassen. Damit wenigstens der Anschein einer Wahl erhalten blieb, hatte der Wettermann von Blutbuch einem alten, zahnlosen Jäger ein junges Mädchen zum Weib gegeben und ihn so bestochen, heute als sein Gegenkandidat anzutreten.

Stufe um Stufe nahm Lasnic. Sein Herzschlag dröhnte ihm in den Schläfen; seine Narbe zuckte, sein linkes Auge ebenso, und er musste so verdammt dringend pissen. An den Geländern des Ausstiegsschachtes schwang er sich schließlich aufs Dach.

Sofort umringten ihn sechs Jagdkerle, die meisten noch Flaumbärte. Zwei spannten ihre Jagdbogen und zielten mit ihren Pfeilen auf ihn, vier richteten die Spitzen ihrer Jagdlanzen auf seine Brust. Ihre Mienen waren so stumpf und ihre Blicke so leer, dass es Lasnic das Herz zusammenschnürte.

»Sterbende Fische im Ufersand seid ihr und merkt es nicht einmal«, flüsterte er. »Arme Hexersklaven.«

»Was habt ihr zu flüstern?«, krähte Kauzer vom Rand des Daches her. Seine Stimme klang seit jeher wie eine alte Saublase, wenn man sie zerriss. »Schafft ihn zu uns! Auf, auf!« Angeblich hatte seine Stimme sich schon vor 27 Sommern so angehört. Damals, als er seinem Vorgänger im Rang des Wettermanns den Namen des neugeborenen Lasnics verkündete.

Die hirnlosen Kerle nahmen ihm Jagdbogen, Lanze und sein baldorisches Kurzschwert ab. Anschließend lotsten sie ihn mit den Lanzenspitzen zu den beiden Magiern am Dachrand. Dabei veränderte sich ihr Gesichtsausdruck nicht im geringsten. Diese Jäger glotzten aus ihren schlaffen Gesichtern, als würde sie langweilen, was sie taten, ja, als würden sie gar nicht merken, dass sie überhaupt etwas taten.

Sie gehörten zu den viel zu vielen, denen der Großhexer mit seiner verfluchten Magie das Wichtigste geraubt hatte, was ein Waldmann besitzen konnte: die Freiheit des Willens.

Augustos, dieser Schartanskrüppel, vermochte so etwas. Seit dem Sieg über die Tarkaner umgab er sich mit solchen Halbtoten. Von Hunderten dieser Willenlosen hatte Tajosch während der letzten geheimen Zusammenkunft der Rebellen gesprochen. Und das war auch schon wieder einen halben Mond her.

Sah so die Art von Unterwerfung aus, die Kauzer und dem Großhexer auch für ihn vorschwebte? Lasnic machte sich auf das Schlimmste gefasst.

»Knie nieder, Lasnic, Sohn Voglers.« Kauzer deutete auf eine Stelle an der Längsseite des Flachdaches. Klar doch – jeder Jagdkerl dort unten, jede Mutter, jeder Flaumbart, jedes Jungweib sollte genau sehen können, wie er, der wilde, starke, große Waldmann seine Knie vor den schmächtigen Hexern aus Kalypto beugte; auch der letzte Waldmann dort unten sollte begreifen, dass jeder Widerstand sinnlos war.

Lasnic stand wie gelähmt, blickte auf den zwei Köpfe kleineren Kauzer herab, sah ihm ins verwelkte Grünsprossgesicht. Und der Wettermann musterte sein zuckendes Auge. Kauzer kannte ihn so gut wie kein zweiter, wusste genau, was jetzt in ihm vorging. Armer Lasnic, sagte sein Blick, gleich scheißt du dir in die Hosen.

Eine Sturzflut von Erinnerungen rauschte Lasnic durch den Schädel. Hatte er Kauzer nicht das Leben gerettet, damals in jenem Felskessel am Parderfluss, als der Mammuteber ihn zerreißen wollte? Für seinen Wettermann hatte er ihn gehalten, für seinen Ersatzvater, für einen, dem man vertrauen, auf den man sich verlassen konnte. So viele Sommer lang, sein ganzes Leben lang.

Täuschung.

Lug und Trug.

Ein eiskalter Magier aus Kalypto hinter der Maske eines schrulligen Wettermannes – das war Kauzer. Das war er immer schon gewesen. Nie hatte er etwas anderes im Sinn gehabt, als Lasnic und die Waldstämme für seine mörderischen Ziele zu benutzen.

Die Enttäuschung wühlte in Lasnics Brust wie ein glühender Widerhaken. Am liebsten hätte er dem Betrüger ins verwelkte Grünsprossgesicht gespuckt.

»Wie wir hören, willst du dich unterwerfen, Lasnic von Strömenholz.« Weil Lasnic stumm blieb und sich so gar nicht rühren mochte, ergriff der andere das Wort, der Großhexer. »Beweise es also – knie nieder und höre unser Urteil über dich und deine Sippe.«

Augustos sprach mit hartem Akzent und eherner, beinahe tonloser Stimme. Klein und drahtig war er, und fremdartig sah er aus mit seinem schwarzen Spitzbart und seinem großen Schnurrbart. Er trug bunte Kleidung nach Trochauer Art. Der Mondsteinring an seiner Rechten glühte auf.

Eine Drohung. Marderscheiße. Eine tödliche Drohung.

Verfluchter Schartansknochen! Augustos würde nicht zögern, ihn zu benutzen, den magischen Ring, kein Zweifel, er würde seine mörderische Kraft gegen Lasnic richten. Es kostete den Waldmann alle Selbstbeherrschung, seinem Zorn Zügel anzulegen. Er zerbiss den Fluch, der ihm auf den Lippen lag, senkte abrupt den Blick, kniete dicht am Dachrand nieder.

Aus dem Augenwinkel konnte er die Waldleute vor der Gemeinschaftshütte zu ihm heraufstieren sehen. Unglaube stand in den meisten Gesichtern geschrieben, Unglaube und Schrecken. Du, Lasnic?!, fragten ihre Mienen. Ausgerechnet du unterwirfst dich ihnen?

»Wir klagen dich des Ungehorsams und der Missachtung an, Lasnic von Strömenholz!« Augustos also verkündete das Urteil, und nicht Kauzer. »Des Ungehorsams gegen den Willen zweier Meister aus Kalypto und der Missachtung des ERSTEN MORGENLICHTES. Und wir klagen dich an, Kauzer, den Meister des Willens, angefallen zu haben, mit dem Ziel ihn zu ermorden.«

Das stimmte: In seiner maßlosen Enttäuschung war Lasnic voller Wut auf seinen ehemaligen Ziehvater losgegangen. Und auch das war die Wahrheit: Er hatte seinen Mondsteinring vor den Augen der Magier ins Feuer geworfen.

Lasnic bereute nichts. Außer, dass es ihm nicht gelungen war, Kauzer totzuschlagen.

»Vernimm die Strafe, die wir über dich verhängen, Lasnic von Strömenholz.« Der Großhexer erhob seine metallene Stimme. »Für immer sollst du in Ketten an deinen Hausbaum in Stommfurt geschmiedet werden! Zur Warnung für alle Gewalttäter, Widerspenstigen und Ungehorsamen!« Lasnic wurde ganz starr vor Schrecken. Hörte er recht? »Dein Weib, die ehemalige Königin von Garona, muss fortan ebenfalls Ketten tragen. Doch sie darf sich innerhalb der Siedlung bewegen, damit sie dich versorgen kann.« Wie gern wäre Lasnic dem Großhexer an die Gurgel gesprungen! »Eure Tochter wird in die Obhut einer Amme gegeben«, fuhr der verfluchte Großhexer fort. »Die soll sie säugen und pflegen, bis sie entwöhnt ist. Dann werde ich, Augustos, der Großmeister des Willens, die Erziehung des Kindes übernehmen.« Der Kalyptiker machte eine Pause, Totenstille herrschte auf der gesamten Lichtung. »Nimmst du das Urteil an, Lasnic von Strömenholz? Wirst du dich unserem Willen unterwerfen?«

Und jetzt?

Würde geschehen, was Lasnic erhoffte? Hatte er vorhin in Menge der Jagdkerle wirklich Tajosch und Rottnic gesehen? Waren auch Loryane und Tigrit gekommen? Würden die Freunde den Mut haben zu tun, was sie vereinbart hatten? Und würden sie es überhaupt tun können? Er musste das Zeichen geben, sonst würde er es nie erfahren.

Lasnic hob also den Blick, sah zuerst Kauzer, dann dem Großhexer in die Augen. An den Händen beider glühten ihre magischen Ringe. »Nein!«, rief er dann. »Niemals!«

Kauzer zuckte zusammen, Augustos’ schmales Gesicht wurde schneeweiß und verwandelte sich in eine wütende Grimmasse. »Du wagst es …?« Er wich zurück, hob die Faust mit dem Mondsteinring. »Weg von ihm, Kauzer!«

Und dann geschah es wirklich: Augustos schrie plötzlich auf und griff sich in den Nacken.

Kauzer riss Mund und Augen auf, seine Schultern zuckten nach oben – ein Pfeil zitterte in seiner Brust. Ungläubig starrte der Magier mit dem Grünsprossgesicht an seinem braunen Hirschledermantel hinunter. Rund um die Stelle, in die der Giftpfeil eingedrungen war, sickerte Blut in das Leder.

Der Großhexer aber hielt den Pfeilbolzen in der Faust, den er sich aus dem Nacken gerissen hatte und stierte ihn an. Tigrit und Loryane waren die besten Armbrustschützen unter den Garonesen. Der nächste Pfeilbolzen traf Augustos im Hals. Und wieder schrie er auf und langte sich an den Hals, als hätte eine Hornisse ihn dort gestochen. Seine Gardisten stürmten heran.

Unten, auf der Lichtung, brüllten Männer, schrien Frauen. Jemand warf Lasnic Lanze und Schwert hinauf. Er fing beides, warf sich zur Seite und schleuderte die Lanze auf den ersten der sechs Willenlosen. Sie fuhr dem armen Jagdkerl in den Bauch. Nacheinander trafen Pfeile von unten drei andere. Lasnic sprang auf und ging mit dem Schwert auf die zwei übrigen los.

Kauzer lag schon am Boden und zuckte. Das Schlangengift wirkte schnell. Doch Augustos, inzwischen durch drei vergiftete Pfeilbolzen getroffen, schrie immer lauter. Flammen züngelten auf einmal rund um Lasnic aus den Bohlen des Flachdaches. Donner grollte, Blitze zuckten über der Lichtung, ein Schwarm Fledermäuse stieß auf Lasnic nieder. Er riss sich den brennenden Mantel von den Schultern, hieb auf das Geflatter ein, sprang aus den Flammen in Richtung Treppengeländer. Dort stürmten Tajosch, Rottnic und Erler aufs Dach, der Waldfürst von Strömenholz. Sie erschlugen die beiden noch lebenden Gardisten des Magiers.

Hagelschlag ging auf Lasnic nieder. Der Großhexer brüllte wie ein sterbender Rotaffe. Seine langgezogenen, gellenden Schreie trieben Lasnic einen kalten Schauer nach dem anderen über den Rücken. Er warf sich auf die Knie, hielt sich die Ohren zu, schützte zugleich seinen Kopf mit den Armen vor den kolkeiergroßen Hagelkörnern. Der Schrei des Magiers wurde schwächer, ging in heiseres Röcheln über, verstummte schließlich ganz.

Der Hagelschlag hörte auf, der Donnerhall verklang, das Feuer auf dem Dach erlosch, die Fledermäuse verschwanden ebenso schnell, wie sie aufgetaucht waren.

Lasnic richtete sich auf, blickte sich um – seine Jagdbrüder standen schweratmend über den erschlagenen und erschossenen Gardisten des Großhexers. Der lag zuckend am Rand des Daches. Kauzer rührte sich gar nicht mehr.

Vorbei. Es war tatsächlich vorbei. Kaum fünf Atemzüge lang hatte der Spuk gedauert.

Lasnic stand auf, nahm sein Schwert und wankte zu Augustos. Sein Herzschlag war eine Pauke, die ihm den Schädel zersprengen wollte; sein Adamsapfel hatte sich selbstständig gemacht – Lasnic musste schlucken, schlucken, schlucken. Die schreiende, palavernde Menge vor dem Gemeinschaftshaus, die Jagdbrüder neben ihm, die beiden auf dem Dach liegenden Magier – alles verschwamm ihm vor den Augen.

Obwohl das Schlangengift ihn endlich doch betäubte, bäumte Augustos’ Leib sich noch immer auf, und er zuckte noch immer wie ein Fasan, dem man den Kopf abgeschlagen hatte. Und der verfluchte Ring wollte nicht aufhören zu glühen. Lasnic hob sein baldorisches Kurzschwert. »Und nun, und nun …« Er schlug mit ganzer Kraft zu und spaltete dem Großmeister des Willens den Schädel.

Danach wandte er sich um, trat neben Kauzer und hob wieder das Schwert zum Schlag. »Und nun …« Doch statt zuzuschlagen, verharrte er mit über dem Kopf erhobener Klinge. Schließlich ließ er das Schwert sinken, sank in die Knie und heulte laut. »Ich kann es nicht! Kauzer, du verfluchter Lügner, ich kann es nicht tun!«

Tajosch eilte zu Lasnic, nahm ihm das Schwert aus der schlaffen Faust und rammte es dem Wettermann mitten ins Herz.

Stille trat ein. Auf dem Dach, unten auf der Lichtung – viele Atemzüge lang Stille. Lasnic wischte sich die Tränen aus den Augen.

»Es ist vorbei, Bruder.« Tajosch fuhr ihm durchs Haar. »Hör auf zu heulen, es ist vorbei.«

Endlich stand Lasnic auf. Seine Knie fühlten sich an, als wären sie mit heißem Biberfett gefüllt. Er trat an den Rand des Daches. Schweigend ließ er seine Blicke über die Menge wandern. Alle sahen herauf zu ihm. Hirscher mit seinen Eichgrafen tauchte unter ihm vor der Gemeinschaftshütte auf. Auch Holder, der Wettermann von Düsterholz. Neben ihnen erkannte er Loryane und Tigrit. Sie hatten ihre Armbrüste geschultert. Erst ihr Anblick verschaffte ihm die letzte Gewissheit: Er träumte nicht. Sie hatten gesiegt.

»Jetzt könnt ihr Euern Großen Waldfürsten wählen!«, rief er.

»Wir brauchen keinen Großen Waldfürsten wählen!« Der alte Hirscher drehte sich um und schrie es noch einmal über die Menge hinweg. »Wir haben längst gewählt!« Und dann wieder herauf zu Lasnic: »Du bist unser Großer Waldfürst.«

Jubel brach aus. Die Waldleute klatschten in die Hände, riefen Lasnics Namen, winkten ihm zu. Die meisten jedenfalls. Lasnic schöpfte Atem, nickte manchmal nach rechts oder links, wartete, bis sie aufhörten zu jubeln.

»Wie ihr wollt«, sagte er, als die Hochrufe langsam abebbten. »Drei Dinge, hört mir zu. Erstens: Wir führen keinen Krieg gegen die Nordleute. Vergesst diesen Schwachsinn.« Er deutete hinter sich auf die toten Magier. »Das hier sind unsere Feinde.« Wieder brandete Jubel auf. Lasnic hob die Arme, bedeutete den Waldleuten, endlich Ruhe zu geben. Seine Nerven vibrierten, er hatte genug. »Außerdem ernenne ich Erler zum zweiten Großen Waldfürsten.« Genau das sagte er. Und dann deutete er auf den Waldfürsten von Strömenholz. »Ich nämlich werde gleich nach dem nächsten Neumond aufbrechen, und das ist das Dritte, das ich euch zu sagen habe: Ich werde den Stomm hinauf fahren und durch die große Wildnis nach Kalypto gehen.«

Jetzt herrschte wieder Stille. Und zwar eine Stille, die sich anhörte wie die Brandung an der Küste des Stommdeltas. »Ihr habt richtig gehört: Kalypto. Dort lebt in einem Berg der wahre Feind der Waldstämme und aller Menschen überhaupt. Wenn es sich lohnt, Krieg zu führen, dann gegen ihn.«

2

Sie blinzelte in den Himmel. Kaum Wolken, die Sonne stand im Zenit. Catolis rieb sich die geblendeten Augen, drehte sich im Sattel um, blinzelte nach allen Seiten. Die Landschaft blieb immer gleich, schon seit Tagen: ein Grasmeer, hellgrün mit ockerfarbenen und rötlichen Inseln. Vom Wind gekrümmte Bäume hier und da, manchmal Haine aus niedrigem Gestrüpp. Und Steine. Steine, Steine, Steine. Hinterlassenschaft des Eises, das einst, schon bald nach der Großen Verwüstung, die Welt bedeckte. Viele helle Steine. Die meisten größer als der Schädel des Wakudos, auf dem sie saß, und alle wie hingestreut in beinahe gleichen Abständen auf Bodenwellen, über Hügelhängen, auf endlose Weite.

Kaum auffällige Landmarken also, an denen die Magierin sich orientieren konnte. Sie merkte dennoch, dass sie nur noch langsam vorankam. Dabei war der Boden fest, das Gras niedrig und die Landschaft nach Norden hin so flach, dass sie glaubte, ans andere Ende der Welt schauen zu können.

»Was ist los mit dir?« Sie klopfte ihrem Wakudo ins schwarze, fettige Nackenfell. Kleine Fliegen, Staub und ranziger Duft stiegen ihr ins Gesicht. »Du kommst mir müde vor.« Wie immer sprach sie Baldorisch mit dem Reitbüffel. Der vertraute Klang der Worte beruhigte ihn, wie sie schnell herausgefunden hatte. »Kannst du nicht mehr oder willst du nicht mehr?«

Wochenlang trottete der Wakudo nun schon vor sich hin – gehorsam, stoisch, im immer gleichen stampfenden Rhythmus seiner schweren Hufe. Seit beinahe zwei Monden, seit der Sommersonnenwende. Jetzt scheute er auf einmal. Catolis konnte keinen Grund dafür erkennen. War der Reitbüffel krank? War er erschöpft?

Schwer vorstellbar eigentlich – ganze Monde lang konnten diese massigen Tiere traben ohne zu ermüden, Tag für Tag, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang; wenn sie nur genug zu fressen bekamen und sich hin und wieder vollsaufen konnten. Das hatte der baldorische Züchter in Eldora ihr versichert, bei dem Tarkun und sie den zahmen Jungbullen gekauft hatten.

Gesoffen hatte er erst gestern, als Catolis auf ihm einen Fluss durchquerte. Und weiden konnte er mindestens vier Mal am Tag. So oft nämlich musste Catolis aus dem Sattel steigen, weil die schlecht verheilten Brandnarben an den Innenseiten ihrer Schenkel sich durch den langen Ritt wieder entzündet hatten. Sie legte dann jedes Mal einen frischen Salbenverband an. Das linderte den Schmerz ein paar Stunden lang. Manchmal setzte sie sich auch seitlich auf den gepolsterten Sattel.

Der Wakudo schnaubte, warf den Kopf hin und her, wollte kehrtmachen. Catolis redete ihm so lange zu, bis er weitertrottete. Mit ihrem Geist tastete sie sich ins Hirn des Tieres. Statt dumpfe Gleichmütigkeit wie sonst schlug ihr Angst entgegen.

Angst? Wieder blickte sie hinter sich. Flache Hügel, Steine, Buschhaine hier und dort, vereinzelt niedrige Bäume – sonst nichts. Wovor fürchtete sich das Tier? Hatte es eine bedrohliche Witterung aufgenommen? Wakudos hätten empfindliche Nasen, hatte der Züchter versichert.

Catolis prüfte den Wind. Er wehte aus Nordwest. Sie schirmte die Augen vor der Sonne ab und spähte in diese Richtung. Etwas stach dort vor einer Bodenwelle aus der Landschaft heraus. Ein großer Stein? Nicht hell genug. Ein Tier? Gestrüpp? Ein Ameisenhaufen? An Ameisenhaufen, hoch wie ein Schiffsbug, war Catolis schon vorbeigeritten.

»Komm schon.« Sie streckte die Arme aus, packte das Gehörn des Wakudos und kraulte ihm das Stirnfell; das mochte der Bulle. »Das schauen wir uns an. Solange ich bei dir bin, hast du nichts zu befürchten.« Der Reitbüffel schnaubte. Und gehorchte dem Zügelzug seiner Herrin. Zögernd trottete er auf die seltsame Erhebung zu.

Winter und Frühling hatte Catolis in der baldorischen Hauptstadt verbracht. In der Obhut eines Heilers, den Tarkun für sie ausgesucht hatte. Ein guter Mann – er behandelte die Folgen der schrecklichen Folterungen: eiternde Wunden, Fieber, Schmerzen, Albträume. Nach dem Winter war sie nach und nach wieder zu Kräften gekommen. Ganze Monde hatte sie im ERSTEN MORGENLICHT verbracht, um sich selbst zu heilen.

Kurz vor der Sommersonnenwende war sie in Eldora mit ihrem Reitbüffel an Bord von Tarkuns Flaggschiff gegangen. Der Erste Hauptmann und seine Krieger ruderten sie und den Wakudo so weit nach Norden, wie der Balden schiffbar war. Als sie schließlich von Bord der Galeere gehen wollte, flehten Tarkun und seine Hauptleute Catolis auf Knien an, sie begleiten und beschützen zu dürfen.

»Kehrt zurück nach Tarkatan«, hatte sie ihnen befohlen. »Alle. Und seht zu, dass ihr jede Kampfrotte, jeden einzelnen Krieger mit nach Hause zu den Tausend Inseln nehmt. Tarkartos will es so.«

Sie gehorchten.

Mehr konnte Catolis nicht tun, um weiteres Blutvergießen zu verhindern. Vorbei der Krieg, sie wollte nichts mehr wissen davon. Gescheitert ihre Rolle als Hohepriesterin dieser kleinen, blutrünstigen Insulaner. Gescheitert auch ihr Auftrag als kalyptische Großmeisterin der Zeit.

Ein verwerflicher Auftrag. Catolis erschauderte vor Selbstekel, wenn sie daran dachte, was sie getan hatte: Die kleinen, braunen Krieger von Tarkatan zum Töten und zum Krieg erzogen und aufgehetzt. Zum Krieg gegen Garona, Baldor und die Waldstämme. So viele Sonnenwenden lang hatte sie an nichts anderem gearbeitet!

Entsetzlich. Unverzeihlich. Widerwärtig. Vorbei.

Eine gute Macht des Universums hatte sie erst in ein Meer von Schmerzen und Angst stürzen müssen, damit ihr endlich die Augen aufgingen. Jetzt wollte sie nur noch zwei Dinge: Violis finden; und die Wächter des Schlafes zu einem Zweiten Reich ohne Sklavenvolk bewegen. Zu einem friedlichen Reich von weisen und mitfühlenden Magiern, die den Menschen dienten und ihnen ein Vorbild gaben auf dem Weg zu Frieden und Gerechtigkeit.

Violis zu finden, hielt Catolis für eine lösbare Aufgabe; die Wächter des Schlafes umstimmen zu wollen, erschien ihr schwieriger, als einen tarkanischen Krieger zu einem Dasein als Amme zu überreden. Catolis wollte es dennoch versuchen. Sie musste es versuchen.

Violis, die Meisterin des Lebens, war im kalten Land der Nordmänner verschollen, unter den »Eiswilden«, wie man sie in Garona nannte; und den beiden Wächtern des Schlafes würde Catolis im ERSTEN MORGENLICHT begegnen. Bald.

Schon wieder stand der Wakudo still. Kein Busch, kein Ameisenhaufen – Tiere ragten da kaum vierhundert Schritte entfernt aus dem Gras. Raubtiere. Ein großes und drei kleinere. Vier weiße, schwarz gestreifte Katzenartige.

»Weiter«, raunte sie dem Bullen zu. »Geh weiter.« Ihre Gedanken kreisten um den leichten Kriegsbogen hinter ihrem Sattel und um die Pfeile in ihrem Sattelköcher. »Immer weiter, hörst du? Sie können dir nichts tun, solange ich bei dir bin.« Catolis ließ den Bogen, wo er hing, vertraute lieber auf die Kräfte ihres Geistes.

Der Wakudo schnaubte, warf den Kopf hin und her und blökte jämmerlich. Schließlich setzte er sich doch wieder in Bewegung.

Die Katzenartigen hoben die Schädel, äugten zu ihnen. Eine Mutter mit ihren drei noch nicht ganz ausgewachsenen Jungen. Sie hatten wohl Beute erjagt, fraßen jedenfalls. Das Muttertier riss den Rachen auf und brüllte so laut und grollend, dass es Catolis durch Mark und Bein fuhr. Schließlich lief es los, setzte mit großen, kraftvollen Sprüngen auf sie und ihren Reitbüffel zu.

Der Wakudo, warf sich herum, ergriff die Flucht. So abrupt wechselte er die Richtung, dass Catolis den Halt verlor, aus dem Sattel rutschte und ins Gras stürzte. Sie stieß einen Schrei aus, weil jäher Schmerz aus entzündeten Brandwunden durch ihren Körper schoss. Der Wakudo galoppierte samt Bogen und Pfeilen zurück nach Süden.

»Her zu mir!« Sie stemmte sich hoch, mit der Kraft ihres Willens brachte sie den Bullen zum Stehen.

Die Raubkatze war gefährlich nahe inzwischen, ein sehniges, großes Tier mit breiten Tatzen und langen, spitzen Reißzähnen. Ihr schwarz-weißes Rückenfell war gesträubt, ihr Schweif gestreckt, ihre buschigen Ohren angelegt. Deren Spitzen würden dem Wakudo sicher bis an die Schultern reichen.

Catolis unterdrückte den Impuls, unter ihren schwarzen Ledermantel zu greifen und die Kette mit dem Mondsteinring aus ihrem groben Wollkleid zu ziehen. Sie hatte sich geschworen, ihn nie wieder als tödliche Waffe gegen ein Lebewesen einzusetzen, und trug ihn verborgen zwischen ihren Brüsten. Die Rechte erhoben, sah sie der Raubkatze in die bernsteinfarbenen Augen, hielt ihren lauernden Blick fest. Das Tier fauchte, duckte sich schon zum Sprung.

»Weg mit dir!«, herrschte Catolis es an. »Zurück zu deinen Kindern!« Sie deutete auf die anderen drei Katzen. Den Arm immer noch ausgestreckt ging sie auf die Raubkatze zu. »Hörst du, was ich dir gebiete? Weg mit dir!«

Das Tier richtete sich auf, stieß ein grollendes Knurren aus und peitschte den Schwanz hin und her. Endlich machte es kehrt und trottete zurück zu seinen Jungen.

»Und sieh zu, dass du meine Wege nicht mehr kreuzt!«

Die Großkatze lief schneller, gerade so als fürchtete sie sich; sprang an ihrer Beute und ihren Jungen vorbei, lief einen flachen Hügel hinauf, blickte immer wieder zu Catolis zurück. Die Jungen schlossen sich ihr an. Bald verschwand das kleine Rudel jenseits der Hügelkuppe.

Catolis rief ihren Wakudo herbei, kletterte in den Sattel, ritt zur Beute der Raubkatzen.

Kein Tier, einen Menschen hatten sie gerissen. Eine abgebrochene Speerspitze steckte unterhalb der Schulter in der Brust der zerfleischten Leiche. Die Magierin stieg ab, betrachtete den Toten aufmerksam. Ein Krieger von den Tausend Inseln; wahrscheinlich hatte er bereits im Sterben gelegen, als die pelzigen Räuber über ihn hergefallen waren.

Was hatte dieser Tarkaner so weit nördlich von Baldor in der Einöde verloren? Eine düstere Ahnung beschlich Catolis.

Sie ritt weiter. Keine Wegstunde entfernt fand sie die Leichen zweier nur halb bekleideter Frauen. Catolis untersuchte sie. Die Kleider und das Aussehen sprachen für Flüchtlinge aus Baldor. Gut möglich: Tausende Baldoren waren aus Baal und Eldora vor den grausamen braunen Kriegern aus Übersee geflohen. Auch noch, nachdem Catolis vom Krankenlager aus befohlen hatte, den Baldoren ihre Städte und Weiler zurückzugeben und alle Gefangenen frei zu lassen.

Sie fand keine Bissspuren an den Leichen, auch keine Spuren von Tatzenhieben. Jemand hatte den Frauen die Kehlen durchgeschnitten. An der Art, wie sie zwischen den Steinen im Gras lagen, und an ihren zerrissenen Kleidern war unschwer zu erkennen, was die Bedauernswerten zuvor erlitten hatten.

Catolis wandte sich um, blickte einmal mehr in alle Himmelsrichtungen. Die Einöde schien menschenleer. Doch sie war nicht menschenleer – baldorische Flüchtlinge und marodierende Krieger von den Tausend Inseln waren irgendwo hier unterwegs. Wahrscheinlich hatten sie Tarkuns Abwesenheit ausgenutzt, um von Eldora aus Raubzüge zu unternehmen.

Weil die nässenden Wunden an den Beinen brannten, erneuerte Catolis den Salbenverband. Danach stieg sie zurück in den Sattel. Drei Wegstunden später stieß sie auf eine alte Feuerstelle, kurz darauf auf die Hufspuren tarkanischer Mustangs. Und gegen Abend, in der ersten Dämmerung, hörte sie Geschrei und Hufschlag.

Ein hoher Erdwall erhob sich nicht weit entfernt aus dem Grasland; Frauen, Kinder und Männer rannten auf ein Palisadentor zu. Und zwei oder drei Steinwürfe entfernt galoppierten kleine, braunhäutige Krieger auf Mustangs heran. Tarkaner!

Diesmal griff Catolis nach ihrem Kriegsbogen. »Los!« Sie trieb ihren Wakudo an. »Schneller! Beweg dich!« Sie galoppierte dem Erdwall entgegen. Rasch gewann sie Anschluss an die in panischer Flucht durch das Tor laufende Baldoren. Mitten unter ihnen ritt Catolis in ein kleines Dorf hinein.

*

Später hockte sie mit Flüchtlingen und Dörflern im größten Haus des Burgwalls um ein Feuer. Der Kampflärm vom Wall war deutlich zu hören. Die Frauen und Kinder um sie herum tuschelten leise. Anders als Catolis hatte jeder hier Angst. Warm, beinahe heiß fühlte der Ring auf ihrer Haut sich an.

Sie hätte den Tarkanern entgegenreiten und ihnen Halt gebieten können, sicher. Doch dann hätte sie sich unter den Augen der Flüchtlinge und der Burgwallbewohner als Magierin offenbaren müssen. Und das wollte sie unter allen Umständen vermeiden.

Unter den baldorischen Flüchtlingen gab es eine junge, weißblonde Frau mit edlen Zügen. Sie trug ein langes schwarzes Kleid und darüber einen roten Umhang. Beides sah teuer aus, und Catolis fiel auf, dass diese Edelfrau mehr redete als die meisten anderen Flüchtlinge und dass man sie zuvorkommend, ja beinahe ehrfürchtig behandelte.

Catolis legte die Rechte auf die Brust: Eine Stimme raunte durch ihren Geist, der Ring auf ihrer Brust fühlte sich heiß an. Jemand rief sie. Violis womöglich? Sie brauchte dringend einen geschützten Ort, an den sie sich zurückziehen und ins ERSTE MORGENLICHT eintauchen konnte. Oder riefen die Wächter des Schlafes schon nach ihr? Mit ihnen war sie verabredet. Mit beiden. Vor der Begegnung war ihr banger als vor den marodierenden Tarkanern draußen vor dem Burgwall.

Brandpfeile prasselten plötzlich auf das Dach, alle Köpfe fuhren hoch. Ein brennender Pfeil fiel durch den großen Rauchabzug ins Feuer. Die Kinder machten ängstliche Gesichter, eine alte Frau fluchte, die baldorischen Mütter umarmten ihre Kinder und einander. Einige schielten mit schreckensstarren Blicken zum Eingang des großen Rundbaus. Andere fuhren einfach fort zu kochen, Brot zu brechen oder getrocknetes Fleisch in Streifen zu schneiden.

Vielleicht lag es an der Dunkelheit, dass die Tarkaner die Nutzlosigkeit ihres Beschusses noch nicht begriffen hatten – die Mauern der Hütten innerhalb des Burgwalls waren aus Stein, die Dächer mit Grasnarben abgedeckt. Hier gab es nichts, was Feuer fangen konnte.

Alle Frauen und Kinder hatten sich im großen Versammlungshaus in der Mitte des Burgwalls versteckt. Baldorische Flüchtlinge und Dorfbewohner. Nicht ganz neunzig Menschen wohnten innerhalb des Burgwalls. Sie teilten, was sie hatten, mit den etwa sechzig Baldoren. Deren Männer standen mit ihren Männern auf dem Wall und wehrten die fremden Krieger ab. Wie viele Angreifer es waren, wusste keiner genau. Von vierzig kleinen, braunhäutigen Männern war die Rede. Catolis glaubte, mindestens achtzig Reiter gezählt zu haben.

Niemand fragte sie, wer sie war, woher sie kam, wohin sie wollte. Die Sturmangriffe der Tarkaner fesselten alle Aufmerksamkeit der Menschen. Die Dörfler hielten Catolis für eine baldorische Flüchtlingsfrau, die Baldoren für eine Dorfbewohnerin. Das würde sich kaum ändern, solange die Bedrohung vor dem Wall anhielt. Sollte sie jedoch vorübergehen, würde es womöglich bald jemandem auffallen, dass sie nach der Art eines tarkanischen Hauptmanns einen langen, schwarzen Ledermantel trug und ihre vernarbte Stirn mit einem roten Tuch bedeckte.

Vorläufig jedoch behandelten die verängstigten Flüchtlinge und Dörfler sie noch wie ihresgleichen. Das Gefühl, zur Gemeinschaft dieser Menschen zu gehören, tat Catolis gut, und sie empfand eine tiefe Dankbarkeit dafür. Sie aß, was man ihr anbot, trank aus den Bechern, die man ihr reichte, und nickte von Zeit zu Zeit freundlich nach allen Seiten.

Irgendwann hetzten Schritte draußen auf den Gassen heran. Wieder fuhren alle Köpfe herum, wieder starrten alle den Eingang an. Dessen lederner Vorhang wurde zur Seite gerissen, etwa zwanzig Männer und Halbwüchsige bückten sich nacheinander in das große Rundhaus. Sie trugen drei Verletzte herein, junge Männer mit aschfahlen, spitzen Gesichtern, denen Pfeile aus Gesicht, Brust oder Schulter ragten. Sie legten die Verletzten neben dem Feuer ab. Sofort stürzten jammernde Mütter, Frauen oder Schwestern der Angeschossenen herbei und beugten sich über sie.

Ein Mann in einem fleckigen, weißen Wollmantel ging von einem Verletzten zum nächsten und erklärte den Frauen, wie sie die Wunden zu versorgen hatten. Ein baldorischer Heiler. Er band sich sein langes graues Haar zusammen, bevor er selbst sich um den kümmerte, dessen Wunden ihm die tiefsten zu sein schienen.

Zwei baldorische Frauen und ihre Kinder liefen laut schreiend in die Dunkelheit hinaus. Jemand hatte ihnen gesagt, dass ihre Männer und Väter tödlich verwundet waren. Die Edelfrau eilte ihnen nach. Schreie und Schritte entfernten sich rasch.

Die Männer ließen sich zwischen Frauen und Kindern vor dem Feuer fallen, griffen nach Brot und Fleisch und Wasserkrügen. »Sie stürmen nicht mehr, die Mistkerle«, sagte einer, sichtbar der Älteste unter den Männern. »Doch sie haben einen Belagerungsring um den Wall gezogen.«

»Morgen früh werden sie wieder stürmen«, sagte ein anderer, ein blonder Baldore in Kettenhemd. »Haben Verstärkung bekommen. Wird nicht einfach.« Langes Schweigen trat ein, gedrückte Stimmung machte sich breit. Der Ring zwischen Catolis’ Brüsten schien zu glühen. Sie hasste Hitze, seit der Bastard sie gefoltert hatte.

»Bringt denen auf dem Burgwall Essen und Trinken«, blaffte der älteste der Männer in die Runde. »Sie sind erschöpft. Macht schnell!«

Einige Frauen füllten Körbe mit Getreidefladen und Fleisch, andere gossen Wasser aus großen Kannen in tragbare Krüge. Catolis griff sich eines dieser Gefäße, mischte sich unter die etwa zwanzig Frauen, ging mit ihnen in die Nacht hinaus.

Jemand verteilte Talglampen, die Gruppe teilte sich, die Konturen gebückter Gestalten huschten nach allen Richtungen in die engen Gassen des Burgwalldorfes. Catolis hielt sich an die Frauen, die zum Tor liefen.

Ein Wall aus aufgeschichteten Steinen umgab das Dorf, beinahe so hoch wie zwei Männer. An seiner Außenseite hatten die Erbauer den noch höheren Erdwall aufgeworfen und mit Speerspitzen, Nägeln, scharfkantigen Steinen und Pfeilen gespickt. Als Brustwehr ragte eine Palisade zugespitzter Rundhölzer aus der Krone des Erdwalls.

Über stufenartig geschichtete Steine stiegen Catolis und die Frauen zum Wehrgang hinauf. Die Männer rissen ihnen Krüge und Speisen förmlich aus den Händen, tranken gierig, stopften Fladen und Fleisch in sich hinein. Die Frauen gingen von einem zum anderen, kaum einer bedankte sich.

Catolis zählte zwei Dutzend Lagerfeuer rund um den Burgwall. In einer Entfernung von vielleicht dreihundert Fuß umgaben sie ihn wie ein Ring. Die Tarkaner hatten angefangen, Zelte aus Lederplanen aufzubauen. Der Wind wehte die Stimmen der Belagerer auf die Mauerkrone. Es roch nach gebratenem Fleisch. Unter dem Mantel über ihrer Brust hielt die Magierin den Ring im zusammengeknüllten Kleiderstoff fest, um ihn von den Brandnarben auf ihren Brüsten fernzuhalten.

Etwa alle dreißig Schritte wachte ein Verteidiger auf dem kreisrunden Wall. Dessen Länge schätzte Catolis etwa auf zwei Drittel einer Meile, denn das Burgwalldorf durchmaß sicher neunhundert Fuß. Nicht einfach zu verteidigen mit kaum sechzig kampffähigen Männern und Halbwüchsigen. Catolis vermutete, dass morgen auch die Frauen auf dem Wall antreten mussten. Sie hatte wenig Hoffnung für die eingeschlossenen Flüchtlinge und Dörfler.

Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, den Menschen hier bei der Verteidigung ihres Lebens zu helfen, und dem Entschluss, sich um keinen Preis als Magierin zu verraten, schloss sie unter dem Mantel die Faust um Kleiderstoff und Mondsteinring. Was sollte sie tun, wenn es ernst wurde? Und es würde ernst werden; bitterernst – sie kannte doch die Krieger von den Tausend Inseln.

Die Edelfrau aus Baldor stand Arm in Arm mit den weinenden Witwen und Waisen unter den baldorischen Schwertträgern auf dem Wehrgang. Sie hatte ihren Kopf mit einem schwarzen Tuch verhüllt, fürchtete wohl, von den Tarkanern erkannt zu werden. Catolis hörte, wie sie zischte und murmelte, verstand aber kaum ein Wort. Nur am Tonfall erkannte sie, dass sie die Krieger aus Tarkatan verfluchte.

Irgendjemand rief nach der Edelfrau, und Catolis prägte sich ihren Namen ein: Hanulin.

Einige Männer verlangten nach Früchten und Bier. Vier Frauen stiegen von der Treppe und liefen zu einem Stallgebäude neben dem Tor. Dort, bei den hirschartigen Reittieren der Dörfler, hatten Catolis und einige Baldoren auch ihre Wakudos untergestellt. Die Magierin folgte den Frauen vom Wall in die Ställe und darin in Schächte unter Falltüren.

Unter dem Stallboden lagen einige Vorratskammern, in denen Wurzeln, Gemüse, Korn und Früchte für den Winter eingelagert waren. In einer Kammer hingen ballonförmige Schläuche an Haken von der Decke – mit Bier gefüllte Tierblasen.

Die Frauen füllten Krüge mit dem Gebräu und Schüsseln mit Früchten und kehrten mit beidem auf die Mauern zurück. Catolis merkte sich die Lage der Falltüren, hielt sich etwas abseits und blieb im Stall zurück. Die Frauen achteten nicht auf sie, schlossen die Stalltür. Neben ihrem Reitbüffel wickelte sie sich in ihren Mantel und ein Fell und streckte sich im Stroh zum Ruhen aus.

Aufmerksam lauschte sie den Stimmen und Schritten draußen auf dem Burgwall und in der Gasse vor der Stallung. Sobald die Frauen ins Versammlungshaus zurückgekehrt und der erste Wachwechsel vorüber war, wollte sie in die Kammern hinabsteigen, die Falltür über sich schließen und ins ERSTE MORGENLICHT tauchen. Sie musste es tun, ihr Geist spürte es deutlich, und die Hitze des Ringes pulsierte immer heftiger; der sie rief, schien es dringend zu meinen.

Wenn die Tarkaner tatsächlich stürmen würden, während sie unter dem Stall ins ERSTE MORGENLICHT eintauchte, würde der bloße Schimmer durch irgendeine Fuge in der Falltür ausreichen, um sie in die Flucht zu schlagen. Die Insulaner kannten das magische Licht, beinahe alle; und sie wussten um seine mörderische Wirkung.

Catolis lauschte den gedämpften Stimmen draußen in der Nacht. Manchmal flogen herausgebrüllte Beschimpfungen zwischen den Tarkanern im Belagerungsring und den Verteidigern auf dem Burgwall hin und her. Doch nach und nach wurde es ruhiger. Irgendwann verstummte auch die letzte menschliche Stimme. Dafür stimmte ein Nachtvogel sein Lied an. Catolis lauschte ihm. Ihr Kopf wurde schwer, wohlige Müdigkeit strömte durch ihre Glieder.

Die Konturen einer Gestalt schälten sich plötzlich aus der Dunkelheit. Der Wakudo blökte grunzend, wiegte den Schädel hin und her. Die kleine Gestalt blieb vor Catolis’ Lager stehen. Wie gefesselt lag die Magierin, ganz still; Schrecken lähmte sie. Wer bist du?, wollte sie den Fremden fragen, doch kein Ton kam über ihre Lippen.

Matter Lichtschimmer lag auf einmal über Wakudo, Catolis und dem Unbekannten. Eine Fackel? Oder ging der Lichtschein von der greisenhaften und verkrümmten Gestalt aus, die neben dem Büffel vor ihrem Lager stand? Doch wie hätte das geschehen können?

Der uralte Mann betrachtete sie aufmerksam. Sein Schädel war vollkommen kahl, sein schmales Gesicht knochig und hohlwangig. Langes weißes Haar rahmte es ein, und seine grau-schwarze Haut sah aus wie schmutziges Elfenbein, in das jemand tausend Zeichen geschnitzt hatte.

Nie zuvor hatte Catolis einen ähnlich hässlichen Menschen gesehen.

Ein Dörfler? Ein baldorischer Flüchtling? Seine Augen funkelten rötlich. Zwergenhaft und dürr erschien er ihr; verwachsen und bucklig kam er Catolis vor. Er steckte in einem schmutzigen, grauen Ledermantel, der ihm viel zu groß war und bis zu den nackten Zehen hinab reichte. Der Dorfnarr? Ein Wahnsinniger?

Der Uralte rührte sich nicht, stand einfach da und schaute sie an. Die knochige Rechte hatte er dem Wakudo hingestreckt. Der leckte sie hingebungsvoll ab.

Wieder versuchte Catolis, sich zu bewegen, zu sprechen, doch wieder vergeblich. Der Lichtschimmer wurde schwächer. Sie schloss die Augen, tastete nach dem Geist des Mannes. Es gelang ihr nicht. Sie riss die Augen auf – der Lichtschimmer war erloschen, die Gestalt vor ihrem Lager verschwunden.