Kampf der Könige - Michael Peinkofer - E-Book

Kampf der Könige E-Book

Michael Peinkofer

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Beschreibung

Mit »Die Könige« führte Michael Peinkofer seine Leser in die düstere Ära der Geschichte des Kontinents Erdwelt. Nun kehren die Helden um den Krieger Dag und seine Gefährtin Aryanwen zurück, um die nächste Schlacht zu schlagen: Das Reich ist zersplittert. Alchemisten betreiben dunkle Magie, und die Stadt Tirgas Winmar erzittert unter der Schreckensherrschaft des Dunklen Königs. Dag und Aryanwen ziehen durch das Land auf der Suche nach ihrem Kind, das sie einst den Orks Balbok und Rammar anvertrauten. Doch vor ihnen liegt nicht nur ein gefahrvoller Weg, sondern auch das finsterste Geheimnis Erdwelts ...

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ISBN 978-3-492-96787-7

© Piper Verlag GmbH, München 2014 Covergestaltung: Animagic, Bielefeld Covermotiv: © Dirk Schulz, Bielefeld Karte: Daniel Ernle Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Cover & Impressum

Karte

Dramatis Personae

Prolog

Buch I

1. Kapitel: »Schattendrachen!« Der Warnruf …

2. Kapitel: »Sie kommt.« Der …

3. Kapitel: Es war eine …

4. Kapitel: Der heisere Kriegsschrei …

Zwischengesang: Daghans Klagelied

5. Kapitel: »Vorschläge?« Bertin blickte …

6. Kapitel: Da waren sie …

Zwischengesang: Vigors Weise

7. Kapitel: Der Pfad führte …

8. Kapitel: Es war das …

9. Kapitel: Als Dwethan zu …

10. Kapitel: Die Geräusche, die …

11. Kapitel: Dag kam zu …

12. Kapitel: »Folgt mir, alter …

13. Kapitel: »Los doch!«, drängte …

Zwischengesang: Catrionas Lied

14. Kapitel: »Es dauerte noch …

15. Kapitel: »Scheiffe, tut daf …

16. Kapitel: Sie hatten sich …

Buch II

1. Kapitel: »Was für eine …

2. Kapitel: Sie waren den …

3. Kapitel: Die Augen des …

4. Kapitel: »Ich hoffe, das …

5. Kapitel: Dag hätte es …

6. Kapitel: »Nein! Verdammt noch …

7. Kapitel: Es gab tatsächlich …

8. Kapitel: Es war Nacht …

9. Kapitel: Bertins Gesichtszüge waren …

10. Kapitel: Sie brauchten einige …

11. Kapitel: Den Nordwall hatten …

12. Kapitel: Es war gewiss …

13. Kapitel: Keiner von ihnen …

14. Kapitel: »Das soll ein …

15. Kapitel: Sein Name war …

16. Kapitel: »Zum Angriff!« Dag …

17. Kapitel: Vigor hatte ihnen …

18. Kapitel: Dwethan schien sich …

19. Kapitel: »Komm.« Vigor hatte …

20. Kapitel: Die Entscheidung war …

21. Kapitel: Vigor war aufgesprungen.

22. Kapitel: Dado wusste nicht, …

23. Kapitel: »Daghan? Kannst du …

24. Kapitel: Dado war einigermaßen …

Buch III

1. Kapitel: Vor acht Tagen …

2. Kapitel: Der Anblick war …

3. Kapitel: Der Abschied lag …

4. Kapitel: Als Alured erwachte, …

5. Kapitel: »Gnomen!« Catrionas Ruf …

6. Kapitel: Aryanwen hielt die …

7. Kapitel: Es war später …

8. Kapitel: Die Dämmerung hatte …

9. Kapitel: Alured musste mehrmals …

10. Kapitel: »Dwethan! Der Kristall! …

11. Kapitel: Als Bertin die …

12. Kapitel: Nagaya. Als Dado …

13. Kapitel: »Es ist also …

14. Kapitel: Sie hatten alle …

15. Kapitel: Sie waren noch …

16. Kapitel: Drei Tage nach …

17. Kapitel: Die Ungewissheit endete …

18. Kapitel: Das Tor der …

19. Kapitel: Das Verderben schwebte …

20. Kapitel: »Dort ist es! …

21. Kapitel: Als das Seil …

22. Kapitel: Chaos war ausgebrochen.

23. Kapitel: Dag spürte die …

24. Kapitel: Wie unbegreiflich das …

25. Kapitel: Der Stollen Zor, …

26. Kapitel: Der Augenblick war …

27. Kapitel: Mehr als ein …

Epilog

ADYSHAN – DIE GEHEIME SPRACHE

Anhang A

Anhang B

Anmerkungen

Guide

 

Dramatis Personae

Menschen

Daghan, genannt Dag

Herzog von Ansun

Aryanwen

Königin von Tirgaslan

Alur ed

Vertrauter Dags

Gladwyn

Krieger Ansuns

Henquist

ein Veteran

Anghas Ca’Dur

Clansherr, Lord von Tarnag

Catriona Ca’Dur

seine Tochter

Ferghas Ca’Dur

sein Bruder

Yorus Ca’Gor

Clansherr, Lord des Südens

Niall Ca’Bra

Clansherr, Lord des Purpurclans

Dugay

Clansmann

Ringelschwanz

Sklavenhändler

Gunan

Anführer der Nordmänner

Suvat Ramil

ein Junge aus Tirgas Winmar

Zwerge

 

Vigor

ein Verstoßener

Bertin Zwergenhammer

ein Freiheitskämpfer

Dado

dessen Freund

Runward Eisenherz

ein Waffenschmied

Waldrada

eine Kriegerin

Dankrad Steinhag

ein Krieger

Crodegang

Oberpriester des Schattenkults

Orks

 

Rammar

ein Krieger

Balbok

sein Bruder

Kurok

ein Medizinmann

Alchemisten und Zauberkundige

Dwethan

ein alter Druide

Lord Ansgar

Meister der Alchemisten

Seumas

Druide und Zeremonienmeister

Lyrx

ein Wechselbalg

Nagaya

ein Wesen aus alter Zeit

Prolog

Dag merkte, wie die Luft aus seinen Lungen gepresst wurde, als das Luftschiff plötzlich an Höhe verlor.

Er hörte die Rufe seiner Kameraden, ihre hektischen Schritte auf den Trittbrettern – ebenso, wie er die markerschütternden Schreie der Bestien vernahm, die aus den grauen Wolken herabstürzten, bereit, jeden Feind mit ihren schwarzen Klauen zu zerreißen.

Dag wusste, dass es keine Gegenwehr gab.

Sie hatten sich mit allem zur Wehr gesetzt, das ihnen geblieben war, doch nun gab es kein Entrinnen mehr. Die Schattenbestien waren zu stark geworden. Einer der Ihren hatte im Kampf gegen sie bereits sein Leben verloren. Nun wollten die schrecklichen Kreaturen auch noch den Rest der Gefährten vernichten, um sie an ihrem Vorhaben zu hindern – und Dag und seine Leute hatten den Angreifern nichts mehr entgegenzusetzen.

»Dwethan!«, brüllte Dag den Namen seines Mentors, doch der Alte antwortete nicht. Stattdessen flirrten Pfeile von Bogensehnen und flogen durch die kalte Luft – ob sie ihr Ziel erreichten, wusste Dag nicht zu sagen.

Auch ohne sehen zu können wusste er um den Abgrund, der unter ihnen klaffte, ein Loch aus teeriger Schwärze, das den einzigen Ausweg zu bieten schien. Und doch war das, was sie dort in der Tiefe erwartete, womöglich schlimmer als alle Schattendrachen zusammen.

Der Urgrund des Bösen …

»Spring!«, schrie irgendjemand und drückte ihm ein Seil in die Hand. Dag fühlte den rauen Hanf in seinen Händen, während er bereits hören konnte, wie sich die ersten Gefährten über die Reling stürzten, ihre Kampfesrufe, mit denen sie sich selbst Mut zu machen versuchten, verloren sich in der Tiefe.

Wieder ein grässlicher Schrei – die Schattendrachen waren ganz nah! Dag konnte ihre dunkle Aura fühlen, roch den Odem des Todes, der ihnen stets vorauseilte.

Er wusste, dass es keinen anderen Ausweg gab.

Die Entscheidung war längst gefallen.

Er schlüpfte in die Schlinge, die das Seil formte, dann kletterte er auf die Bordwand, und obwohl er mit den Augen ohnehin nichts sehen konnte, ertappte er sich dabei, dass er sie fest zukniff.

»Jetzt!«, schrie jemand neben ihm.

Und indem er das Seil mit beiden Händen umklammerte, so als wäre es nicht nur ein Stück Hanf, sondern sein nacktes Leben, ließ er sich nach vorn in den bodenlosen Abgrund fallen, nur einen Herzschlag, ehe die schwarzen Klauen die Blase des Luftschiffs zerfetzten.

Dag spürte, wie er fiel.

Zukunft und Gegenwart wurden eins.

Der Tag der Entscheidung war gekommen.

Und während er in die bodenlose Schwärze stürzte, rasten Dags Gedanken zurück in die Vergangenheit, zu jenem Tag, an dem all dies seinen Anfang genommen hatte …

1

Zwei Monde zuvor

Schattendrachen!«

Der Warnruf scholl über das flache Grasland.

Die vier Männer und die Frau, die sich im Gänsemarsch durch das wogende Meer der gelbgrünen Halme bewegt hatten, warfen sich augenblicklich zu Boden – doch die beiden grässlichen Kreaturen, die unvermittelt am grauen Himmel aufgetaucht waren, hatten sie bereits erspäht.

Unter markerschütterndem Geschrei, die weiten Schwingen ausgebreitet, stießen sie herab, bereit, sich mit ihren mörderischen Klauen auf alles zu stürzen, was sich am Boden bewegte – doch die Wanderer waren nicht so wehrlos, wie es den Anschein haben mochte.

»Wartet«, zischte der alte Mann mit dem verwilderten schwarzgrauen Haar, das ihm bis über die Schultern hing. Der Blick seiner dunklen Augen war zum Himmel gerichtet, seine knochige Rechte umfasste den Wanderstab aus Lindenholz wie eine Waffe. »Wartet ab«, schärfte er seinen Gefährten ein, die sich neben ihm im hohen Gras duckten. »Bis ich das Kommando gebe!«

Die Kreaturen näherten sich.

Wer sie aus der Ferne sah, hätte sie für schwarzen Rauch halten mögen, dem eine Laune der Natur zufällig Form und Kontur gegeben hatte, doch sie waren ungleich mehr als das. Denn mit jedem Schrei, den sie ausstießen, und mit jedem Flügelschlag wuchs ihre körperliche Präsenz.

Die Aura des Todes, die ihnen vorauseilte, stülpte sich über die Wanderer wie ein dunkler Sack. Sie verfinsterte die fahle Scheibe der Sonne, machte den Tag zur Nacht und ließ das Gras verfaulen. Maden und Würmer wanden sich auf dem Boden, der Odem von Fäulnis und Verwesung breitete sich aus, Furcht griff mit klammer Hand nach den Herzen der Wanderer.

»Jetzt!«, schrie der Alte.

Die Pfeile schnellten von den Sehnen.

Steil stiegen sie in den Himmel und fanden ihr Ziel, durchbohrten schwarze Reptilienhaut, doch für die Ungetüme schienen es nur Nadelstiche zu sein. Einen Lidschlag später waren die Bestien heran und hätten die Wanderer mit ihren Klauen zerfetzt, hätte sich ihnen nicht etwas in den Weg gestellt.

Die Erkenntnis, dass die Pfeile nur der Ablenkung gedient hatten, dass sie nur dazu da gewesen waren, den Zorn der Schattendrachen auf sich zu ziehen, kam den grässlichen Kreaturen vermutlich nie – sie waren nur tumbe Diener, vom bösen Willen eines anderen gelenkt. Der Schlag, der sie traf, war so gewaltig, dass er einen von ihnen auf der Stelle zerschmetterte.

Der Kampfschrei des Schattendrachen endete jäh, als sein Angriff nur wenige Mannslängen über dem Boden abgefangen wurde. Die Kreatur schlug mit den Flügeln, als versuchte sie, einer unsichtbaren Fessel zu entfliehen, dann schien etwas sie zu packen und in der Luft zusammenzupressen. Ihre Flügel wurden gebrochen, ihr schlanker Körper zerquetscht. Dann jagte ein Lichtblitz zum Himmel, der die Kreatur einhüllte und verzehrte.

Auch der andere Schattendrache wurde von der unsichtbaren Faust getroffen, dem Blitz jedoch entging er knapp. Er schlug zu Boden, nur um sich sogleich wieder zu erheben und sich mit weit aufgerissenem, stinkendem Schlund auf die Wanderer zu stürzen. Erneut flogen Pfeile, dann wurden die Klingen aus ihren Scheiden gerissen.

Fauchend griff die Bestie an, ihr mörderischer, zackenbewehrter Schwanz wischte heran. Einer der Männer wurde getroffen und von den Beinen gerissen. Rücklings landete er auf dem Boden, die Augen vor Entsetzen aufgerissen, während der Schattendrache über ihm emporwuchs, bereit, ihn zu zermalmen. Doch schon waren die Gefährten des Verwundeten zur Stelle, allen voran ein junger Mann, der die Augen verbunden hatte – blind war er dennoch nicht. Er hatte gelernt, auf andere Weise zu sehen, durch Bilder, die sein Gehör und sein Geruchssinn ihm offenbarten, aber auch durch ein Empfinden, das weit jenseits gewöhnlicher Sinneseindrücke lag.

Sein Schwert beidhändig umklammernd, stürzte er sich auf die Kreatur, um sie von dem wehrlosen Kameraden abzulenken. Mit blitzschnellen Bewegungen brachte er ihr zwei Schnittwunden bei, ehe das grässliche, zackenbewehrte Haupt mit den glutrot leuchtenden Augen zurückpendelte und nach ihm schnappte. Gleichzeitig war ein heiseres Zischen zu hören, als das Schattenwesen die kalte Luft einsog, um Tod und Verderben aus seinem Pestrachen zu speien – doch dazu kam es nicht.

Ein weiterer, gleißender Blitz zuckte heran und fuhr in den Schlund der Kreatur, die heiser aufschrie.

»Jetzt!«, brüllten die Gefährten und stürzten sich gleichzeitig auf die riesenhafte Bestie, stießen ihre Klingen bis zum Heft in ihren Leib.

Schwarzer Lebenssaft quoll hervor, wo die Klingen wieder herausgerissen wurden. Der Schattendrache bäumte sich auf, schlug mit den Flügeln, als könnte er so seinem Schicksal entgehen – aber es war zu spät. Ein mächtiger Axthieb zertrümmerte seinen linken Flügel, dann schwirrte eine Schwertklinge heran und durchtrennte seinen Hals. Das Haupt fiel auf den von Fäulnis durchdrungenen Boden, wo es kullernd liegen blieb. Das Leuchten in den Augen erlosch – und schließlich starb, was schon seit Äonen hätte tot sein sollen.

»Verdammt, Druide«, rief einer der Männer, ein ergrauter Hüne mit fast kahlem Haupt und dafür umso üppigerem Bart, »Ihr habt Euch Zeit gelassen!«

»Nicht alles liegt in meiner Macht, mein guter Henquist«, versicherte der Alte, der so entkräftet war, dass er sich auf seinen Stab stützen musste. »Diesen Kreaturen standzuhalten, wird von Tag zu Tag schwerer. Einst waren sie nichts als Schatten, die sich nur des Nachts fortbewegen konnten – nun sind sie im hellen Tageslicht unterwegs, und ihre Stärke wächst beständig. Nur einen konnte ich sogleich vernichten, für den anderen haben meine Kräfte nicht mehr ausgereicht.«

»Aye, Druide, grämt Euch nicht«, knurrte ein anderer, der die derbe Kleidung und lederne Rüstung eines Hochländers trug. Sein ergrautes Haar war schulterlang und zum Zopf gebunden, sein Blick klar und direkt, beinahe stechend. »Wir sind auch so mit dem Vieh fertiggeworden.« Wie um seine Worte zu bestätigen, ließ er seine Axt noch einmal niedergehen und senkte sie in den Kadaver.

»Das darf uns kein rechter Trost sein, tapferer Ferghas.« Der Alte schüttelte den Kopf. »In den vergangenen Wochen sind wir mehr von diesen Kreaturen begegnet als all den Monden zuvor. Ihre Macht wächst.«

»Dann sollten wir zusehen, dass wir weiterkommen«, drängte Daghan von Ansun, der Mann mit der Augenbinde. Er hatte sich von dem Kadaver abgewandt, der bereits begann, zu zerfallen, und war zu der Frau getreten, die die Gruppe begleitete. Wie Daghan und der Druide trug sie grüne Waldläuferkleidung, die sie den Blicken neugieriger Beobachter entziehen sollte. Und wie die Männer hatte auch sie ihr Schwert gezogen, bereit, ihr Leben teuer zu verkaufen. Sie war von ruhiger Schönheit, mit grünen, an ihr elfisches Erbe gemahnenden Augen und langem schwarzem Haar, das sie zu einem Zopf geflochten hatte. Ihre einstmals vornehm blassen Züge waren sonnengebräunt und von anhaltender Strapaze gezeichnet. Dennoch stand eiserne Entschlossenheit darin zu lesen.

Ihr Name war Aryanwen, und sie war die rechtmäßige Erbin des Throns von Tirgaslan. Doch in diesen Tagen spielte das keine Rolle. Die Machtverhältnisse in Erdwelt hatten sich geändert – und mit ihnen auch die Dinge, die wichtig waren.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Dag und drehte den Kopf in ihre Richtung.

»Ja«, versicherte sie, aber dem Beben in ihrer Stimme war zu entnehmen, dass das nur die halbe Wahrheit war. Nur mit Mühe konnte sie die Tränen zurückhalten.

»Die Biester sind tot«, versicherte Dag. »Sie können uns nichts mehr anhaben.«

»Das ist es nicht, und das weißt du auch«, widersprach sie. »An die ständige Bedrohung durch die Schattendrachen habe ich mich gewöhnt. Aber jedes Mal, wenn sie uns angreifen, habe ich schreckliche Angst, dass … dass …« Sie unterbrach sich, wollte die Worte nicht aussprechen.

»Dass wir unsere Suche womöglich nie zu Ende bringen werden«, fügte Dag hinzu.

Er konnte nicht sehen, wie sie nickte, aber sie kannten einander so lange und gut, dass das auch nicht nötig war.

Schon damals, als der Krieg zwischen den Menschenreichen Tirgaslan und Ansun getobt hatte, war es ihre Liebe gewesen, die alle Gegensätze überbrückt und die einstigen Feinde zusammengeführt hatte, damit sie sich gemeinsam der Bedrohung durch die Zwerge entgegenstellten. Und als die Menschen den Krieg verloren hatten und der Zwergenkönig Winmar durch Verrat und dunklen Zauber triumphierte, hatte ihnen dieser unlösbare Bund Mut und Hoffnung gegeben. Nie hatte ihre Liebe in Zweifel gestanden, selbst dann nicht, als Aryanwen nach dem Tod ihres Vaters Tandelor dem Marionettenkönig Lavan zur Frau gegeben worden war, und als Dag, der einzige Sohn Herzog Osberts von Ansun, nicht nur seines Titels und Besitzes, sondern auch seines Augenlichts beraubt worden war und sich in den östlichen Wäldern verkrochen hatte, in Selbstmitleid und Verzweiflung versunken. Dort hatte Dwethan ihn schließlich gefunden, der alte Druide, und ihm die Augen für die Wahrheit geöffnet.[1]

Doch das lag lange zurück.

Zwei Sommer und zwei Winter waren seither vergangen, in denen Dag und Aryanwen alles darangesetzt hatten, das Kostbare wiederzufinden, das ihnen genommen worden war. Nur für kurze Zeit war es Aryanwen vergönnt gewesen, ihr neugeborenes Kind in den Armen zu halten, jenes winzig kleine und doch so lebendige Wesen, dem vom ersten Atemzug an ihre ganze Liebe gehört hatte.

Ihre gemeinsame Tochter … Alannah.

Vor die Wahl gestellt, ihr Kind in tödliche Gefahr zu bringen oder sich von ihm zu trennen, hatte sich Arynwen für Letzteres entscheiden müssen. In höchster Bedrängnis hatte sie Alannah zwei Gestalten anvertraut, die von allen Kreaturen Erdwelts wohl am ungeeignetsten waren, um für ein Menschenkind zu sorgen: den Orks Balbok und Rammar.

In ihrer Verzweiflung und dem womöglich völlig unberechtigten Vertrauen darauf, dass die beiden halten würden, was die Geschichtsbücher über sie behaupteten, hatte Aryanwen ihnen ihr Kind geben müssen – und diese Entscheidung hatte sich bitter gerächt. Denn die Orks hatten Alannah nie in die Hügellande gebracht, wie es vereinbart gewesen war. Jedenfalls waren sie dort niemals angekommen. Oder an sonst einem Ort, von dem eine Nachricht zu ihr hätte dringen können.

Entweder, ihnen war unterwegs etwas zugestoßen und sie waren dem Angriff eines Schattendrachen oder einer Kaldrone zum Opfer gefallen. Oder aber – und darin lag Aryanwens letzte, leise Hoffnung – die Orks hatten einen anderen Weg eingeschlagen.

Zwar konnte sie sich keinen vernünftigen Grund dafür denken, jedoch waren Balbok und Rammar, wie sie stets behaupteten, zwei Orks aus echtem Tod und Horn, und das bedeutete, dass sie nicht nur die ihrem Volk eigene Schlichtheit, sondern auch dessen Sturheit besaßen.

Anfangs war Aryanwen noch guter Dinge gewesen, dass sie die Orks noch einholen und das Kind rasch zurückbekommen würden. Doch jeder volle Mond, der verstrich, ohne dass sie die kleine Alannah wieder in ihren Armen hielt, hatte an ihrer Zuversicht genagt, und längst war es die Furcht, die alles überwog.

Nachdem sie die Hügellande abgesucht hatten, ohne auch nur auf einen Klauenabdruck der beiden Orks zu stoßen, hatten sie sich nach Osten gewandt. Die Städte der Menschen, von Arquat bis Suquat und von Girnag bis Suln, hatten sie ebenso aufgesucht wie Dags Heimatstadt Andaril, die inzwischen fest in der Hand der Zwerge war. Von der kleinen Alannah jedoch fehlte jede Spur.

Also hatten sie ihre anstrengende Suche noch weiter ausgedehnt, hatten sich die Siedlungen im Süden vorgenommen und den Wald von Trowna bis an die Gestade des Meeres; wann immer sich ein Hinweis ergeben hatte, waren sie ihm gefolgt, doch am Ende hatte sich alles als Irrweg erwiesen.

Schließlich hatten sie sich nach Norden gewandt und die weite Ebene von Scaria durchkämmt, die durch den Krieg zwischen Menschen und Zwergen zum Ödland geworden war. Die Felder waren verwüstet; Tod und Pestilenz herrschten, wo Äcker einst reiche Frucht getragen hatten; Schattendrachen und plündernde Orksöldner, die keinen Herren mehr hatten, verbreiteten Angst und Schrecken. Nur Tirgaslan, die alte Königsstadt, hatte noch Bestand; nach dem Tod König Lavans war dort ein Statthalter des Zwergenkönigs an die Macht gelangt, der über den riesigen steinernen Moloch herrschte. Daran, dass es ihr Recht gewesen wäre, den Thron von Tirgaslan zu besteigen, dachte Aryanwen nicht. Ihre Gedanken galten allein ihrem Kind, das sie seit mehr als zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte und dessen Antlitz ihr ständig vor Augen war, davon abgesehen, dass es heute ganz anders aussehen würde. Wenn es noch lebte.

»Verdammte Biester.« Henquist trat mit dem Fuß gegen den Kadaver. »Was treiben sie so weit im Westen?«

»Die Schattendrachen sind die Augen unseres Feindes«, entgegnete der alte Dwethan düster. »Und sie suchen dasselbe wie wir. Winmar weiß, dass euer gemeinsames Kind der Erbe der Menschenreiche ist – und dass es ihm eines Tages gefährlich werden könnte. Also lässt er seine Schergen danach suchen.«

»Er darf Alannah nicht vor uns finden«, erinnerte Aryanwen ihn, wie so oft zuvor. »Auf keinen Fall.«

»Wenn es überhaupt noch etwas zu finden gibt«, knurrte Henquist mürrisch, um gleich darauf ein halblautes »Verzeiht, Königin«, hinterherzuschicken.

»Nenn mich nicht so. Du weißt, dass ich keine Königin mehr bin. Und streng genommen war ich es nie.«

»Für mich werdet Ihr immer eine Königin sein«, beharrte Henquist. »So wie ich jederzeit mein Leben opfern würde, um Euch oder den jungen Herzog zu retten. Aber unsere Suche währt nun bereits zwei Sommer, und ich frage mich ob wir nicht …«

»Aufgeben sollten?« Aryanwen sah ihn unverwandt an.

»In all der Zeit haben wir nichts gefunden«, gab der Kämpe zu bedenken. »Von den beiden Grünhäuten keine Spur, dafür Zerstörung, wohin das Auge blickt. Und diese Kreaturen.« Er stieß abermals mit dem Fuß gegen die jetzt rasch zerfallenden Überreste des Schattendrachen. »Wie lange wollen wir noch so weitermachen?«

»Bis wir entweder tot sind oder gefunden haben, wonach wir suchen«, antwortete Dag an Aryanwens Stelle.

»Fünf von uns haben diese Suche bereits mit dem Leben bezahlt, Herr! Dugay – tot, von einer Donnerbüchse niedergestreckt. Gladwyn – von einer Kaldrone zermalmt. Der Rest – gestorben an Entbehrung und an vergiftetem Wasser. Der Tod ist wohlfeil in diesen Tagen.«

»Aye.« Ferghas, der leibliche Bruder des Clansfürsten Anghas Ca’Dur, nickte nachdenklich. »Auch ich bin müde«, gestand er. »Meine Glieder schmerzen, und ich habe es satt, ruhelos umherzuwandern. Verzeiht, aber ich möchte endlich wieder nach Hause und die grünen Hügel meiner Heimat sehen …«

»Das kann dir niemand verdenken«, erwiderte Aryanwen. »Aber«, fuhr er fort, »wenn auch nur die geringste Hoffnung besteht, dass Euer Kind noch am Leben ist, würde ich mir lieber die Beine abhacken, als unverrichteter Dinge nach Hause zu gehen. Die Frage ist nur, wie unsere Suche weitergehen soll. Womöglich hat Henquist recht, und die Grünhäute haben das Kind irgendwo zurückgelassen, um sich selbst zu retten – wie können wir dann jemals hoffen, es zu finden? Was meint Ihr, Druide? Ihr wisst doch sonst auch alles.«

»Manches in der Tat«, verbesserte Dwethan, »aber längst nicht alles. Einst vermochte ich die Zukunft zumindest in Teilen vorherzusehen, aber meine Kräfte haben nachgelassen. Durch das Eingreifen der Orks ist das Element des Chaos hinzugekommen, das sich nur schwer voraussehen lässt. Auch ich vermag deshalb nicht zu sagen, was der kleinen Alannah widerfahren ist.«

»Sie ist am Leben«, beharrte Aryanwen leise.

»Aye, das hoffen wir«, räumte Ferghas ein, »vielleicht aber auch nicht. Die Grünhäutigen sind schwer zu durchschauen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Ork aus einer Laune heraus eine Katastrophe vom Zaun bricht.«

Aryanwen nickte. »Dennoch dürfen wir nicht an Balbok und Rammar zweifeln. Unser Kind ist am Leben, irgendwo auf dieser Welt. Das spüre ich.«

»Ich wünschte, ich könnte dasselbe sagen«, gestand Dwethan leise. »Inzwischen sind viele Dinge geschehen, die ich nicht vorhergesehen habe. Die Welt hat sich verändert, und nicht zum Guten.«

»Die Dunkelkeit ist auf dem Vormarsch, das habt Ihr selbst gesagt, Druide«, stimmte Henquist zu. »Sollten wir also nicht lieber heimkehren, um unsere Familien zu beschützen?«

»Diesen Wunsch kann ich gut nachvollziehen«, versicherte Dag. »Meine Familie ist hier, deshalb bin ich am rechten Ort, aber für euch gilt das nicht. Wenn ihr also gehen wollt, steht euch das frei. Ihr habt uns lang und treu gedient, wir stehen tief in eurer Schuld.«

»Und Ihr?«, fragte Henquist. »Was werdet Ihr tun?«

»Weiter nach Westen gehen. Auf die andere Seite des Schwarzgebirges.«

»Ihr … Ihr wollt in die Modermark?«, fragte Henquist unngläubig. »Nachdem wir den Schattendrachen nur mit knapper Not entkommen sind, habt Ihr jetzt vor, in die Modermark zu marschieren? In die angestammte Heimat von allem, was uns Menschen feindlich gesinnt ist?«

»Balbok und Rammar stammen von dort«, stimmte Aryanwen zu. »Vielleicht sind sie in ihre Heimat zurückgekehrt und haben Alannah mitgenommen.«

»Selbst wenn – die Modermark ist auch die Heimat von Gnomen, Trollen und anderen Kreaturen, deren Namen wir noch nicht einmal kennen! Glaubt Ihr im Ernst, dass ein Menschenkind dort überleben kann?«

»Das muss ich wohl«, erklärte Aryanwen mit bebender Stimme.

»Wir zwingen niemanden, mit uns zu kommen«, stellte Dag klar. »Ihr alle habt uns lange begleitet und mehr getan, als wir jemals erwarten konnten. Vielleicht ist es uns bestimmt, von nun an allein zu gehen.«

»Da würdet ihr nicht weit kommen«, war Ferghas überzeugt und schwang seine Axt. »Deine Fertigkeiten in allen Ehren, aber gegen eine Horde wilder Orks hättet ihr allein keine Chance. Ich komme also mit euch – zumal ich meinem Bruder und Clansherrn einen Schwur geleistet habe, wie ihr wisst.«

»Sei’s drum.« Henquist trat ein drittes Mal nach dem Kadaver, der auf unheimliche Weise bereits fast vollständig zerfallen war. Die Natur holte sich innerhalb von Augenblicken zurück, was dunkle Magie ihr über Jahrhunderte vorenthalten hatte. »Ich bin ebenfalls dabei. Ich habe dem Haus Ansun Treue geschworen – ich werde es nicht ausgerechnet jetzt im Stich lassen.«

»Also bleiben wir zusammen.« Dwethan nickte.

»Ihr wirkt darüber nicht überrascht«, stellte Ferghas fest.

»Natürlich nicht – weil es irrig wäre zu glauben, dass wir eine Wahl haben.«

»Was meint Ihr damit?«

»Dass wir gar nichts anderes tun können, als weiter nach diesem Kind zu suchen. Dieses Mädchen, meine Freunde, ist die Zukunft von Erdwelt, wir brauchen es so notwendig wie die Luft zum Atmen. Es trägt das Erbe von Elfen und Menschen in sich und vereint das Blut beider Herrschergeschlechter. Sollte es nicht mehr am Leben sein, so bedeutet es auch für Erdwelt das Ende.«

»Und das heißt?«, fragte Henquist.

»Dass dieselbe Finsternis, die die Schattendrachen hervorbringt, uns alle verschlingen wird«, antwortete der Druide.

2

Sie kommt.«

Der Warnung, die Bertin seinen Leuten zuraunte, hätte es nicht bedurft – das stampfende Geräusch, mit dem sich die Kaldrone ankündigte, war unüberhörbar, ebenso wie das grässliche Zischen, das den Kampfkoloss auf seinem Weg über die Brücke begleitete.

Es war ein Kriegsgerät der ersten Generation – ein kugelförmiges, eisernes Gebilde, das auf kurzen Beinen ging und mechanische Arme hatte, mit denen es eine riesige Axt und einen Hammer schwang. Gesteuert wurde die Kaldrone von einem Zwergenkrieger, der im Inneren der Kugel kauerte und die todbringenden Vorrichtungen lenkte. Ein Gittervisier, das über den breiten Bauch der Kaldrone verlief, sorgte dafür, dass der Steuermann Sicht nach vorn hatte – und war zugleich der verwundbarste Punkt des Kolosses.

Bei den Kaldronen neuester Bauart war das Gitter deshalb durch eine mit Sichtlöchern versehene Panzerplatte ersetzt worden; doch die Kampfmaschinen, die in der Festung Gorta Ruun ihren Dienst versahen, gehörten fast ohne Ausnahme der älteren Baureihe an. Der Grund dafür lag auf der Hand: Winmar, der Herrscher der Zwerge und Menschen, war aus Gorta Ruun abgezogen und residierte jetzt in Tirgas Anar, das er nach sich selbst in »Tirgas Winmnar« umbenannt hatte. Die Kampfmaschinen der neuen Generation hatte er mitgenommen, auf dass sie auch an seinem neuen Herrschersitz Angst und Schrecken verbreiten – die alten hingegen hatte er zurückgelassen. Im Auftrag von Winmars Hofalchemisten, die seither über die Festung herrschten, unterdrückten sie die Bevölkerung – aber es regte sich Widerstand.

Gleich mehrere Rebellengruppen gab es inzwischen, die der Schreckensherrschaft der Alchemisten trotzten. Doch keine war auch nur annähernd so berüchtigt wie jene Bertins.

»Brüder des Zorns« nannten sie sich.

Und diese Bezeichnung hatte sie nicht grundlos gewählt …

Das Stampfen der Kaldrone schwoll an und wurde ohrenbetäubend laut, bei jedem ihrer Schritte fauchte heißer Dampf aus ihren Gelenken. Es musste dieselbe Kaldrone sein, die in Schieferhall, einem der höher gelegenen Bezirke der Stadt, ein furchtbares Blutbad unter der Bevölkerung angerichtet hatte. Und dabei hatten die Leute dort nur zu fragen gewagt, wann sie endlich wieder Brot zu essen bekämen. Die riesige Axt, an der noch trockenes Blut klebte, verriet, welche Antwort die Kaldrone ihnen gegeben hatte.

»Nur weiter«, knurrte Bertin in seinen Bart, der inzwischen bis zum Kinn reichte und sein blasses Gesicht zur Hälfte bedeckte. »Nur noch ein kleines Stück weiter …«

Vorsichtig spähte er über den Rand des Felsblocks. Dado auf der linken Flanke war bereit zum Losschlagen, ebenso wie Runward Eisenherz, der die andere Seite übernommen hatte. Obwohl Runward älter war als Bertin und seinen Bart bereits geflochten trug, akzeptierte er ihn als Anführer, ebenso wie all die anderen, die sich seiner Gruppe angeschlossen hatten. »Bertin Zwergenhammer« nannten sie ihn, nach dem Werkzeug, das er von seinem Vater, dem Steinmetz Drogo, geerbt hatte. Es trug den Namen Martog und hatte einst dazu gedient, dem Fels der Berge unsterbliche Kunstwerke zu entlocken – nun schlug der Hammer die Schädel jener ein, die das Volk grausam unterdrückten. Auf diese Weise war er zum Symbol des Widerstands gegen König Winmar und seine Alchemistenbrut geworden.

Aber Martog war nicht die einzige Waffe, derer sich Bertin bediente. Zwar trug er den Hammer stets bei sich, doch die Donnerbüchse, die er vor zwei Monden bei einem Überfall erbeutet hatte, verrichtete noch weitaus zuverlässigere Dienste. Ein schwarzgraues, hochentzündliches Pulver sorgte dafür, dass Kugeln aus Blei oder Eisen aus dem trichterförmigen Lauf der Donnerbüchse jagten – und beim Gegner entsetzlichen Schaden anrichteten. Das Getöse, das eine solche Waffe veranstaltete, war unbeschreiblich, die Wirkung war es ebenso. Keine Armbrust konnte es an Wucht und Durchschlagskraft mit einer guten Donnerbüchse aufnehmen. Und Bertin hatte gelernt, gut damit zu zielen.

Die Kaldrone war jetzt nah genug heran.

Sie hatte mehr als die Hälfte der Brücke überquert, die sich über den achtzig Schritt breiten Abgrund spannte – und war damit in Reichweite von Bertins Kugeln.

Geladen hatte er die Waffe bereits. Jetzt ging er in Stellung, presste den mit reichen Schnitzereien verzierten Kolben an seine bärtige Wange, hielt die Luft an und zielte.

Gleich, nur noch ein Augenblick …

Jetzt.

Bertins Finger rissen am Abzughebel. Ein Funke, ein Feuerstoß, und die Wucht der Donnerbüchse fuhr ihm in die Schulter. Dazu ein infernalischer Knall, der von der gegenüberliegenden Wand der Schlucht zurückgeworfen wurde – aus dem Trichter war, viel zu schnell für zwergische Augen, ein kantiges Stück Eisen gefegt, zur Brücke hinübergeflogen und durch das Gitter der Kaldrone geschlagen.

Schon wollte Bertin die Arme hochreißen und sich selbst zu diesem Meisterschuss gratulieren, als er begriff, dass die Kaldrone unbeirrt weiterstampfte – geradewegs in das Seil, das quer über die Brücke gespannt war.

Das Geflecht aus Höhlenwurmgedärm, das eigentlich dazu hatte dienen sollen, den Sturz der Kaldrone aufzufangen, spannte sich zum Zerreißen, gab jedoch nicht nach. Und so strauchelte die Kaldrone und kam zu Fall, schlug zu Boden, wo sie, einem feisten Käfer gleich, mit hilflos um sich schlagenden Armen liegen blieb.

»Angriff!«, brüllte Bertin aus Leibeskraft.

Die Büchse warf er sich kurzerhand über die Schulter und griff stattdessen nach Martog, der schon bereitlag. Den Hammer mit beiden Händen umklammernd, setzte er über die Felsen, hinter denen er sich verschanzt hatte, und rannte auf die Brücke zu. Gleichzeitig kamen auch Dado und Runward mit ihren Leuten aus den Verstecken, und alle stürzten sie sich auf die Kaldrone, die vergeblich versuchte, wieder auf die Beine zu kommen.

Der Zusammenstoß war ebenso kurz wie heftig.

Funken stoben, als Äxte und Hämmer der Freiheitskämpfer auf die Waffen des Kampfkolosses trafen, der zwar am Boden lag, jedoch alles andere als wehrlos war. Einer von Bertins Leuten, der so unvorsichtig war, sich der Axt zu nähern, wurde von ihrem Blatt erfasst und enthauptet. Unter fürchterlichem Wutgebrüll stürzten sich seine Gefährten daraufhin auf die waffenstarrenden Gliedmaßen der Kaldrone und schlugen so lange darauf ein, bis sie sie vom Rumpf getrennt hatten.

Dann wälzten sie den Koloss herum und droschen auf das Gitter, bis es aus den Scharnieren brach. Bertin setzte vor, bereit, den Steuermann im Inneren der Kaldrone, der wie durch ein Wunder dem Geschoss der Donnerbüchse entgangen sein musste, mit dem Hammer zu erschlagen.

Doch es kam anders.

Denn in der Kaldrone befand sich kein Zwerg aus Fleisch und Blut – sondern nur ein Schatten.

Eine Kreatur, die zwar die Umrisse und Formen eines Zwergenkriegers besaß, jedoch kein Gesicht hatte. Schwärze klaffte dort, wo das Antlitz des Mannes hätte sein sollen.

»Was bei den Feuern von Karak Nor …?«

Einen Augenblick lang war Bertin zu entsetzt, um zu reagieren. Dann fielen seine Mundwinkel vor Abscheu nach unten, und er hieb mit dem Hammer zu.

Martog fuhr nieder – den Schattenkrieger traf er jedoch nicht. Denn in dem Augenblick, da der Hammer sie zu berühren drohte, verflüchtigte sich die dunkle Gestalt, wurde zu einem schwarzen Schemen, der aufstieg und davonwehte wie Kaminrauch im Abendwind. Bertin stieß eine Verwünschung aus, Dado und einige andere Zwerge warfen sich erschrocken zu Boden und schirmten die Häupter mit den kurzen Armen. Doch schon Augenblicke später war der Spuk vorbei und die schattenhafte Gestalt verschwunden.

»Was, beim großen Hammer, war das?«, wetterte Runward, der als Erster die Sprache zurückgewann. Sein pechschwarzes Haar hatte er zu einem Schopf gebunden, sein von der Arbeit an der Esse gezeichnetes Gesicht war mit der Rune seiner Familie tätowiert.

»Ich weiß es nicht«, stieß Bertin unter heftigem Herzklopfen hervor, Martog noch immer in seinen Händen haltend. »Aber Kreaturen wie diese sind nicht natürlichen Ursprungs, das steht fest.«

»Elendes Alchemistenpack«, maulte Dankrad Steinhag, ein weiterer Kämpfer aus Bertins Reihen. »Das ist ihr Werk!«

»Ohne Zweifel«, stimmte Bertin grimmig zu. »In all den Jahrhunderten, die unser Volk schon in Gorta Ruun weilt, haben Zauberei und dunkle Magie hier nie etwas zu suchen gehabt. Stets sind wir ehrliche Handwerker gewesen, Schmiede und Steinmetze. Wir haben Bergbau betrieben und Schätze gehortet, haben Waffen geschmiedet und Kriege geführt – aber niemals in all dieser Zeit haben wir dunklem Zauber gefrönt. Bis die Alchemisten kamen.«

»Ansgar und sein elendes Pack.« Runward spuckte aus. »Wie sollen wir sie jemals besiegen, wenn sie jetzt schon vermögen, Krieger aus dem Nichts zu erschaffen? Die nur aus Bosheit und dunklem Rauch bestehen?«

»Ich weiß es nicht, meine Brüder«, gab Bertin offen zu. Ein kalter Schauer durchfuhr ihn dabei.

Seit etwas mehr als zwei Jahren leisteten sie den Alchemisten nun Widerstand, hatten ihnen unzählige Nadelstiche versetzt und sogar manch empfindliche Niederlage beigebracht. Doch in all dieser Zeit hatten sie es stets mit Gegnern aus Fleisch und Blut zu tun gehabt.

Das hatte sich nun offenbar geändert.

Ansgar und seine Brut zeigten ihr wahres Gesicht.

Der Kampf um Gorta Ruun war in eine neue Phase getreten.

3

Es war eine eigentümliche Prozession, die durch die Straßen von Tirgas Anar marschierte.

Tirgas Anar …

Schon den Namen auszusprechen, galt in diesen Tagen als todeswürdiges Verbrechen. Denn seit Winmar der Steinerne, der sich zum König über ganz Erdwelt aufgeschwungen hatte, seinen Herrschersitz von Gorta Ruun auf die andere Seite des Reiches verlagert hatte, hieß die Stadt »Tirgas Winmar«. Wer sie bei ihrem alten Namen nannte, fand seinen Kopf über den hohen Klippen aufgespießt, die südlich der Stadt aus den Wellen der Ostsee aufragten und sie mit einem natürlichen Schutzwall umgaben. »Pfeiler des Todes« waren sie in den alten Tagen genannt worden, und das nicht von ungefähr, denn manche feindliche Flotte war an den schwarzen Klippen zerschellt.

Ein Leben galt nicht viel in diesen Tagen – vor allem dann nicht, wenn es einem Menschen gehörte. Winmar und seine Zwerge hatten eine wahre Schreckensherrschaft in der Stadt errichtet, die sich nach Norden hin eng an die Hänge des Feuerberges schmiegte.

Die Zwerge hatten ihre eigene Geschichte darüber, wie der Feuerberg entstanden war. Am Anbeginn der Zeit, so hieß es, als unzähliger Schmiede Arbeit dafür gesorgt hatte, dass das Feuer im Inneren der Welt eingeschlossen wurde, ließ ein Schmied, den die Überlieferung nur schlicht den »Hammermann« nannte, eine Lücke im Schild der Erde. Dort erhob sich das Feuer aus dem Inneren und formte einen Vulkan, in dessen Tiefen bis zum heutigen Tag flüssiges Gestein in glühenden Pfuhlen brodelte. Und wehe, wenn es an die Oberfläche stieg.

Der letzte Ausbruch des Feuerbergs lag mehr als fünfhundert Jahre zurück. Zur Regierungszeit König Corwyns war dies geschehen[2], als Tirgas Anar schon einmal in Dunkelheit und Chaos versunken war. Nach erbittertem Kampf war die Stadt damals erobert worden. Doch das Böse war zurückgekehrt, wenn auch anders als zuvor.

Was Winmar den Steinernen dazu bewogen hatte, seinen Herrschersitz hierherzuverlegen, konnte Alured nur vermuten. Er musste gute Gründe dafür gehabt haben, denn durch den Umzug hatte sich der Zwergenkönig angreifbar gemacht, wie nicht zuletzt die Seeschlacht an der Engwacht bewiesen hatte. Lavan, der von Winmars Gnaden eingesetzte Marionettenkönig von Tirgas Lan, hatte eine Chance gewittert, seinen Herrn vom Thron zu stoßen. In aller Eile hatte er Schiffe ausgerüstet und Winmars Flotte bei der Insel Olfar aufgelauert. Nicht viel hätte gefehlt, und die Aufständischen hätten den Sieg davongetragen, aber dann hatte sich das Schlachtenglück gewendet und Winmar war entkommen.

Zwei Jahre waren seither vergangen, aber noch immer wusste Alured, der sich als blinder Passagier auf eines von Winmars Schiffen geschlichen hatte, um die Absichten des Zwergenkönigs auszukundschaften, beim besten Willen nicht, was damals wirklich geschehen war. Geflügelte Kreaturen waren aufgetaucht, Schattenwesen wie aus einer anderen Welt und Wirklichkeit, und hatten Lavan und seine Leute in die Flucht geschlagen. Damit war vor aller Welt klar geworden, dass Winmar mit dunklen Mächten im Bunde stand.

Die Niederlage seiner Feinde war vollkommen gewesen, ebenso wie sein Sieg. Als Triumphator war er in Tirgas Anar eingezogen, dessen Bewohner sich ihm bereitwillig unterworfen hatten.

Seit diesem Tag hatte ihn niemand mehr gesehen.

Dennoch war Winmar der Steinerne allgegenwärtig.

Von dem großen Turm aus, der sich hoch über den an den Hängen emporwachsenden Häusern erhob, herrschte er mit eiserner Hand über die Stadt. Furcht hielt die Einwohner gefangen, denn die Schergen des Dunklen Königs, wie man Winmar inzwischen nannte, waren überall. Wer seine Stimme erhob oder auch nur den Eindruck erweckte, kein loyaler Untertan zu sein, verlor die Zunge oder gleich den Kopf. Noch schlimmer jedoch war der Kult, der zusammen mit Winmar Einzug gehalten hatte.

An allen öffentlichen Plätzen der Stadt waren Statuen errichtet worden, die den Zwergenherrscher zeigten. Wer eine solche Statue passierte, war angehalten, niederzuknien und Winmar zu huldigen; wer sich weigerte, verlor das Leben. Nackte Furcht hatte daraufhin um sich gegriffen, genährt von Zwergenpriestern, die durch die Straßen zogen und die Menschen ängstigten. »Diener des Schattens« nannten sie sich und erzählten, dass das Ende der Menschen gekommen sei, wenn sie sich ihnen nicht anschlossen und dem Dunklen König Treue schworen.

Anfangs waren es nur ein paar gewesen, die ihnen folgten, doch dann war die Angst, die in den Straßen herrschte, in puren Fanatismus umgeschlagen. Immer mehr Menschen hatten sich dem Kult der Schatten angeschlossen. In lärmenden Prozessionen zogen sie durch die Stadt, angeführt von Zwergenpriestern, zum Turm hinauf, wo sie dem Dunklen Herrscher huldigten und Opfergaben brachten.

Anfangs waren dies nur materielle Dinge gewesen: Gold, Edelsteine und andere Habe aus dem Besitz der Menschen, die Winmars Schergen bereitwillig entgegengenommen hatten – die ohnehin schon prall gefüllte königliche Schatzkammer musste bereits aus allen Nähten platzen.

Doch dann hatte es geheißen, dass der Dunkle König von den Einwohnern seiner Stadt noch größere Opfer forderte, wenn sie ihn ihrer Loyalität versichern wollten – und er hatte damit begonnen, Menschenleben zu verlangen.

Das Entsetzen unter der Bevölkerung war groß gewesen, aber wiederum nicht so groß wie ihre Furcht. Schon am nächsten Tag hatten sie ihm einen der Ihren ausgeliefert, einen Dieb, der wenige Tage zuvor auf dem Marktplatz gefasst worden war. So hatten sie sich eine Weile lang beholfen und ihrem Herrscher die ungeliebten Kinder der Stadt geschickt. Doch irgendwann waren ihnen die Mörder und Diebe, die Betrüger und Vergewaltiger ausgegangen. Deshalb bestimmte seit einigen Monaten das Los darüber, wer sich opfern, wer den Priestern durch das Tor der Schatten ins Innere von Winmars Turm folgen musste. Was dort mit ihnen geschah, wusste niemand, aber Alured bezweifelte, dass es ein erstrebenswertes Schicksal war.

Mehrmals hatte er erfolglos versucht, sich ins Innere des Turmes zu schleichen, von dem es hieß, dass sich seine Wurzeln bis weit ins Innere des Feuerberges erstreckten; beim letzten Versuch war Alured um ein Haar erwischt worden. Seither versuchte er, sich unauffällig zu verhalten und möglichst unsichtbar zu bleiben – sein ganzes Bestreben war inzwischen darauf gerichtet, aus Tirgas Anar zu entkommen.

In den ersten Tagen, nach Winmars Sieg über König Lavan, als die Zwergenflotte im Hafen von Tirgas Anar angekommen und die ganze Stadt in Aufruhr gewesen war, wäre dies noch ein Leichtes gewesen. Damals aber war Alured geblieben; der Auftrag, den Daghan von Ansun ihm erteilt hatte, lautete, möglichst viel über die Stärke und die Pläne König Winmars herauszufinden, und diese Aufgabe hatte er noch längst nicht erfüllt.

Also war Alured geblieben – ein Entschluss, den er inzwischen bitter bereute.

Denn herausgefunden hatte er nichts, dafür saß er jetzt hier fest, in dieser Stadt, in der Angst und Furcht regierten. Wer hinauswollte, musste es entweder mit den schroffen Hängen des Feuerberges oder den Pfeilern des Todes aufnehmen, vor allem aber mit den Wachen, die die Tore, Mauern und Türme besetzten und jeden töteten, der sich unerlaubt näherte.

Die Schlinge zog sich immer enger um seinen Hals, Alured konnte sie bereits fühlen. Die belebten Viertel der Stadt mied er längst, trieb sich lediglich in den dunklen Ecken herum, und das meist nur nach Einbruch der Dunkelheit. Die Gesellschaft, in der er sich befand, war entsprechend geartet, Gauner, Betrüger und Fremde, die danach trachteten, dem Lostopf zu entgehen. Das wenige Geld, das sie besaßen, saß locker bei diesen Leuten, ebenso wie der Dolch; man lebte das Heute und scherte sich einen Dreck um das, was kommen würde, kannte weder Skrupel noch Mitgefühl. Es war ein täglicher Kampf ums Überleben, den nur überstand, wer stets wachsam war. Entsprechend hatte Alured sich angewöhnt, niemandem zu vertrauen und seinen Aufenthalt stetig zu wechseln; Ruhe fand er nur selten, und auch dann schlief er meist nur für Augenblicke, während seine übrigen Sinne alarmiert blieben und auf der Hut …

So wie jetzt.

Unter dem Vorsprung eines der schindelgedeckten, nach oben gewölbten Dächer, die für die Bauweise dieser Gegend typisch waren, hatte er vor dem Regen Zuflucht gesucht, der am späten Nachmittag eingesetzt hatte. Die umliegenden Dächer lagen hinter grauen Schleiern, in den Schmutzrinnen der steilen Gassen plätscherten Sturzbäche zu Tal. Dennoch suchte sich die Prozession unbeirrt ihren Weg hinauf zum Turm, der spiralförmig war, gewunden wie der Körper einer Schlange. Wer ihn einst errichtet hatte, war nicht bekannt, aber es hieß, dass er alt war.

Sehr alt …

Ein Zwergenpriester ging voraus, eine Laterne in der Hand, die der Dunkelheit und dem Regen trotzte. Gefolgt wurde er von rund fünfzig Sektierern, allesamt Menschen. Ihre Kleider waren bis auf die Haut durchnässt, was ihnen aber gleichgültig zu sein schien. Monoton wiederholten sie den Singsang, den der Zwergenpriester ihnen vorgab, Alured sah den Fanatismus in ihren Augen leuchten.

In ihrer Mitte führten sie einen Karren, der von zwei Ochsen gezogen wurde. Darauf stand, mit Ketten gefesselt, eine junge Frau. Ihr zarter Wuchs, die schmalen Augen und das pechschwarze Haar kennzeichneten sie als Tochter der Stadt. Das graue Hemd, das sie trug, war vom Regen durchnässt und der Stoff dadurch durchsichtig geworden, sodass sie eigentlich nackt auf dem Karren stand. Dennoch strahlte sie eine Ruhe und Würde aus, für die Alured sie bewunderte – und für die er ihre Häscher umso mehr verabscheute.

Instinktiv fühlte er sich an eine andere junge Frau erinnert, die er gekannt hatte.

Und geliebt …

Er wischte den Gedanken sofort wieder beiseite, denn er bereitete ihm nur Schmerz. Wer an diesem Ort überleben wollte, der musste lernen, Gefühle zu verdrängen.

Allein das Überleben zählte.

Dennoch: der Anblick der jungen Frau ließ ihm keine Ruhe.

Von seinem hohen Versteck aus blickte er ihr nach, bis sich der Zug mit dem Karren die Straße hinaufgeschleppt und um eine Biegung verschwunden war. Ein Teil von ihm erwog, den Sektierern zu folgen und den Versuch zu unternehmen, die Gefangene zu befreien, aber er verwarf den Gedanken gleich wieder.

Was für einen Unterschied hätte es gemacht, ein Leben zu retten in dieser Stadt, in der das Böse regierte und die ohnehin vor die Hunde ging?

Auch Alured war abgestumpft, war gleichgültig geworden gegenüber dem Schicksal anderer. Es gefiel ihm nicht, aber es störte ihn auch nicht so sehr, dass er etwas dagegen unternommen hätte. Warum auch? Es war eine weitere wichtige Voraussetzung, wenn man in der Stadt des Dunklen Königs überleben wollte.

Aber warum fühlte er sich dann schlecht deswegen?

Warum regte sich sein Gewissen?

Alured ahnte, dass es nicht so sehr mit der Frau auf dem Karren zusammenhing, sondern mit jener anderen, die er zurückgelassen hatte …

Der Schmerz kehrte zurück, diesmal so heftig, dass er ihn nicht einfach beiseitewischen konnte. Wem versuchte er, sich etwas vorzumachen? Sich selbst? Oder allen anderen?

Er war ein menschliches Wesen, aber diese elenden Zwerge brachten ihn dazu, nach und nach zu einem der Ihren zu werden, innerlich wie äußerlich zu versteinern.

Alured erwog, von seinem hohen Sitz herabzuklettern und eine Spelunke aufzusuchen, die einigermaßen genießbaren Wein ausschenkte. Aber vielleicht gab es auch noch eine andere Möglichkeit …

Vorsichtig erhob er sich auf dem schmalen Balken und beugte sich so weit nach vorn, wie er es riskieren konnte, ohne das Gleichgewicht zu verlieren und in die Gasse zu stürzen. Zwischen Türmen und schiefen Dächern hindurch erheischte er einen Blick auf den Zug der Sektierer.

Und fasste einen Entschluss.

4

Der heisere Kriegsschrei des Orks verstummte jäh.

Dag hörte das hässliche Geräusch, als seine Klinge in den Hals des Unholds fuhr, spürte den Widerstand, als die Klinge auf das Rückgrat traf, und dann das hässlich lapidare Geräusch, mit dem das Haupt des Orks auf dem Boden landete, gefolgt von einem satten Schlag, als der kopflose Torso folgte.

Der Gestank des Unholds und des frischen Orkbluts brannte in Dags Nase, in seinen Schläfen hämmerte wilde Kampfeslust. Den Griff des Schwerts beidhändig umklammernd, fuhr er herum, bereit für den nächsten Gegner. Obwohl er nichts sehen konnte, wusste er genau, was ihn umgab. Er stand auf einer Lichtung, spürte die wärmenden Strahlen der Frühlingssonne im Gesicht. Rings stand der dunkle Wald wie eine unbezwingbare Mauer, dort hatten sich die Orks verborgen, um über die vermeintlich wehrlosen Wanderer herzufallen.

Den Grenzfluss hatten sie überquert, befanden sich jetzt in dem ebenso zerklüfteten wie bewaldeten Niemandsland, hinter dem das Schwarzgebirge wie eine gewaltige Reihe messerscharfer Zähne aufragte. Jenseits davon lag die Modermark, das angestammte Land der Orks und anderer Kreaturen, in das Menschen nur selten einen Fuß setzten – wenn sie es doch taten, hatten sie ihn meist nicht mehr lange.

Ein Geräusch zu seiner Linken ließ Dag herumfahren, aber seine alarmierten Sinne gaben Entwarnung. Es war die beruhigende Aura Dwethans, die er fühlte, auf eine Art und Weise, die er selbst nicht ganz begreifen konnte. Nicht nur, dass der Verlust seines Augenlichts die verbliebenen Sinne geschärft hatte; er hatte darüber hinaus auch die Fähigkeit entwickelt, seine unmittelbare Umgebung zu erahnen …

»Lass es gut sein, Junge«, beschied ihm Dwethan. »Der Kampf ist vorüber, alle sind wohlauf.«

»Ich weiß«, versicherte Dag – auch das gehörte zu den Dingen, die er erspürt hatte.

»Diese Orks haben wohl nicht damit gerechnet, auf so heftige Gegenwehr zu treffen«, stellte der Druide fest. »Zudem waren sie ziemlich abgemagert und entkräftet, sodass sie unseren Klingen nichts entgegenzusetzen hatten.«

»Der Krieg hat damit aufgehört, seine Kinder zu ernähren«, stellte Dag fest, während er seine Klinge am Leichnam des enthaupteten Orks abwischte und dann wieder zurück in die Scheide schob.

»Wir haben einen Gefangenen«, sagte Dwethan. »Vermutlich der Medizinmann des Trupps.«

»Abergläubisches Pack«, knurrte Dag. »Wo ist er?«

»Folge mir.« Dwethan führte ihn zum nahen Waldrand, wo der Gefangene auf dem Boden kauerte, die Hände auf den Rücken gefesselt. Der Weg dorthin war mit unterschiedlichsten Gerüchen gespickt, und keiner davon war angenehm. Überall lagen erschlagene Orks im Gras, Dag musste aufpassen, nicht über sie zu fallen.

Der Gefangene war – wie am Geruch deutlich zu erkennen war – ein ziemlich betagter Ork, was ungewöhnlich war. Orks wurden für gewöhnlich nicht sehr alt, zumal, wenn sie einem Söldnertrupp angehörten. Ihre rauflustige Natur stand dem entgegen. Dieser Ork jedoch schien sich aus allen Kämpfen sorgsam herausgehalten zu haben, was ihm ein langes Leben ermöglicht hatte. Geduldet wurde dies gemeinhin nur, wenn die anderen Orks sich einen Nutzen davon versprachen, was beispielsweise dann der Fall war, wenn jemand in der Heilkunst bewandert war. Die Arbeit eines orkischen Heilers beschränkte sich zwar meist darauf, den Patienten zur Ader zu lassen und dabei dunkle Beschwörungsformeln zu murmeln, aber es war besser als nichts.

»Kannst du mich verstehen?«, fragte Dag den Ork ungehalten.

»Korr«, gurgelte es zurück. Die Amulette um den Hals des Medizinmanns klapperten, als er nickte.

»Und sprichst du auch unsere Sprache.«

»Ja«, kam es einigermaßen verständlich zurück. »Kurok versteht dich, dunn eugash sul’hai.«

»Wie nennst du mich?«

»Dunn eugash sul’hai«, wiederholte der Ork mit leiser, lauernder Stimme. »Bedeuten ›Mann ohne Augen‹. Der bist du doch, oder nicht?«

Dag horchte auf. »Du hast von mir gehört?«

Der Ork kicherte. »Überall im Grenzland man erzählt vom ›Mann ohne Augen‹.«

»Unsinn.«

»Kurok sprechen Wahrheit«, versicherte der Ork.

»Aye«, knurrte Ferghas, »aber erst, wenn ich dir den Schaft meiner Axt zu fressen gebe.«

»Haben Zwerg getroffen, Händler mit Waffen … erzählen von ›Mann ohne Augen‹, der nach zwei Orks sucht. Zwei Brüder.«

»Bei allen Ahnen«, hauchte Aryanwen, bestürzt und hoffnungsvoll zugleich.

»Was weißt du darüber?« Dag verlor die Beherrschung. Er griff dorthin, wo er die Schulterpartie des Orks vermutete, packte ihn am Kragen seines rostigen Kettenhemdes und riss ihn zu sich empor. »Sag mir alles! Sofort!«

»›Mann ohne Augen‹ hat große Kräfte«, säuselte Kurok. »Mächtig, wirklich mächtig …«

»Was weißt du über die beiden?«, herrschte Dag ihn an, die Schmeicheleien überhörend. »Hast du sie getroffen?«

»Wenn Kurok verrät – lässt du ihn dann frei?«

»Nur das nicht«, meinte Henquist. »Sobald wir ihm die Fesseln abnehmen, wird er loslaufen und uns verraten.«

»Kurok kennt niemanden in dieser Gegend«, versicherte der Ork. »Außerdem, ›Mann ohne Augen‹ ist sein Freund …«

»Menschen und Orks sind keine Freunde, das wurde mir immer wieder gesagt«, knurrte Dag. »Außerdem habe ich gute Gründe, jedem Einzelnen von euch die Kehle durchzuschneiden.«

»Nein!«, rief Aryanwen ängstlich, »tu das nicht! Bitte sag uns, was du über die beiden Orkbrüder weißt«, wandte sie sich an den Medizinmann.

»Zwei Orks«, erwiderte dieser. »Einer fett wie Gonz der Fresssack, anderer dürr wie Narkod.«

»Das sind sie«, flüsterte Aryanwen. »Bei den Elfenkönigen, das sind sie.«

»Was weißt du über sie?«, wollte Dag wissen. »Rede, Unhold, oder ich schneide dir die Kehle durch!«

»Dann wird ›Mann ohne Augen‹ nichts mehr erfahren«, konterte der Ork mit entwaffnender Logik.

»Und du bist dann tot.«

Der Ork grunzte. »Wahr.«

»So wie ich es sehe, gibt es zwei Möglichkeiten«, zischte Dag. »Entweder, du lässt gleich heraus, was du weißt, oder ich prügle es aus deinem elenden Kadaver heraus. Hast du mich verstanden?«

»K-korr«, machte der Ork. »Kurok wird reden. Vor einigen Monden wir treffen auf Trupp von Orks … selber Stamm, deshalb nicht töten, sondern reden. Nicht alle Orks im Krieg. Orks ehrenhafte Geschöpfe. Wenn selber Stamm, nicht töten.«

»Schon gut. Und?«

»Erzählen von zwei Orks, denen begegnet, einer fett wie Gonz der Fresssack, anderer dürr wie Narkod.«

»Und hatten sie ein Kind dabei?«, fragte Aryanwen. »Ein Menschenkind? Ein Mädchen?«

Kurok zögerte einen Moment. Dag hatte das Gefühl, zusehen zu können, wie es in den Augen des Orks aufblitzte. »Korr«, sagte er dann. »Woher wissen? Da war ein Menschenkind.«

»Ich warne dich«, zischte Dag. Seine Rechte griff nach dem Dolch, zückte ihn und presste ihn an Kuroks Kehle. »Bleib bei der Wahrheit, oder ich …«

»Kurok spricht die Wahrheit«, versicherte der Ork.

Aryanwen flüsterte einen Dank an ihre Ahnen und die Könige der alten Zeit.

»Kind ist dein Kind?« Der Medizinmann lachte leise. Dag roch seinen stinkenden Atem. »Deins und das von ›Mann ohne Augen‹. Euer armes kleines Kind …«

»Wohin sind die Orks mit dem Kind gegangen?«, stellte Dag die entscheidende Frage. »Weißt du das auch?«

»Der Blutsonne entgegen … zum Modersee.«

»Und das ist die Wahrheit?«

»Warum sollte Kurok lügen?«

»Zum Beispiel, weil er uns tief in die Modermark locken will, wo uns seine grünhäutigen Kumpane den Hals aufschlitzen«, schlug Ferghas vor. »Am Modersee wimmelt es von Orks.«

»Nicht Kuroks Schuld«, versicherte der Medizinmann.

»Vielleicht spricht er tatsächlich die Wahrheit«, ließ sich Dwethan vernehmen, der bislang geschwiegen hatte. »Womöglich haben sich Balbok und Rammar nach Westen gewandt, weil sie sich unter ihresgleichen sicher glaubten.«

»Das könnte sein«, stimmte Aryanwen zu. »Jedenfalls klingt es sehr nach Rammar.«

Dag konnte nicht widersprechen. Einst war er aufgebrochen, um die Unholde kennenzulernen, die in den Büchern der Geschichte als unsterbliche Helden verehrt wurden – nur um festzustellen, dass sie nur allzu sterblich waren, mit allzu sterblichen Schwächen.[3] Und zumindest was Rammar betraf, kam auch ein gerütteltes Maß an Feigheit hinzu …

»Was weißt du sonst noch?«, wollte er von Kurok wissen.

»Das nicht genug, mich am Leben zu lassen?«

»Nein«, wehrte Ferghas ab. »Wir können ihn nicht einfach laufen lassen.«

»Aber wir können ihn auch nicht kaltblütig töten«, wandte Aryanwen ein. »Schließlich hat er uns geholfen.«

»Danke, Milchgesicht-Frau.«

»Wir lassen ihn hier«, entschied Dag kurzerhand. »Bindet ihn an den nächsten Baum, dann kann er vorerst keinen Schaden anrichten.«

»Aber – Kurok wird verhungern«, wandte der Medizinmann ein, während Ferghas und Henquist ihn bereits banden.

»Du wirst einen Weg finden, um am Leben zu bleiben, Medizinmann«, versicherte Dag mitleidlos. »Wenn nicht, gibt es ein grünhäutiges Scheusal weniger auf dieser Welt.«

»Dag«, mahnte Aryanwen.

»Es geht nicht anders«, beharrte er.

»Das dein Dank, ›Mann ohne Augen‹«, begann Kurok daraufhin zu grollen. »So danken Verrätermenschen? Indem lügen und Wort brechen?«

Dag zog es vor, nicht zu antworten. Er machte auf dem Stiefelabsatz kehrt und entfernte sich.

»Kurok verflucht dich, ›Mann ohne Augen‹«, schrie der Ork ihm hinterher. »Wirst dein Kind niemals mit eigenen Augen sehen, niemals!« Daraufhin begann er zu lachen, dass sich seine Stimme überschlug, lauthals und voller Häme.

Dag blieb stehen.

»Hör nicht auf ihn, Junge«, meinte Ferghas. »Wir werden ihm einen Knebel in den Schlund stopfen und dann …«

»Du wirst deinem Kind niemals begegnen, ›Mann ohne Augen‹«, bekräftigte der Ork schadenfroh, »und das Milchgesicht-Weib ebenfalls nicht, niemals!«

Dag machte kehrt und ging zu dem Ork zurück. Den Dolch hielt er immer noch in der Hand. »Schweig«, verlangte er.

»Glaubst du wirklich, kleines Menschenkind kann in der Modermark überleben?«, fuhr Kurok unbeirrt fort und lachte heiser. »Blutorks haben längst seinen Geruch gewittert … werden es vor euch finden und es dann auffressen, bei lebendigem Leib … armes kleines Mädchen … wie es schreit und immerzu schreit …« Er unterbrach sich und begann elend zu wimmern, was sich tatsächlich nach einem hilflosen kleinen Kind anhörte. »Es schreit nach seiner Mutter, aber es ist niemand da, um es zu retten … nur die Orks, nur die gefräßigen Orks, die …«

Weiter kam er nicht.

Der Dolch, der in seinem Hals steckte, hatte ihn jäh verstummen lassen. Mit einem Ruck zog Dag die Waffe wieder heraus. Ein hässliches Gurgeln zeugte davon, dass schwallweise dunkles Orkblut aus der Kehle des Schamanen schoss, während er an den Baum gefesselt dastand.

»Aye«, sagte Ferghas nur.

»Was hast du getan?«, fragte Aryanwen entsetzt.

Dag wischte seinen Dolch ab, dann steckte er ihn wieder ein und wandte sich ab. Doch Aryanwen war nicht gewillt, ihn einfach gehen zu lassen.

»Was sollte das?«, wollte sie wissen.

»Hast du ihn nicht gehört?«, erinnerte Dag sie wütend.

»Ich habe gehört, was er sagte«, versicherte sie, »und er ist Abschaum, ohne Zweifel. Aber er hat uns auch geholfen.«

»Uns geholfen? In den sicheren Untergang wollte er uns schicken, das ist alles.«

»Aber er hat von Balbok und Rammar gewusst!«

»Er hat von ihnen gehört«, verbesserte Dag.

»Und von unserem Kind!«

»Davon hast du ihm verraten. Den Rest konnte er sich zusammenreimen. So dumm wie die anderen Orks war er nicht.«

»Aber vielleicht hat er auch die Wahrheit gesagt«, beharrte sie. »Das wäre eine erste Spur, ein Anzeichen dafür, dass sie noch am Leben sind.«

»Er hat uns lediglich bestätigt, was wir hören wollten«, konterte Dag. Er hatte die andere Seite der Lichtung erreicht und war stehen geblieben. Er konnte hören, wie Aryanwen vor ihn trat. Dann spürte er ihre Berührung an seiner Wange.

»Geliebter«, sagte sie so leise, dass die anderen sie nicht hören konnten. »Ich erkenne dich kaum wieder. Es ist so viel Wut in dir, so viel Zorn.«

»Und das verwundert dich?«

»Wir haben viel durchgemacht«, räumte sie ein. »Aber das bedeutet nicht, dass es keine Hoffnung mehr gibt. Es gibt sie noch, Dag.«

»Hoffnung.« Er schnaubte verächtlich. »Ich erinnere mich an eine Zeit, da habe ich ebenfalls gehofft, aber jetzt …« Er unterbrach sich und tat so, als würde er zu Boden starren.

»Willst du die Suche aufgeben?«, fragte sie leise, fast ängstlich. »Gerade jetzt, wo wir eine Spur gefunden haben?«

»Nein«, versicherte er bitter. »Ich werde weitersuchen, was auch sonst? Mein ganzes Leben lang habe ich nichts anderes getan, als zu suchen.«

»Du hast dich verändert«, stellte sie fest. »Damals, als Winmar dich blenden ließ und dir dein Augenlicht nahm, wurdest du dir selbst gleichgültig. Nun jedoch scheint dir auch alles andere gleichgültig geworden zu sein.«

»Das ist nicht wahr«, versicherte er und berührte ihr Gesicht. »Du nicht.«

Es war feucht.

Tränen …

»Wenn das stimmt«, sagte sie leise, »kann dir auch unser Kind nicht gleichgültig geworden sein.«

»Natürlich nicht«, versicherte er. »Könnte ich das Leben unserer Tochter retten, indem ich das meine gebe, würde ich …«

»So geht es aber nicht«, fiel sie ihm ins Wort. »Du musst leben, um unsere Tochter zu retten, verstehst du? Du musst deine Kraft und Zuversicht wiederfinden, Geliebter, nicht nur für dich selbst und für unser Kind, sondern auch für unsere Welt!«

Einen Augenblick lang herrschte Stille.

»Die Welt«, erwiderte Dag dann, »hat mich längst vergessen. Weder wollte sie mich noch meine Hilfe. Oder weißt du nicht mehr, was geschehen ist …?«

ZwischengesangDaghans Klagelied

Zwei Jahre zuvor

Dag atmete tief ein und aus.

Dies war der Moment, auf den sie gewartet hatten.

Der Vollmond stand hoch am Himmel und tauchte das Hochplateau, auf dem der Elfenkreis stand, in unwirkliches Licht. Niemand wusste genau, welchem Zweck die riesigen, rund zwanzig Mannslängen hohen Steinsäulen, die zu einem weiten Kreis angeordnet waren, einst gedient hatten. War es eine Verteidigungsanlage gewesen, errichtet, um Riesen zu trotzen? Eine Kultstätte, an der man alten, längst vergessenen Gottheiten gehuldigt hatte? Oder ein Ort der Wissenschaft, an dem sich Gelehrte getroffen und ausgetauscht hatten?

Dag bezweifelte, dass selbst die letzten Elfen, die Erdwelt verließen, den Zweck des Steinkreises noch gekannt hatten; das Wissen um diese Dinge war abhandengekommen, wie so vieles verloren im Nebel der Zeit. Aber noch immer schien eine geheimnisvolle Kraft diesen Ort zu durchdringen, und das war wohl auch der Grund dafür, dass die Clans des Hochlands ihm solch große Bedeutung beimaßen. Bei jedem vollen Mond kamen ihre Anführer hier zusammen, um sich zu beraten, zu verhandeln und Zwistigkeiten beizulegen. So auch in dieser Nacht, die jedoch nicht nur über das Schicksal der Clans, sondern über die Zukunft von ganz Erdwelt entscheiden würde.

»Bist du bereit, junger Herzog?«

Ferghas Ca’Dur stand neben ihm.

Der Bruder von Lord Anghas Ca’Dur, dem Oberhaupt des roten Clans von Tarnag, war ihm ein treuer Gefährte geworden. Gemeinsam hatten sie sich auf eine gefahrvolle Mission ins Feindesland begeben. Nun waren sie zurückgekehrt, um den versammelten Clansherren Bericht zu erstatten.

Und sie hatten keine guten Nachrichten mitgebracht.

»Ich denke schon, dass ich bereit bin.« Dag nickte.

»Das genügt nicht. Wer vor die Clanlords tritt, sollte entweder verdammt überzeugend sein – oder es gleich bleiben lassen. Hast du verstanden?«

Dag nickte.

»Also?«

Dag schloss die Augen, rief sich noch einmal all das ins Gedächtnis, was er den Clansherren sagen wollte. Schließlich nickte er. »Ich bin bereit.«

»Aye«, knurrte Ferghas.

Sie konnten hören, wie die Stimme des alten Mannes über das Plateau hallte, auf dem der Elfenkreis stand. Der Alte war ein Druide, einer jener Männer, die Gelehrte, Heiler und Dorfälteste zugleich waren. Unwillkürlich musste Dag an Dwethan denken – was hätte er darum gegeben, den alten Zauberer jetzt bei sich zu wissen. Doch Dwethan hatte eine andere Mission zu erfüllen, und sie war nicht weniger wichtig – er half Aryanwen bei der Suche nach ihrem Kind, das sie in der Stunde höchster Not den Orks Balbok und Rammar anvertraut hatte.

Unser Kind, dachte Dag.

Eine Tochter, Alannah, benannt nach der letzten Elfenkönigin, die über Erdwelt geherrscht und zusammen mit ihrem Gemahl Corwyn, einem Menschen, eine Ära des Friedens und des Glücks begründet hatte.

Fünf Jahrhunderte lag dies zurück.

Die Erben Corwyns und Alannahs hatten die Traditionen fortgeführt, und über eine lange Zeit hinweg hatte das Reich von Tirgaslan Bestand gehabt – bis es aus seinem Inneren heraus zerfallen war. Von Neid und Missgunst getrieben, hatten die einzelnen Teile des Reiches begonnen, untereinander Krieg zu führen, und schließlich war Winmar gekommen, der Herrscher des Zwergenreichs, der die durch ihren Zwist geschwächten Menschen besiegt und unterworfen hatte. Nicht aus eigener Kraft, wie Dag inzwischen wusste, sondern mithilfe von etwas, das ebenso alt war wie böse – und dem Einhalt geboten werden musste.