Kampf um die Moderne - Jürgen Kocka - E-Book

Kampf um die Moderne E-Book

Jürgen Kocka

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Beschreibung

Der beste Überblick zum 19. Jahrhundert Das "lange 19. Jahrhundert" dauerte vom späten 18. Jahrhundert, also von der Französischen Revolution und dem Zeitalter Goethes, bis zum Ersten Weltkrieg 1917. Die USA traten in den Weltkrieg ein und stiegen zur Weltmacht auf, zusammen mit der Sowjetunion nach der Oktoberrevolution. Das "kurze 20. Jahrhundert" begann. Das "lange 19. Jahrhundert" erlebte die Geburt der klassischen Moderne. Geprägt von Industrialisierung, Kapitalismus, Nationalismus, Klassenkonflikten und tiefer Ungleichheit der Geschlechter, war es die bürgerlichste Epoche der deutschen Geschichte, deren Grundkonflikte bis heute nachwirken. Große Migrationen wühlten das 19. Jahrhundert ebenso auf wie die entstehende Zivilgesellschaft, die sich Freiheit und Demokratie erhoffte. Aber die 1848er Revolution scheiterte, der Nationalstaat entstand, die Konkurrenz der Mächte spitzte sich zu. Im Ersten Weltkrieg, der "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts", gingen drei Kaiserreiche und das alte Europa unter. Das 19. Jahrhundert, dessen Glanz und Schatten bis ins 21. Jahrhundert hineinreichen, endete zwar abrupt, sein Bild aber wandelt sich von Grund auf, wie der fulminante historische Essay von Jürgen Kocka, einem der besten Kenner dieses Zeitalters, beeindruckend nachweist.

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Seitenzahl: 408

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Jürgen Kocka

Kampf um die Moderne

Das lange 19. Jahrhundert in Deutschland

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg. Unter Verwendung der Lithographie von Gustav Kraus »Eröffnung der Eisenbahnlinie München–Augsburg 1839« © Münchner Stadtmuseum, München

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-98499-6

E-Book ISBN 978-3-608-11712-7

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

Bilder vom 19. Jahrhundert im Wandel

a) Vorstellungen vom 19. Jahrhundert bis 1945

b) Das 19. Jahrhundert nach 1945

c) Das 19. Jahrhundert heute

Kapitel 2

Das Jahrhundert der Industrialisierung

a) Das Grundmuster des Wachstums

b) Drei Phasen

c) Arbeit, Kultur, Wissen

d) Kapitalismus und Ungleichheit

e) Nicht intendierte Folgen

Kapitel 3

Bevölkerungszunahme und Wanderungen – die Not und der Beginn ihrer Überwindung

a) Bevölkerungswachstum und generatives Verhalten

b) Auswanderung zwischen Pauperismus und Industrialisierung

c) Binnenwanderung und der Beginn der Verstädterung

Kapitel 4

Ein bürgerliches Jahrhundert?

a) Arbeiter und Bürger: Klassenbildung und Klassenkonflikte

b) Frauen und Männer

c) Bürgertum und bürgerliche Kultur

d) Verbürgerlichung und ihre Grenzen: der Adel, das Land, die Kirchen, das Volk

e) Zwei Arten von Bürgerlicher Gesellschaft: von den Aufklärern zu Hegel und Marx

f) Vom Vormärz zum Kaiserreich

g) Zwischenergebnis

Kapitel 5

Nationalstaat, Integration, Krieg

a) Nationsbildung: Begriffe und das Grundmuster in Deutschland

b) Funktionen des Nationalismus und deutsche Besonderheiten

c) Im Geschiebe und Gedränge, zwischen Frieden und Krieg

Kapitel 6

Das Jahrhundert als Epoche und der deutsche Fall

a) Vorher und nachher

b) Der deutsche Weg in Europa

c) Durchbruch der Moderne

Anhang

Eine Chronologie des 19. Jahrhunderts

Verzeichnis der Tabellen

Verzeichnis der Abkürzungen

Bibliographie

1   Bibliographien, Literatur- und Forschungsberichte

2   Handbücher, Nachschlagewerke, Lexika, Hilfsmittel

3   Theorie, Methoden, Geschichte der Geschichtsschreibung

4  Zeitschriften

5   Quellen

6   Übergreifende Darstellungen

7   Das Jahrhundert der Industrialisierung

8   Das Jahrhundert der Bevölkerungsexplosion und der Wanderungen

9   Nationsbildung, Verfassung, Politik

10   Ein bürgerliches Jahrhundert

11   Das 19. Jahrhundert und die Moderne

Anmerkungen

Vorwort

Kapitel 1 Bilder vom 19. Jahrhundert im Wandel

Kapitel 2 Das Jahrhundert der Industrialisierung

Kapitel 3 Bevölkerungszunahme und Wanderungen – die Not und der Beginn ihrer Überwindung

Kapitel 4 Ein bürgerliches Jahrhundert?

Kapitel 5 Nationalstaat, Integration, Krieg

Kapitel 6 Das Jahrhundert als Epoche und der deutsche Fall

Orts- und Sachregister

Personenregister

Vorwort

Aus heutiger Perspektive ist das 19. Jahrhundert weit entfernt, es erscheint uns fremd und bisweilen exotisch. In ihm lebte viel aus den vorangehenden Jahrhunderten weiter, was mittlerweile völlig verschwunden ist. Andererseits ist es in der deutschen Geschichte das Jahrhundert, das der klassischen Moderne(1) zum Durchbruch verhalf, bevor sie in den (1)Diktaturen, Kriegen(1) und Katastrophen des 20. Jahrhunderts in eine tiefe Krise geriet und sich danach nur noch in gebrochener Gestalt und zugleich im Modus der Selbstkritik weiterentwickelte.

Das 19. Jahrhundert legte Grundlagen, die auch noch unsere Gegenwart tragen: Mit der Industrialisierung(1) wurde der Kapitalismus(1) zur maßgeblichen Ordnung der Wirtschaft(1) und – teilweise – der (1)Gesellschaft; das ist er trotz grundsätzlicher Infragestellungen und tiefgreifender Transformationen geblieben. Der (1)Verfassungs-, der National- (1)und der Sozialstaat(1) sind Errungenschaften des 19. Jahrhunderts. Seitdem haben sie sich verändert, doch sie sind auch prägende Bestandteile der Gegenwart. Im 19. Jahrhundert fand ein fulminanter Aufstieg der (1)Wissenschaften(1) statt, der sich bis heute fortsetzt und die Welt verändert, sei es mit segensreichen, sei es mit zerstörerischen Folgen. Das 19. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Emanzipation(1), in dem die Sache der Freiheit(1) enorme Fortschritte machte und die (1)Demokratisierung begann. Zugleich war es ein Jahrhundert sich tief eingrabender Ungleichheiten und neuer Abhängigkeiten. Beides wirkt bis heute weiter. Zwar war das 19. Jahrhundert, innerhalb (1)Europas, friedlicher als das 18. zuvor und das 20. danach. Aber es begann in den (1)(2)Kriegen, mit denen (1)Napoleon den Kontinent(2) seit dem späten 18. Jahrhundert überzog, und es endete in der Katastrophe des (1)Ersten Weltkriegs(3). Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert Europas(3), und das hieß auch: Europäische Mächte griffen weit aus in die Welt und machten sich große Teile davon untertan, durch (1)Kolonialisierung und (1)Imperialismus. Das 1871 gegründete Deutsche Reich(1)(1) hatte seinen Anteil daran. Der Fortschritt(1) und seine Kosten, (1)(1)zivilisationsgeschichtliche Errungenschaften und Abstürze zugleich, die tiefen Widersprüche der sich durchsetzenden klassischen Moderne(2) – sie sind unübersehbar, wenn man deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert betrachtet.

In dieses 19. Jahrhundert führt das vorliegende Buch kurz und knapp ein. Es klärt die wichtigsten Grundbegriffe. Es bietet einen gerafften Überblick über die Grundlinien der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert(1), und zwar in vergleichender Perspektive, um ihre Eigenarten zumindest ansatzweise erkennen zu können. Das Buch bringt das 19. Jahrhundert als Epoche zur Darstellung, ihren inneren Zusammenhang und ihre Besonderheiten im Vergleich zur Zeit davor und danach; als Epoche, in der sich die Grundzüge der klassischen Moderne(3) in Spannung und Konflikt mit mächtig weiterwirkenden älteren Strukturen und Traditionen(1) allmählich durchsetzten. Es präsentiert wichtige Zahlenreihen im Überblick. Es ist ein analytischer Essay, keine detaillierte Erzählung einzelner Ereignisse. Die wichtigsten Daten, Entscheidungen, Ereignisse und Personen werden jedoch in einem chronologischen Anhang stichwortartig aufgelistet. Das Buch fußt auf intensiver Auswertung der einschlägigen Literatur der letzten Jahrzehnte und spiegelt den neuesten Forschungsstand. Nicht jeder Leser und jede Leserin wird diesen Forschungsstand genauer erkunden wollen. Aber wer sich für ihn im Detail interessiert, kann ihn sich in den ausführlichen Anmerkungen und im inhaltlich gegliederten Verzeichnis der Quellen und Literatur erschließen. Das vorliegende Buch ist die stark erweiterte, gründlich überarbeitete und auf den neuesten Stand gebrachte Fassung der Einführung in die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts, die erstmals 2001 als Band 13 des »Gebhardt« erschien. Die Form, die Tiefe und die Ausführlichkeit der Literaturerschließung wurden beibehalten.[1]

Das Buch nimmt den Zeitraum vom späten 18. Jahrhundert bis zum (2)Ersten Weltkrieg(4) in den Blick, also ein »langes 19. Jahrhundert«. Es zeigt, wie alte (1)feudale, (1)ständische und (1)absolutistische Mächte und Formen weiter existierten und das Leben mitprägten, wenngleich zunehmend geschwächt. Aber es betont, was das Jahrhundert an Neuem brachte. Es begreift das 19. Jahrhundert als das Jahrhundert der Industrialisierung(2) und des sich durchsetzenden (2)Kapitalismus; als ein Jahrhundert des beschleunigten Bevölkerungswachstums(1) und der großen (1)(1)Wanderungen; als Teil des Zeitalters sich durchsetzender (1)Säkularisierung; als das Jahrhundert der aufsteigenden (2)Nationalstaaten und des (1)Nationalismus. Gleichzeitig brachte es transnationale Verflechtungen und schließlich auch (1)Globalisierung in einem Ausmaß mit sich, das in der Zeit der Weltkriege(3)(1)(5) wieder verloren ging und erst seit den 1970er Jahren wieder erreicht wurde. Auch in (2)Deutschland war das neunzehnte das Jahrhundert des Bürgertums(1) und der allmählich dominant werdenden bürgerlichen Kultur(1), ein bürgerliches Jahrhundert, das jedoch von vorbürgerlichen Kraftlinien durchzogen blieb. Es war von Klassenkonflikten(1) und Geschlechterungleichheit durchfurcht, legte aber trotzdem die Fundamente einer (1)Zivilgesellschaft, die in den (2)Diktaturen des 20. Jahrhunderts fast zu Grunde ging, aber in den letzten Jahrzehnten erneuert und gefestigt wurde, wenngleich ihr Versprechen noch immer nicht voll eingelöst ist. Die Bürgerlichkeit, ihre Grenzen und die Entstehung einer zukunftsträchtigen Zivilgesellschaft sind zentrale Merkmale des 19. Jahrhunderts in Deutschland, die dieses Buch zur Darstellung bringt.

Im 19. Jahrhundert wurde auch Deutschland(3) zum Rechts- und Verfassungsstaat mit Ansätzen beginnender (2)Demokratisierung und sehr früher (2)Sozialstaatlichkeit. Aber eine parlamentarisch-demokratische Regierungsform(1) erreichte das Kaiserreich(1) erst im Moment seines Untergangs. Bis dahin widerstanden seine Institutionen, Herrschaftseliten(1) und Mentalitäten dem Druck des Wandels in bemerkenswerter Starrheit. Diese und andere Besonderheiten Deutschlands(4) sind unter der Fragestellung »Sonderweg – ja oder nein?« (1)jahrzehntelang diskutiert worden. Sie werden auch in diesem Buch thematisiert, das aber die deutsche Entwicklung als eine Variante der variantenreichen europäischen Entwicklung(4) deutet. Die vorherrschenden Vorstellungen vom 19. Jahrhundert haben sich in den letzten Jahrzehnten und Jahren gründlich verändert. Damit beginnt die Darstellung.

Kapitel 1

Bilder vom 19. Jahrhundert im Wandel

(1)Als chronologische Spanne ist das 19. Jahrhundert zunächst nur ein kalendarisches Artefakt: nach äußerlichen Kriterien aus der überwältigenden Vielfalt(1) des historischen Geschehens herausgeschnitten und ohne gemeinsamen Nenner in inhaltlicher Hinsicht, denn ein solcher wird weder durch Gleichzeitigkeit und zeitliche Abfolge an sich noch durch die Suggestion der runden Zahlen gestiftet. Doch die Rede vom 19. Jahrhundert zielt häufig auf mehr, nämlich auf einen Epochenzusammenhang, der durch Gemeinsamkeiten und Wechselwirkungen verknüpft und aufgrund besonderer Merkmale von den Epochen davor und danach zu unterscheiden sei. Jede Vorstellung vom 19. Jahrhundert als Epoche muß sich, soweit sie wissenschaftliche Ansprüche erhebt, der Überprüfung an den Erfahrungen der Zeitgenossen, den Tatsachen der Vergangenheit und den Ergebnissen der Geschichtswissenschaft(1) stellen; insofern unterscheidet sie sich von Erfindungen oder Fiktionen. Aber die Deutung der Vergangenheit als Geschichte ergibt sich eindeutig weder aus den in den Quellen überlieferten Spuren noch aus den Verfahren der Historiker. Vielmehr ist jede Vorstellung vom 19. Jahrhundert als Epoche durch die sich im Laufe der Zeit ändernden und selten einheitlichen Gesichtspunkte, Erfahrungen und Erwartungen der jeweiligen Gegenwart mitbedingt, die die Beobachtung leiten und die Darstellung prägen. Deshalb ändern sich die Vorstellungen vom 19. Jahrhundert, seinem Inhalt, seiner Bedeutung, seinem Anfang und Ende kontinuierlich. Deshalb besteht auch heute kein einheitliches Bild vom 19. Jahrhundert. Deshalb ist das 19. Jahrhundert immer auch ein Konstrukt.[1] Wie hat es sich im Laufe der Zeit verändert, und wie stellt es sich jetzt, im frühen 21. Jahrhundert, dar?

a) Vorstellungen vom 19. Jahrhundert bis 1945

(2)Wer sich im 19. Jahrhundert als Historiker auf die Geschichte der eigenen Zeit, auf Zeitgeschichte, einließ, hatte in der Regel wenig Grund, sich zum 19. Jahrhundert als Ganzem zu äußern. Tat man es dennoch, dann begriff man es – auch im deutschsprachigen Bereich, aber in der Regel mit Blick auf Europa(5) – meist von der tiefen Zäsur an seinem Anfang her, in Erinnerung an die Französische(1) Revolution(1) und ihre europaweiten(6) Folgen(2), an Befreiung(2), Umwälzung, Gewalt(1) und Krieg. Man dachte es unter Bezugnahme auf eine tiefe Umbrucherfahrung, die das 18. vom 19. Jahrhundert, »Alteuropa«(1) (Burckhardt(1)) von der Moderne(4) trennte und vielen präsent war, so unterschiedlich man sie im übrigen auch bewertete und interpretierte.

(1)Daß in der Folge der »furchtbaren« Französischen(2) Revolution(1) die Nationalitäten(1) Europas(7) in den Staat mit Bewußtsein eintraten und ihn damit auf eine neue Grundlage stellten, darin sah der Konservative(1) Leopold von Ranke(1) jedenfalls 1833 das wichtigste Ereignis, das sein Jahrhundert vom vorangehenden unterschied. Im übrigen betonte er die neue Ordnung Europas(8) im Zeichen der Restauration(1) als eigentlichen Beginn des Jahrhunderts. Allerdings habe diese die Ergebnisse der Revolution(2) in ihrem Wesen nicht angetastet, sondern konsolidiert. Auch für den Liberalen(1) Georg Gottfried Gervinus(1) änderte sich mit der Französischen(3) Revolution(2) die Struktur der Politik, denn von nun an seien es die Völker, die Massen, ihre Bewegungen und ihr Freiheitsverlangen(3), die Geschichte machten. »(3)Von hier an bildet die Geschichte des 19. Jahrhunderts einen geraden Gegensatz gegen die Zeit des 18. Jahrhunderts, wo jene fürstlichen Reformen(1) eine übereinstimmende Bewegung in dem ganzen Weltteile hervorgerufen hatten.« Das schrieb er nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49(1) auch mit der Absicht, »manches erschütterte Vertrauen auf unsere Zukunft wieder zu befestigen«.

Und als der skeptische Jacob Burckhardt(2) über die besondere Befähigung des 19. Jahrhunderts für das historische Studium nachdachte, kam er auf das »Schauspiel der Französischen(4) Revolution(3)«, die »gewaltigen Änderungen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts« und die Erfahrung(1) der Beschleunigung zu sprechen, die zur Betrachtung und Erforschung des Früheren und Seitherigen gebieterisch zwängen. »Eine bewegte Periode wie diese 83 Jahre Revolutionszeitalter(3)«, so formulierte er 1872, »wenn sie nicht alle Besinnung verlieren soll, muß sich ein solches Gegengewicht schaffen.«[2]

Als das 19. Jahrhundert zu Ende ging und als Ganzes in den Blick genommen werden konnte, verschwand zwar die Erinnerung an seinen revolutionären(4) Beginn nicht ganz, doch überwogen nun Charakterisierungen im Hinblick auf seinen Verlauf insgesamt, die großen Ereignisse in seiner zweiten Hälfte und seine Erfolge. Die bei Ranke(2), Gervinus(2) und Burckhardt(3) noch vorherrschende europäische(9) Perspektive machte zunehmend einer nationalgeschichtlichen(1) Platz – Konsequenz fortschreitender Nations- und gelungener Nationalstaatsbildung(3), die gleichzeitig zum bevorzugten Gegenstand historischer Erinnerung(1) wurden. Zwar fehlte es den Jahrhundertrückblicken der Historiker um 1900(1) nicht ganz an Ambivalenz und Kritik. Sie drückten Unsicherheit und Krisengefühl aus, beispielsweise mit Blick auf die zerklüftete Gesellschaft(2)(1), die »soziale Frage(1)«(2) und die Herausforderung des Sozialismus(1), aber auch unter dem Eindruck der intellektuellen und künstlerischen Kulturkritik(1) des Fin de siècle(1), die fundamentale Zweifel an der europäischen(10) Moderne(5) aufwarf und die ihr innewohnenden Momente der Selbstzerstörung bloßlegte. Eine Umfrage bei Berliner(1) Bürgern(1) fand 1899 heraus, daß man vom neuen Jahrhundert nichts sehnlicher erhoffte als die Sicherung des Weltfriedens(1); selbstverständlich und ungefährdet war dieser offenbar in jenen Jahren zunehmender imperialistischer(2) Spannung auch im Bewußtsein der Bevölkerung(1) nicht. In Theobald Zieglers(1) aufschlußreichem Rückblick auf das Jahrhundert las man: »Wo Arbeit(1) ist, ist auch Kampf; und so werden uns Kämpfe – draußen im Wettbewerb um unseren Anteil an der Erde und ihren Gütern und innen im Ringen der Stände(2) und der Parteien(1), der Geister und Richtungen – auch fernerhin nicht erspart bleiben.« Doch insgesamt herrschte um 1900(2)(1) ein positiv-optimistischer Grundton vor: Stolz auf Errungenes, Lust auf Neues, Zuversicht für die Zukunft, Erwartung von Fortschritt(1), eine Stimmung der Jugendlichkeit(1) und der Kraft – ganz im Gegensatz zum Eindruck allgemeiner Erschöpfung und Müdigkeit, von der Gervinus 1852 geschrieben hatte.

Im Rückblick von seinem Ende her wurde die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts vor allem als zunächst scheiternder und verzögerter, dann glücklich gelingender, wenngleich noch nicht vollendeter Nationsbildungsprozeß(1) rekonstruiert – mit Genugtuung und Stolz, oft in betonter Absetzung von Frankreich(5). In ihrer »Bilanz des Jahrhunderts« fand die »Berliner Illustrirte Zeitung«(1) 1898/99 heraus, daß ihre Leser mit großer Mehrheit die »Einigung(1) und Wiederaufrichtung des deutschen Reiches« für das größte historische Ereignis und Fürst Bismarck(1) für den bedeutendsten Mann Deutschlands im 19. Jahrhundert hielten. Als unglücklichste Periode des Jahrhunderts galt rückblickend »die Franzosenzeit(2) 1806–1812«, als glücklichste dagegen »die Zeit nach dem französischen(6) Krieg(3) bis zur Gegenwart«. Sicher kann diese Momentaufnahme aus einem (1)nationalliberalen(1), protestantischen(1), bürgerlichen(2), großstädtischen(1) Milieu(2) nicht einfach verallgemeinert werden; doch untypisch war sie nicht. In elaborierter Form und anderer Sprache(1) finden sich Elemente dieses (4)Bildes vom deutschen 19. Jahrhundert auch bei den Geschichtsschreibern der Zeit, z.B. bei dem Neurankeaner Max Lenz(1). Für ihn bestand das Besondere des Jahrhunderts in der Verbindung von Nation und Staat(1), im »Einströmen der die Nationen(1) in ihren Tiefen bewegenden Elemente in die überlieferten Formen des Staates(2)«. »Wo der populäre Andrang gegen die (2)Staatsgewalt einsetzt, der Wille der Masse, die allgemeinen Angelegenheiten den in ihr lebenden Instinkten gemäß entscheidend zu beeinflussen, da beginnt das neue Jahrhundert … Fortab war kein Aufhalten mehr: Umfang, Stärke, Wesen und Begriff der Macht wurden aus der Tiefe verwandelt: Nation(2) um Nation mußte auf den Bahnen nachfolgen, auf denen die französische(7) vorangegangen war.«[3]

Die Versuchung, das Jahrhundert mit einer Formel zu erfassen, war mächtig. Die gewählten Beinamen streuten breit. Vom »philosophischen Jahrhundert« hatte Schopenhauer(1) gesprochen, »weil es zur Philosophie reif und eben deshalb ihrer durchaus bedürftig ist«. »Das reichste der neuen Geschichte« nannte es Heinrich von Treitschke(1), denn es »erntet die Saat des Zeitalters der Reformation(1)«. »Ein Jahrhundert der Kritik« sah Kuno Fischer(1) in ihm, weil es »Mythen zerstört, freilich auch wieder welche schafft«. Man sprach vom »historischen Jahrhundert«, vom »sozialen Jahrhundert«, vom Zeitalter der Naturwissenschaften(2) und der Technik(1). Für »das Jahrhundert der Erfindungen(1)« entschieden sich die Leser der »Berliner Illustrirten(2)«, und als »wohltätigste Erfindung des Jahrhunderts« erschien ihnen die Eisenbahn(1), noch vor der Elektrizität(1). Andere beschrieben das 19. Jahrhundert als das Jahrhundert Europas(11) und seiner weltweiten Ausstrahlung, Geltung und Macht. Charles Seignobos(1) sprach 1896 von einer »Zeit des europäischen(12) Friedens(2)«, denn im (1)Vergleich zum 18. Jahrhundert habe das 19., das für ihn 1814(1) begann, zwar mehr Revolutionen(5), Bürgerkriege(1) und innere Umwälzungen, aber weniger zwischenstaatliche Kriege(6) gekannt.[4]

Unterschiedliche Autoren hoben unterschiedliche säkulare(2) Prozesse hervor: außer der Nationalstaatsbildung(4) den Übergang vom Absolutismus(2) zur konstitutionellen Monarchie(1); die Veränderung der Politik durch die zunehmende Teilnahme der breiten Bevölkerung(2); die beginnende Emanzipation(1) des Proletariats und – zuletzt auch – der Frauen(1)(1); die weltweite Verflechtung der Kommunikation(1), den »lebendigen Wechselverkehr« und die »merkwürdige Internationalität« des Jahrhunderts;[5] den Aufstieg der kapitalistischen(3) Ökonomie(2) als entscheidender Lebensmacht und den Übergang vom Agrar- zum Industriestaat(1).

Sozialökonomische Veränderungen rückten mit der Zeit ins Zentrum der Jahrhundertrückblicke. Die klassischen Analysen stammten von Marx(1) und Engels(1). Als es 1848 erschien, war das »Manifest der Kommunistischen(1) Partei«(1) intellektuell und politisch ein Minderheitsphänomen(1). Bis in die 1890er Jahre hatte sich aber die Vorstellung vom 19. Jahrhundert als einem Jahrhundert des siegreichen Kapitalismus(4), der sich durchsetzenden Industrialisierung(3) und der sich verschärfenden Klassenkämpfe(2) weit verbreitet, über den Marxismus(1) und die sich an ihm orientierende, schnell wachsende Arbeiterbewegung(1) hinaus. Der Klassenkonflikt(3) prägte die Kategorien zutiefst, mit denen die Zeitgenossen ihre Gesellschaft(3) wahrnahmen und über ihre Geschichte nachdachten. Während aber das »Manifest(2)« eine triumphale Zukunft für die Bourgeoisie(1) antizipiert hatte (bis zu ihrer späteren Ablösung durch das Proletariat(1)), war es interessanterweise um 1900(3)(2) in Deutschland (5)nicht allzu üblich, vom 19. Jahrhundert rückblickend als einem Jahrhundert(1) der Bourgeoisie(2) oder des Bürgertums(3) zu sprechen. Dessen Versagen hatten von ihren Maßstäben aus nicht nur Marx(2) und Engels(2) in ihren späteren Schriften gegeißelt. Den mangelnden Sinn des Bürgertums(4) für die Macht und sein geringes Gewicht relativ zu Adel(1), Militär(1) und Obrigkeitsstaat(1) beklagten im Wilhelminischen(4) Reich(3) auch viele andere, wie z.B. Max Weber(1). Dagegen nahm der Staat(3), nahm die Politik auch in den sozialökonomischen(3) Interpretationen des 19. Jahrhunderts in Deutschland(6) eine zentrale Stelle ein, so bei Ernst Troeltsch(1) 1913. Eindringlich setzte er die »moderne Kultur« des 19. Jahrhunderts von der Aufklärung(1) und vom Idealismus(1) des 18. Jahrhunderts ab. Im Aufstieg und in der Spezialisierung(1) der Wissenschaften(2), im Relativismus und Historismus(1) des geistigen Lebens glaubte er entscheidende Eigenarten des 19. Jahrhunderts zu erkennen, auch im weltweiten Vordringen der europäischen(13) Kultur, die sich »nicht in der Auflösung« befinde. »Über alledem aber steigt seit dem zweiten Drittel des Jahrhunderts sein eigentlicher Hauptcharakter empor, der sich nach der wirtschaftlich-sozialen Seite als Kapitalismus, nach der politischen als demokratisch(1) gefärbter Imperialismus(3) darstellt.« Den Folgen dieses Prozesses spürte Troeltsch im einzelnen nach, bis hinein in den Aufstieg der sozialen Klassen(1) und ihrer Konflikte(4), die zunehmende Verflechtung von Wirtschaft und Staat, sich verändernde Familienbeziehungen(1), die Erzeugung immer neuer Bedürfnisse und die wachsende Nervosität(1) der Zeit. (5)Das war ein sehr moderner Blick auf das 19. Jahrhundert, der auch heute noch Geltung beanspruchen kann. Der Individualismus(1) des 18. Jahrhunderts sei endgültig vorbei, »und ein gewisser Staatssozialismus(2) mit schwankender Mischung von Demokratie(2) und Imperialismus(4) scheint das Los der Zukunft zu sein.«[6]

(6)(2)Der Erste Weltkrieg(4) veränderte das Bild des 19. Jahrhunderts. Er wurde europaweit, aber besonders in den Ländern der Kriegsverlierer, als fundamentaler Einschnitt erfahren, als Bruch(2) und Zusammenbruch, als »tiefer Trennungsstrich« und »wahrer Abgrund« (Benedetto Croce(1)), als Untergang einer Zivilisation(1)(2), bald auch: als das eigentliche Ende des 19. Jahrhunderts. Erst jetzt, da viele glaubten, das Bürgertum(5) sei endgültig untergegangen, setzte sich als Beiname für das 19. Jahrhundert »das bürgerliche(3)« durch; er sollte sich halten.[7] Im kriegerischen(7) 20. beschwor man die relative Friedlichkeit(3) des 19. Jahrhunderts. In der Konfrontation mit neuen post-liberalen(1) Bewegungen und Systemen erschien das 19. Jahrhundert im Rückblick als liberal(2), das »alte Europa(2)« als geordnet und reich, »mit all seinem blühenden Verkehr, mit all seinem Überfluß und seiner Sicherheit«.[8] Aus dem Blickwinkel der Differenz gewann das Profil des Jahrhunderts seine eigenständige Schärfe(4).

(7)Andererseits wußte man nun – oder erfuhr es Schritt für Schritt –, wie das Jahrhundert geendet hatte: in Erschütterung, Krieg(8) und Katastrophe(1). Deren Vorgeschichte im 19. Jahrhundert galt es nun auch zu begreifen, denn für Franz Schnabel(1) etwa, der 1929 schrieb, war es trotz des dazwischenliegenden, trennenden Weltkriegs(5) doch auch die »Zeit, die uns unmittelbar vorausgegangen ist – die Zeit unserer Väter und Großväter«. So rückten jetzt die düsteren Seiten des 19. Jahrhunderts in den Blick, seine Hybris und seine Zerklüftung, seine Zerstörungskraft und seine Dynamik, die »bald ahnungslos und bald widerwillig die Bedingungen seiner eigenen Überwindung geschaffen« hatte. Kein großes Jahrhundert sei es gewesen, kein Jahrhundert der neuen Gedanken und großen Menschen, schrieb Schnabel. »Die Anreger und Beweger der Entwicklung stehen jenseits … Die erstaunliche Produktivität(1) der ihm vorangegangenen Zeiten hat dieses Jahrhundert nur auf wenigen Sondergebieten erreicht; aber was ihm an Einheit und Tiefe abging, hat es ersetzt durch die Breite der Wirkung, durch die bunte Vielgestaltigkeit seiner Motive und durch den Reichtum seiner Formen, seiner Massen und Wandlungen, durch die Rastlosigkeit seines schaffenden Willens. Tiefer als jemals in früheren Tagen nahm jetzt das Volk in seiner Gesamtheit teil am geschichtlichen Leben … Während der abendländische Geist erst jetzt sich siegreich über die ganze Erde dehnte und seiner Vorherrschaft sich freuen wollte, begann die abendländische Einheit im Individualismus(2) der Menschen, der Völker, der Klassen sich aufzulösen. Eine tiefe historische Notwendigkeit lag in dieser widerspruchsvollen Entwicklung, die des Jahrhunderts Größe und Tragik in sich enthält.«[9] Bemerkenswerterweise bezogen sich die meisten Deutungen der Eigenarten des 19. Jahrhunderts bereits auf Strukturen(1), Prozesse und Ereignisse grenzüberschreitend-transnationalen Charakters, nicht aber auf Phänomene, die für Deutschland(7) oder andere Länder spezifisch waren.

(8)Croce(2) und Schnabel(2) stimmten mit anderen darin überein, daß das 19. Jahrhundert, das für sie mit dem Abgang Napoleons(2) begann, erst mit dem Ersten Weltkrieg(6) endete. Diese Datierung des Jahrhundertendes hat sich weitgehend durchgesetzt.[10]

b) Das 19. Jahrhundert nach 1945

(9)Die Erfahrung der Diktaturen(3) und des Zweiten Weltkriegs(2), der Unterdrückung, Verfolgung und Vernichtung in den 30er und 40er Jahren hat das Denken über Geschichte, die historische Erinnerung(2) und die Geschichtswissenschaft(2) erneut verändert und damit auch das vorherrschende Bild vom 19. Jahrhundert. Vor allem in (8)Deutschland waren der Nationalstaatsgedanke und die auf den Nationalstaat(5) konzentrierte Geschichte nun zutiefst diskreditiert. Die Europäisierung(14) des Blicks war eine der möglichen Antworten darauf. Deutsche Geschichte sei nur »eine Verdichtung Europas(15), eine von vielen«, schrieb Golo Mann(1) und folgerte: »Deutsche Geschichte schreiben kann heute nur sein: europäische(16) Geschichte mit deutscher Akzentuierung schreiben.« Faktisch blieb aber die in Deutschland(9) geschriebene Geschichte des 19. Jahrhunderts auch in den folgenden Jahren dem nationalgeschichtlichen(2) Paradigma verpflichtet.[11] Aber die großen Themen, über die man mit Bezug auf »Deutschland(10) im 19. Jahrhundert« zunehmend schrieb – die Geschichte der Verfassung(1)(1), das Vordringen der Demokratie(3), die mit dem wirtschaftlichen(1) Wandel verbundenen sozialen Prozesse und Konflikte, auch die nationalstaatliche(6) Bewegung selbst und die imperialistische(5) Expansion, dann die Geschichte des Bürgertums(6), die Säkularisierung(3), die Kulturkämpfe(1) und die moderne Kultur(2) – waren durchweg nicht auf Deutschland(11) oder andere einzelne Länder begrenzt, sondern grenzüberschreitend und übernational, bei ausgeprägten internationalen Unterschieden. Für diese interessierte sich die seit den 1980er Jahren im Aufschwung befindliche Komparatistik(2), die einen ihrer Schwerpunkte in der Beschäftigung mit dem 19. Jahrhundert fand und oft nach besonderen Eigenarten der deutschen Entwicklung im internationalen (3)Vergleich fahndete. In den an Zahl beständig zunehmenden Darstellungen, die über Europa(17) im 19. Jahrhundert verfasst wurden, hat sich dagegen die Tendenz durchgesetzt, die deutsche Entwicklung als eine europäische(18) Variante unter anderen und als Teil der vielgestaltigen europäischen(19) Normalität zu betrachten. Zuletzt hat der Aufschwung der Globalgeschichte das deutsche 19. Jahrhundert in noch breitere Zusammenhänge gerückt, dabei die Abhängigkeit der deutschen Entwicklungen von transnationalen Prozessen betont und etwa den deutschen Erfahrungen mit Kolonialismus und imperialer Expansion sehr viel mehr Gewicht eingeräumt als traditionell(2) üblich(10).[12]

Eine zweite Antwort auf die Infragestellung des am Aufstieg und Sieg des Nationalstaats orientierten Paradigmas bestand darin, die Politik- und Staatengeschichte, die in der Historiographie zum 19. Jahrhundert vorgeherrscht hatte, auf neue Art mit der Sozial(1)-, Wirtschafts(2)- und schließlich Kulturgeschichte(1) zu verknüpfen und dadurch zu relativieren. Das 19. Jahrhundert wurde jedenfalls in der westdeutschen(1) Geschichtswissenschaft(3) zum hervorgehobenen Erprobungsfeld für neue, oft sozialwissenschaftlich(1) inspirierte Zugriffe der Geschichtswissenschaft(4), wie sie besonders seit den 60er Jahren ausprobiert und durchgesetzt wurden. In der DDR-Geschichtswissenschaft(5) führte die obligatorische Anwendung des historisch-materialistischen(1) Ansatzes im Prinzip ebenfalls zu einer gesellschaftsgeschichtlichen(1) Interpretation des 19. Jahrhunderts, wenn auch realiter die Politikgeschichte(1) weiterhin dominierte und die politisch vorgegebenen, oft teleologischen Grundannahmen des Marxismus(1)-Leninismus die Experimentier- und Innovationsfähigkeit(2) der Historiker empfindlich einschränkten. In der Folge dieser Perspektivenänderungen trat das 19. Jahrhundert als Zeitalter der Industrialisierung(4) bzw. des Industriekapitalismus(1) hervor, als Jahrhundert der sich durchsetzenden bürgerlichen(7) Gesellschaft(1) und der für sie typischen Konflikte, Kosten und Errungenschaften, das frühe 19. Jahrhundert als Ära von Revolution(6) und Reform, das späte als Epoche des Imperialismus(6), der Arbeiterbewegung(2) und der beginnenden Demokratisierung(3), das Jahrhundert insgesamt als Zeitalter der Modernisierung(1) von Wirtschaft(4), Gesellschaft(4), Staat(4) und Kultur(3), so sehr auch ältere Strukturen fortwirkten.[13] Damit wurde das 19. Jahrhundert als Vorgeschichte der Gegenwart im umfassenden Sinne gedacht, und zwar ohne nationalgeschichtliche(3) Verengung: als Epoche des Durchbruchs der Modernisierung(2) und als Grundlegung der »industriellen(1) Welt«, die auch das 20. Jahrhundert noch prägte, obwohl sie sich zunehmend postindustriell(1) veränderte. »In der materiellen Zivilisation(3) wie in der Organisation von Gesellschaft(5) und Staat, in den Strukturen des wirtschaftlichen Lebens wie in den Kategorien und Bestimmungsgründen von Kultur(4) und Wissenschaft(3), in Weltansicht und Lebensgefühl(1) stehen wir überall auf den Grundlagen des 19. Jahrhunderts.«[14]

Von triumphalistischem Fortschrittsdenken(2) war die modernisierungshistorische(3) Sicht des 19. Jahrhunderts allerdings weit entfernt. Davor schützte das Wissen vom Anfang und Ende des Jahrhunderts in Krieg(9) und Gewalt(3)(4). Dagegen feite die Kenntnis seiner vielfältigen dunklen Seiten. Dagegen stand schließlich die fundamentale Erfahrung des »Zivilisationsbruchs«(2), der die deutsche und große Teile der europäischen(20) Geschichte zwischen 1933 und 1945 getroffen hatte, der im kollektiven Gedächtnis(1)(3) der Gegenwart bis heute sehr präsent geblieben ist, ja sogar an Präsenz gewonnen hat und danach verlangte, auch historisch-langfristig gedeutet zu werden. Daraus entstanden neue, kritische Fragen an das 19. Jahrhundert, nämlich nach seinem Beitrag zur Vorbereitung der Katastrophen(2) des 20. Jahrhunderts.

In der Konsequenz lag es – zum einen – nahe, die Bedrohungs- und Zerstörungspotentiale auszuleuchten, die auch der Modernisierung(4) des 19. Jahrhunderts eigentümlich, wenn auch seinen Menschen nicht notwendig bewußt gewesen waren: Modernisierungsgeschichte(5) als Verlust- und Gefährdungsgeschichte, als Dialektik und Ambivalenz.[15] Während die zivilisationskritische(4) Sicht, die sich daraus ergab, den Blick der deutschen Geschichtswissenschaft(6) zunächst nur wenig geprägt hat, gewinnt sie mittlerweile, vor allem als zunehmende Sorge um die gefährdeten natürlichen Grundlagen der Menschheitsgeschichte, auch für die Interpretation des 19. Jahrhunderts deutlich an Boden.[16]

Als lange Zeit prägender für die Geschichtsschreibung über Deutschland(12) im 19. Jahrhundert erwies sich – zum anderen – die nationalgeschichtlich zugespitzte, jedoch implizit komparative(4) Frage nach den spezifisch deutschen Ursachen der Katastrophen(3) des 20. Jahrhunderts, nämlich die Frage nach dem »deutschen Sonderweg(2)«, der »German divergence from the West«, die mit besonderer Dringlichkeit in bezug auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert gestellt wurde. Im Kern ging es um die Frage, welche Eigenarten der modernen deutschen Geschichte dazu beigetragen haben, daß (13)Deutschland – anders als andere Länder des Westens – in der allgemeinen Krise der 1920er und 30er Jahre zur Beute des Faschismus(1) wurde, und zwar in seiner totalitärsten, aggressivsten und inhumansten Variante. Die Antworten auf diese Frage sind kontrovers geblieben, doch hat sie seit den 1960er Jahren einen erheblichen Teil der historischen Forschung zum 19. Jahrhundert mitmotiviert. Sie hat dazu geführt, daß Deutschland(14) im 19. Jahrhundert als Land der »verspäteten Nation(3)«(1) und der bürokratischen(1) »Reformen(1) von oben«, als Ort verspätet einsetzender, dann aber besonders heftiger Industrialisierung(5), als Gesellschaft(6) von eigenartiger, defizitärer Bürgerlichkeit(2), als Regierungssystem mit verhinderter Parlamentarisierung und als Kultur(5) in den Blick geriet, die sich von der Zivilisation(5) des Westens durch anti-pluralistische, illiberale, obrigkeitsstaatliche(2) und un-zivile Momente unterschied. Seit den 1980er Jahren haben allerdings die theoretische Kritik, die Ergebnisse gründlicher Forschung, die Erweiterung der von Historikern angewandten (5)Vergleichsperspektiven und die allmähliche Verschiebung der erkenntnisleitenden Gesichtspunkte dazu beigetragen, daß diese Sichtweise in wesentlichen Punkten revidiert wurde und insgesamt in den Hintergrund getreten ist, ohne jedoch völlig widerlegt worden und überholt zu sein.[17]

Immer häufiger wurde das 19. Jahrhundert als das Jahrhundert der soziopolitischen, sozioökonomischen(5) und soziokulturellen Modernisierung(6) gedeutet, mit Hilfe von Richtungsbestimmungen wie: vom Feudalismus(2) zur bürgerlichen(8) Gesellschaft(3) mit Klassenstruktur und Klassenkonflikten(5); von der ständisch gebundenen Ökonomie,(6) oft auf hauswirtschaftlicher Basis, zur kapitalistischen(5), zunehmend industrialisierten Marktwirtschaft(1) mit tendenzieller Trennung von Haus und Betrieb; vom Absolutismus(3) und Ständestaat(3) der Frühneuzeit(1) zum nationalen(2) Rechts- und Verfassungsstaat mit parlamentarischen(1) Institutionen, professionell-bürokratischer(2) Verwaltung(1) und zunehmender Demokratisierung(4); vom christlich(1) geprägten, kulturell(6) segmentierten »Alteuropa«(3) zur säkularisierten(1), pluralistischen(2) und tendenziell selbstreflexiven(1) Kultur(7) der Moderne(6) (oder wie immer die Leitbegriffe heißen, über die keine volle Einigkeit besteht). Je mehr dies geschah, desto deutlicher geriet das 19. Jahrhundert als ein europäischer(21) Prozeß mit globalen Interdependenzen in den Blick, der allerdings in den verschiedenen Regionen(1) und Ländern Europas(22) in sehr unterschiedlicher Ausprägung und zu unterschiedlichen Zeiten stattfand und meist doch im nationalgeschichtlichen(4) Rahmen dargestellt wird.[18]

Mit dieser Sicht verbreitete sich erneut die Neigung, das 19. Jahrhundert als Epoche nicht erst mit Napoleons(3) Abgang beginnen zu lassen, sondern mit den Revolutionen(7) des späten 18. Jahrhunderts, wobei je nach gewählter Perspektive unterschiedlich entschieden wurde und wird, ob nur die Französische(8) Revolution(4) mit ihren Auswirkungen seit 1789 oder auch die Amerikanische(1) Revolution(1) seit 1776 einbezogen werden soll. Bisweilen wurde von der industriellen(1) und soziopolitischen »Doppelrevolution«(1) (Hobsbawm(1), Wehler(1)) oder auch von der »Sattelzeit«(1) als Beginn der Moderne(7) (Koselleck(1)) gesprochen, d.h. von Anfangsperioden, die im kalendarischen 18. Jahrhundert begannen und ins 19. Jahrhundert hineinreichten. Die Details variieren, und voller Konsens besteht nicht. Vielmehr existieren konkurrierende Periodisierungen, etwa wenn vorgeschlagen wird, den Zeitraum von den 1880er Jahren bis in die 1970er Jahre, die tiefe Zäsur des Ersten Weltkriegs(7) allzu sehr relativierend, als eine Phase der »Hochmoderne(8)« zusammenzufassen, das 20. Jahrhundert also bereits im 19. Jahrhundert beginnen zu lassen und somit eher von einem »langen 20.« als von einem »langen 19. Jahrhundert« zu sprechen.[19] Es sind immer mehrere Periodisierungen möglich, sie variieren mit den jeweiligen Erkenntniszielen, Argumentationskontexten und Orientierungsbedürfnissen. Jede Periodisierung enthält ein Stück Deutung und damit auch Setzung, Selektion und Interpretation. Doch, wie gezeigt, ist die Neigung nicht unbegründet und weit verbreitet, vom »langen 19. Jahrhundert« zu sprechen, das sich von den 1770er oder 1780er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg(8) erstreckte.[20] Dem folgt auch dieses Buch.

c) Das 19. Jahrhundert heute

(11)Der zeitliche Abstand zum 19. Jahrhundert wächst. Für Franz Schnabel(3) gehörte das 19. Jahrhundert 1929 noch zur Zeitgeschichte, für die Autoren seit 1950 nicht mehr, denn für diese begann Zeitgeschichte meist mit dem Ersten Weltkrieg(9) – genauer: mit 1917 –, und im Laufe der Jahrzehnte ist die Neigung gewachsen, sie erst 1945 beginnen zu lassen. Was folgt daraus?

(12)Die Historisierung des 19. Jahrhunderts schreitet voran. Das Urteil wird distanzierter, ambivalenter, gelassener und bisweilen unsicherer. Des Jahrhunderts »manchmal fast naiv anmutende Selbstsicherheit und seine Selbsteinschätzung als Gipfel der historischen Entwicklung … war ein Phänomen, das die Epoche selbst nicht überdauert hat« (Theodor Schieder(1)). Umgekehrt galt später das Jahrhundert oftmals als rückständig. Es stand, so Sternberger(1), für »stickige Zimmer und unterdrückte Lüste, Gußeisen und Fischbein, falsche Fassaden und Fabriken(1), in denen Frauen(2) und Kinder(2) sich zu Tode arbeiteten«. Lange dominierte ein sehr kritisches Bild vor allem vom Kaiserreich(2)(4), das aufgrund seiner weiterlebenden vorindustriellen und vorbürgerlichen Züge als ungewöhnlich verkrustet, entwicklungsunfähig und – trotz moderner Ökonomie(7) – als partiell anachronistisch galt: eine langfristige Belastung und mitverantwortlich für die katastrophale Entwicklung (15)Deutschlands in der Zeit der Krisen und Kriege(10) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Diese Beurteilung ist nicht verschwunden, für sie spricht weiterhin manches. Doch immer häufiger ist in jüngster Zeit die Modernität(9) des 19. Jahrhunderts und besonders des Kaiserreichs(3)(5) herausgearbeitet worden. Und wer ihm weiterhin vor allem Traditionalität(3) und Beharrungskraft bescheinigt, seinen Eklektizismus und seine Behäbigkeit betont, meint dies oft weniger kritisch als früher. Das Pendel schlägt manchmal ins andere Extrem aus: Die Verluste, Probleme und Selbstunterminierungen des 19. Jahrhunderts werden seiner »Modernität«, seiner »Fortschrittlichkeit(2)« angelastet – eine melancholische, bisweilen ironische Kehre. Mit dem bröckelnden Selbstbewußtsein der Moderne(10) im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert geraten die Maßstäbe für die Beurteilung des 19. ins Wanken. Auch die These vom »deutschen Sonderweg(3)«, deren modernisierungshistorischer(7) Kern unbestreitbar ist, wird davon tangiert. Und man entdeckt immer wieder empirisch Neues. Je besser das 19. Jahrhundert erforscht ist, desto sperriger erweist es sich gegenüber eindeutigen Urteilen. Auch umgekehrt gilt: Je distanzierter und vorsichtiger das Urteil übers 19. Jahrhundert wird, desto mehr erfährt man über seinen Verlauf.[21]

(13)Die Versuche, das Jahrhundert in einer knappen Formel zu fassen, sind selten geworden.[22] Vielmehr wird immer wieder sein Misch-, Übergangs- und Durchgangscharakter betont.[23] Dagegen spricht, daß vermutlich jede historische Epoche so charakterisiert werden kann und damit die Charakterisierung wenig besagt. In dieser Allgemeinheit kann sie nicht falsch sein. Für diese Sichtweise spricht, daß sie implizit an dem Ziel festhält, das die modernisierungshistorischen(8) Ansätze explizit verfolgen: das 19. Jahrhundert in langfristigen Entwicklungsprozessen zu verorten, im Hinblick auf ein Vorher und Nachher, zwischen Frühneuzeit(2) und Zeitgeschichte, zwischen Alteuropa(4) und Spät- bzw. Postmoderne(1). Das Mischungsverhältnis zwischen überlebendem Alten und zukunftsträchtigem Neuen wird empirisch weiterhin unterschiedlich bestimmt. Arno Mayers(1) Versuch, das 19. Jahrhundert noch ganz der alteuropäischen(5) Seite zuzurechnen, die »Resistenz der alten Ordnung« zu betonen und die Moderne(11) erst mit der »Katharsis« des Ersten Weltkriegs(10) beginnen zu lassen, hat sich nicht durchgesetzt. Joachim Radkaus(1) Versuch, das Kaiserreich(4)(6) schon ganz dem modernen »Zeitalter der Nervosität(2)« zuzurechnen, spitzt in die andere Richtung zu.[24] Wie sich Herkömmliches und Modernes(12) im 19. Jahrhundert mischten, wird Autoren auch in Zukunft beschäftigen: ein Streit, der seinen Reiz nicht verliert, weil er sich mit den sich verschiebenden Wertungen und Perspektiven der Gegenwart immer wieder erneuert.

Oft geht die Historisierung des Jahrhunderts noch weiter. Schon Theodor Schieders(2) Versuch ist hier zu nennen, das Jahrhundert nicht mehr in polaren Entwicklungsbegriffen nach dem Muster »von … bis« einzufangen, sondern nur noch in Antinomien, die das spannungsvolle Nebeneinander von gegensätzlichen Momenten beschreiben, ohne diese zu verzeitlichen und damit in Langzeitprozessen mit Vergangenheit und Zukunft einzuordnen. Die unbestreitbare »Mehrschichtigkeit« der Epoche wird damit betont, ihre bisweilen paradox anmutende Vielfalt, ihre »mangelnde Stileinheit« – trotz vorhandener »Epocheneinheit«, an der Schieder festhält, ohne sie aber begrifflich eindeutig zu bestimmen.[25] Die Vorstellung von der Einheit des Jahrhunderts wird in jüngeren Darstellungen ganz aufgegeben, so in der »Politischen Theorie für das 19. Jahrhundert«, die Wilfried von Bredow(1) und Thomas Noetzel(1) unter der Überschrift »Lehren des Abgrunds« und »Luftbrücken« vorlegten: kritische Vignetten, Einzelfunde, Kombinationen aus postmoderner(2) Sicht, mit Anregungen und Überraschungen, in ausdrücklicher Absetzung von den überkommenen »großen Erzählungen« und in Abwendung von jeder Form teleologischen oder linear konstruierenden Denkens. Man sieht sich auf der fröhlichen Suche nach dem Müll statt dem Sinn der Geschichte.[26]

Vielleicht gelingt es damit, dem lange allzu vertraut erscheinenden 19. Jahrhundert ein Stück Fremdheit zurückzugeben, seine Eigenständigkeit zu respektieren und es für eine neue Generation(1) interessant zu machen, die dieses Jahrhundert nicht mehr als die eigene Vorgeschichte empfindet und an der Erklärung des Zivilisationsbruchs(3) der 1930er und 40er Jahre (und der deutschen Rolle dabei) weniger interessiert ist als an der Krise des Fortschrittsdenkens(3) und der Gewinn(1)- und Verlustrechnung der Moderne(13) überhaupt. Aber der Gegenstand des Nachdenkens – das 19. Jahrhundert – geht dabei verloren. Er zerfällt in seine Teile und wird aus seiner Verbindung zum Vorher und Nachher gelöst. Wenn Geschichte auch synchrone und diachrone Zusammenhangserkenntnis erstrebt – in aufklärerischer(2) Absicht, zur Beantwortung verbreiteter Deutungsbedürfnisse, im Interesse an intellektueller Kohärenz oder auch nur aus ästhetischen Gründen –, kann dies jedenfalls nicht das letzte Wort sein.

Das braucht es auch nicht. Jetzt, im 21. Jahrhundert, läßt sich das 19. klarer als früher erfassen. Die Darstellung kann auf der Arbeit(2) von Historikergenerationen fußen und von ihren Deutungen weiterführend aufnehmen, was gegenwärtig als sinnvoll erscheint. Die Fortschritte(3) der Geschichtswissenschaft(7) sind immens; sie haben Dimensionen der Wirklichkeit erschlossen, die früheren Historikern unzugänglich waren: neben und in Verbindung mit Entscheidungen, Akteuren und Mustern der Politik auch soziale Strukturen(2) und Prozesse, wirtschaftliche Wachstumserfolge(1) und -krisen, Mentalitäten(1), Einstellungen, Emotionen(2), Verarbeitungsmuster und symbolische(1) Praktiken. Vor allem lassen sich die Langzeitfolgen des 19. Jahrhunderts heute umfassender erkennen und würdigen als jemals zuvor: nicht nur die Kriege(11) und Krisen, in die es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts führte, auch die vergleichsweise friedliche(4), aufbauende und innovative(3) Periode, die jedenfalls in großen Teilen der westlichen Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts folgte. Nicht nur den Aufstieg der großen diktatorischen(5) Bewegungen und Systeme des 20. Jahrhunderts kann man rückblickend als Folgen des 19. erkennen, auch ihren teils blutigen, teils friedlichen(5) Niedergang bis hin zum großen Umbruch von 1989–91; nicht nur die zunehmende Fragmentierung(3) Europas(23) und der Welt bis 1945, sondern auch ihr zunehmendes Zusammenwachsen(2) in den folgenden Jahrzehnten; nicht nur das bedrückende Erbe von Kolonialismus(2) und Imperialismus(7), sondern auch Dekolonisierung, und nicht nur die tiefen Zivilisationsbrüche(4) der Weltkriegszeit(3), für die Deutschland(16) so große Verantwortung trägt, sondern auch die erfolgreichen Lernprozesse in den Jahrzehnten danach. Umfassender erkennen und würdigen läßt sich allerdings auch die fortdauernde Krisenhaftigkeit der Moderne(14), die sich in der zunehmenden Wahrscheinlichkeit ökologischer(1) Katastrophen(4), in der fortbestehenden Gefahr menschlicher Selbstauslöschung sowie in problematischen sozialen und kulturellen(8) Folgen des Kapitalismus(6) zeigt, dessen Aufstieg und Ausbreitung dem 19. Jahrhundert zu verdanken ist. Auch wird zu berücksichtigen sein, daß das »kurze 20. Jahrhundert«, das vom Ersten Weltkrieg(11) bis 1989/91 dauerte, das »lange 19. Jahrhundert« nur scheinbar radikal zu Ende gebracht, teilweise nur vorübergehend überlagert und lediglich unvollkommen ausgelöscht hat. In den letzten Jahrzehnten deutete sich jedenfalls in Europa(24) eine partielle Rückkehr zu neu-alten Mustern an, die schon vor dem Ersten Weltkrieg(12) entstanden.[27]

(3)Allerdings ist an eine Einsicht von Ernst Troeltsch(2) aus dem Jahr 1913 zu erinnern. Er beklagte die hoch spezialisierte(2), teilweise fragmentierende Betriebsamkeit der Geschichtswissenschaft(8) und brachte sie mit der Perspektivlosigkeit seiner Gegenwart, mit der verbreiteten Relativierung fester Normen(1) und leitender Zukunftsvorstellungen zusammen. »Wo diese Zukunftsrichtung wegfällt, da wird die Historie zum reinen Historismus(2), zur völlig relativistischen Wiedererweckung beliebiger vergangener Bildungen, mit dem lastenden und ermüdenden Eindruck historischer Aller-Welts-Kenntnis und skeptischer Unproduktivität für die Gegenwart.«[28] Zu Recht wird jeder darauf bestehen, für Zukunftsvorstellungen zunächst einmal selbst und individuell zuständig zu sein. Gleichwohl mag es lohnen, in ausgiebigen Diskussionen zu prüfen, wieweit über Perspektiven der zukünftigen Entwicklung im Licht der historischen Erfahrung Verständigung zu erzielen ist. Nach dem großen Umbruch von 1989/91 wird man sie am ehesten im Umkreis weiterzuentwickelnder Gedanken zur überlebenden und gestärkten Utopie der Zivilgesellschaft(2) finden, die allerdings mit einem allzu hohen Maß sozialer(1) und ökonomischer(8) Ungleichheit auf Dauer nicht vereinbar ist; in verträglichen Strategien der wirtschaftlichen Entwicklung, die den Markt(1) nicht beseitigen, aber auf globaler Ebene zu zivilisieren(2) suchen, wie dies seit dem späten 19. Jahrhundert innerhalb einiger Gesellschaften(7) durch den Sozialstaat gelang; in übernationalen Koordinations- und Herrschaftsmechanismen in Ergänzung der Nationalstaaten(7), deren Leistungsfähigkeit(1) auf dem heutigen Stand internationaler Verflechtung nicht mehr ausreicht; beim Versuch, die Zukunftsfähigkeit in ökologischer(1) Hinsicht wiederzugewinnen, und zwar weltweit. Gegenwärtig – 30 Jahre nach dem Mut machenden großen Umbruch von 1989/91 – wird man die Realisierungschancen solcher Zukunftsziele eher skeptisch beurteilen. Fortschritte(4) erfolgen nur langsam, Gegenbewegungen haben in den letzten Jahren an Kraft gewonnen. Aber Geschichte ist in die Zukunft hinein offen. Und die Kraft zur historischen Synthese ist letztlich von der Fähigkeit zur überzeugenden Zukunftsperspektive abhängig, die allerdings ihrerseits ohne »historische Selbsterkenntnis«, so Troeltsch, nicht zu erreichen ist.

(4)Wenn auch das 19. Jahrhundert in weitere Ferne gerückt ist und die Geschichtswissenschaft(9) in Forschung, Lehre und Publikationen heute viel weniger beschäftigt als früher[29], steht doch auch das 21. Jahrhundert noch fest auf Grundlagen, die das 19. legte: in der materiellen Zivilisation(6) wie in der Organisation von Gesellschaft(8) und Staat(5), in den Strukturen(3) des wirtschaftlichen Lebens wie in der Welt der Wissenschaften(4), in Bezug auf Nationalstaat(8) und Verfassung(2), Freiheit(4) und Emanzipation(2). Aus intellektuellen wie aus politischen Gründen ist es unerlässlich, die jeweilige Gegenwart auch historisch zu begreifen, d.h. als eine Konstellation, die entstanden ist, sich wandelt und vermutlich langfristig wieder vergehen wird. Wer das hier und heute versucht, kommt um das 19. Jahrhundert nicht herum.[30]

Fortschritt(5) ist in der Geschichtswissenschaft nicht unumstritten. Die neuesten Untersuchungen zu einem historischen Thema sind den älteren zum selben Thema nicht notwendig überlegen. Methodisch hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr viel verändert. Zu den unbestreitbaren Gewinnen gehört zweifellos die stark gewachsene Fähigkeit zu transnationalen und globalen Sichtweisen, die auch nationalgeschichtlich gepolte Darstellungen bereichern, aber keineswegs überflüssig machen. Groß sind die Fortschritte in den Bereichen der (2)Kultur(9)- und Mentalitätengeschichte(2) wie in der historisch-anthropologischen Forschung. Dagegen tendieren neuere Arbeiten zum 19. Jahrhundert manchmal zur Vernachlässigung der doch so wichtigen sozialökonomischen Dimension.[31] Überdies führt die oft beobachtbare Ablehnung von »Meisternarrativen« (beispielsweise von modernisierungstheoretischen Sichtweisen) bisweilen zur Abwendung von analytischen Zugriffen überhaupt und damit zur Geringschätzung von Zusammenhangserkenntnis. Die hier vorgelegte Einführung ins 19. Jahrhundert versucht, die neuen und neuesten Forschungsergebnisse aufzunehmen und zum Beispiel von den Fortschritten der (3)Kultur- und Wissensgeschichte(5) zu profitieren. Sie behandelt klassische Themen wie die Krisen des (5)(1)Vormärz, die Besonderheiten der deutschen Nationalstaatsbildung(9) und die (3)Kolonialgeschichte des (7)Wilhelminischen Reichs. Zugleich steht sie in der (4)Tradition der Historischen Sozialwissenschaft(2) mit ihrem besonderen Interesse für (2)sozialgeschichtliche Themen und für die Analyse umgreifender Strukturen und fundamentaler Prozesse.[32] Das Ziel ist die Synthese.

(5)Die Darstellung erfolgt in vier analytischen Schnitten durch den gesamten Zeitraum, die nacheinander das Jahrhundert – in (17)Deutschland, jedoch in europäischer(25) Perspektive – als Epoche der kapitalistischen(7) Industrialisierung(6), als historischen Ort rasant beschleunigten Bevölkerungswandels(3) und massenhafter (2)Wanderungen, als Jahrhundert der sich gegen Widerstände durchsetzenden bürgerlichen(9) Gesellschaft(4) mit ihrer Kultur(1) und ihren sozialen Konflikten sowie als Zeit der Nationsbildung(2) und der aufsteigenden Nationalstaaten im internationalen Kontext begreifbar machen. Von hier aus werden weitere charakteristische Merkmale der Geschichte (18)Deutschlands im 19. Jahrhundert erschlossen: Verfassungskämpfe, soziale Bewegungen, Ansätze zur Demokratisierung(5) und die Grundlegung des Sozialstaats(3); der Aufstieg von Bildung(1) und Wissenschaften(6), Veränderungen der Denkgewohnheiten und Mentalitäten(3)(3); Urbanisierung, Land(1)-Stadt(1)-Unterschiede und -Beziehungen, der beginnende Massenkonsum(1), eine spezifische Mischung von Frieden(6) und Krieg(12), Technik(2) und Künste, die Ausbreitung des Kapitalismus(8) und Kapitalismuskritik(1), Herrschaft und Unterwerfung, Eliten(2) und Außenseiter. Was hielt Gesellschaften(9) und Staaten(6) zusammen, was trieb sie auseinander, was bewegte sie schließlich – konträr zu den großen Hoffnungen und Zukunftserwartungen des Jahrhunderts – in die Katastrophe(5) des Ersten Weltkriegs hinein(13)? Was lernt man daraus?

Jedes der vier Kapitel ist in sich chronologisch strukturiert: von den einschneidenden Reformen zum Jahrhundertbeginn über die scheiternde Revolution von 1848/49(2) und das (2)Reichsgründungsjahrzehnt(1) bis in die Zuspitzung des Imperialismus(8) und die »Urkatastrophe« des Ersten Weltkriegs(14).(6) In jedem werden Politik(2)-, Wirtschafts(3)-, Kultur(4)- und Sozialgeschichte(3) verbunden (und gerade nicht auf einzelne Kapitel verteilt). Es geht um deutsche Geschichte,[33] doch wird sie mit Hilfe vieler grenzüberschreitender Blicke als Variante europäischer(26) Geschichte verstanden, wenn auch weder den grenzüberschreitenden Verflechtungen noch den internationalen (6)Vergleichen intensiv nachgegangen werden kann. Die Argumentation enthält zahlreiche globalgeschichtliche Implikationen, doch werden diese nicht ausgeführt. Es geht um Grundlinien der Entwicklung. Immer wieder wird auf offene Fragen und Wege weiterer Forschung verwiesen. Das letzte Kapitel führt die verschiedenen Entwicklungslinien ein Stück weit zusammen und begreift das 19. Jahrhundert als das Jahrhundert, in dem sich die klassische Moderne(1) durchsetzte.

Diese Einführung stellt die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts nicht als »Sonderweg(4)« und Abweichung vom Muster »des Westens« dar. Aber Eigenarten der deutschen Entwicklung werden abschließend identifiziert, wobei auf Motive und Ergebnisse der Sonderweg(5)-Diskussion zurückgegriffen und nicht ausgeblendet wird, daß es in (19)Deutschland, härter und geschichtsmächtiger als anderswo, schon wenige Jahre nach dem Ende des langen 19. Jahrhunderts, durch Nationalsozialismus(1), Zweiten Weltkrieg(4) und Holocaust, zu einem beispiellosen zivilisatorischen(7) Zusammenbruch(5) kam, der auch durch langfristig wirkende Bedingungen ermöglicht worden ist.

Kapitel 2

Das Jahrhundert der Industrialisierung(7)

a) Das Grundmuster des Wachstums

Der Blick auf die sozialökonomische(9) Geschichte(4) des 19. Jahrhunderts verändert sich. Wenn es – trotz unterschiedlicher Sichtweisen im einzelnen – eine Standardinterpretation gab, dann war dies jahrzehntelang ihre Betrachtung als eine Geschichte der Industrialisierung(8). Diese Interpretation hat ihre Überzeugungskraft nicht verloren. Aber sie erfährt in jüngster Zeit erhebliche Ergänzungen, Akzentverschiebungen und Umwertungen, so daß ein neues Gesamtbild entsteht. Diese Revisionen sind noch im Gange.

Gemäß dieser seit den 1950er Jahren zumindest in der westlichen Wirtschaftsgeschichte(5) dominanten Interpretation stellte die Industrialisierung(9) einen fundamentalen Wachstums(2)- und Strukturwandlungsprozeß dar, durch den sich das 19. Jahrhundert in Deutschland(20) wie in vielen anderen Ländern deutlich vom 18. Jahrhundert unterscheiden, aber mit dem 20. verknüpfen läßt; eine im Kern sozialökonomische(10) Entwicklung, die aber in so gut wie alle Lebensgebiete ausstrahlte und in begrenzter Zeit die Welt dramatisch veränderte, so daß einzelne Autoren von der »gründlichsten Umwälzung menschlicher Existenz, die jemals in schriftlichen(1) Quellen festgehalten worden ist« (Hobsbawm(2)) oder der größten menschheitsgeschichtlichen Zäsur seit der Seßhaftwerdung im Neolithikum (Cipolla(1), Gehlen(1), Conze(1)) gesprochen haben;[1] sie stellte danach einen Prozeß dar, der in England(1) in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Nordamerika(2) und auf dem westlichen Kontinent (so auch in (21)Deutschland) Fuß faßte, in späteren Jahrzehnten auch im östlichen Europa(1) und in Japan(1) begann und im 20. Jahrhundert in anderen Teilen der Welt zur Wirksamkeit kam, ein international vielfach zusammenhängender, aber äußerst ungleicher und bis heute nicht flächendeckender Prozeß mit nationalen(3) und regionalen(2) Verdichtungen, die sich nicht nur nach dem »timing«, sondern, damit verknüpft, auch nach Inhalt und Form unterschieden und dennoch als unterschiedliche Ausprägungen eines vom westlichen Europa(1) ausgehenden und sich mittlerweile weltweit erstreckenden Gesamtprozesses verstanden werden sollten.

Zunächst und vor allem stellte die Industrialisierung(10)