Kann denn Sünde Liebe sein - Janet Evanovich - E-Book
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Kann denn Sünde Liebe sein E-Book

Janet Evanovich

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Beschreibung

Fast hundert Jahre ist es her, dass der Schmuggler Collier »Holzbein« Dazzle einen gewaltsamen Tod fand. Klar, dass er im mumifizierten Zustand kaum mehr verraten kann, wo er den sagenumwobenen Piratenschatz versteckt hat, den er einst an der Küste Neuenglands ausgrub. Ein Schatz, der neben Gold und Juwelen den »Stein der Habgier« enthält – und genau diesen sollen die Abenteurer wider Willen, Lizzy Tucker und ihr Partner Diesel, nun finden. Doch sie sind nicht allein, auch Diesels charmanter Cousin Wulf gehört zu den Schatzsuchern. Wulf begehrt den Stein der Habgier, er begehrt Lizzy, und er würde alles tun, um beides sein Eigen zu nennen ...

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Seitenzahl: 341

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Buch

Lizzy Tucker hofft immer noch, als Konditorin in Marblehead, wo sie von ihrer Großtante Ophelia ein kleines Haus geerbt hat, gemeinsam mit ihrer einäugigen Katze ein friedliches Leben führen zu können. Doch seit der mysteriöse Diesel zum ersten Mal bei ihr auftauchte, um ihr zu eröffnen, dass sie, wie er, magische Kräfte besitze, ist sie gegen ihren Willen ständig damit beschäftigt, die Welt zu retten. Viel lieber würde sie ihre berühmten Cupcakes backen und weiter an ihrem Kochbuch schreiben, doch Diesel taucht unverhofft ein drittes Mal bei ihr auf: Lizzy soll ihm helfen, einen Schatz zu finden. Und so stürzt sie sich in ihr nächstes Abenteuer, ohne zu wissen, wie gefährlich die Suche sich gestalten wird …

Weitere Informationen zu den Autoren

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

Janet Evanovich

mit Phoef Sutton

Kann

denn Sünde

Liebe sein

Roman

Aus dem Englischen

von Ulrike Laszlo

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Wicked Charms« bei Bantam Books, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC, New York.
Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2018 Copyright © der Originalausgabe 2015 by Evanovich, Inc. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagmotiv: FinePic®, München Redaktion: Friederike Arnold em · Herstellung: kw Satz: omnisatz GmbH, Berlin ISBN: 978-3-641-20026-8 V002www.goldmann-verlag.de Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

KAPITEL

1

Mein Name ist Lizzy Tucker, und ich wohne in einem winzigen, windschiefen historischen Häuschen. Es liegt auf einem Hügel mit Blick auf den Hafen von Marblehead in Massachusetts. Ich habe es von meiner Großtante Ophelia geerbt, als ich achtundzwanzig war, und sehr viel älter bin ich jetzt auch noch nicht. Ich wohne mit einem getigerten Kurzhaarkater zusammen. Im Tierheim hatte man ihm ein Schildchen mit der Aufschrift Katze 7143 umgehängt, und bei diesem Namen ist es geblieben. Katze 7143 hat nur ein Auge und einen halben Schwanz, und bestimmt war er in einem früheren Leben ein Ninja. Ich war auf dem Johnson & Wales College of Culinary Arts, und wenn ich nicht gerade gebeten werde, die Welt zu retten, arbeite ich als Konditormeisterin in der Bäckerei Dazzle’s in Salem.

Es war zehn Uhr abends. Katerchen und ich lagen im Bett und sahen fern, als plötzlich ein großer abgerissener und unglaublicher heißer Typ mein Schlafzimmer betrat.

»Was zum Teufel …?«, keuchte ich. »Woher kommst du denn?«

»Ursprünglich aus der Schweiz, aber aufgewachsen bin ich hauptsächlich in Südkalifornien.«

»Das habe ich nicht gemeint. Was tust du in meinem Schlafzimmer?«

Er schleuderte seine Schuhe von den Füßen. »Ich ziehe mich aus. Und dann gehe ich ins Bett.«

»Nein! Das erlaube ich nicht.«

»Besondere Umstände«, erklärte er und zog sein Hemd aus. »Ich habe im Moment keine Bleibe.«

»Es ist mir egal, in welcher Klemme du steckst. Hier kannst du nicht bleiben.«

Seine Jeans fiel auf den Boden. »Natürlich kann ich das. Wir sind schließlich Partner.«

»Aber nicht diese Art von Partner. Wir arbeiten zusammen. Und wir dürfen nicht … du weißt schon.«

»Mach kein Theater. Ich habe mich vollkommen unter Kontrolle.«

Ich beugte mich vor, um besser sehen zu können. »Sind das Papageien auf deinen Boxershorts?«

»Die habe ich mir in Key West gekauft. Cool, oder?«

Okay, das musste ich zugeben. Das gesamte Paket war cool. Der Kerl heißt Diesel. Das ist alles. Nur ein Name. Und dieser Name passt hervorragend zu ihm, denn er überfährt dich wie die Lok eines Güterzugs. Er ist eins dreiundachtzig groß und muskulös – ein Bild von einem Mann. Sein dunkelblondes dichtes Haar ist von sonnengebleichten Strähnen durchzogen und ständig zerzaust. Der Ausdruck in seinen braunen Augen ist nur schwer zu deuten. Sein Lächeln ist wie ein Weihnachtsmorgen. Sein Verhalten ist trügerisch – er gibt sich immer sehr lässig, aber in seinem Inneren schlummern tiefe Gefühle. Und er hat einen ganz eigenen Moralkodex.

»Also gut, du hast gewonnen.« Mir war klar, dass ich körperlich ohnehin nichts gegen ihn ausrichten konnte. »Du kannst auf dem Sofa schlafen.«

Er steckte die Daumen unter das Gummiband seiner Boxershorts. »Ich passe nicht auf das Sofa.«

»Hey, Moment mal!«

Zu spät. Die Boxershorts landeten neben seinem Hemd und seiner Jeans auf dem Boden.

Ich schlug die Hände vor die Augen. »Ich kann es nicht fassen, dass du das wirklich getan hast.«

»Ich schlafe immer nackt. Frauen macht das üblicherweise nichts aus.«

»Mir schon!«

»Hab’s kapiert. Und jetzt rück zur Seite.«

Ich habe ein relativ großes Bett. Groß genug für den Kater und mich. Aber nicht groß genug für den Kater, mich und Diesel. Ehrlich gesagt hätte ich nichts gegen ein Techtelmechtel mit Diesel einzuwenden, aber wir haben ein merkwürdiges Verhältnis. Diesel ist kein normaler Mensch. Und ich bin es anscheinend auch nicht. Bis Diesel kurz nach meinem Umzug nach Marblehead bei mir auftauchte, war ich eigentlich der Meinung, ganz normal zu sein. Und jetzt ist übernatürlich ganz normal.

Laut Diesel gibt es auf der Welt ein paar Menschen mit erweiterten Fähigkeiten, die man nicht auf einfache Weise erklären kann. Es kann sich dabei um nützliche Fähigkeiten handeln, so wie Diesels Talent, Schlösser zu öffnen. Es können aber auch höllische Kräfte sein, mit denen sich Blitze schleudern oder ein Müllwagen in die Luft heben lassen. Verrückt, oder? Es wird noch besser. Angeblich gibt es sieben alte Steine, in denen die Kraft der sieben Todsünden schlummert. Sie sind bekannt als SALIGIA-Steine. Wenn diese Steine in die falschen Hände geraten, wird im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle auf Erden ausbrechen. Ich bin einer der zwei Menschen auf der Welt, die die Fähigkeit besitzen, diese Steine aufzuspüren. Sozusagen eine menschliche Wünschelrute. Ich Glückspilz. Bisher ist es Diesel und mir gelungen, zwei dieser Steine zu finden. Dabei wurden wir beinahe in die Luft gejagt, entführt und mit einem Säbel in Stücke zerteilt. Wenn wir einen der Steine entdecken, schickt Diesel ihn an eine höhere Instanz, die ihn sicher aufbewahrt. So lautet zumindest seine Geschichte.

»Wir dürfen nicht miteinander schlafen«, erklärte ich.

»In einem Bett zu schlafen ist okay. Nur Rummachen wäre nicht so gut.«

Wie sich herausgestellt hatte, durften zwei Menschen mit erweiterten Fähigkeiten nicht miteinander schlafen, weil dann einer von ihnen seine besonderen Kräfte verlor. Wäre ich sicher, dass mein besonderes Talent flöten ginge, würde ich mich liebend gern opfern. Aber wenn nun Diesel seine speziellen Fähigkeiten verlieren würde? Dann müsste ich die Welt ganz allein retten. Eine grauenhafte Vorstellung.

Ich schnappte mir ein Kissen und legte es zwischen uns. »Nur um sicherzugehen.«

»Schätzchen, sollte ich mich dazu entschließen, meine Fähigkeiten aufs Spiel zu setzen, wird dich dieses Kissen nicht retten.«

***

Um Viertel nach vier am Morgen klingelte mein Wecker. Ich drehte mich um und stieß gegen Diesel. Er war herrlich warm und roch nach Lebkuchen. Und das Kissen war verschwunden.

»Hey, bist du wach?«, fragte ich.

»Jetzt schon.«

»Mich pikst etwas unter der Bettdecke«, stellte ich fest. »Hoffentlich ist es nicht das, was ich denke.«

»Vielleicht solltest du nachschauen.«

»Das wäre mir peinlich.«

»Mich würde es nicht stören«, erwiderte Diesel.

»Es könnte zu … gewissen Dingen führen.«

Es war zwar dunkel, aber ich spürte, dass er lächelte. »Zweifellos.«

Er beugte sich über mich und küsste mich. Als ich seine Zunge spürte, wallte ein Verlangen in mir auf und ergriff meinen ganzen Körper. Wenn ich es mir recht überlegte, konnte ich vielleicht doch allein die Welt retten. Vielleicht machte es mir gar nichts aus, wenn einer von uns seine Fähigkeiten verlor. Vielleicht war ich im Moment nur daran interessiert, die Hände über jeden fantastischen Teil seines Körpers gleiten zu lassen und dieser Spur mit dem Mund zu folgen, bis dann das Unvermeidliche geschehen würde. Oh Mann, ich sehnte mich wirklich nach dem Unvermeidlichen.

»Verdammt«, sagte Diesel.

»Was? Was zum Teufel ist los?«

Er sprang aus dem Bett und hob seine Klamotten vom Boden auf. »Es gibt ein Problem.«

»Kannst du es lösen?«

»Mit Sicherheit.« Er band sich die Schnürsenkel zu. »Ich komme bald wieder.«

KAPITEL

2

Drei Wochen später war Diesel immer noch nicht zurückgekommen. Wen kümmert’s – ein Glück, dass ich ihn los bin, sagte ich mir. Mein Leben verlief in geordneten Bahnen. Vielleicht war es ein wenig langweilig, verglichen mit der Zeit, in der ich mit Diesel magische Gegenstände gesucht hatte, aber zumindest versuchte im Moment niemand, mich umzubringen oder zu entführen.

Salem ist mit den Kirchtürmen, den Familien, die hier leben, und ihren traditionellen Werten Neuenglands eine typische amerikanische Kleinstadt, aber auch eine Spukstadt – in etlichen Stadtteilen blüht der Tourismus rund um Salems Hexenverfolgungen vor dreihundert Jahren.

Ich persönlich habe mit diesem Hexenzeugs nichts am Hut, aber Glo, unsere Verkäuferin bei Dazzle’s, ist besessen von der Idee, dass sie möglicherweise eine Verkörperung von Samantha Stephens aus Verliebt in eine Hexe sein könnte.

Eigentlich ähnelt sie im Wesen aber eher der Figur von Tante Clara aus der Fernsehserie. Glo ist vier Jahre jünger als ich und mit ihren eins zweiundsechzig ein paar Zentimeter kleiner. Ihre roten Locken sind zu einem kurzen Bob geschnitten. Sie hat einen Besen zu Hause und hofft, dass sie sich eines Tages mit ihm in die Lüfte schwingt und über Salem fliegt. Ihren Kleidungsstil kann man am besten mit einer Mischung aus Grufti und Zuckerfee beschreiben.

Ich bin bei Weitem nicht so schillernd wie Glo. Ich habe blondes Haar, das ich fast immer zu einem Pferdeschwanz zusammenbinde. Meine Augen sind braun, mein Stoffwechsel ist gut, meine Kleidung ziemlich einfallslos. Weiße Kochjacke, Jeans, T-Shirt, Sneaker und ein Sweatshirt, wenn es nachts kalt ist.

Glo und ich hatten Feierabend gemacht, und ihr neuer Freund, Josh Soundso, hatte sich bereit erklärt, uns nach den Öffnungszeiten im Piratenmuseum von Salem herumzuführen. Josh arbeitete dort als Museumsführer und war entsprechend gekleidet – er trug ein weißes Hemd mit Ballonärmeln, eine schwarz-rot gestreifte Kniehose und einen abgewetzten knielangen Ledermantel. Sein langes braunes Haar hatte er im Nacken mit einem dünnen schwarzen Band zusammengebunden, und normalerweise trug er eine Augenklappe. Da wir aber die einzigen Museumsbesucher waren, hatte er sie nach oben auf die Stirn geschoben.

»Seht euch das an, meine werten Damen«, sagte Josh zu Glo und mir und deutete auf die düstere Attrappe eines unglückseligen, in Gefangenschaft geratenen Piraten. »Das ist ein gutes Beispiel dafür, was aus Piraten geworden ist. Eine ziemlich unangenehme Art, sein Leben zu beenden. Der Bursche wäre besser dran gewesen, wenn man ihn den Haien zum Fraß vorgeworfen hätte.«

Die lederartige Haut des Gefangenen spannte sich über seinen Schädel und seine knochige Gestalt, und sein Mund war zu einem immerwährenden stillen Schrei geöffnet. Die gruselige Figur war mit Lumpen bekleidet und erinnerte an eine vertrocknete Leiche. Das künstliche, halb vermoderte Ding hatte man in einen wackligen Käfig gesteckt, der an einer rostigen, an der Decke befestigten Kette hing. Ansonsten befanden sich in dem in gedämpftes Licht getauchten Raum echte und weniger echte Ausstellungsstücke: Kanonen, Kanonenkugeln, Landkarten, Schneidwerkzeuge, Rumflaschen, eine ausgestopfte Ratte, Münzen in einer offenen Truhe, Holzbalken, Seile und Waffen.

»Es ist schwer, beim Anblick einer so plumpen Fälschung irgendetwas zu empfinden«, stellte ich fest.

»Ja, er sieht schon ein wenig angeschlagen aus«, gab Josh zu. »Der gemeine Hund sitzt schon ziemlich lange in diesem Käfig.«

»Ich könnte versuchen, ihn mit einem Zauber ein bisschen aufzumöbeln«, warf Glo ein.

Vor einiger Zeit hatte Glo in einem Kuriositätenladen Ripple’s Zauberbuch entdeckt, und seitdem probierte sie ständig die Zaubersprüche aus – mit unterschiedlichen Ergebnissen.

»Wie wäre es mit einem Rostentferner?«, schlug ich vor.

Als ich den Käfig berührte, knirschte es, und Staub rieselte auf uns herab. Auf einmal löste sich die Kette, und der Käfig knallte auf den Boden und brach auseinander. Die darin gefangene Attrappe flog heraus, das Holzbein und der Schädel des Piraten fielen ab, und sein Arm brach entzwei.

Wir starrten auf die Trümmer vor uns. Aus dem ledrigen Arm ragte ein Knochen heraus.

»Ach, du meine Güte«, stammelte Josh.

»Ich glaube, das ist ein menschlicher Knochen«, flüsterte ich.

Es dauerte nur fünf Minuten, bis der erste Cop im Museum eintraf. Kurz nach ihm kamen drei weitere Polizisten in Uniform, zwei Zivilbeamte, ein Tatortfotograf und zwei Rettungssanitäter.

Alle starrten auf den kaputten Käfig und den schaurigen Kerl, aus dessen Arm ein Knochen ragte, und sagten in etwa das Gleiche: »… vor ein paar Tagen war ich mit meinem Schwager hier, und ich habe das wirklich für eine Attrappe gehalten.«

Als sich der Gerichtsmediziner einfand, war bereits ein Museumsbeamter vor Ort, der Bereich war mit einem Absperrband gesichert worden, und die Leiche, die eher einem geräucherten Würstchen als einem menschlichen Wesen glich, hatte man fotografiert und mit einer Kreidelinie markiert.

Der Gerichtsmediziner sah recht sympathisch aus und trug einen zerknitterten grauen Anzug und ein zerknautschtes weißes Hemd. Er war etwa in meinem Alter, hatte sandfarbenes Haar und eine Harry-Potter-Brille auf der Nase. Er war ein wenig füllig um die Hüften und wirkte dadurch irgendwie knuddelig. Er hieß Theodore Nergal.

Nergal schlüpfte unter dem Absperrband hindurch und kniete sich neben die Leiche. »Tja, der Mann ist tot«, stellte er fest.

»Das war aber tatsächlich mal ein Mensch aus Fleisch und Blut, oder?«, fragte einer der Zivilbeamten.

Nergal nickte. »Er war aus Fleisch und Blut, bevor jemand versucht hat, ihn zu mumifizieren. Jetzt besteht er nur noch aus gegerbter Haut und zum Teil verkalkten Knochen.« Er streifte sich ein Paar Wegwerfhandschuhe über, nahm den Schädel in die Hand und sah ihn sich gründlich an. »Am Hinterkopf befindet sich ein Einschussloch – offensichtlich wurde er erschossen.« Er bewegte den Schädel hin und her, und es klang, als würde jemand einen Becher mit Würfeln schütteln. Als er ihn nach vorn kippte, fiel ein verformtes Metallstück aus der Mundöffnung und in die Hand des Gerichtsmediziners. »Das ist ein Lubaloy-Geschoss. Es wurde nur in den 1920ern hergestellt«, sagte er. »Dieser Mann wurde vor etwa neunzig Jahren erschossen.«

»Wow«, sagte Glo. »Dann müssen Sie wohl eine Fahndung nach einem Tatverdächtigen mit Rollator und Hörgerät einleiten.«

»Ach, du meine Güte«, sagte Josh.

Nergal legte den Schädel neben die Leiche und stand auf. »Wer hat ihn gefunden?«

»Das waren wir«, sagte ich. »Josh arbeitet hier im Museum und hat uns herumgeführt. Ich habe den Käfig nur leicht berührt, da krachte er schon auf den Boden.«

»Und wer sind Sie?«

»Lizzy Tucker. Ich bin Konditorin in Dazzle’s Bäckerei.«

Seine Augen weiteten sich. »Backen Sie etwa diese herrlichen Red-Velvet-Cupcakes?«

»Ja.«

»Ich bin total verrückt nach diesen Cupcakes!«

Nergal widmete sich wieder der vertrockneten Leiche, und Glo stieß mir den Ellbogen in die Rippen. »Er ist verrückt nach deinen Cupcakes«, zischte sie mir zu.

»Das habe ich gehört.«

Sie beugte sich zu mir vor. »Er ist süß«, flüsterte sie mir ins Ohr.

»Und?«

»Er trägt keinen Ehering.«

»Und?«

»Du auch nicht.«

»Er ist nicht mein Typ«, sagte ich.

»Okay, er untersucht den ganzen Tag Leichen«, erwiderte Glo. »Niemand ist perfekt. Wahrscheinlich hat er eine Menge interessanter Hobbys.«

»Entschuldigen Sie«, sagte ich zu Nergal. »Können wir jetzt gehen?«

»Natürlich. Aber bitte bleiben Sie in der Stadt.«

»Muss ich?«

»Ja«, erwiderte er. »Ich bin süchtig nach Ihren Cupcakes.«

Glo stupste mich wieder an. »Ich glaube, er flirtet mit dir«, flüsterte sie.

»Es geht um die Cupcakes. Das hat gar nichts mit mir zu tun. Ich gehe jetzt.«

»Ich kann noch nicht weg«, sagte Josh. »Ich muss das Museum nachher abschließen.«

»Ich bleibe bei dir«, verkündete Glo. »Das ist wie in einer dieser Krimiserien im Fernsehen.«

Ich verabschiedete mich und trat aus dem Museum in die warme Julinacht hinaus. Die Straßenlaternen warfen kleine Lichtkreise auf den schattigen Gehsteig. Eine Lampe flackerte, als ich vorbeiging, erlöschte zweimal und strahlte dann heller als zuvor.

Mir lief es kalt über den Rücken, und auf meinen Armen bildete sich Gänsehaut. Unter der Laterne stand ein Mann. Er war sehr attraktiv und sexy, aber auch ein wenig unheimlich. Irgendwie ähnelte er einem Vampir. Seine Haut war sehr blass, er hatte eindringliche dunkle Augen, und sein schulterlanges rabenschwarzes Haar war streng zurückgekämmt. Er trug einen perfekt geschnittenen schwarzen Anzug und ein schwarzes Hemd. Ich kannte ihn, und es hatte schon einige Momente gegeben, in denen ich geglaubt hatte, dass auch seine Seele schwarz sein könnte. Sein Name ist Gerwulf Grimoire. Besser bekannt als Wulf. Er trat kurz nach meinem Umzug an die Nordküste in mein Leben. Als er sich mir vorgestellt hat, hat er mit der Fingerspitze meinen Handrücken berührt und eine Brandwunde hinterlassen. Die Narbe sieht man heute noch.

»Miss Tucker«, sagte er. »Wir treffen uns also wieder.«

»Schön, dich zu sehen, Wulf.«

»Das meinst du bestimmt nicht ernst«, erwiderte Wulf. »Aber ich weiß die Lüge zu schätzen. Ich bin hier, um dir die Münze abzunehmen, die du soeben gefunden hast.«

»Welche Münze? Wovon redest du?«

Wulf musterte mich. »Du weißt wirklich nicht, was ich meine, richtig?«

»Ich nehme zumindest an, dass du nicht nach Kleingeld suchst.«

»Wohl kaum. Du erfährst schon bald mehr über diese Münze. Mein Cousin Diesel ist sicherlich ebenfalls danach auf der Suche und braucht deine Hilfe. Wenn du klug bist, lässt du die Finger davon. Betrachte das als Warnung.«

»Ich habe keine Angst vor dir.« Noch eine Lüge.

»Ich bin das geringste deiner Probleme«, erwiderte Wulf.

Es gab einen Knall, eine Rauchwolke stieg in die Luft, und Wulf war verschwunden. Einfach weg.

Mein Handy summte. Eine SMS von Glo: Wir schließen den Laden in zehn Minuten ab und gehen auf einen Tequila zum Ship’s Side an der Wharf Street. Wir bringen den süßen Gerichtsmediziner für dich mit. Treffen uns dort.

Das Ship’s Side war ein beliebtes typisches Fischlokal, außen grau verkleidet und innen mit Netzen, Bojen und Hummerfallen dekoriert. Wir saßen an einem runden Tisch auf der hinteren Veranda mit Blick auf den Hafen von Salem. Josh trug immer noch sein Kostüm und spielte entsprechend seine Rolle.

»Ich nehme einen Grog«, sagte er zur Kellnerin.

»Tut mir leid, junger Mann, Grog haben wir nicht. Sie werden sich mit einem Bier zufriedengeben müssen.«

»Seht ihr?«, sagte Josh. »Wieder ein Beispiel dafür, dass die Gesellschaft sich weigert, den Bedürfnissen meines Volks Rechnung zu tragen.«

»Deines Volks?«, fragte ich. »Meinst du damit die Piraten?«

»Wir ziehen die Bezeichnung ›amerikanische Freibeuter‹ vor«, erklärte Josh.

»Möchte der amerikanische Freibeuter nun ein Bier?«, fragte die Kellnerin nach.

»Aye.«

»Mir fällt auf, dass Sie auch wie ein Bukanier sprechen, selbst wenn Sie nicht bei der Arbeit sind«, sagte Nergal zu Josh.

»Das ist ein schrecklicher Fluch«, sagte Josh. »Ich muss den ganzen Tag wie ein Freibeuter sprechen, und dann kann ich einfach nicht mehr damit aufhören. Mein Gehirn hat sich darauf eingestellt.«

»Mir gefällt das«, warf Glo ein. »Manchmal sagt er, ich sei eine großartige Beute.«

»Wohl wahr. Du bist auch tatsächlich ein Mädchen, für das es sich lohnt, ein Schiff zu kapern«, erwiderte Josh.

»Ich bin glücklicherweise nicht auf die Sprache der Gerichtsmediziner fixiert«, sagte Nergal.

Josh nickte. »Nach Feierabend immer noch zu sprechen wie ein Gerichtsmediziner wäre auch schrecklich.«

»Eigentlich ein merkwürdiger Beruf«, meinte ich. »Warum sind Sie denn Leichenbeschauer geworden?«

»Nach meinem Medizinstudium hatte ich Schulden, und dann wurde mir der Job angeboten. Ich weiß, für die meisten Außenstehenden klingt das grausig, aber die Arbeit ist wirklich sehr interessant. Warum sind Sie Kuchenbäckerin geworden?«

»Ich bin in der Kochschule im Fach Soßen durchgefallen, aber beim Backen von Cupcakes war ich sehr gut.«

Ich spürte, wie sich jemand an mich lehnte, und dann sah ich einen langen Arm, der sich nach dem Brotkorb ausstreckte. Diesen Arm kannte ich. Er gehörte Diesel. Er schob sich einen Stuhl an den Tisch und setzte sich zwischen Nergal und mich.

»Was gibt’s Neues?«, fragte Diesel und zupfte spielerisch an meinem Pferdeschwanz.

Einen Moment lang war ich sprachlos.

»Wo zum Teufel hast du gesteckt?«, brachte ich schließlich hervor. »Gerade noch warst du in meinem Haus, und dann warst du plötzlich verschwunden. Ich dachte schon, du wärst tot. Wochenlang habe ich nichts von dir gehört. Du hast dich nicht einmal von mir verabschiedet.«

»Ich hatte einen Auftrag zu erledigen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mich von dir verabschiedet habe.«

»Du hast nur gesagt: ›Ich komme bald wieder.‹«

»Und?«

»Das ist keine richtige Verabschiedung.«

Diesel nahm sich ein Brötchen aus dem Korb. »Deshalb arbeite ich nicht mit Frauen zusammen.«

»Natürlich tust du das. Ich bin eine Frau!«

»Schon, aber nur, weil ich keine andere Wahl habe. Ich hatte nur zwei Alternativen, und Wulf hat mir die erste Wahlmöglichkeit vor der Nase weggeschnappt – er hat Steven Hatchet vor mir gefunden.«

Ich schlug mir gegen die Stirn. »Oh Gott!«

Steven Hatchet ist der einzige andere Mensch auf dieser Welt, der einen getarnten SALIGIA-Stein erkennen kann. Dass Diesel Hatchet für die erste Wahl hält, ist eine Beleidigung für mich, weil der Kerl ein totaler Spinner ist. Hatchet sieht aus wie ein nicht richtig durchgebackenes Brötchen mit zwei Beinen. Er hat rote zottelige Haare, ist etwa in meinem Alter und hält sich für einen Knecht aus dem Mittelalter, der seinem Herrn und Meister Wulf dienen muss.

»Hier ist kein Platz für dich«, sagte ich zu Diesel. »Das ist ein Tisch für nur vier Personen.«

»Du bist sauer, richtig?«, fragte Diesel.

»Ja! Hau ab.«

Die Kellnerin kam mit unseren Getränken zurück und fragte uns, ob wir etwas zu essen bestellen wollten.

Glo entschied sich für einen Burger, Josh für gebratene Muscheln, Nergal bestellte ein Brötchen mit Hummerfleisch und ich einen Reispudding.

»Ich nehme auch ein Hummersandwich«, sagte Diesel.

»Nein.« Ich wandte mich an die Kellnerin. »Er gehört nicht zu uns.«

»Aber er sitzt an Ihrem Tisch«, entgegnete sie.

»Er hat sich ungefragt dazugesetzt. Ermutigen Sie ihn nicht auch noch.«

Die Kellnerin musterte ihn von oben bis unten. »Also ich persönlich würde ihn durchaus ermutigen.«

»Ich hätte gern ein Bier zu dem Hummersandwich«, sagte Diesel.

»Nein«, protestierte ich wieder.

»Welches Bier darf es sein?«, erkundigte sich die Kellnerin.

»Ich lass mich überraschen«, erwiderte Diesel, »und bestelle noch ein zweites Hummersandwich zum Mitnehmen. Mein Affe sitzt draußen im Auto und hat Hunger.«

»Das ist ja süß«, schwärmte die Kellnerin. »Wie heißt Ihr Affe?«

»Carl. Und es wäre wunderbar, wenn es nicht allzu lange dauern würde, denn Carl kaut sicher schon am Lenkrad. Wir sind gerade erst aus Sri Lanka zurückgekommen, und er hat immer noch Angst wegen der vielen Elefanten, die es dort gibt.«

»Das ist Theodore Nergal«, sagte ich zu Diesel. »Und der Typ mit der Augenklappe auf der Stirn ist Josh, der Pirat.«

»Wohl wahr. Und wer seid Ihr?«, fragte Josh.

»Ich bin Diesel.«

»Was haben Sie in Sri Lanka gemacht?«, wollte Nergal wissen.

»Dies und das«, antwortete Diesel.

»Aha, wie das eben so ist«, meinte Nergal.

Diesel biss in das Brötchen. »Sie haben es erfasst.«

»War es schwierig, den Affen ohne Quarantäne ins Land zu bringen?«, fragte Nergal.

Es folgte eine lange Pause, in der alle Diesel anstarrten.

»Er ist ein Assistenzaffe«, sagte Diesel schließlich.

Es erübrigt sich wohl zu erwähnen, dass bei Diesel alles etwas anders läuft.

»Du errätst nie, was heute passiert ist«, sagte Glo zu Diesel. »Josh hat uns durch das Piratenmuseum geführt. Dabei krachte eines der Ausstellungsstücke von der Decke vor unsere Füße, und die Attrappe war tatsächlich eine echte Leiche. Dadurch haben wir Dr. Nergal kennengelernt. Er ist Gerichtsmediziner und hat seine Sache großartig gemacht. Ihm ist sofort aufgefallen, dass der Mann erschossen wurde, und er konnte auch gleich Rückschlüsse auf die Waffe und alles andere ziehen. Und er hat uns gesagt, dass der Mann bereits vor über neunzig Jahren ermordet worden ist.«

»Beeindruckend«, meinte Diesel.

Nergal schüttelte den Kopf. »Ganz und gar nicht. Es war offensichtlich.«

»Der Kopf fiel ab, als die Leiche auf den Boden knallte«, fuhr Glo fort. »Und Dr. Nergal brauchte nur den Schädel zu berühren, und schon war ihm alles klar!«

»Er hatte ein Einschussloch am Hinterkopf, und die Kugel befand sich noch im Schädel«, erklärte Nergal Diesel.

Die Kellnerin brachte unser Essen, und wir ließen es uns schmecken. Nergal hatte sein Hummersandwich zur Hälfte verspeist, als sein Telefon summte. Er las die SMS und tippte rasch eine Antwort.

»Hat mich sehr gefreut«, sagte er, schob seinen Stuhl zurück und legte seinen Anteil an der Rechnung auf den Tisch. »Leider muss ich jetzt gehen. Die Pflicht ruft.«

»Scheint ein netter Kerl zu sein«, sagte Diesel zu mir, als Nergal verschwunden war. »Vielleicht solltest du mal mit ihm ausgehen.«

»Ach ja?«

Eine halbe Stunde später verließen wir das Restaurant. Josh brachte Glo zu ihrem Wagen, und Diesel und ich gingen die Wharf Street entlang zu meinem klapprigen braunen Chevy.

»Ich spüre eine Erschütterung in der Macht«, sagte Diesel.

»Na so was, ich kann mir gar nicht vorstellen, warum. Vielleicht weil wir gerade noch zusammen im Bett lagen, du dich dann plötzlich angezogen hast und verschwunden bist. Und ich drei Wochen lang nichts mehr von dir gehört habe. Und nun erfahre ich, dass du in Sri Lanka warst.«

»Nun, was hast du denn gedacht, wo ich hingegangen bin?«

»Ich weiß nicht … möglicherweise in eine Drogerie, um Kondome zu kaufen.«

»Ja, jetzt wo du es sagst … Das wäre eine Möglichkeit gewesen.« Er legte mir den Arm um die Schulter und schmiegte sich an mich. »Vielleicht sollten wir da weitermachen, wo wir aufgehört haben.«

»Wärst du tatsächlich dazu bereit, das Risiko einzugehen, dass einer von uns seine Fähigkeiten verliert?«

»Ich glaube, ich könnte dieses Problem irgendwie umgehen.«

»Auf keinen Fall. Darauf lasse ich es nicht ankommen. Außerdem bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich dich mag.«

»Natürlich magst du mich. Mit mir kann man viel Spaß haben.«

»Ich hatte vorhin einen Zusammenstoß mit Wulf, und nun tauchst du wieder auf. Was ist los?«, fragte ich.

»Sagt dir der Name Martin Ammon etwas?«

»Ich hab von ihm gehört, er ist Milliardär.«

»Martin Ammon ist ein Mogul in der Verlags- und Medienbranche«, sagte Diesel. »Ihm gehören etliche Zeitungsverlage und andere Medienunternehmen in England und den Vereinigten Staaten. Er ist bekannt dafür, große und kleine Firmen zu verschlingen – ein exzentrischer, machthungriger Größenwahnsinniger. Sein Großvater war Billy McCoy, ein berüchtigter Alkoholschmuggler während der Prohibition. Und McCoys Partner war Holzbein Dazzle.«

»War Holzbein mit den Dazzles von der Bäckerei verwandt?«

»Wahrscheinlich sind alle Dazzles in Salem irgendwie miteinander verwandt, aber ich habe keine Ahnung, in welcher Verbindung Holzbein zu ihnen steht. Wie auch immer, McCoy und Holzbein entdeckten bei ihren illegalen Umtrieben ein Tagebuch, in dem sich eine Münze befand. Das Tagebuch gehörte einem Piraten namens Palgrave Bellows, und darin beschrieb er in allen Einzelheiten einen Schatz, den er auf einer Insel vor der Küste von Maine versteckt hatte. Die Münze sollte dabei helfen, Palgraves Schatzkarte zu lesen. Dummerweise war die Karte nicht im Tagebuch mit der Münze, daher haben McCoy und Holzbein den Schatz nicht gefunden.

Vor einigen Jahren fiel das Tagebuch Ammon in die Hände, und seitdem ist er ganz besessen von dem Schatz. Er kaufte sich ein Haus in Marblehead Neck und freundete sich mit einem Geschichtsprofessor an. Die beiden investierten viel Zeit und Geld in die Sache, aber es kam nichts dabei heraus.«

»Woher weißt du das alles?«

»Das ist kein Geheimnis. Es gibt etliche Zeitungsartikel über das Tagebuch und den verlorenen Schatz der Gunsway.«

»Gunsway?«

»Das ist der Name des Schiffs, das Palgrave geplündert hat. Es kam ursprünglich aus dem Orient und hatte laut dem Tagebuch unermessliche Schätze an Bord – gewöhnliche und magische.«

»Magische. Wow.«

»Ja, und an dieser Stelle kommen Wulf und ich ins Spiel. Wenn man dem Tagebuch glauben kann, besteht der magische Teil des Schatzes aus dem Avaritia-Stein, dem Stein der Habgier und des Geizes. Ammon hat in all seinen Interviews nicht viel Aufhebens darum gemacht, weil er vermutlich diesen Stein an sich bringen will. Er hat in der Vergangenheit öfter über seinen Drang, immer mehr Geld anzuhäufen, gescherzt und gesagt, dass seine Eltern bei der Wahl seines Namens Martin eine gute Wahl getroffen hätten. Wenn man den Anfangsbuchstaben seines Vornamens mit seinem Nachnamen verbindet, kommt dabei ›Mammon‹ heraus, der Name eines der sieben Prinzen der Hölle und die Verkörperung von Reichtum und Habgier.«

»Das wäre nicht meine erste Wahl für einen prophetischen Namen.«

»Meine auch nicht. Für mich würde mir B. Ierbauch als Name besser gefallen.«

Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriffen hatte. »Wie witzig«, sagte ich.

Diesel grinste und strich eine Haarsträhne hinter mein Ohr. Seine Berührung löste in mir eine Gefühlswelle aus, die von meinem Ohr bis in meine empfindlichen unteren Regionen schwappte.

»Noch einmal?«, fragte Diesel.

»Nein. Erzähl mir lieber das Ende der Schatzgeschichte.«

»Ammon gelang es schließlich, die Schatzkarte von Palgrave Bellows aufzutreiben. Sie wurde während einer Schiffsrestaurierung entdeckt. Ammon hat sie sich geschnappt, und sie befindet sich immer noch in seinem Besitz.«

»Also hat Ammon jetzt das Tagebuch und die Karte.«

»Richtig. Allerdings ist die Wegbeschreibung auf der Karte verschlüsselt – um sie lesen zu können, braucht man diese besondere Münze. Ammon hat ein Team von Kryptographen angeheuert, die den Code aber nicht knacken konnten. Also dreht sich nun alles darum, die Münze zu finden.«

»Wie lange suchen sie schon danach?«

»Seit Jahren. Ammon hat einen Privatdetektiv darauf angesetzt.«

»Um nach der Münze zu suchen?«

»Ja, aber auch, um Nachforschungen über Holzbein anzustellen. Der Detektiv hat eine Menge Leute befragt und herausgefunden, dass die Münze ursprünglich zusammen mit dem Tagebuch gefunden worden war, aber McCoy und Holzbein trauten sich nicht so recht über den Weg, also nahm McCoy das Tagebuch an sich, und Holzbein behielt die Münze. Kurz darauf verschwand Holzbein und wurde nie wieder gesehen. Man munkelt, er sei bei einem Streit über ein Fass Rum erschossen worden, aber das sind nur Gerüchte. Letzte Woche wurde der Käfig mit dem Gefangenen im Piratenmuseum aufgehängt und erregte sofort das Interesse des Privatdetektivs. Die Leiche trug zwar zerlumpte Piratenklamotten, aber das Holzbein stammte eindeutig aus der Neuzeit.«

»Das ist mir nicht aufgefallen«, gestand ich. »Für mich sah es einfach nur wie ein Holzbein aus. Und woher weißt du das alles?«

»Die Organisation, für die ich arbeite, hat Ammons Detektiv beschatten lassen.«

Diesel ist eine Art Cop. Zumindest hat er mir das erzählt. Er arbeitet für einen locker organisierten Verband von Menschen mit besonderen Fähigkeiten. Anfänglich sollte er dafür sorgen, dass der eine oder andere aus seiner Zunft nicht weiter über die Stränge schlug. Doch dann erhielt er die Aufgabe, die sieben SALIGIA-Steine zu suchen, und damit wurde seine Polizistentätigkeit zweitrangig.

»Ich wurde nach Salem zurückgeholt, um dich in das Museum zu bringen, doch da hattest du die Sache bereits selbst in die Hand genommen«, fügte Diesel hinzu.

»Das war nicht beabsichtigt. Ich war nur mit Glo und ihrem neuen Freund dort. Woher weiß Wulf von der Sache?«

»Wulf hat seine eigenen Quellen und Pläne. Es ist schwer zu sagen, wie er manchmal an solche Informationen kommt – es ist eben einfach so.«

»Du glaubst also, dass sich die Münze irgendwo bei dem Skelett des Piraten befindet?«

»Vielleicht. Oder möglicherweise führt uns die Geschichte des Skeletts zu der Münze.«

»Kurz bevor ich den Käfig berührt habe und er sich von dem Haken löste und auf den Boden krachte, habe ich eine Vibration gespürt. Sie war nicht sehr stark, und ich dachte, ich hätte es mir nur eingebildet.«

»Schätzchen, deine Vorstellungskraft ist nicht gerade stark ausgeprägt.«

»Oh doch, sie ist ausgezeichnet. Manchmal gelingt es mir sogar, mir vorzustellen, dass ich ein ganz normales Leben führe.«

»Das ist allerdings kaum zu glauben«, meinte Diesel. »Vielleicht war die Münze in dem Käfig.«

»Wenn, dann muss sie irgendwo versteckt gewesen sein. Ich habe keine Münze gesehen.«

»Wer hatte Zugang zu der Leiche?«

»Der Einzige, der in meinem Beisein das Skelett angefasst hat, war Nergal. Sicher haben es auch die Rettungssanitäter berührt, aber ich bin gegangen, bevor sie es eingepackt und abtransportiert haben.«

Diesel schloss meinen Wagen auf und öffnete die Fahrertür für mich. »Ich muss noch etwas erledigen«, erklärte er. »Wir sehen uns dann später.«

Mein Haus sieht aus, als wäre es im achtzehnten Jahrhundert mit vielen anderen Häusern aus einem riesigen Salzstreuer geschüttelt worden. In unserem Viertel steht eine Mischung aus kleinen Häusern, gebaut von Kabeljaufischern, Schustern, Tischlern und Seeleuten, und einigen wenigen größeren Häusern, die Kaufleuten und Schiffskapitänen gehörten. Bei den meisten Häusern hängt immer noch ein goldfarbener Kabeljau aus Holz über der Haustür, ein Symbol für Glück. Weil mein goldfarbener Kabeljau um die Flossen herum schon ein wenig verblasst war, hatte ich schon seit einiger Zeit vor, ihn neu anzumalen.

Ich kam später nach Hause als üblich, und Katerchen wartete bereits an der Tür auf mich. Ich nahm die Post aus dem Briefkasten, begrüßte Katerchen und ging in die Küche. Rasch füllte ich Katerchens Schüssel mit Trockenfutter und legte als Entschuldigung für die verspätete Mahlzeit ein Stück Melone dazu. Während er es sich schmecken ließ, sah ich meine Post durch.

Rechnungen, Werbung, noch mehr Werbung … Oh, ein Brief von einem Verleger. Vor einer Weile hatte ich eine Idee für ein Kochbuch gehabt. Titel: Heiße Jungs kochen für hungrige Frauen. Ich hatte aus meinen Ideen und Rezepten ein Manuskript gemacht und es an etliche Agenten und Verleger in New York geschickt. Leider hatte es bisher niemand haben wollen, und allmählich graute mir davor, die Briefe zu öffnen und mit großer Wahrscheinlichkeit die nächste Absage zu kassieren.

»Was meinst du?«, fragte ich. »Soll ich das Kuvert aufmachen? Hast du ein gutes Gefühl bei diesem Brief?«

Katerchen grub seine Zähne in die Melone und schien sich nicht besonders für den Brief zu interessieren.

»Also gut. Wünsch mir Glück.«

Ich riss das Kuvert auf und las den Brief. Eine Absage. Mist!

»Die Idee ist toll«, erklärte ich Katerchen. »Und die Rezepte sind großartig. Ich habe sie alle selbst ausprobiert. Ich verstehe einfach nicht, warum niemand mein Buch herausgeben will.«

Ich ging in mein kleines Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein und zappte durch die Kanäle, bis ich den Sender Food Network gefunden hatte. Ich sah mir eine halbe Stunde lang eine Kochsendung an und schaltete dann um zu Property Brothers auf HGTV. Die Zwillinge hatten ganz andere Rezepte drauf.

Katerchen war mir ins Wohnzimmer gefolgt und hatte sich neben mir auf dem Sofa zusammengerollt.

»Das wäre etwas für mich«, sagte ich zu ihm. »Ich brauche die Property Brothers. Sie arbeiten für wenig Geld, liefern immer pünktlich und sind richtig schnuckelig.«

Ich hörte, dass die Haustür aufging, und Katerchen stieß ein tiefes Knurren aus. Er drehte seine Ohren und lauschte einen Moment lang. Als Diesel und Carl hereinkamen, legte er sich wieder hin und steckte die Nase unter seine Pfoten.

Carl sprang von Diesels Schulter, trippelte zu Katerchen hinüber und schnupperte an ihm. Der Kater öffnete sein noch funktionsfähiges Auge, und Carl wich erschrocken zurück und schlang seine Ärmchen um Diesels Bein. Niemand legt sich mit Katerchen an.

»Und?«, fragte ich Diesel.

Diesel fläzte sich neben mich auf das Sofa, sodass ich zwischen ihm und Katerchen eingeklemmt war.

»Ich habe mir den Käfig genau angesehen und den gesamten Fußboden in dem Ausstellungsraum abgesucht«, berichtete Diesel. »Keine Spur von der Münze.«

»Und der Tote?«

»Auch den habe ich mir angeschaut. Er liegt im Leichenschauhaus, um demnächst obduziert zu werden. Keine Münze bei der Leiche.«

»Und was ist mit Wulf?«

»Ich habe mit ihm gesprochen. Er hat die Münze nicht.«

»Da waren noch die beiden Rettungssanitäter, die die Leiche abgeholt haben. Und im Leichenschauhaus wurde sie sicher auch von jemandem untersucht.«

»Und wir sollten Dr. Tod nicht vergessen«, meinte Diesel.

»Nergal?«

»Ja, ich tippe auf ihn.«

»Ich dachte, er sei dir sympathisch. Du hast mir empfohlen, mit ihm auszugehen.«

»Er hat sich die Leiche genau angesehen und hatte die Möglichkeit, Beweismaterial zu unterschlagen, bevor die Sanitäter sie in den Leichensack gepackt haben. Also ist es nur logisch, dass er die Münze gefunden hat.«

»Hast du dich in seinem Büro umgesehen?«

»Ja, aber die Münze war nicht dort«, erwiderte Diesel. »Und sie taucht auch nicht in seinem Bericht auf.«

Die Property-Brothers-Sendung war zu Ende, und ich stand auf und streckte mich. »Zeit zum Schlafengehen«, verkündete ich. »Ich muss morgen sehr früh in der Bäckerei sein.«

»Kein Problem.« Diesel schnappte sich die Fernbedienung. »Ich bleibe noch ein wenig auf.«

»Was? Nein. Das geht nicht. Du musst nach Hause gehen.«

»Ich dachte, ich sei schon zu Hause.«

»Das ist mein Haus. Hast du denn kein Zuhause?«

»Ich habe ein Strandhaus in der Südsee, aber das ist ein bisschen zu weit weg.«

»Wo hast du denn in Sri Lanka gewohnt?«

»In einem Kloster. Das waren die längsten drei Wochen meines Lebens.«

»Du hattest doch mal eine Wohnung hier. Was ist daraus geworden?«

»Der Besitzer ist in die Stadt zurückgekommen.«

KAPITEL

3

Um Viertel nach vier stellte ich meinen Wecker ab. Neben mir lag kein großer Mann. Das Bettlaken war kalt. Und es lag kein Geruch nach Lebkuchen in der Luft. Schwer zu sagen, ob ich erleichtert oder enttäuscht war.

Ich duschte, zog mich für die Arbeit an und trottete hinunter in die Küche. Auch hier keine Spur von dem großen Kerl. Ich gab Katerchen eine Schüssel mit frischem Wasser und ein bisschen Trockenfutter. Dann stellte ich die Kaffeemaschine an, steckte eine tiefgefrorene Waffel in den Toaster und stieß einen spitzen Schrei aus, als Wulf plötzlich ohne Vorwarnung vor mir stand.

»Himmelherrgott, ich hasse es, wenn Leute plötzlich aus dem Nichts auftauchen. Wie bist du hier hereingekommen?«

»Ich habe da so meine Mittel und Wege.« Er warf einen Blick auf die Waffel im Toaster. »Nicht gerade ein gesundes Frühstück, aber vielleicht rechnest du ohnehin damit, nicht allzu lange zu leben.«

»Was soll das heißen?«

»Du spielst im Verliererteam und gehst ein hohes Risiko ein.«

»Ist das wieder eine Warnung?«

»Ein Angebot, auf meine Seite zu wechseln. Es gibt dunkle Mächte, die über dich und deine speziellen Fähigkeiten Bescheid wissen. Wenn sie erst einmal hinter dir her sind, wirst du ihnen nur schwer entkommen können.«

»Ich bin nur eine einfache Kuchenbäckerin. Ich habe nicht einmal einen Account bei Facebook. Woher sollte jemand etwas über mich wissen?«

»Du bist nicht nur eine Bäckerin; du besitzt eine sehr seltene und überaus wertvolle Kraft. Ein solches Geheimnis bleibt machtgierigen Menschen nicht lange verborgen. Was glaubst du denn, wie ich dich gefunden habe? Oder wie mein Cousin dich entdeckt hat? Und bist du dir sicher, dass er den Stein nicht für sich behalten will?«

»Das riskiere ich.«

»Ich könnte dir ein schönes Leben bereiten«, erklärte Wulf. »Oder dir das Leben sehr unangenehm machen. Wofür entscheidest du dich?«

»Für keins von beidem. Verschwinde einfach und lass mich in Ruhe meinen Job machen.«

»Den Avaritia-Stein für Diesel finden?«

»Cupcakes backen.«

Wulfs Lippen verzogen sich leicht zu einem kaum wahrnehmbaren Lächeln. Seine Augen waren geweitet und tiefschwarz. Ein Blitz zuckte auf, und er war verschwunden.

Ich warf einen Blick zu Katerchen hinüber. Er hatte die Haare so sehr gesträubt, dass sein Schwanz aussah wie eine Flaschenbürste. »Das ist eine Vollkornwaffel«, sagte ich zu ihm. »Also in gewisser Weise gesund.«

***

Dazzle’s Bakery ist schon seit den Zeiten der Puritaner im Besitz der Familie Dazzle und wird nun von Clarinda Dazzle geführt. Der Laden ist schon uralt und besteht aus zwei Räumen im Erdgeschoss und einer kleinen Wohnung im ersten Stock. Der Verkaufsraum der Bäckerei geht zu einer schmalen Straße in der Nähe des Hafens hinaus. Der Boden besteht noch aus den ursprünglichen breiten Kieferbohlen, und die Wände sind weiß gekalkt. Die Glasvitrinen sind gefüllt mit Cupcakes und Gebäck, und in dem Regal hinter der Ladentheke stehen Weidenkörbe mit einer Vielfalt von Brotlaiben und Frühstücksbrötchen. Clara und ich arbeiten in der Backstube hinter dem Verkaufsraum und bereiten gemeinsam alles zu, was vorn zum Verkauf angeboten wird.

Um fünf Uhr kam ich in der Bäckerei an. Ich schaltete das Licht ein und stellte auf meinem iPad den Sender mit den Hits aus den Sechzigern an. Ich mag diesen Teil des Tages, wenn alles neu beginnt. Es gefällt mir, die Tür aufzuschließen und die Bäckerei zum Leben zu erwecken.

Ich streifte meinen weißen Kittel über und bereitete den Hefeteig vor. Um halb sechs, als ich gerade mit dem Rührteig für die Cupcakes anfing, kam Clara herein. Sie ist geschieden, Anfang vierzig und wohnt in dem Apartment über dem Laden. Ihr widerborstiger schwarzer Haarschopf ist von grauen Strähnen durchzogen, und sie versucht, ihn zu bändigen, indem sie ihn zu einem Knoten im Nacken bindet. Ihre Nase deutet auf ihre indianische Herkunft vom Stamm der Wampanoag hin. Alles andere hat sie von den robusten Pilgervätern geerbt, die sich in New England ansiedelten. Wie ich gehört habe, gab es auch in ihrer Familie Menschen mit besonderen Fähigkeiten, und anscheinend war sie einmal eine von uns. Vor einigen Jahren machte sie wohl einen Fehler bei der Wahl eines Bettgenossen, und seitdem besitzt Clara keine übernatürlichen Kräfte mehr.

»Wir müssen Fleischpasteten und Cupcakes für zwölf Personen vorbereiten. Sie werden am Mittag abgeholt«, sagte Clara. »Und Mr Duggan möchte um zehn Uhr seine übliche Bestellung von Laugenbrötchen haben.«