Kanadischer Winter - Giles Blunt - E-Book
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Giles Blunt

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  • Herausgeber: Kampa Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Algonquin Bay, ein kleines Nest in Ontario im Südosten Kanadas, ist im Winter ein unwirtlicher Ort. Die Eisdecke auf dem See hielte einem Güterzug stand, und das Schlafzimmer in seiner Holzhütte kann Detective John Cardinal als Kühltruhe nutzen. Nicht nur die Kälte, auch die Einsamkeit macht Cardinal zu schaffen, seit seine Frau in eine Psychiatrie eingewiesen wurde und die Tochter an der Eliteuniversität Yale Kunst studiert. Als spielende Kinder auf einer Insel im See eine Leiche entdecken, fühlt sich Cardinal, den man ins Dezernat für Eigentumsdelikte versetzt hat, erst nicht zuständig. Doch bei dem in einem Eisblock gefrorenen Körper handelt es sich um die dreizehnjährige Chippewa Katie Pine, die Monate zuvor entführt worden ist. Entgegen der Meinung seines Vorgesetzten war Cardinal von Anfang an von einem Gewaltverbrechen überzeugt und ist erleichtert, endlich weiter ermitteln zu dürfen. Weniger erfreut ist Cardinal über seine neue Partnerin Lise Delorme, die zuletzt für die Abteilung Sonderermittlungen tätig war. Hat sie womöglich den Auftrag, Cardinal auszuspionieren? Denn der hat tatsächlich etwas zu verbergen. Cardinals Sorgen werden nicht weniger, als weitere Leichen gefunden werden …

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Seitenzahl: 565

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Giles Blunt

Kanadischer Winter

Der erste Fall für John Cardinal

Kriminalroman

Aus dem kanadischen Englisch von Reinhard Tiffert

Kampa

In memoriam

Philip L. Blunt

(1916–2000)

1

In Algonquin Bay wird es früh dunkel. Wer im Februar nachmittags gegen vier zum Airport Hill hinauf- und eine halbe Stunde später wieder hinunterfährt, sieht die Straßen der Stadt wie beleuchtete Rollbahnen unter sich im Dunkeln glitzern. Der sechsundvierzigste Breitengrad an sich liegt eigentlich gar nicht so weit nördlich; man kann viel weiter nördlich und immer noch in den Vereinigten Staaten sein, und sogar Englands Hauptstadt London liegt ein paar Grad näher am Nordpol. Aber wir reden hier von Ontario, Kanada, und Algonquin Bay im Februar ist der Inbegriff des Winters: Algonquin Bay liegt unter einer geschlossenen Schneedecke, in der Stadt geht es ruhig zu, und es ist kalt, eisig kalt.

John Cardinal kam vom Flughafen und war auf dem Weg nach Hause. Er hatte gerade seine Tochter Kelly verabschiedet, die an Bord einer Maschine gegangen war, um über Toronto in die USA zu fliegen. Im Auto roch es noch nach ihr, jedenfalls nach dem Parfum, das seit Kurzem zu ihrem Markenzeichen geworden war: »Rhapsodie« oder »Ekstase« oder etwas in der Richtung. Für Cardinal, der nun ohne Frau und Tochter auskommen musste, roch es nach Einsamkeit.

Draußen waren es etliche Grade unter null; der Winter hatte den Wagen fest im Griff. Die Scheiben des Toyota Camry waren auf beiden Seiten gefroren, und Cardinal kratzte mit einem primitiven Plastikschaber ohne großen Erfolg an ihnen herum. Von Airport Hill kommend, fuhr er in südlicher Richtung, bog erst links auf die Umgehungsstraße ab und dann nochmals links auf die Trout Lake Road. Von hier ging es dann wieder in nördlicher Richtung nach Hause.

Sein Zuhause, wenn man das ohne Catherine und Kelly überhaupt so nennen konnte, war ein bescheidenes Holzhaus an der Madonna Road, das kleinste unter den Cottages, die wie eine lang gestreckte Brosche das Nordufer des Trout Lake säumten. Cardinals Haus sollte eigentlich »winterfest« sein, jedenfalls hatte das der Immobilienmakler behauptet, doch winterfest war ein relativer Begriff. Kelly sagte immer, in ihrem Schlafzimmer könne man gut Eiscreme aufbewahren.

Die Zufahrt zum Haus lag versteckt hinter meterhohen Schneewehen, deshalb sah Cardinal das Auto, das seine Zufahrt blockierte, erst im letzten Augenblick und wäre beinahe aufgefahren. Aus dem Auspuff des parkenden Autos, eines der Zivilfahrzeuge, die bei der Polizei im Einsatz waren, kamen weiße Abgaswolken. Cardinal wendete und parkte gegenüber. Lise Delorme, die im Police Department von Algonquin Bay ganz allein die Abteilung für Sonderermittlungen verkörperte, stieg aus dem Wagen und kam durch die Abgasschwaden zu ihm herüber.

Das Police Department war trotz »fortwährender Bemühungen um Gleichberechtigung am Arbeitsplatz«, wie es im Bürokratenjargon immer so schön hieß, weiterhin eine Bastion des männlichen Chauvinismus. Allgemein herrschte dort die Auffassung, dass Lise Delorme ein bisschen zu – ja, was eigentlich? – für ihre Aufgabe war. Schließlich war man zum Arbeiten dort, zermarterte sich das Hirn und konnte keine Ablenkung brauchen. Nicht, dass Delorme wie ein Filmstar aussah. Das nicht. Aber sie hatte so eine gewisse Art, einen anzusehen, wie McLeod es ausdrückte – und da hatte McLeod ausnahmsweise einmal recht. Sie hatte die irritierende Angewohnheit, einen mit ihren ernsten braunen Augen ein klein wenig zu lange, vielleicht nur den Bruchteil einer Sekunde, anzublicken. Fast so, als wollte sie einem die Hand unters Hemd schieben.

Kurz, Lise Delorme konnte einen verheirateten Mann einigermaßen in Verlegenheit bringen. Und Cardinal hatte noch andere Gründe, sie zu fürchten.

»Ich wollte schon aufgeben«, sagte sie. Ihr frankokanadischer Akzent war unberechenbar: Die meiste Zeit bemerkte man ihn kaum, bis plötzlich im Auslaut die Konsonanten verstummten und ihre Sätze mit einem doppelten Subjekt aufwarteten. »Ich habe mehrmals bei Ihnen angerufen, aber keiner hat abgenommen, und Ihr Anrufbeantworter, der lief auch nicht.«

»Den habe ich ausgeschaltet«, sagte Cardinal. »Aber weshalb sind Sie überhaupt hergekommen?«

»Dyson sagte, ich solle Sie holen. Wir haben eine Leiche.«

»Da sind Sie bei mir falsch. Ich arbeite nicht im Morddezernat, wissen Sie das nicht?« Cardinal versuchte sachlich zu bleiben, hörte aber selbst den bitteren Unterton in seiner Stimme.

»Würden Sie mich bitte durchlassen, Sergeant?« Der »Sergeant« war ein gezielter Nadelstich. Zwei Kripobeamte im gleichen Rang redeten sich normalerweise mit dem Namen an, es sei denn, sie sprachen vor Dritten oder in Gegenwart von Berufsanfängern.

Delorme stand zwischen ihrem Auto und der Schneewehe. Sie trat beiseite, sodass Cardinal das Garagentor erreichen konnte.

»Ich habe den Eindruck, dass Dyson Sie wieder ins Dezernat zurückholen möchte.«

»Das ist mir gleich. Würden Sie jetzt wohl rausfahren, damit ich mit meinem Wagen in die Garage kann? Ich meine, wenn Dyson nichts dagegen hat. Warum hat er übrigens gerade Sie hierher geschickt? Seit wann arbeiten Sie im Morddezernat?«

»Sie haben doch bestimmt gehört, dass ich nicht mehr bei der Abteilung für Sonderermittlungen arbeite?«

»Nein, ich habe nur gehört, dass Sie dort aussteigen wollten.«

»Jetzt ist es amtlich. Dyson sagte, Sie würden mir beim Einarbeiten helfen.«

»Nein danke, kein Interesse. Wer ermittelt jetzt bei polizeiinternen Delikten?«

»Mein Nachfolger ist noch nicht da. Ein Mann aus Toronto.«

»Schön«, sagte Cardinal. »Tut nichts zur Sache. Werden Sie sich ohne mich verirren? Es ist kalt, ich bin müde, und ich würde gerne was zu Abend essen.«

»Wie es heißt, soll es sich um Katie Pine handeln.« Während Delorme diese Vermutung äußerte, beobachtete sie genau Cardinals Miene. Ihren ernsten Augen entging nichts.

Cardinal vermied ihren Blick und starrte in die Dunkelheit, hinter der sich der Trout Lake verbarg. In der Ferne huschte das Scheinwerferpaar eines Schneemobils vorüber. Katie Pine. Dreizehn Jahre alt. Seit dem 12. September vermisst; das Datum würde er nie vergessen. Katie Pine aus dem Chippewa-Indigenenreservat, eine gute Schülerin, Mathe-As, ein Mädchen, das er nie gesehen hatte, und doch wünschte er sich mehr als alles andere, es endlich zu finden.

Im Haus klingelte das Telefon. Delorme sah auf ihre Armbanduhr. »Das ist Dyson. Er hat mir nur eine Stunde gegeben.«

Cardinal ging hinein, ohne Delorme hereinzubitten. Beim vierten Klingeln nahm er den Hörer ab und hatte sofort Detective Sergeant Don Dysons quakende Stimme im Ohr. Sein Vorgesetzter sprudelte, als wären sie mitten in einer Diskussion unterbrochen worden und hätten erst jetzt, drei Monate später, Gelegenheit gefunden, ihren Disput fortzusetzen. In gewisser Hinsicht stimmte das sogar.

»Wir wollen keine Zeit mit dem Aufwärmen alter Geschichten verlieren«, begann Dyson. »Sie verlangen eine Entschuldigung, ich entschuldige mich. Bitte sehr. Erledigt. Auf den Manitou Islands ist eine Leiche gefunden worden, und McLeod ist bei Gericht unabkömmlich. Er steckt bis über beide Ohren im Fall Corriveau. Also ist die Leiche ab jetzt Ihr Fall.«

Cardinal spürte, wie die alte Wut in ihm wieder hochkochte. Ich mag ja ein schlechter Polizist sein, sagte er sich, aber nicht so, wie Dyson sich das denkt. »Im Morddezernat haben Sie mich geschasst, erinnern Sie sich? Ich sollte nur noch für Eigentumsdelikte zuständig sein.«

»Ich habe Ihre Zuständigkeit geändert, so etwas macht ein Detective Sergeant nun mal. Alte Geschichten, Cardinal. Schnee von gestern. Wir reden darüber, wenn Sie sich die Leiche angesehen haben.«

»›Das ist eine Ausreißerin‹, haben Sie gesagt. ›Katie Pine ist kein Mordfall, das Mädchen ist von zu Hause weggelaufen.‹ Ich höre es noch wie heute.«

»Cardinal, Sie arbeiten wieder im Morddezernat, klar? Sie übernehmen die Ermittlungen, das ist jetzt ganz allein Ihre Show. Allerdings könnte sich herausstellen, dass es sich nicht um Katie Pine handelt. Aber selbst Sie Ermittler von der oberkorrekten Sorte werden sich doch sicherlich hüten, eine Leiche, die Sie noch nicht gesehen haben, vorschnell zu identifizieren. Wenn Sie unbedingt ›Hab-ich-es-Ihnen-nicht gesagt?‹ spielen wollen, dann kommen Sie morgen um acht in mein Büro. Das Beste an meinem Posten ist nämlich, dass ich nachts nicht rausmuss, und solche Anrufe kommen immer nachts.«

»Das ist von jetzt an mein Fall, meine Show ganz allein – wenn ich es mache.«

»Das ist nicht meine Entscheidung, Cardinal, und das wissen Sie. Lake Nipissing fällt in die Zuständigkeit unserer sehr geschätzten Brüder und Schwestern von der Ontario Provincial Police. Aber selbst wenn es die Sache der OPP wird, werden die nicht auf unsere Mitarbeit verzichten wollen. Ganz gleich, ob es Katie Pine oder Billy LaBelle ist, beide wurden in dieser Stadt – unserer Stadt – entführt, mal vorausgesetzt, sie wurden beide entführt. So oder so ist es unser Fall. Und da sagen Sie, ›wenn ich es mache‹.«

»Ich schlage mich lieber weiter mit Diebstählen und Einbrüchen herum, wenn das hier nicht ab sofort ausschließlich mein Fall ist.«

»Lassen Sie doch den Coroner eine Münze werfen«, giftete Dyson und hängte auf.

Cardinal rief zu Delorme hinüber, die sich aus der Kälte hereingewagt hatte und nun schüchtern in der Küchentür stand: »Zu welcher der Manitou Islands müssen wir denn?«

»Nach Windigo. Der mit dem Bergwerksschacht.«

»Dann los. Ob das Eis einen Lastwagen trägt?«

»Sehr witzig. Um diese Jahreszeit würde das Eis sogar einen ganzen Güterzug tragen.«

Delorme zeigte mit dem Daumen ihrer behandschuhten Hand in Richtung Lake Nipissing.

»Ziehen Sie sich warm an«, sagte sie. »Der Wind auf dem See ist eisig kalt.«

2

Vom Government Dock zu den sieben Meilen westlich gelegenen Manitou Islands verlief, wie ein blassblaues Band, ein vom Schneepflug geräumter Streifen über den See. Die Inhaber der Motels am Seeufer hatten den Schnee räumen lassen, um Eisfischer, ihre wichtigste Kundschaft in den Wintermonaten, anzulocken. Im Februar konnten Autos und sogar Lastwagen ohne Gefahr über das Eis fahren. Es war allerdings nicht klug, schneller als fünfzehn bis fünfundzwanzig Stundenkilometer zu fahren. Der Konvoi aus vier Fahrzeugen, in deren Scheinwerferlicht der aufgewirbelte Schnee in hellen Prismen leuchtete, bewegte sich langsam über das Eis.

Cardinal und Delorme saßen schweigend im ersten Wagen. Ab und zu beugte sich Delorme hinüber, um die Windschutzscheibe auf Cardinals Seite freizukratzen. Das Eis fiel in Spänen herab und schmolz auf dem Armaturenbrett und auf den Oberschenkeln.

»Kommt mir vor, als würden wir auf dem Mond landen.« Ihre Stimme war über dem Knirschen der Schaltung und dem Lärm des Heizgebläses kaum zu hören. Um sie herum lag Schnee in den verschiedensten Tönungen, von knochenbleich bis anthrazitgrau, und in den Senken der Schneeverwehungen spielte er sogar ins Dunkelviolette.

Cardinal beobachtete im Rückspiegel den nachfolgenden Konvoi: das Auto des Coroners, dahinter die Scheinwerfer des Wagens der Spurensicherung und am Schluss der Lkw.

Ein paar Minuten später tauchten vor ihnen im Scheinwerferlicht die unregelmäßigen Konturen von Windigo Island auf. Die Insel war winzig, nicht größer als dreihundert Quadratmeter, und hatte nur einen schmalen felsigen Uferstreifen, wie Cardinal von seinen sommerlichen Segeltouren wusste. Aus dem Kiefernwald ragte wie ein Kommandoturm der Holzbau des Schachteingangs. Im Mondlicht hatten die Schatten messerscharfe Konturen, die hin und her sprangen und zitterten, als sie sich näherten.

Die Fahrzeuge kamen nacheinander an und parkten in einer Reihe. Das Licht der Scheinwerfer bildete zusammen einen lang gezogenen weißen Wall. Dahinter nichts als Finsternis.

Cardinal und die anderen versammelten sich auf dem Eis. In ihren langen schweren Mänteln und unförmigen wadenhohen Schneestiefeln sahen sie aus wie die Mitglieder einer Mondlandungsexpedition. Klamm vor Kälte traten sie von einem Fuß auf den anderen. Insgesamt waren sie acht: Cardinal und Delorme, Dr. Barnhouse, der Coroner, Arsenault und Collingwood, die Männer von der Spurensicherung, Larry Burke und Ken Szelagy, blau uniformierte Beamte im Streifendienst, und Jerry Commanda von der Ontario Provincial Police, der als Letzter in einem Zivilfahrzeug angekommen war. Die Ontario Provincial Police, kurz OPP, war für die Sicherheit auf den Fernstraßen verantwortlich und versah alle polizeilichen Aufgaben in Gemeinden, die über keinen eigenen Polizeiposten verfügten. Sie hatte auch die polizeiliche Hoheit über die Seen und Indigenenreservate, doch bei Jerry brauchte man Diskussionen über Fragen der Zuständigkeit nicht zu fürchten.

Alle acht hatten sich in einem unregelmäßigen Halbkreis aufgestellt und warfen im Scheinwerferlicht lange Schatten.

Barnhouse sprach als Erster. »Sollten Sie nicht eine Schelle um den Hals tragen?« Das war seine Art, Cardinal zu begrüßen. »Ich habe gehört, Sie hätten den Aussatz.«

»Schon wieder am Abklingen«, erwiderte Cardinal.

Barnhouse hatte das Temperament einer angriffslustigen Bulldogge. Mit seiner untersetzten Gestalt und seinem breiten Rücken sah er eher wie ein Ringer aus. Obwohl oder vielleicht gerade weil der Schwerpunkt seines Körpers so tief lag, hatte er eine sehr hohe Meinung von sich.

Cardinal deutete mit dem Kopf auf den großen, hageren Mann am Rand des Halbkreises. »Kennen Sie Jerry Commanda?«

»Ob ich ihn kenne? Bis zum Erbrechen!«, bellte Barnhouse. »Mr. Commanda war früher bei der Stadtpolizei, bis er wieder dem Ruf der Wildnis folgte.«

»Ich bin jetzt bei der OPP«, stellte Jerry sachlich fest. »Eine Leiche mitten im See bedeutet doch wohl, dass Sie eine Autopsie veranlassen werden, Doc, oder?«

»Sie brauchen mir nicht zu sagen, was ich zu tun habe. Wo ist ’n die Spürnase, die das Teil entdeckt hat?«

Ken Szelagy trat vor.

»Wir haben die Leiche nicht entdeckt. Ein paar Kinder sind drauf gestoßen, so gegen vier Uhr nachmittags. Larry Burke und ich hatten Dienst, als der Anruf kam. Wir haben uns die Leiche angesehen, den Fundort abgesperrt und die Zentrale benachrichtigt. McLeod hatte bei Gericht zu tun, deshalb haben wir Detective Sergeant Dyson angerufen, und der hat vermutlich Detective Cardinal hinzugezogen.«

»Den talentierten Mr. Cardinal«, murmelte Barnhouse vieldeutig. Dann fuhr er fort: »Machen wir uns zunächst mit Taschenlampen an die Arbeit. Ich möchte nicht, dass durch das Aufstellen von Scheinwerfern und so ’nem Zeug hier irgendetwas verändert wird.«

Er marschierte auf die Felsen zu. Cardinal wollte etwas sagen, doch Jerry Commanda hatte den gleichen Gedanken und kam ihm zuvor: »Aber bitte im Gänsemarsch, Jungs.«

»Ich bin kein Junge«, bemerkte Kollegin Delorme unter ihrer Kapuze hervor.

»Na ja«, grummelte Jerry. »Im Moment kommt der kleine Unterschied nicht so gut raus.«

Barnhouse bedeutete Burke und Szelagy voranzugehen, und in den folgenden Minuten war nur das Knirschen von Stiefeln auf dem vereisten Boden zu hören. Die Kälte biss Cardinal ins Gesicht. Hinter den Felsen, am Ufer des Sees, war das Glitzern einer fernen Lichterkette zu erkennen – das Chippewa-Reservat, Jerry Commandas Revier.

Szelagy und Burke warteten am Maschendrahtzaun, der den Eingang zum Schacht umgab, auf die anderen.

Delorme stupste Cardinal mit ihrem gepolsterten Ellbogen an. Sie zeigte auf einen Gegenstand etwa einen Meter vom Gatter entfernt.

»Leute, habt ihr das Schloss da angerührt?«, fragte Cardinal die beiden Polizisten.

»Es war schon so«, beteuerte Szelagy. »Wir haben uns gedacht, dass wir’s lieber so lassen.«

Und Burke ergänzte: »Die Kinder sagen, das Schloss war schon aufgebrochen.«

Delorme holte eine Plastiktüte aus ihrer Tasche, doch Arsenault, der als Spurensicherungsexperte auf alles vorbereitet war, reichte ihr eine kleine Papiertüte. »Nehmen Sie lieber das hier. Alles, was nass geworden ist, verändert sich in Plastik.«

Cardinal war froh, dass es gleich passiert war und jemand anderes seine Kollegin noch rechtzeitig gestoppt hatte. Delorme war eine gute Ermittlerin; und darum war sie bei der Sonderermittlung gut aufgehoben. Durch minutiöse Recherchen hatte sie es ganz allein geschafft, einen Ex-Bürgermeister und mehrere Ratsmitglieder hinter Gitter zu bringen. Doch das hatte nichts mit Spurensicherung zu tun. Von nun an würde sie sich aufs Zuschauen beschränken, und das war Cardinal ganz recht.

Einer nach dem anderen schlüpften sie unter dem Absperrband hindurch und folgten dann Burke und Szelagy zum Schachteingang. Szelagy zeigte auf ein paar lose Bretter. »Vorsicht – hier geht’s gut einen halben Meter abwärts, darunter ist blankes Eis.«

Im Schachteingang verdichtete sich der Schein ihrer Taschenlampen am Boden zu einer unruhigen Lache aus Licht. Durch die Ritzen der Bretterwände heulte der Wind, als ginge es darum, einen Bühneneffekt zu produzieren.

»Mein Gott«, sagte Delorme mit ernster Stimme.

Wie die anderen auch, hatte sie bereits Verkehrstote, hin und wieder Selbstmörder und zahlreiche Ertrunkene gesehen – doch das war kein Vergleich zu dem, was sich hier ihren Blicken bot. Alle zitterten vor Kälte, aber eine große Stille senkte sich über sie, als ob sie beteten, und sicherlich taten das auch einige. Auch Cardinals Verstand schien dem Anblick entfliehen zu wollen – zurück in die Vergangenheit, mit der Erinnerung an das Klassenfoto, auf dem eine lächelnde Katie Pine zu sehen war, und nach vorn, in die Zukunft, bei dem Gedanken, wie er es ihrer Mutter beibringen sollte.

Dr. Barnhouse begann in gemessenem Tonfall: »Wir haben hier die gefrorenen Überreste eines jugendlichen – verdammt.« Er klopfte heftig auf das Diktiergerät in seiner behandschuhten Rechten. »Das Ding macht bei Frost immer Ärger.« Er räusperte sich und setzte noch einmal an, diesmal weniger feierlich. »Wir haben hier die Überreste eines jugendlichen menschlichen Körpers – wegen fortgeschrittener Verwesung und Tierfraß ist eine eindeutige Geschlechtsbestimmung zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich. Der Oberkörper ist unbekleidet, die untere Körperhälfte teilweise von Blue Jeans bedeckt, der rechte Arm fehlt, ebenso der linke Fuß. Das Gesicht ist durch Aasfresser bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Der Unterkiefer fehlt. Mein Gott«, sagte er dann, »es ist ja noch ein Kind.«

Cardinal glaubte ein Beben in Barnhouse’ Stimme zu erkennen; seiner eigenen hätte er auch nicht getraut. Und das lag nicht allein an der Verwesung – alle hatten in dieser Hinsicht schon Schlimmeres gesehen. Es war die Tatsache, dass die Überreste in einem rechteckigen, vielleicht zwanzig Zentimeter dicken Eisblock steckten. Leere Augenhöhlen starrten durch das Eis hinauf in die Dunkelheit über ihren Köpfen. Ein Auge war herausgerissen worden und lag festgefroren über der Schulter des Opfers; von dem anderen fehlte jede Spur.

»Haare – schwarz, schulterlang – sind vom Schädel gelöst; das Becken weist vorn Furchungen auf, was vielleicht auf weibliches Geschlecht deutet – aber ohne Untersuchung, die im gegenwärtigen gefrorenen Zustand nicht möglich ist, kann hierüber nichts Genaueres gesagt werden.«

Jerry Commanda leuchtete mit seiner Taschenlampe erst hinauf zu dem Bretterdach, dann wieder hinunter auf den Betonboden zu ihren Füßen. »Das Dach ist schon lange undicht. Man kann das Eis da oben sehen.«

Andere richteten ihre Lampe ebenfalls nach oben und betrachteten die Eiszapfen zwischen den Brettern. Schatten huschten über die leeren Augenhöhlen.

»Im Dezember gab es drei warme Tage, an denen alles zu tauen begann«, fuhr Jerry fort. »Die Leiche liegt wahrscheinlich über einem Abfluss; als das Eis geschmolzen ist, hat sich die Senke mit Wasser gefüllt. Dann fielen die Temperaturen wieder, und alles fror fest.«

»Als ob sie in Bernstein eingeschlossen wäre«, bemerkte Delorme.

Barnhouse sprach weiter. »Keine Kleidung an der Leiche oder in ihrer Nähe, abgesehen von Jeans, die – aber das habe ich schon gesagt, oder? Ja, ich bin mir sicher. Erhebliche Gewebszerstörungen in der Unterleibsregion, die Eingeweide und die meisten Organe fehlen. Ob dies auf Verletzungen vor Eintritt des Todes oder auf postmortalen Tierfraß zurückzuführen ist, kann nicht festgestellt werden. Teile der Lunge sind sichtbar, obere Lungenlappen auf beiden Seiten.«

»Katie Pine«, sagte Cardinal. Er hatte es nicht laut sagen wollen. Er wusste, dass eine Reaktion nicht ausbleiben würde, und tatsächlich kam sie mit aller Schärfe.

»Sie wollen uns doch wohl nicht weismachen, dass Sie das arme Mädchen anhand des Fotos aus dem Schuljahrbuch erkennen. Ehe nicht der Oberkiefer mit Befunden aus zahnärztlichen Unterlagen verglichen ist, kann von einer Identifizierung keine Rede sein.«

»Danke, Doktor«, sagte Cardinal leise.

»Es besteht wirklich kein Anlass zu Sarkasmus, Detective. Ob Sie nun wieder im Morddezernat arbeiten oder nicht, sarkastische Bemerkungen lasse ich mir nicht bieten.«

Barnhouse richtete seinen finsteren Blick nochmals auf die Leiche zu seinen Füßen.

»Gliedmaßen, soweit vorhanden, fast skelettiert. Mir scheint aber ein Grünholzbruch in der Speiche des linken Unterarms vorzuliegen.« Er trat von der Kante der Stufe zurück und verschränkte trotzig die Arme. »Meine Herren, meine Dame, ich ziehe mich aus der weiteren Ermittlung zurück. Eine gerichtsmedizinische Untersuchung ist in jedem Fall notwendig. Da der Lake Nipissing in die Zuständigkeit der Ontario Provincial Police fällt, übergebe ich Ihnen, Mr. Commanda, offiziell die Federführung bei der Ermittlung.«

»Wenn das hier Katie Pine ist«, sagte Jerry, »dann ist die Ermittlung Sache der Stadtpolizei.«

»Aber gehört Katie Pine nicht trotzdem zu Ihnen? Das Reservat fällt doch in Ihre Zuständigkeit.«

»Sie wurde auf einem Rummelplatz in der Nähe der Memorial Gardens entführt. Das macht das Ganze zu einem Fall für die Stadtpolizei – zu Cardinals Fall, und das schon, seit sie verschwunden ist.«

»Trotzdem«, beharrte Barnhouse, »solange eine eindeutige Identifizierung nicht möglich ist, lege ich die Ermittlungen in Ihre Hände.«

»Na schön, Doktor«, entgegnete Jerry. »John, du kannst ermitteln. Ich weiß, dass es Katie ist.«

»Diese Aussage entbehrt jeglicher Grundlage. Sehen Sie doch«, Barnhouse zeigte mit dem Diktiergerät auf die Leiche, »von der Kleidung abgesehen, ist kaum etwas Menschliches zu erkennen.«

»Katie Pine«, erläuterte Cardinal ruhig, »hatte sich beim Skateboardfahren die Speiche des linken Arms gebrochen.«

 

Sie saßen zu fünft im Fahrzeug der Spurensicherung. Barnhouse war gegangen, die zwei Streifenbeamten warteten im Lkw. Cardinal musste gegen den Lärm des Heizgebläses anschreien. »Wir müssen großflächig absperren. Von nun an ist die ganze Insel Sperrgebiet. Im Schachteingang gab es keine Blutspuren oder sonstige Hinweise auf einen Kampf, also ist es vermutlich nicht der Tatort, sondern nur das Versteck für die Leiche. Dennoch möchte ich nicht, dass irgendwelche neugierigen Schneemobilfahrer hier aufkreuzen und Spuren verwischen. Wir werden daher die ganze Insel absperren und bewachen lassen.«

Delorme reichte ihm das Handy. »Ich habe hier die Gerichtsmedizin. Len Weisman ist am Apparat.«

»Len, wir haben hier eine Leiche, die in einem Eisblock festgefroren ist. Ein Kind, vermutlich ermordet. Wenn wir den Eisblock, so wie er ist, herausschneiden und in einem Kühlwagen zu euch in die Pathologie schicken, kämt ihr mit so etwas zurecht?«

»Kein Problem. Wir haben hier mehrere Kühlgeräte, die Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt erzeugen. Wir können den Block langsam auftauen und Haare oder Textilfasern jeder Art für die Untersuchung entnehmen.« Es wirkte befremdlich, eine Stimme aus Toronto in dieser Mondlandschaft zu hören.

»Ausgezeichnet, Len. Wenn wir mit dem Abtransport fertig sind, geben wir euch die voraussichtliche Ankunftszeit durch.« Cardinal gab Delorme das Handy zurück. »Arsenault, Sie sind der Experte für Spurensicherung. Wie bekommen wir die Leiche hier raus?«

»Wir können sie ohne Weiteres in einem Block aus dem Eis schneiden. Schwieriger dürfte es sein, den Eisblock vom Betonboden zu trennen.«

»Holt euch einen Mann aus der Stadt. Die sägen doch häufig Beton. Und dann könnt ihr alle schon mal eure Terminkalender entrümpeln. Wir müssen den Schnee durchsieben.«

»Aber sie ist seit Monaten tot«, wandte Delorme ein. »Der Schnee wird uns keine Hinweise mehr geben.«

»Das können wir nicht mit Gewissheit sagen. Hat jemand gute Kontakte zur Armee?«

Collingwood hob die Hand.

»Sagen Sie denen, wir brauchen ein großes Zelt. Ungefähr so groß wie ein Zirkuszelt, mit dem wir die Insel abdecken. Das Letzte, was uns fehlte, wäre neuer Schnee auf dem Fundort. Auch möglichst große Heizgebläse, solche Apparate, mit denen man bei der Luftwaffe Flugzeughangars heizt. Damit schmelzen wir den Schnee und sehen uns dann an, was darunter ist.«

Collingwood nickte. Von allen saß er dem Heizgebläse am nächsten. Sein Handschuh dampfte.

3

Das Gelände abzusperren und eine Bewachung rund um die Uhr einzurichten, dauerte länger als erwartet; Polizeiarbeit braucht immer länger als erwartet. Als Cardinal schließlich um ein Uhr morgens nach Hause kam, war er zum Schlafen noch zu aufgewühlt. Er setzte sich mit einem Glas Black Velvet pur, zwei Finger hoch eingeschenkt, ins Wohnzimmer und machte sich Notizen über das, was er morgen zu erledigen haben würde. Im Haus war es so kalt, dass ihn selbst der Whisky nicht aufwärmte.

Kelly würde mittlerweile wieder in den USA sein.

Am Flughafen hatte Cardinal beobachtet, wie seine Tochter einen ihrer Koffer auf die Gepäckwaage gehoben hatte, und bevor sie den nächsten auch nur anrühren konnte, war schon ein junger Mann aus der Warteschlange hinter ihr herbeigesprungen und hatte den Koffer für sie auf die Waage gestellt. Na ja, Kelly war eben eine hübsche junge Frau. Cardinal teilte die Voreingenommenheit, die Väter üblicherweise zugunsten ihrer Töchter hegen. Er glaubte, jeder objektive Beobachter müsse sie genauso charmant finden wie er. Ein schönes Gesicht zu haben, das wusste Cardinal, war, wie reich oder berühmt zu sein: Ständig rissen sich andere darum, einem behilflich zu sein.

»Du brauchst wirklich nicht länger zu warten, Daddy«, hatte sie zu ihm gesagt, als sie in den Warteraum hinuntergingen. »Du hast bestimmt Wichtigeres zu tun.«

Aber Cardinal hatte nichts Wichtigeres zu tun.

Der Flughafen von Algonquin Bay war darauf ausgelegt, rund achtzig Reisende gleichzeitig abzufertigen, doch so viele waren es selten. Eine kleine Cafeteria, stumme Verkäufer für den Algonquin Lode und die Zeitungen aus Toronto – das war schon alles. Sie setzten sich, und Cardinal kaufte den Toronto Star. Er bot seiner Tochter eine Hälfte an, doch sie lehnte ab. Nun glaubte er, es wäre besser, ebenfalls nicht zu lesen. Wozu blieb er überhaupt, wenn er doch bloß Zeitung lesen wollte?

»Du kennst deine Anschlüsse?«, fragte er sie. »Hast du auch genug Zeit, um von einem Flugsteig zum anderen zu kommen?«

»Jede Menge. Ich habe anderthalb Stunden in Toronto.«

»Das ist gar nicht so viel, wenn du noch durch den amerikanischen Zoll musst.«

»Die winken mich immer durch. Wirklich, Daddy, ich sollte mich aufs Schmuggeln verlegen.«

»Du hast mir erzählt, letztes Mal hat man dich angehalten. Du hättest beinahe deinen Anschluss verpasst.«

»Ja, da hatte ich noch mal Glück. Der Zollbeamte war so ein bornierter Bürokrat, der mir unbedingt Schwierigkeiten machen wollte.«

Cardinal sah die Szene vor sich. In mancher Hinsicht entwickelte sich Kelly zu der Sorte Frau, die ihm missfiel – zu schlagfertig, zu gebildet, zu selbstsicher.

»Eigentlich verstehe ich nicht, wieso es keinen Direktflug von Toronto nach New Haven gibt.«

»Na ja, es ist nicht unbedingt der Mittelpunkt des Universums, Lieber.«

»Das nicht, aber immerhin gibt es dort eine der besten Universitäten der Welt.«

Und die kostete ein Heidengeld. Als Kelly in York ihr Bachelor-Examen in Bildender Kunst bestanden hatte, hatte ihr Professor für Malerei sie ermuntert, sich in Yale um einen Postgraduiertenplatz zu bewerben. Kelly stellte daraufhin eine Mappe zusammen und schickte sie nach New Haven, ohne sich jedoch große Hoffnungen zu machen. Cardinal hatte anfangs mit dem Gedanken gespielt, ihr diese Idee auszureden, doch nicht lange. Yale ist die Kunsthochschule par excellence, Daddy. Alle Maler, die einen Namen haben, sind dort gewesen. Wer nicht nach Yale geht, kann gleich BWL studieren. Cardinal hatte sich gefragt, ob das wirklich stimmte. In seiner Vorstellung stand Yale für blasierte Snobs im Tennisdress; zum Beispiel für George Bush. Aber Malerei?

Also hatte er sich umgehört. Es sei tatsächlich so, versicherten ihm Leute, die es wissen mussten. Wer sich in der internationalen Kunstszene – und die war gleichbedeutend mit der amerikanischen Kunstszene – hervortun wollte, der tat dies am besten mit einem Master-Abschluss von Yale.

»Wirklich, Daddy, warum fährst du nicht nach Hause? Du brauchst hier nicht zu warten.«

»Schon gut. Ich möchte es so.«

Der junge Mann, der Kelly beim Koffertragen geholfen hatte, saß nun ihnen gegenüber. Wenn Cardinal jetzt ginge, würde sich der Bursche im nächsten Augenblick neben seine Tochter setzen. Ich bin doch ein eifersüchtiger alter Knacker, hielt er sich selbst vor, dass ich die Frauen in meinem Leben so ängstlich behüte. Mit seiner Frau Catherine war es genauso.

»Schön, dass du nach Hause gekommen bist, Kelly. Und das noch mitten im Semester. Ich glaube, dass es deiner Mutter wirklich gutgetan hat.«

»Meinst du? Schwer zu sagen, so geistesabwesend, wie sie im Augenblick wirkt.«

»Ich weiß es.«

»Arme Mama. Armer Papa. Ich weiß nicht, wie du das durchstehst. Schließlich bin ich die meiste Zeit weg, während du ständig damit leben musst.«

»Da muss man eben durch. ›In guten wie in schlechten Tagen, in Zeiten der Freude und in der Not‹, du kennst ja den Spruch.«

»Viele Leute halten sich nicht mehr daran. Ich weiß, dass du es tust. Aber Mama macht mir schon manchmal Angst. Es muss schwer sein für dich.«

»Für sie ist es noch viel schwerer, Kelly.«

Sie saßen schweigend nebeneinander. Der junge Mann holte einen Roman von Stephen King hervor; Cardinal tat, als würde er den Toronto Star lesen, und Kelly schaute hinaus auf die leere Landebahn, wo Schneeflocken im Licht der Scheinwerfer tanzten. Cardinal hoffte im Stillen, der Flug würde gestrichen und seine Tochter könnte noch ein, zwei Tage zu Hause bleiben. Doch Kelly hatte jedes Interesse an Algonquin Bay verloren. Wie hältst du es nur in diesem öden Kaff aus?, hatte sie ihren Vater mehr als einmal gefragt. In ihrem Alter hatte Cardinal genauso gedacht, doch nach zehn Jahren bei der Polizei in Toronto war ihm die Einsicht gekommen, dass dieses öde Nest, in dem er aufgewachsen war, seine Vorzüge hatte.

Schließlich landete das Flugzeug, eine Propellermaschine vom Typ Dash 8 für dreißig Passagiere. In einer Viertelstunde würde es aufgetankt und für den Weiterflug bereit sein.

»Hast du auch genug Bargeld? Wenn du nun in Toronto stecken bleibst?«

»Du machst dir zu viele Gedanken, Daddy.«

Sie umarmte ihn, und dann sah er ihr nach, wie sie ihr Gepäck durch die Sicherheitskontrolle brachte (die aus zwei uniformierten Frauen bestand, die kaum älter als sie selber waren) und dem Ausgang zustrebte. Cardinal ging zum Fenster und sah, wie sie durch den aufgewirbelten Schnee ging. Der junge Schnösel heftete sich gleich an ihre Fersen. Als Cardinal dann wieder draußen stand und die Windschutzscheibe mit dem Handschuh vom Schnee befreite, hatte er sich dafür gescholten, so ein eifersüchtiger Hohlkopf zu sein, ein überfürsorglicher Vater, der sein Kind nicht erwachsen werden ließ. Cardinal war Katholik, wenngleich er seinen Glauben verloren hatte, und wie alle Katholiken, ob ungläubig oder fromm, hatte er sich den geradezu lustvollen Hang bewahrt, sich seine Sünden vorzuhalten, wenn auch nicht unbedingt die, die er tatsächlich begangen hatte.

Das Whiskyglas stand nun halb leer auf dem Couchtisch. Cardinal hatte seine Gedanken schweifen lassen. Er erhob sich steif aus dem Sessel und ging zu Bett. Im Dunkeln erschienen andere Bilder: die Scheinwerfer auf dem See, die im Eis festgefrorene Leiche, das Gesicht seiner Kollegin Lise Delorme. Dann dachte er an Catherine. Obwohl seine Frau alles andere als glückliche Zeiten durchmachte, zwang er sich, sie sich mit einem Lachen im Gesicht vorzustellen. Ja, sie würden zusammen weggehen, irgendwohin, weit weg von der Kripoarbeit und ihren privaten Sorgen, und sie würden lachen.

4

Don (kurz für Adonis) Dyson war ein jugendlich wirkender Fünfziger, drahtig wie ein Turner, mit federndem Gang und lebhafter Gestik, nur war er, wie seine Mitarbeiter nicht müde wurden zu betonen, eben kein Adonis. Das Einzige, was Detective Sergeant Don Dyson mit seinen Namensvettern in den Museen gemeinsam hatte, war ein Herz so kalt wie Marmor. Keiner wusste, ob er so auf die Welt gekommen war oder ob fünfzehn Jahre Berufserfahrung bei der Mordkommission in Toronto ein ohnehin schon kühles Temperament vollends in Eiseskälte verwandelt hatten. Der Mann hatte keine Freunde – weder bei der Polizei noch anderswo –, und alle, die Mrs. Dyson kennengelernt hatten, sagten, neben ihr wirke ihr Gatte geradezu sentimental.

Detective Sergeant Dyson war kahl, pingelig, berechnend und ins eigene Wort verliebt. Er hatte lange, an den Enden spatelförmige Finger, auf die er über die Maßen stolz war. Wenn er seinen Brieföffner benutzte oder mit einer Schachtel Büroklammern spielte, vermittelten diese langen Finger einen spinnenartigen Eindruck. Sein kahler Schädel, der von einem geometrisch exakt geschnittenen Haarkranz gesäumt war, besaß ein vollkommen sphärisches Aussehen. Jerry Commanda konnte den Mann nicht ausstehen, doch Jerry ertrug ganz allgemein Autorität nur schwer, ein Charakterzug, den Cardinal seiner indigenen Herkunft zuschrieb. Delorme behauptete, sie könne Dysons Schädel als Spiegel benutzen, um sich die Augenbrauen zu zupfen. Was freilich nicht hieß, dass sie sich tatsächlich die Augenbrauen zupfte.

Derselbe blinkende Schädel neigte sich nun Cardinal zu, der in einem Winkel von exakt fünfundvierzig Grad auf einem Stuhl neben Dysons Schreibtisch saß. Gewiss hatte sein Vorgesetzter irgendwo gelesen, dass dieser Winkel führungspsychologische Vorteile bringe. Er war ein Mann, der Genauigkeit liebte und für alles, was er tat, seine Gründe hatte. In einer Ecke seines Schreibtisches hatte er einen honigglänzenden Donut deponiert, den er präzise um halb elf – und nicht eine Minute früher oder später – zusammen mit einem Schluck koffeinfreien Kaffee aus der danebenstehenden Thermoskanne vertilgen würde.

In diesem Augenblick hielt Dyson gerade den Brieföffner zwischen seinen ausgestreckten Händen, als ob er den Schreibtisch damit vermessen wollte. Wenn er redete, schien es so, als wandte er sich in erster Linie an die Klinge. »Ich habe nie gesagt, Sie hätten unrecht. Ich habe nie behauptet, das Mädchen sei nicht ermordet worden. Mit keinem Wort.«

»Nein, das haben Sie auch nicht.« Cardinal neigte dazu, sich immer dann, wenn Wut in ihm aufstieg, besonders höflich zu benehmen. Doch jetzt kämpfte er gegen diese Neigung. »Meine Versetzung ins Dezernat für Eigentumsdelikte war von Ihnen lediglich als spirituelle Übung gedacht.«

»Erinnern Sie sich noch, welche Ausgaben Sie verursacht haben? Wir befanden und wir befinden uns immer noch in Zeiten der Kostenreduzierung. Wir können nicht so tun, als wären wir die Mounties, das können wir uns nicht leisten. Sie haben alle freien Ressourcen für diesen einen Fall verwendet.«

»Drei Fälle.«

»Nicht drei, höchstens zwei.« Dyson zählte sie an seinen langen Fingern ab. »Katie Pine, höchstwahrscheinlich. Billy LaBelle, vielleicht. Margaret Fogle, keinesfalls.«

»Detective Sergeant, bei allem Respekt, aber sie hat sich weder in einen Vogel verwandelt, noch hat sie sich in Luft aufgelöst.«

Und wieder das Spiel mit den Fingern, die zur Schau gestellte Maniküre, als Dyson die Gründe aufzählte, warum Margaret Fogle nicht ermordet worden sein konnte. »Sie war siebzehn – sehr viel älter und cleverer als die beiden anderen. Sie stammte aus Toronto, nicht von hier. Sie war nicht das erste Mal von Zuhause ausgerissen. Mein Gott, das Mädchen hat jedem, der es hören wollte, erzählt, dass diesmal niemand – hören Sie, niemand – sie wiederfinden würde. Und sie hatte irgendwo einen Freund, in Vancouver oder was weiß ich wo.«

»In Calgary. Und sie ist dort nie angekommen.« Und sie wurde das letzte Mal lebend in unserer schönen Stadt gesehen, du kahles Rindvieh. Lieber Gott, schenke ihm die Einsicht, dass er mir McLeod gibt und mich mit dem Fall weitermachen lässt.

»Warum widersprechen Sie mir so hartnäckig in diesem Punkt, Cardinal? Wir leben im größten Land der Erde – nachdem die ruhmreiche Sowjetunion so freundlich war, sich selbst zu demontieren –, und drei Eisenbahnlinien verlaufen kreuz und quer über diese fast zehn Millionen Quadratkilometer große Eisbahn. Alle drei Linien schneiden sich hier am Ufer unseres Sees. Wir haben einen Flughafen und einen Busbahnhof. Jeder, der zu irgendeinem Ziel in diesem riesigen Land unterwegs ist, muss durch unsere Gegend. Wir haben mehr Ausreißer, als wir brauchen können. Ausreißer, aber keine Mordfälle. Sie haben die freien Kapazitäten der ganzen Abteilung an Gespenster verschwendet.«

»Soll ich dann wieder gehen? Ich dachte, ich wäre wieder im Morddezernat«, sagte Cardinal ruhig.

»Das sind Sie auch. Ich hatte nicht die Absicht, alte Geschichten aufzuwärmen, aber bei Katie Pine« – und an dieser Stelle wies er mit dem Finger auf Cardinal –, »bei Katie Pine gab es damals keinen auch noch so kleinen Hinweis auf Mord. Ich meine, abgesehen davon, dass sie ein Kind war und offensichtlich irgendetwas nicht stimmte, gab es keine Indizien für Mord.«

»Keine gerichtsrelevanten Indizien, das mag schon sein.«

»Sie hatten überzogene Ansprüche an Personal und Logistik, und außerdem Überstunden, die durch nichts zu rechtfertigen waren. Ein Überstundenberg in astronomischer Höhe. Ich stand mit meiner Einschätzung nicht allein – der Chef war voll und ganz meiner Meinung.«

»Detective Sergeant, Algonquin Bay ist nicht gerade riesig. Wenn ein Kind vermisst wird, erhält man Abertausende Hinweise aus der Bevölkerung. Jeder möchte helfen. Wenn jemand im Kino ein Messer zieht, muss man das überprüfen. Jemand sieht einen jugendlichen Rucksacktouristen, und schon muss man das überprüfen. Jeder in der Stadt glaubt, Katie Pine irgendwo gesehen zu haben: Sie ist am Seeufer, sie ist unter anderem Namen im Krankenhaus, sie ist in einem Kanu im Algonquin Park. Allen diesen Hinweisen mussten wir nachgehen.«

»Das haben Sie mir damals schon gesagt.«

»Nichts davon war unbegründet. Das dürfte mittlerweile ja wohl klar geworden sein.«

»Damals war es nicht klar. Niemand hatte Katie Pine mit einem Fremden gesehen. Niemand hatte sie in ein fremdes Auto steigen sehen. Sie war auf dem Rummelplatz und von einer Minute zur anderen plötzlich verschwunden.«

»Ja, ich weiß. Die Erde öffnete sich.«

»Die Erde öffnete sich und verschluckte das Mädchen. Und Sie haben einfach geglaubt – ohne Indizien –, dass sie ermordet worden ist. Im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass Sie recht hatten. Sie hätten genauso gut auch unrecht haben können. Fest stand nur, dass sie verschwunden war, und zwar spurlos. Ein Rätsel.«

Ja, natürlich, dachte Cardinal. Katie Pines plötzliches Verschwinden hatte alle vor ein Rätsel gestellt. Allerdings hatte ich mir eingebildet, von Polizisten würde auch in Algonquin Bay verlangt, hin und wieder ein Rätsel zu lösen. Gewiss, das Mädchen war eine Indigene, und wir wissen ja alle, wie verantwortungslos diese Leute sein können.

»Machen wir uns doch nichts vor«, fuhr Dyson fort, steckte den Brieföffner behutsam in die schmale Scheide und legte ihn dann sorgfältig neben das Lineal. »Bei dem Mädchen handelte es sich um eine Indigene. Ich mag Indigene, wirklich. Sie strahlen so eine fast überirdische Ruhe aus. Im Allgemeinen sind sie gutmütig und sehr kinderlieb. Im Übrigen bin ich absolut davon überzeugt, dass Jerry Commanda ein hervorragender Kriminalbeamter ist. Dennoch hat es keinen Sinn, zu behaupten, es wären Leute wie Sie und ich.«

»Nein, bei Gott nicht«, sagte Cardinal und meinte das auch so. »Das sind ganz andere Menschen.«

»Die Familien sind in alle Winde zerstreut. Das Mädchen hätte überall zwischen Mattawa und Sault Ste. Marie sein können. Es gab keinen Grund, sie ausgerechnet in zugenagelten Bergwerksschächten mitten im See zu suchen.«

Gründe hätte es genug gegeben, doch Cardinal ließ nichts verlauten. Er brauchte es nicht, weil er auf etwas viel Wichtigeres hinauswollte. »Die Sache mit dem Bergwerk auf Windigo Island ist eben, dass wir wirklich dort gesucht haben. In der Woche, in der Katie Pine als vermisst gemeldet wurde. Vier Tage später, um genau zu sein.«

»Sie wollen damit sagen, sie sei irgendwo versteckt worden, ehe man sie umbrachte. Sie sei irgendwo gefangen gehalten worden.«

»Genau.« Cardinal verkniff sich den Drang, mehr zu sagen. Dyson taute langsam auf, und es war in Cardinals ureigenem Interesse, ihn dabei nicht zu stören. Der Brieföffner wurde erneut aus der Scheide befördert; eine herumliegende Büroklammer wurde aufgespießt, hochgehoben und zu einem Messingbehälter transportiert.

»Selbst dann«, setzte Dyson seine Überlegung fort, »hätte sie auf der Stelle getötet worden sein können. Der Mörder hätte die Leiche irgendwo versteckt haben können, um sie dann an einen sichereren Platz zu bringen.«

»Möglich. Die Gerichtsmediziner könnten uns in dieser Frage weiterhelfen – wir überführen die Überreste nach Toronto, sobald die Mutter informiert worden ist. Aber alles deutet auf langwierige Ermittlungen. Dazu brauche ich McLeod.«

»Den kriegen Sie nicht. Der ist bei Gericht mit dem Fall Corriveau beschäftigt. Sie können die Kollegin Delorme haben.«

»Ich brauche McLeod. Delorme hat keine Erfahrung.«

»Sie sind bloß voreingenommen, weil sie eine Frau ist, weil sie Frankokanadierin ist und weil sie, im Gegensatz zu Ihnen, die meiste Zeit ihres Lebens in Algonquin Bay verbracht hat. Sie können zwar auf zehn Jahre Toronto verweisen, aber Sie werden doch wohl nicht behaupten wollen, dass Delormes sechs Jahre als Sonderermittlerin keine Berufserfahrung darstellen.«

»Ich will sie keineswegs schlechtmachen. Sie hat bei den Ermittlungen gegen den Bürgermeister gute Arbeit geleistet, und auch in dem Betrugsfall bei der Schulbehörde. Lassen Sie sie doch in ihrer Domäne, Wirtschaftskriminalität, Beamtendelikte und das ganze heikle Zeug. Ich meine, wer würde sich sonst um diesen Bereich kümmern?«

»Darüber brauchen Sie sich keine grauen Haare wachsen lassen. Ich kümmere mich schon um die Sonderermittlungen. Delorme ist eine gute Kriminalistin.«

»Aber als Mordermittlerin hat sie keine Erfahrung. Gestern Nacht hätte sie beinahe ein wichtiges Indiz unbrauchbar gemacht.«

»Das glaube ich nicht. Worauf spielen Sie an?«

Cardinal berichtete ihm von der Plastiktüte. Es klang nicht sehr überzeugend, nicht einmal in seinen Ohren. Aber er wollte McLeod. McLeod verstand sich darauf, Dampf zu machen und einem Fall die nötige Aufmerksamkeit zu sichern.

Stille trat ein. Dyson starrte auf die Wand hinter Cardinal. Er gab keinen Laut von sich. Cardinal sah hinaus in das Schneegestöber vor den Fensterscheiben. Später war er sich nicht sicher, ob das, was Dyson dann sagte, auf einem spontanen Einfall seines Chefs beruhte oder ob es sich um einen wohlkalkulierten Überraschungsangriff handelte. »Sie fürchten doch nicht etwa, dass Delorme gegen Sie ermittelt?«

»Nein, Sir.«

»Gut. Dann schlage ich vor, dass Sie Ihr Französisch ein bisschen auffrischen.«

 

In den vierziger Jahren entdeckte man auf Windigo Island Nickelvorkommen, die mit Unterbrechungen zwölf Jahre lang abgebaut wurden. Die Mine war nie sehr rentabel, selbst in Spitzenzeiten arbeiteten dort nicht mehr als vierzig Bergleute. Auch erschwerte die Lage mitten im See den Transport des abgebauten Erzes. Mehr als ein Lastwagen brach durch das Eis, sodass am Ende Gerüchte umgingen, über der Mine laste der Fluch der gequälten Seele, der die Insel ihren Namen verdankte. Viele Anleger aus Algonquin Bay verloren bei diesem Projekt ihr Kapital. Das Ende der Mine war gekommen, als kaum mehr als hundert Kilometer entfernt, in Sudbury, leichter abbaubare Flöze entdeckt wurden.

Der Schacht war hundertfünfzig Meter tief und setzte sich in horizontaler Richtung weitere sechshundert Meter fort. Die Kripoleute hatten erleichtert aufgeatmet, als sich herausstellte, dass Unbefugte nur in den Schachteingang, aber nicht in den Abbaustollen eingedrungen waren.

Als Cardinal und Delorme wieder auf der Insel ankamen, war es bei Weitem nicht mehr so kalt wie in der Nacht zuvor, nur wenige Grad unter null. In der Ferne sah man Schneemobile zwischen den Hütten der Eisfischer umherfahren. Vereinzelt fielen Schneeflocken aus schmutziggrauen Wolken. Die Aufgabe, die Leiche aus dem Eis zu lösen, war fast erledigt.

»Am Ende brauchten wir doch nicht sägen«, berichtete ihnen Arsenault. Trotz der Temperaturen unter null standen ihm Schweißtropfen im Gesicht. »Die Vibrationen haben uns die Arbeit abgenommen. Die Leiche löste sich in einem Stück. Allerdings wird der Transport nicht so leicht sein. Man kann hier keinen Kran aufstellen, ohne Spuren am Fundort zu zerstören. Wir haben daher den ganzen Block auf einen normalen Schlitten verfrachtet und bis zum Lastwagen geschoben. Wir dachten uns, dass Kufen weniger Schaden anrichten als ein Toboggan.«

»Gute Idee. Woher habt ihr den Lkw?« Ein grüner Fünftonner mit schwarzen Balken, die die Schriftzüge verdeckten, fuhr rückwärts an den Schachteingang heran. Dr. Barnhouse hatte die Spurensicherung unmissverständlich darauf hingewiesen, dass es, so dringend auch ein Kühlwagen gebraucht wurde, gegen alle seit Menschengedenken bekannten Hygienevorschriften verstieße, wenn man einen normalen Kühl-Lkw für Lebensmittel als Leichenwagen verwendete.

»Kastner-Chemikalien. Die benutzen den Wagen zum Transport von Stickstoff. Dort hatte man auch die Idee, die Schriftzüge mit schwarzen Balken zu überdecken. Aus Pietät. Ich fand das sehr nobel.«

»Das war wirklich nobel. Erinnere mich daran, der Firmenleitung zu danken.«

»Hallo, John! John!«

Roger Gwynn stand hinter der Absperrung und winkte ihm zu. Die unförmige Gestalt neben ihm, mit einer Nikon im Anschlag, war sicherlich Nick Stoltz. Cardinal hob seine behandschuhte Rechte zum Gruß. Eigentlich stand er mit dem Reporter des Algonquin Lode nicht auf dem Duzfuß, obwohl sie beide fast zur gleichen Zeit auf die Highschool gegangen waren. Gwynn versuchte sich einen Vorteil zu verschaffen, indem er ihre Gemeinsamkeiten übertrieb. Polizist in der Heimatstadt zu sein, hatte sein Gutes, doch manchmal vermisste Cardinal schmerzlich die relative Anonymität der Großstadt Toronto. Ein kleines Kamerateam mit Stoltz in der Mitte brachte sein Gerät in Stellung, hinter ihnen stand eine schmale Gestalt im rosa Parka, dessen Kapuze mit einem weißen Pelzbesatz verziert war. Das konnte nur Grace Legault von den Sechs-Uhr-Nachrichten sein. Algonquin Bay hatte keinen eigenen Fernsehsender; die Lokalnachrichten kamen aus dem hundertdreißig Kilometer entfernten Sudbury. Cardinal hatte den Übertragungswagen neben dem Polizei-Lkw auf dem Eis parken sehen.

»Komm, John! Sei so gut und gib mir ein kurzes Statement!«

Cardinal nahm Delorme mit und stellte sie dem Reporter vor.

»Ich kenne Ms. Delorme«, sagte Gwynn. »Wir haben uns kennengelernt, als sie unseren ehrenwerten Bürgermeister verhaftete. Was kannst du mir über diesen Fall hier sagen?«

»Mehrere Monate alte Leiche eines Jugendlichen.«

»Oh, danke. Das wird einschlagen wie eine Bombe. Wie stehen die Chancen, dass es sich um das Mädchen aus dem Reservat handelt?«

»Ich mache darüber keine Aussagen, bevor wir nicht den Bericht aus dem Gerichtsmedizinischen Institut in Toronto haben.«

»Billy LaBelle?«

»Dazu sage ich nichts.«

»Ach komm, John. Irgendeine zusätzliche Information musst du mir geben. Ich frier mir hier den Arsch ab.«

Gwynn war ein untersetzter Mann, der sein Aussehen vernachlässigte und keine Manieren besaß, ein Lokalreporter auf Lebenszeit. »Handelt es sich überhaupt um Mord? Kannst du wenigstens das bestätigen?«

Cardinal winkte dem Aufnahmeteam aus Sudbury zu. »Wollen Sie sich nicht anschließen, Miss Legault? Ich möchte nicht alles zweimal sagen.«

Er teilte allen die grundlegenden Fakten mit, ohne von Mord oder von Katie Pine zu sprechen, und schloss mit der Versicherung, wenn er mehr wisse, werde er ihnen dies mitteilen. Als Zeichen guten Willens überreichte er Grace Legault seine Karte. Dafür erntete er freilich keinen Dank von der skeptischen Journalistin.

»Detective Cardinal«, sagte sie, als er sich schon abgewandt hatte. »Kennen Sie zufällig die Legende vom Windigo? Wissen Sie, was für eine Gestalt das ist?«

»Ja, selbstverständlich«, sagte Cardinal. »Das ist so was Mythisches.« Er seufzte innerlich. Damit würde sie groß rauskommen. Grace Legault spielte in einer anderen Klasse als Gwynn. Sie litt nicht gerade an mangelndem Ehrgeiz.

»Sind Sie hier fertig?«, fragte er Collingwood, als er und Delorme wieder am Eingang zum Schacht standen.

»Fünf Filme verschossen. Arsenault will trotzdem noch ein Video machen.«

»Da hat Arsenault recht.«

Um den Eisblock hatte man bereits Gurte geschlungen. Nun wurde ein Flaschenzug, der mit einer elektrischen Winde verbunden war, in Stellung gebracht. Ein Foto fürs Album, dachte Cardinal, als der Block knapp einen Meter hochgehievt wurde und wie ein durchscheinender Sarg mitsamt der geschundenen menschlichen Kreatur darin über dem Fundort schwebte.

»Meinen Sie nicht, dass wir die Leiche abdecken sollten?«, raunte Delorme.

»Das Beste, was wir für das Mädchen tun können«, erwiderte Cardinal gelassen, »ist, sicherzustellen, dass alles, was die Gerichtsmediziner in dem Eisblock finden werden, schon drin war, bevor wir die Leiche fanden.«

»Ich verstehe«, sagte Delorme, »eine dumme Idee von mir, nicht wahr?«

»Ja, allerdings.«

»Tut mir leid.« Eine Schneeflocke fiel ihr auf die Augenbraue und schmolz. »Ich dachte nur, als ich sie so sah …«

»Vergessen Sie’s.«

Collingwood filmte unterdessen von mehreren Seiten den in der Luft schwebenden Eisblock. Dann blickte er von seiner Videokamera auf und sagte genau zwei Wörter:

»Ein Blatt.«

Arsenault nahm den Eisblock genauer in Augenschein. »Ein Ahornblatt, wie mir scheint. Jedenfalls ein Stück davon.«

Die Wälder des Nordens in der näheren Umgebung bestehen vor allem aus Kiefern, Pappeln und Birken.

»Segelt jemand von euch hier in der Gegend?«, erkundigte sich Cardinal.

Arsenault meldete sich. »Meine Frau und ich waren vergangenen August zu einem Picknick hier in der Gegend. Wir können das noch überprüfen, aber wenn ich mich recht erinnere, ist die ganze kleine Insel mit Strauchkiefern und Fichten bewachsen. Und natürlich jeder Menge Birken.«

»Das denke ich auch«, pflichtete Cardinal bei. »Was wiederum für die Annahme spricht, dass sich der Mord irgendwo anders ereignet hat.«

Delorme rief wieder die Gerichtsmedizin an und teilte mit, der Transport beginne jetzt, die Leiche werde voraussichtlich in vier Stunden eintreffen. Dann bewegten sie die sterblichen Überreste mitsamt dem Eis den verschneiten Hang zum Ufer hinunter, wo der Lkw bereitstand.

Sterbliche Überreste, dachte Cardinal. Der Ausdruck passte nicht so richtig.

5

Sergeant Lise Delorme hatte schon vor geraumer Zeit begonnen, ihren Abgang aus der Abteilung für Sonderermittlungen zu organisieren, genauer gesagt, seit ein paar Monaten. Kein größerer Fall blieb unabgeschlossen, doch viele Kleinigkeiten waren noch zu klären. Abschließende Bewertungen waren zu formulieren, Aufstellungen zu aktualisieren, Akten abzulegen. Ihr Nachfolger sollte alles in tadelloser Ordnung vorfinden, wenn er am Ende des Monats ihre Stelle übernehmen würde. Doch der ganze Vormittag war verstrichen, ohne dass sie zu mehr gekommen wäre, als sensible Daten von der Festplatte ihres Computers zu löschen.

Delorme konnte es nicht erwarten, endlich an dem Fall Pine zu arbeiten, auch wenn sie sich in der verqueren Situation befand, gegen ihren Partner ermitteln zu müssen. Bis jetzt sah es so aus, als wollte Cardinal sie auf Distanz halten, und das konnte sie ihm nicht verargen. Auch sie hätte niemandem getraut, der sich gerade aus der Abteilung für Sonderermittlungen, die schließlich auch interne Delikte umfasste, verabschiedete.

Mit einem Anruf zu nachtschlafender Zeit hatte alles begonnen. Zuerst hatte sie gedacht, es wäre ihr Exfreund Paul, der sich zweimal im Jahr betrank und dann, sentimental und weich geworden, um zwei Uhr nachts bei ihr anrief. Es war aber Dyson. »Besprechung beim Chef in einer halben Stunde. Bei ihm zu Hause, nicht in seinem Büro. Halten Sie sich bereit, ein Mounty wird Sie abholen. Der Chef will vermeiden, dass gewisse Leute Ihr Auto in der Nähe seines Hauses sehen.«

»Was ist denn los?« Ihre Stimme klang noch verschlafen.

»Das erfahren Sie noch früh genug. Ich habe eine Fahrkarte für Sie.«

»Hoffentlich nach Florida. Irgendwohin, wo es warm ist.«

»Mit der Fahrkarte kommen Sie raus aus der Abteilung für Sonderermittlungen.«

Delorme war in drei Minuten angezogen, dann saß sie mit aufgepeitschten Nerven auf der Sofakante. Sechs Jahre arbeitete sie schon für diese Abteilung, aber in all den Jahren war sie nicht ein einziges Mal zu einer nächtlichen Besprechung gerufen worden, noch hatte sie jemals das Haus ihres Chefs von innen gesehen. Was hatte es mit dieser Fahrkarte auf sich?

»Fragen Sie mich nicht«, sagte die junge Polizistin, noch ehe Delorme überhaupt den Mund aufmachen konnte. »Ich bin bloß die Fahrerin.« Immerhin war es ein netter Zug, fand Delorme, sie von einer Frau abholen zu lassen.

Delorme hatte die Mounties von Kindesbeinen an bewundert. Die rote Uniform, die Pferde, das ließ das Herz eines kleinen Mädchens höher schlagen. Sie erinnerte sich noch genau, wie sie in Ottawa zum ersten Mal bei einer Aufführung des Musical Ride dabeigewesen war und sich an der Präzision der Dressur nicht sattsehen konnte. Später in der Highschool lernte sie die ruhmreiche Geschichte der Polizeitruppe in der Zeit des großen Trecks nach Westen kennen. Die Männer der North West Mounted Police, wie sie anfangs hieß, waren Tausende von Meilen geritten, um gegen die Gewalt einzuschreiten, die mit der amerikanischen Expansion nach Westen einherging. Sie schlossen Verträge mit den Indigenen, trieben amerikanische Banditen zurück über die Grenze nach Montana, oder aus welchem Loch diese sonst gekrochen sein mochten, und sie verhalfen dem Gesetz zur Geltung, noch ehe die Siedler daran denken konnten, es zu brechen. So wurde die Royal Canadian Mounted Police, kurz RCMP, zu einem weltweit bekannten Symbol des Schutzes von Recht und Ordnung und zum Traum jedes kanadischen Tourismusmanagers.

Delorme hatte an dieses Symbol kritiklos geglaubt, dazu war ein Image schließlich da. Als sie dann als Teenagerin zufällig das Foto einer Frau in der roten Uniform der Mounties sah, hatte sie ernsthaft erwogen, sich bei der Truppe zu bewerben.

Bis sich dann die Realität hinter dem bewunderten Bild Bahn brach, und was sich nun zeigte, war nicht ganz so schön. Ein Beamter verkaufte Geheimnisse an Moskau, ein anderer wurde wegen Drogenschmuggels verhaftet, wieder ein anderer wurde verurteilt, weil er seine Frau vom Balkon eines Hochhauses gestoßen hatte. Dann kam das Desaster um den Geheimdienst an den Tag. Verglichen mit der Geheimdienstabteilung der RCMP schien der CIA aus lauter Topagenten zu bestehen.

Sie sah zu der Frau mit dem jugendlichen Gesicht hinüber, die neben ihr im Auto saß. Die junge Frau hatte einen taillenlosen langen Mantel an, das blonde, nach hinten gekämmte Haar wurde von einem Reif gehalten. Als sie bei Rot an der Ampel vor der Kreuzung Edgewater und Trout Lake Road hielt, schimmerte Wangenflaum im Schein der Straßenlaternen.

Auch in diesem vage illuminierten Porträt erkannte Delorme sich selbst vor zehn Jahren. Auch dieses Mädchen hatte das blütenweiße Image übernommen und wollte es mit der Realität in Einklang bringen. Na ja, soll sie doch, dachte Delorme. Cowboys hatten mit ihrer Brutalität und Verantwortungslosigkeit die wahren Ideale des Abenteuers im Norden Lügen gestraft, doch das konnte ein Greenhorn nicht davon abhalten, an diesen Idealen festzuhalten.

In Edgewater hielten sie schließlich vor einem beeindruckenden zweistöckigen Chalet. Es sah aus, als stammte es direkt aus den Schweizer Alpen.

»Bitte klingeln Sie nicht, gehen Sie einfach hinein. Man möchte nicht, dass die Kinder geweckt werden.«

Am Nebeneingang zeigte Delorme einem Mounty ihren Ausweis. »Die Treppe nach unten«, sagte er nur.

Delorme ging, den Geruch von Aftershave in der Nase, durch das Untergeschoss vorbei an einem Heizkessel und gelangte in einen großen, von roten Ziegeln und dunklem Kiefernholz dominierten Raum, der die verräucherte Atmosphäre eines Herrenklubs besaß. Falsche Tudor-Balken kreuzten sich an Stuckwänden, die mit Jagd- und Marinestücken dekoriert waren. Im Kamin brannte ein schwaches Feuer. Von der Wand über dem Kamin blickte eine Elchtrophäe auf den Kopf des Hausherrn herab: R.J. Kendall, Polizeichef von Algonquin Bay.

Kendall hatte eine offene, sympathische Art, die vielleicht zum Teil seinen kleinen Wuchs kompensieren sollte (Delorme war einen Kopf größer als ihr Chef), und außerdem ließ er zu jeder sich bietenden Gelegenheit, oft noch von einem Schulterklopfen begleitet, ein dröhnendes Lachen erschallen. Nach Delormes Ansicht lachte er zu oft; es wirkte nervös, was er vielleicht tatsächlich war. Sie hatte aber auch erlebt, wie seine zuvorkommende Art im Nu verschwinden konnte. Wenn nämlich irgendetwas R.J. Kendalls Zorn erregte, was Gott sei Dank nicht oft geschah, konnte er ein schreckliches Donnerwetter loslassen. Das ganze Dezernat war Zeuge gewesen, wie er Adonis Dyson wegen der zu schwachen Besetzung der Polizei beim Winterkarneval abgebürstet hatte, mit dem Ergebnis, dass die Angelegenheit an die große Glocke kam und auf der Titelseite des Lode alle möglichen falschen Spekulationen zu lesen waren.

Und doch hatte Dyson weiterhin eine hohe Meinung von Kendall, so wie die meisten anderen Mitarbeiter, die er einmal in die Mangel genommen hatte. Wenn sein Zorn verraucht war, war für ihn die Angelegenheit erledigt, und gewöhnlich machte er auch von sich aus eine Geste, um die Wogen zu glätten. In Dysons Fall war er so weit gegangen, bei einem Fernsehinterview den Rückgang der bewaffneten Raubüberfälle Dyson zugutezuhalten. Das war weit mehr, als sein Vorgänger getan hätte.

Dyson selbst saß in einem der roten Ledersessel und unterhielt sich mit jemandem, den Delorme nicht sehen konnte. Er winkte ihr nur mit schlaffer Hand zu, als ob mitternächtliche Besprechungen für ihn Routine wären.

Der Chef sprang auf und schüttelte Delorme die Hand. Er musste Ende fünfzig sein, hatte aber einen jungenhaften Charme, wie er manchen einflussreichen Männern eigen ist. »Sergeant Delorme. Danke, dass Sie so rasch und auf die Schnelle gekommen sind. Darf ich Ihnen einen Drink anbieten? Außerhalb der Dienstzeit dürfen wir es ruhig ein bisschen lässiger angehen.«

»Nein, vielen Dank. So spät in der Nacht würde mich das regelrecht umhauen.«

»Dann kommen wir gleich zur Sache. Hier ist jemand, den ich Ihnen gern vorstellen möchte. Corporal Malcolm Musgrave von der RCMP.«

Der Anblick, den Corporal Musgrave bot, als er sich aus dem roten Ledersessel erhob, erinnerte an ein Naturschauspiel: ein Berg, der aus der Ebene emporwuchs. Er hatte mit dem Rücken zu Delorme gesessen, daher erschien zuerst der Granitblock seines Schädels, hellblondes Haar, das zu einer Bürste gestutzt war. Dann folgten der Steilabfall seiner Schultern, die breite Felswand seines Brustkorbs, als er sich zu ihr umwandte, und schließlich das Gesteinsmassiv seines Händedrucks, der trocken und kühl wie Schiefer war. »Ich habe schon von Ihnen gehört«, sagte er zu Delorme. »Die Überführung des Bürgermeisters, das war gute Arbeit.«

»Sie sind für mich auch kein Unbekannter«, erwiderte Delorme, was ihr einen finsteren Seitenblick von Dyson einbrachte. Musgrave hatte in Ausübung seines Dienstes zwei Männer erschossen. Beide Male kam es zu Verhandlungen wegen exzessiver Gewaltanwendung, und in beiden Fällen blieb er ungeschoren. Das ist mir der Richtige, dachte Delorme.

»Corporal Musgrave gehört zum Polizeikommando Sudbury. Er ist dort stellvertretender Leiter des Dezernats für Wirtschaftskriminalität.«

Delorme wusste das selbstverständlich. Die RCMP unterhielt kein Kommando mehr in der Stadt, daher fiel Algonquin Bay nun in die Zuständigkeit von Sudbury. Als Bundespolizei zog die RCMP alle Kriminalfälle von nationaler Bedeutung an sich: landesweiter Drogenhandel, Geldfälscherei, Wirtschaftskriminalität. Hin und wieder arbeitete die Polizeitruppe von Algonquin Bay bei größeren Drogenrazzien mit der RCMP zusammen, doch soweit Delorme wusste, war Musgrave dabei nie in Erscheinung getreten.

»Corporal Musgrave hat uns eine Gutenachtgeschichte mitgebracht«, verkündete der Chef. »Sie wird Ihnen nicht gefallen.«

»Haben Sie schon mal von Kyle Corbett gehört?«, fragte Musgrave. Seine Augen, so schien es Delorme, waren von einem hellen, fast durchsichtigen Blau. Man hatte den Eindruck, von einem Husky angestarrt zu werden.

Natürlich hatte sie von Kyle Corbett gehört. Jeder kannte seinen Namen. »Ein großer Drogenhändler, oder? Beherrscht er nicht das gesamte Gebiet nördlich von Toronto?«

»Offensichtlich sind Sie von den Sonderermittlungen so absorbiert, dass Sie die Szene nicht mehr verfolgen. Kyle Corbett hat sich schon vor drei Jahren aus dem Drogengeschäft zurückgezogen, als er die Geldfälscherei für sich entdeckte. Sie sind überrascht. Sie dachten, seit Ottawa sich für farbige Banknoten entschieden hat, ist der Fälscherei der Boden entzogen? Die Gangster sind alle dazu übergegangen, die ach so langweiligen und leicht zu fälschenden amerikanischen Banknoten zu fälschen. Wenn Sie das so sehen, haben Sie recht, so ist es tatsächlich. Bis ein kleines Gerät namens Farbkopierer auf den Markt kam, und wenig später ein weiteres namens Scanner. Von nun an konnte jeder Federfuchser mit kriminellen Anwandlungen samstagmorgens ins Büro gehen und sich einen Stapel falscher Fuffziger drucken. Das bereitet dem Finanzministerium einiges Kopfzerbrechen. Und wissen Sie was? Mich lässt das kalt.« Seine arktischen Augen nahmen sie ins Visier.

Delorme zuckte mit den Achseln. »Kostet es den Steuerzahler nicht genug?«

»Richtig«, bestätigte Musgrave, als ob sie seine Schülerin wäre. »Kanadische Blüten kosten Firmen und Privatpersonen jährlich an die fünf Millionen Dollar. Ein Klacks. Und wie ich schon sagte, die meisten sind Wochenendfälscher.«

»Warum dann so viel Aufhebens von Corbett machen? Wenn Ihnen Falschgeld nicht der Rede wert scheint …«

»Kyle Corbett fälscht keine Banknoten. Kyle Corbett fälscht Kreditkarten. Plötzlich reden wir nicht mehr von fünf Millionen Dollar, sondern von hundert Millionen. Und den Schaden hat nicht Bobs 24-Stunden-Tanke oder Ethels Frittenbude. Wir reden jetzt von führenden Geldinstituten, und glauben Sie mir, wenn die Bank of Montreal und die Toronto Dominion sich aufregen, dann bekommen wir das laut und deutlich zu hören. Deshalb haben unsere Leute und Ihre Leute – von der OPP gar nicht zu reden – in den vergangenen drei Jahren ein koordiniertes Vorgehen beschlossen, um Corbett das Handwerk zu legen.«

Dyson, den es offenbar beunruhigte, dass er vom Gespräch ausgeschlossen war, beugte sich vor und sagte: »Koordiniertes Vorgehen. November 1997.«

»November 1997. Zum gemeinsamen Stab gehören unsere Jungs, Jerry Commanda von der OPP, und eure Leute, McLeod und Cardinal. Wir haben zuverlässige Informationen darüber, dass Corbetts Truppe in dem Clubhaus draußen an der Airport Road eine Druckmaschine und fünftausend Blankokarten besitzt sowie einen sehr kostspieligen Vorrat an Hologrammen. Doch als der Arm des Gesetzes zuschlägt, treffen sie Corbett und seine Spießgesellen lediglich beim Billardspielen und Biertrinken an.«

Der Chef stocherte mit einem Schürhaken in der Glut, dass die Funken flogen. »Erzählen Sie ihr auch die zweite Episode.«

»August 1998. Zuverlässigen Quellen zufolge sollen Corbett und seine Bande mit dem Perfect Circle gemeinsame Sache machen. Sie haben noch nie vom Perfect Circle gehört, geben Sie es zu. Der Perfect Circle ist der größte Fälscherring in Hongkong. Die Zusammenarbeit mit Corbett beruht auf Gegenseitigkeit. Mit anderen Worten, sie tauschen gestohlene Kontonummern zur Verwendung in Übersee aus. Sie kaufen in Toronto einen neuen Honda mit einer American Express Card aus Kowloon, und bevor irgendjemand etwas merkt, sind sie mit dem Fahrzeug über alle Berge. Und umgekehrt. Der Perfect Circle produziert, wie der Name andeutet, auch makellose Hologramme. Das sind Asiaten, denen liegt Hightech im Blut. Unterdessen gehen unsere beiden Mounties getrennte Wege: Der eine quittiert den Dienst und geht in die Wirtschaft, der andere kommt auf Lebenszeit hinter Gitter, weil er seine Frau umgebracht hat.«

»Richtig, der Typ, der seine Frau vom Balkon gestoßen hat.«

»Wenn Sie seine Frau gekannt hätten, wüssten Sie warum. Euer Detective McLeod bleibt an den Mordfall Corriveau gekettet, und die OPP hat Jerry Commanda zu einer zweifellos unerlässlichen Fortbildung nach Ottawa beordert.«

»Es gibt keinen Grund, Fortbildungsmaßnahmen zu bekritteln«, schaltete sich der Chef ein. »Sie wollten sagen, dass Detective Cardinal als Einziger die polizeilichen Ermittlungen gegen Kyle Corbett weiterführt.«

»Genau. Trommelwirbel bitte.«

Kendall wandte sich an Dyson. »Sagten Sie nicht, es kursierten Gerüchte über Cardinal, als er noch in Toronto arbeitete?«

»Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht, Chef. Dahinter steckt nichts Greifbares.«