Kara - Blume der Urzeit - Sina Blackwood - E-Book

Kara - Blume der Urzeit E-Book

Sina Blackwood

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Beschreibung

Der Botaniker Andreas Winkler gerät bei einem Arbeitseinsatz zufällig und unwissentlich in einen Zeittunnel. Zuerst bemerkt er, dass die Technik nicht mehr funktioniert, dann fallen ihm urzeitliche Pflanzen auf, wie sie vor rund 15.000 Jahre existierten. Notgedrungen fügt er sich in sein Schicksal. Doch nach einigen Monaten ist nicht nur die Einsamkeit fast unerträglich, auch der Appetit auf ein Stück Fleisch wächst ständig. Andreas begibt sich auf die Suche nach Wild und macht eines Tages eine ungeheure Entdeckung...

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Inhaltsverzeichnis

Das Zeittor

Rollenverteilung

Andreas, der Zauberer

Keine Probleme, nur Aufgaben

Hamsterjagd

Kara in Panik

Bedrohliche Phänomene

Schöne, neue, verrückte Welt

Kara, die Glückliche

Lernen, lernen, nochmals lernen

Die Brautentführung

Allerlei Hochzeitsbräuche

Des einen Freud, des anderen Leid

Prof. Dr. John Helmbrecht

Die High Society

Familienzuwachs

Das Zeittor

Andreas packte die Thermosflasche zurück in den Rucksack, schaute auf den Kompass und entschied sich spontan, die rechte Abzweigung zu nehmen, weil sich der Weg plötzlich in vier Richtungen gabelte. Mit ein bisschen Glück werde er in zwei Tagen das Basislager am Rande des Hochwaldes erreichen, wo sich nach und nach auch die anderen Biologen und Botaniker einfinden sollten.

Nun war er schon drei volle Tage allein unterwegs, um die Blütenpflanzen in seinem Sektor zu katalogisieren, nachdem sein Kollege Tim, der die Insekten fotografieren sollte, wegen eines Beinbruches ausgeflogen werden musste.

Nach rund einhundert Metern blieb Andreas abrupt stehen. Vier Wege? Er schaute beunruhigt zurück, dann kramte er die Satellitenfotos heraus. „Da stimmt doch was nicht”, murmelte er. An der Stelle, wo er die Vierergabelung passiert hatte, war auf allen Bildern deutlich eine exakte Kreuzung zweier Wege zu sehen. Er nahm das Handy und versuchte, mit GPS seinen Standort zu bestimmen. Um nicht die volle Sonneneinstrahlung auf dem kleinen Display zu haben, machte er zwei Schritte auf einen dicht belaubten Strauch am Wegesrand zu, der ihm Schatten spenden sollte.

Im selben Augenblick erlosch das Bild auf dem Gerät. Verblüfft wechselte Andreas den Akku, der eigentlich noch bis zum nächsten Tag hätte halten müssen. Aber auch mit dem neuen Akku sagte das Handy keinen Mucks. Es ließ sich nicht einmal einschalten. Kopfschüttelnd zog er seinen Kompass hervor und erstarrte – die kleine Nadel drehte sich rasend schnell und sah wie eine flirrende Silberscheibe aus. „Was soll das?” Andreas erschrak vor seiner eigenen Stimme. Irritiert wollte er wenigstens nach der Uhrzeit schauen, aber auch die digitale Armbanduhr gab keine Lebenszeichen mehr von sich. „Scheiß Magnetfeld”, brummte Andreas verstimmt und studierte noch einmal die Satellitenbilder und handschriftlichen Aufzeichnungen.

Von irgendwelchen ungewöhnlichen Phänomenen war keine Rede. Selbst Erzlagerstätten waren nicht verzeichnet – die ganze Situation eigentlich völlig unmöglich. Andreas roch vorsichtshalber sogar am Inhalt seiner Trinkflasche – nichts deutete auf Alkohol hin.

Er rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Schätzungsweise war es 14 Uhr. Notfalls könne er einen anderen Wanderer nach Zeit und Ort befragen. Da fiel ihm schlagartig auf, dass er schon seit Stunden niemanden mehr getroffen hatte, was in diesem viel bewanderten Gebiet eigentlich auch völlig unmöglich war, besonders jetzt im Hochsommer. Deshalb hatte die Einsatzleitung ja auch beschlossen, ihn allein weiterarbeiten zu lassen …

Andreas zog den Bauchriemen fester, dann machte er sich seufzend wieder auf den gewählten Weg. Die grobe Richtung schien zu stimmen und er war guten Mutes, gegen Abend einen Platz für sein kleines Zelt zu finden, wo er sich an einem Feuer ein warmes Essen bereiten wollte. Die glühende Sonne ließ die Luft flimmern. Vorsichtshalber füllte er eine leere Plastikflasche mit Wasser aus dem klaren Bach, der direkt am Weg entlang plätscherte, um wenigstens hin und wieder sein Gesicht anfeuchten zu können.

Einige Meter weiter atmete sich die Luft, als sei sie zum Schneiden dick. Nach drei Schritten fühlte es sich an, als habe er soeben eine Zone mit Unterdruck passiert. Kopfschüttelnd blieb er erneut stehen und schaute sich um. Er war beileibe kein ängstlicher Typ, sonst hätte er wohl auch auf einem zweiten Mann bestanden, aber die letzte halbe Stunde hatte merkbar an seinen Nerven gezerrt. Forschend betrachtete er die Umgebung und bekam plötzlich riesengroße Augen.

Statt der Ebereschen und Birken standen eindeutig Ginkgobäume vor ihm und die Farne waren mehrere Meter hoch. „Muss ein handfester Sonnenstich sein“, stöhnte Andreas und flüchtete rasch in den Schatten, wo er sofort seinen Rucksack abnahm und sich, an einen Stamm gelehnt, auf den Boden setzte. Nur zur Ruhe kam er nicht. Solches Vogelgezwitscher wie hier, kannte er höchstens aus den Tropen. Statt der Finken und Amseln sangen völlig andere Arten. Dann glitt beinahe lautlos eine riesige Schlange vorbei.

Andreas sprang auf und starrte dem Reptil schreckensbleich hinterher. Langsam begriff er, dass das, was er hier zu sehen und zu hören bekam, real war. Ihm fiel das magnetische Feld wieder ein. Dutzende Science-Fiction Filme und jetzt dämmerte ihm, was geschehen war. Ein Zeittunnel. Ein Portal. Ich muss es wiederfinden! Andreas riss den Rucksack an sich und hastete den Weg zurück, den er gekommen war. Nur verlor der sich nach wenigen hundert Metern auf einer sumpfigen Wiese.

Resigniert blieb der Botaniker stehen, wohl ahnend, dass er endgültig auf sich allein gestellt war und jeden Tag ums Überleben kämpfen müsse. Eingedenk, dass in den Tropen die Nacht plötzlich hereinbricht, begann er, sein Zelt aufzubauen und Bestandsaufnahme seiner Ausrüstung zu machen.

Außer diversen Universalwerkzeugen verfügte er über ein sehr großes Messer, das er als Machete einsetzen konnte, eine Säge, einen beidseitig geschliffenen Dolch, ein Taschenmesser, eine Schere, Gabel, Löffel, Topfund Becherset.

Weiterhin befanden sich die Thermosflasche, zwei Wasserflaschen mit Schraubdeckel, Verbandsmaterial, ein großer Block, Stifte, Streichhölzer und nicht zuletzt eine Akkulampe mit Kurbel, die sogar hier funktionierte, in seinem Besitz.

Den Klappspaten und das kleine Fernglas nicht zu vergessen, welche außen am Rucksack hingen.

Der Rucksack enthielt auch noch ein Bergsteigerseil, Nylonschnüre, Angelhaken, wieder verschließbare Plastiktüten, einen warmen Pullover, Windjacke, Regenumhang und natürlich den Schlafsack, der widrigenfalls bis minus zwanzig Grad Celsius abhalten konnte.

Die Notration an Nahrung für zwei Tage war auch noch vollständig vorhanden. „Na ja“, murmelte Andreas, „besser als gar nichts.“

Er hoffte nur, von Raubtieren verschont zu bleiben, über deren Art und Aussehen, er sich lieber nichts vorstellen wollte. Als Botaniker sollte es ihm jedenfalls nicht sonderlich schwerfallen, essbare Pflanzen und Früchte zu finden. Der letzte Gedanke vor dem Einschlafen war: Ich werde versuchen, mir an Ort und Stelle eine Hütte zu bauen und darauf zu warten, dass sich das Portal in meine Welt wieder öffnet.

Ein pfauenähnlicher Schrei weckte ihn am nächsten Morgen. Kurzer Blick aus dem Zelt. „Scheiße!“ Die Ginkgos waren immer noch da, ebenso die Farne. Andreas klappte sein Notizbuch auf und hielt den vergangenen Tag in Stichpunkten fest, erst dann kroch er aus dem Zelt, um sich wenigstens einen Tee zu kochen. Es dauerte eine Weile, bis er genügend trockene Zweige gefunden hatte, die nicht vom Ginkgo stammten. Denn, dass dieser nur schwer brannte, wusste er als Botaniker. Der Rauch des Feuers hielt ihm auch die unzähligen Mücken vom Leib, die es hier, in der Nähe des Sumpfes, zu Hunderten gab.

Blöde Idee, gerade hier etwas bauen zu wollen, stellte er rasch fest. Nach dem kärglichen Frühstück packte er zusammen und wanderte am Bach entlang weiter, um schnell aus der unmittelbaren Nähe des Feuchtgebietes zu kommen. Der Anblick einiger Pinien ließ sein Herz schneller schlagen. Die Tiere des Waldes hatten unzählige Zapfen übrig gelassen, aus denen er sich die Samen herauspulte.

Aufatmend stellte er fest, dass sie geschmacklich jenen des Mittelmeerraumes glichen und noch nicht ranzig waren. Der hohe Ölgehalt war auch das Problem, weshalb es sich nicht lohnte, große Vorräte anzulegen. Also sammelte er nur so viel, wie er in den nächsten vier Tagen essen konnte.

Vorräte wären eigentlich das Stichwort gewesen, nur hatte Andreas keine Ahnung, ob es hier wirklich ausgeprägte Jahreszeiten gab. Die Bäume, die er bisher gesehen hatte, ließen keinen eindeutigen Schluss zu. Schließlich pflanzte man Ginkgos auf Alleen in Mitteleuropa an und da gab es ja nun wirklich strenge Winter.

Andererseits wuchs hier alles Mögliche wild durcheinander, so, dass es eher aussah, als gäbe es schlimmstenfalls eine lang anhaltende Regenzeit. Vor allem musste er erst einmal ein Dach über dem Kopf haben, um Vorräte auch trocken lagern zu können.

Um die Mittagszeit erreichte Andreas einen lichten Mischwald, der von einem Flüsschen durchschnitten wurde, in welches der Bach nun mündete. Das leicht abfallende Gelände wirkte hochwassersicher.

Er entschied sich, sein zukünftiges Domizil zwischen den letzten Bäumen zu errichten. Er fand vier hohe gerade Bäume, die ein fast exaktes Rechteck bildeten und einen Raum von rund zwanzig Quadratmetern umschlossen.

„Passt!“, freute er sich und begann Tannen abzusägen, deren Stämme er am Ende gerade noch allein zum Bauplatz schleppen konnte. Nur drei Bäume konnte er mit seinen ungeeigneten Werkzeugen bis zum Abend fällen, war aber froh, überhaupt Mittel zu haben, um sich eine Hütte bauen zu können.

Noch bevor die ersten Sterne funkelten, lagen die drei Balken mit fertig gesägten Aussparungen bereit, um zu Teilen eines Blockhauses zusammengefügt zu werden.

Todmüde kroch Andreas in sein Zelt, wo er sofort in einen traumlosen Schlaf fiel. So entging ihm völlig, dass wenige Meter entfernt riesige Hirsche zum Trinken kamen und erst verschwanden, als sie von einem Raubtierbrüllen in der Ferne aufgeschreckt wurden.

Die Spuren entdeckte er am Morgen, als er sich am Flüsschen waschen wollte. Sofort blieb er stehen und schaute forschend in die Runde. Möglicherweise gab es hier ja auch Krokodile oder irgendwelche giftige Echsen.

Vorsichtshalber machte er kehrt und wusch sich am Bach. Dort erspähte er zwischen den Uferpflanzen Pfefferminze. Hocherfreut zupfte er einige Blätter für frischen Tee ab und markierte die Stelle mit einigen großen Steinen.

Zwei andere Felstrümmer nahm er mit. Er konnte jede Menge und alle Sorten Baumaterial gebrauchen. Feuchten Lehm wollte er sich erst holen, um jede Ritze zu verschmieren, wenn die Wände standen. Den ganzen Tag werkelte er an seinem Häuschen, das langsam, aber stetig Gestalt annahm.

Natürlich gab es mehrere Rückschläge. Gewohnt, sich auf dem Baumarkt Werkzeug, Schrauben und Nägel zu holen, musste Andreas mit Weidenruten, von Bäumen geschälten Baststreifen und geschnitzten Holzsplinten auskommen. So platzte eben auch einer der frischen Balken auseinander und war für den angedachten Zweck nicht mehr verwendbar.

Andreas legte ihn beiseite. Schließlich wollte er sich auch noch einfache Möbel anfertigen und da war dieses Holz durchaus noch einsatzfähig. Wenn die Arbeit gut lief, summte er ein paar Melodien vor sich hin. Manchmal seufzte er auf. Es war deprimierend, immer nur die eigene Stimme zu hören, wenn überhaupt. Er wollte es sich auch nicht erst angewöhnen, ellenlange Selbstgespräche zu führen. Dann drehe ich endgültig durch, dachte er. Wehmütig kaute er die letzten Pinienkerne, trank dazu Pfefferminztee und überlegte, wo er sich am besten etwas zu beißen besorgen konnte.

Am Ende machte er sich mit einer Weidenrute, Angelschnur und Haken auf den Weg zum Fluss, in der Hoffnung, dort Fische fangen zu können. Allerdings hatte er die Köder völlig vergessen. Als sie ihm einfielen, schüttelte er unwillig den Kopf. Woher sollte er wissen, ob die Würmer hier nicht giftig waren? In der Notknotete er ein paar Grashalme zusammen und hoffte auf ein Wunder.

Nach fast zwei Stunden geschah das auch und Andreas zog einen großen Fisch an Land. Um das Glück nicht überzustrapazieren trug er ihn nach Hause, wo er ihn vorsichtig ausnahm, ohne die Organe zu beschädigen und auch noch das schwarze Häutchen an den Innenflächen der Bauchwände entfernte, welches bei einigen Arten der modernen Welt zum Tod führen konnte, wenn man es aß.

Er spülte seine Beute noch einmal ab, dann steckte er sie auf einen Zweig und grillte sie über dem Feuer. Mit leuchtenden Augen ließ er sich den köstlichen Fisch auf der Zunge zergehen. Morgen werde er sich wieder einen holen oder mehrere, so ihm das Schicksal noch einmal hold war. Jetzt war erst einmal wieder Bautätigkeit angesagt.

Andreas stellte fest, dass er mindestens drei Stützbalken einziehen musste, wenn das Dach auch Schneelasten aushalten sollte. Er begann, Löcher zu graben und holte gleichzeitig ein paar Angelköder, in Form von riesigen Regenwürmern aus dem Boden, welche er in eine leere Plastikflasche steckte, um sie am Türmen zu hindern.

Er setzte den ersten Balken und schichtete große Steine herum, damit er nicht zufällig umkippte. Dann legte er sofort die Querbalken, welche er noch zusätzlich mit Bast festband, um ganz sicherzugehen, obwohl die Kerben perfekt ineinandergriffen.

Die Türöffnung sicherte er über Nacht mit zwei gekreuzten Baumstämmen. Zwar hatte er weder Menschen noch Raubtiere in der unmittelbaren Nähe gehört und gesehen, aber sicher war sicher. Seine Nachtruhe wurde auch wirklich nicht gestört, obwohl er im Unterbewusstsein das Brüllen eines Tieres gehört hatte.

Sofort nach dem Aufstehen griff er nach seiner Angelausrüstung und tigerte ans Flussufer. Die Würmer schienen den Fischen zu schmecken, denn er zog innerhalb weniger Minuten gleich fünf große Exemplare aus dem Wasser.

Ziemlich zufrieden machte er sich auf den Rückweg, wobei sein Blick das andere, nicht sehr weit entfernte Ufer streifte, wo sich deutlich die Pfoten eines sehr großen Raubtieres in den feuchten Boden gedrückt hatten. Er schätzte es, den riesigen Tatzen nach, größer als einen Wolf ein.

Von nun an wollte er nicht mehr ohne seine beiden langen Messer aus dem Haus gehen. Bei dem Gedanken an ein Haus musste Andreas grinsen. Seine Blockhütte war noch nicht einmal fertig, hatte kein Dach und erst recht keine Tür, die einen Angriff durch einen hungrigen Räuber aushalten konnte.

Zumindest gab es schon den Vorläufer eines gemauerten Herdes mit Rauchabzug, in dem jede Nacht ein Feuer brannte, dessen Geruch die Tiere bisher zuverlässig abgeschreckt hatte.

Im Augenblick brodelte gerade das Teewasser in einem Topf, während im anderen eine einfache Fischsuppe mit Wildkräutern köchelte.

Zwei Fische garten an Spießen über dem Feuer. „Wenn nur die verdammte Einsamkeit nicht wäre“, seufzte Andreas traurig. Er versuchte, nicht an die Welt zu denken, die er unfreiwillig verlassen hatte. Spontan beschloss er, einen freien Tag einzulegen und die nähere Umgebung seines Domizils zu erkunden.

Mit heißem Tee, einer Plastikdose mit Fischsuppe und voller Bewaffnung, also mit seinen beiden Messern, machte er sich auf den Weg. Er folgte dem Fluss stromabwärts, um sich bloß nicht zu verlaufen. Nach ein paar hundert Metern ging der lichte Wald in eine Savanne über, die sich bis zu einem felsigen Streifen erstreckte und durch Bauminseln unterbrochen wurde.

Wie viele Kilometer mochten es bis dahin sein? Vier oder gar zehn? Andreas blieb im Schutz der letzten Bäume stehen. Außer Vögeln und Insekten war weit und breit kein Tier zu sehen. Das hieß aber noch lange nicht, dass keine da waren. In Afrika lauerten die Löwen auch irgendwo auf ihre Beute.

„Scheußlicher Gedanke“, stöhnte Andreas und kehrte um. Ganz umsonst war sein Ausflug nicht gewesen, denn er fand lauchartige Pflanzen, die würzig dufteten, ziemlich scharf schmeckten und von denen er einige mitnahm, um sie in der Nähe seiner Hütte zu kultivieren.

Auf einem kleinen Beet gedieh schon recht üppig Pfefferminze und das nächste sollte gleich daneben für den Lauch entstehen. Kresse wuchs im und am Bach.

Als es ihm dann auch noch erfolgreich gelang, einen hohlen Baumstamm auszuräuchern, um die Bienen zu vertreiben, und dabei unglaubliche Mengen Honigwaben zu erbeuten, sah die Welt gleich noch einmal so freundlich aus. Er stopfte mehrere Plastikbeutel voll und spähte überall nach Ton aus, um sich mit ein bisschen Geschick, Vorratstöpfe formen zu können.

Die ersten Versuche, die Gefäße zu brennen, schlugen völlig fehl. Aber Andreas gab nicht auf, er notierte, experimentierte und bastelte sich schließlich, in Ermangelung einer Uhr, ein einfaches System, wo er mittels tropfendem Wasser ungefähr gleiche Zeiteinheiten ablesen konnte und irgendwann war das erste Töpfchen mit Deckel perfekt gebrannt. Viele weitere folgten.

Zumindest konnte er nun trockene Güter erstklassig bevorraten. Auch das Häuschen wurde langsam im Rohbau fertig. Auf die Dachbalken packte er Schilf, wie er es in Norddeutschland gesehen hatte.

Darauf legte er besondere Sorgfalt, denn es gab nichts Schlimmeres als eindringenden Regen. Bis jetzt hatte er noch immer in seinem Zelt im Inneren des Häuschens geschlafen. Als das erste Gewitter tobte und von oben nicht ein einziger Tropfen Wasser eindrang, baute er sein Zelt ab und verwahrte es auf einem waagerechten Dachbalken.

Allerdings pfiff nach wie vor der Wind durch alle Ritzen und Andreas begann, auf der Wetterseite eine Steinmauer aufzuschichten. Erst dann holte er Lehm, um innen die Wände zu verputzen.

Seiner Strichliste nach befand er sich nun schon fast fünf Monate im Nirgendwo. Eine lange Zeit, in der er sich ausschließlich von Fisch, Kräutern und Piniensamen ernährt hatte. Er sehnte sich nach einem Stück Fleisch und träumte sogar nachts manchmal davon.

Von diesem Drang getrieben, suchte er nach einer Möglichkeit, den Fluss zu überqueren, denn am anderen Ufer musste es Wild geben. Auf alle Fälle lebten dort Raubtiere und die mussten sich ja von irgendetwas ernähren.

Also unternahm er in den nächsten Tagen immer wieder Exkursionen flussaufwärts und stieß dabei auf einen wahren Urwaldriesen, den irgendeine Naturgewalt gefällt und als natürliche Brücke über den Fluss geworfen hatte. Andreas balancierte hinüber und folgte einem Wildwechsel in den Wald.

Der lehmige Boden stieg terrassenförmig an und ging in Granitgestein über, auf dem bald nichts mehr wuchs. Und plötzlich stand Andreas an einer fast senkrecht abfallenden Wand.

Am Boden und so weit das Auge reichte, lagen dunkler Sand und Gesteinsbrocken. In der Ferne glaubte er, einen hellen Haufen zu erkennen und etwas, das wie ein Pfahl aussah. Ohne den Blick abzuwenden, kramte er in der Außentasche seines Rucksacks nach dem kleinen Fernglas. Das ohrenbetäubende Brüllen eines Raubtieres ließ ihn zusammenzucken und sich platt auf den Boden werfen.

Etwas Großes, Dunkles, Bedrohliches huschte über die Ebene und verschwand genau so schnell, wie es gekommen war. Andreas hob den Feldstecher vor die Augen und schüttelte überrascht den Kopf. Er hatte deutlich eine Art Marterpfahl mit rötlichen Bemalungen erkannt, vor dem ein ganzer Haufen Knochen lag, aber auch die Reste von Früchten.

„Ich werd verrückt”, hauchte er. Hier gab es also auch Menschen und dieser Gedanke jagte ihm unerklärliche Furcht ein.

Die Höhe bis zum Grund des Kessels schätzte er auf fünfzehn Meter. Keine Hürde für ihn, mit seinem Bergsteigerseil.

Nun hoffte er, dass die anderen bleiben würden, wo sie waren. Er blieb mehrere Stunden liegen und beobachtete den offensichtlichen Ritualplatz.

Am Nachmittag brach er nach Hause auf, wobei er nach Vögeln und Kleingetier Ausschau hielt, das sich möglicherweise ohne große Gegenwehr überwältigen ließ.

Zwar erwischte er keine Vögel, fand aber ein Entengelege, welches er bis auf zwei Eier ausnahm. So gab es zum Abendbrot Rührei mit frischen gehackten Kräutern und als Nachtisch ein Häppchen von einer Bienenwabe.

Reifes Obst hatte er noch nirgends entdeckt. Möglich, dass das irgendwo in den höchsten Urwaldriesen hing, die er nicht einmal dem Namen nach kannte. Er konnte zwar Gattung und Familie bestimmen, aber welcher Art Urahn der im 21. Jahrhundert wachsenden Bäume es war, bekam er nur in wenigen Fällen heraus.

Inzwischen war auch ziemlich sicher, dass es hier weder Temperaturen unter Null noch Schnee gab. So, wie die Pflanzen in Wachstums- und die Tiere in Paarungsstimmung waren, musste gerade Frühling sein und von einem Winter hatte er nichts bemerkt, außer täglich zwei bis drei Gewitter.

Heute zog es Andreas wieder in die Nähe des Ritualplatzes, den er immer wieder aufsuchte, um vielleicht etwas über die Menschen herauszufinden.

Noch immer war er ziemlich unbehelligt geblieben. Nur einmal hatte er mit Feuer ein Wolfsrudel verscheuchen müssen. Seitdem herrschte gnädige Ruhe.

Auch Fleisch lag nun hin und wieder auf seinem Teller. Allerdings nicht selbst gejagt. Er bediente sich am frischen Riss der Raubtiere am anderen Ufer. Ihm war es sogar gelungen, die ganze Hinterkeule eines Riesenhirsches zu stehlen und sicher in sein Häuschen zu bringen.

Einen großen Teil trocknete er in dünnen Streifen, den anderen grillte er und aß sich drei Tage lang davon richtig satt. Sein Vorratsregal war immer bestens gefüllt.

Wenn es Bindfäden regnete, blieb er einfach zu Hause im Trockenen.

Jetzt war gerade wieder in Richtung Ritualplatz unterwegs, überquerte den Fluss, erreichte die sandige Ebene und versteckte sich zwischen den Steinblöcken.

Das riesige dunkle Raubtier hatte er in den letzten Wochen auch immer wieder gesehen und als Bären eingestuft. Es schien eine Art Totemtier oder Geist zu sein, dem man Fleisch und Früchteopfer brachte, wohl, um es vom Lager fernzuhalten.

Nach dem Stand der Sonne war es fast Mittag und Andreas wunderte sich nicht, als eine Prozession kleiner dunkler Punkte heranzog. Nur waren es diesmal nicht nur zehn oder zwölf, wie bisher. Fast dreißig in Tierhäute gehüllte Gestalten stapften durch den Sand.

Und noch etwas bemerkte er rasch – sie hatten einen gefangenen Fremdling dabei, den sie offenbar dem Bären opfern wollten. Auffällig an dem Fremden waren die hellere Haut und das semmelblonde Haar, welches ihm fast bis an die Hüfte reichte.

„Mein Gott!“, stöhnte Andreas und schob sich näher an die Kante heran. Es dauerte ziemlich lange, bis die Gruppe so nah heran war, dass er Details erkennen konnte. Dem recht kleinen, fast zierlichen, hellhäutigen Fremden hatte man mit Lederriemen die Hände zusammengebunden und ein Mann zerrte ihn hinter sich her.

Wenn er verzweifelt an seinen Fesseln riss, wurde er von einem anderen in den Rücken gestoßen, sodass er Mühe hatte, auf den Beinen zu bleiben. Dann blies ein Windstoß die wirr herabhängenden Haare aus dessen Gesicht und Andreas hätte fast aufgeschrien.

Man zerrte eine Frau zum Opferplatz und sie schien noch sehr jung zu sein. Eine Stunde später traten die Menschen den Heimweg an und ließen ihr gefesseltes Opfer, an den Pfahl gebunden, aber auch Körbe voller Früchte für den Bären zurück.

Noch bevor sie völlig außer Sicht waren, knotete Andreas bereits sein Seil um einen Felsblock und stieg ab. Wenn nicht Unvorhergesehenes geschah, dann hatte er noch fast drei Stunden, ehe der Bär erschiene, um seine Beute zu zerreißen.

Ohne, auf Deckung zu achten, spurtete er in der glühenden Sonne über die Ebene.

Als er die Fremde erreichte, war sie bereits durch die unbarmherzig brennende Sonne ohnmächtig geworden. Er schnitt nur die Lederriemen durch, die sie am Pfahl hielten, dann warf er sich die Frau auf die Schulter. Mit der anderen Hand griff er nach einem der kleineren Körbe und schleppte alles dahin, wo sein Seil einladend herabhing. Er fühlte nach dem Pulsschlag der Ohnmächtigen und nickte zufrieden.

Den Korb pferchte er einfach in seinen Rucksack, welchen er nun offen lassen musste, dann überlegte er krampfhaft, wie er alles, möglichst mit einem Mal, auf den Felsen bringen sollte.

„Tut mir leid, aber es geht nicht anders“, murmelte er, als er der Fremden den Rucksack umschnallte und sie sich mitsamt allem, an den noch immer gefesselten Händen um den Hals hängte. Nach unendlich scheinender Zeit wälzte er sich völlig fertig auf den Fels. Mit weit geöffnetem Mund pumpte er Luft in die Lungenflügel.

Das war eindeutig zu viel des Guten gewesen. Er hoffte inständig, dass sich die Mühe gelohnt und die Frau wirklich überlebt hatte. Jetzt löste er ihre Fesseln und legte ein feuchtes Tuch auf ihre Stirn. Mit einem verlorenen Blick öffnete sie die Augen und wäre vor Schreck fast wieder ohnmächtig geworden.

„Alles in Ordnung“, flüsterte er, ihre Wange streichelnd. „Du bist in Sicherheit.“

Erstaunt lauschte sie der fremden Sprache und betrachtete forschend Andreas’ Augen, die erleichtert und freundlich blickten.

Er setzte ihr vorsichtig die Wasserflasche an die Lippen. Gierig trank sie und hielt seine Hand krampfhaft fest, als er kurz absetzen wollte. Bekümmert betrachtete er ihre aufgescheuerten Handgelenke. Sie bemerkte das mit Erstaunen.

Nach einer halben Stunde stand Andreas auf, steckte die leere Flasche in den Rucksack zurück und hielt der Fremden die Hand hin, um ihr aufzuhelfen.

Ziemlich irritiert fasste sie zu. Noch nie hatte es irgendeinen Mann interessiert, wie sie zurechtkam. Dieser seltsame Fremde hatte sie nicht nur vor einem furchtbaren Tod bewahrt, er behandelte sie auch wie seinesgleichen und nicht als Arbeitssklavin. Die anderen hätten sie jetzt mit Fußtritten hochgetrieben und sie den schweren Sack tragen lassen. Vor allem hätten sie sie wieder so gefesselt, dass sie nur mühsam hätte laufen können.

Er zog sie nicht einmal gewaltsam hinter sich her, als sie sich taumelnd erhob, sondern führte sie beinahe behutsam den Trampelpfad entlang bis zum Fluss mit der Baumbrücke. Er deutete ans andere Ufer.

Als er ihr auf den bemoosten Stamm helfen wollte, brach sie vor Schwäche zusammen und wartete zitternd auf Strafe. Andreas band ihr vorsichtig das Seil um die Taille, dann kletterte er auf den Baum und zog sie zu sich herauf.

Ohne das Seil zu lösen, nahm er sie auf die Arme und trug sie, sich langsam Schritt für Schritt vorantastend, auf die andere Seite. Hier ließ er sie zuerst am Seil herab, ehe er hinuntersprang, um sie sofort loszuknoten. Er setzte sich zu ihr, zog ein paar Früchte aus dem Rucksack und hielt sie ihr entgegen.

Mit ungläubigem Blick und überaus zögerlich nahm sie sich ein ganz kleines Stückchen. Andreas legte ihr kurzerhand alles auf den Schoß, fischte für sich selbst etwas aus dem Korb und biss kräftig hinein.

Endlich entspannte sich sein Gegenüber und begann, in winzigen Bissen zu essen. Sie schloss ab und zu genussvoll die Augen. Er ahnte, dass man ihr in der Gefangenschaft entweder nichts oder nur wertlose Reste gegeben hatte.

Jetzt hatte er auch Zeit, sie genauer zu betrachten. Sie schien wirklich noch sehr jung zu sein und war durchaus hübsch, auch wenn sie im Augenblick von Kopf bis Fuß schmutz- und blutverkrustet war. Nichts, was nicht mit Wasser und ein paar heilenden Pflanzen zu beheben gewesen wäre.

Er wartete sehr geduldig, bis sie den letzten Bissen hinuntergeschluckt hatte, ehe er flussabwärts zeigte. Sie nickte, während sie aufzustehen versuchte.

„Na, ich glaube, so wird das nichts“, stellte Andreas fest. Er schnallte sich den Rucksack um und nahm sie wieder auf die Arme. Nach ein paar Metern spürte er, wie sie sich behutsam anschmiegte und ihren Kopf an seine Schulter bettete. Andreas durchströmte eine wohlige Wärme. Er ahnte wohl, dass sie es merkte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte.

Erst kurz vor Sonnenuntergang erreichte er sein Häuschen, welches die Fremde mit weit aufgerissenen Augen betrachtete. Er stellte sie vor der Tür vorsichtig auf die Füße, öffnete, dann führte er sie an der Hand hinein, wo er sie zu einem Hocker am Tisch brachte. Ängstlich schaute sie sich um.

Inzwischen schürte Andreas die Restglut im Kamin, entfachte ein wärmendes Feuer und hängte den Wassertopf in die Flammen. Die Frau beobachtete jeden Handgriff sehr genau. Bald stellte sie fest, dass weder von dem Mann, der sie befreit hatte, noch von seiner Behausung etwas Bedrohliches ausging. Tief im Inneren freute sie sich, die Beute eines solchen Mannes geworden zu sein.

Gegen den Anführer der anderen Horde hatte sie sich mit Kratzen und Beißen gewehrt, als man sie bei einem Überfall von ihrer Sippe trennte. Er hatte sie geschlagen, getreten und schließlich hungern lassen, ohne, sie damit gefügig zu bekommen. Dann hatte er die Nase endgültig voll und wollte sie lieber dem heiligen Bären opfern, als sie freizulassen.

Dann war plötzlich dieser Fremde da, der fast so helles Haar hatte, wie die Leute ihrer Sippe, aber diese sicher um mehr als einen ganzen Kopf überragte. Was er sagte, klang sehr freundlich, auch wenn sie nicht ein einziges Wort davon verstand. Gerade eben sprach er sie wieder an.

„Komm, wir gehen uns waschen.“ Er hielt ihr eine Hand hin, die sie rasch ergriff und ihm folgte.

Am Bach blieb er stehen, begann, sich Hände und Gesicht zu spülen. Sie verstand, dass sie das Gleiche tun sollte. So stellte sie sich direkt ins flache Wasser, weil es bei ihr doch mehr zu waschen gab. Dafür bot sie danach auch einen wirklich erfreulichen Anblick, wie ihr seine Augen deutlich zu verstehen gaben.

Wieder im Häuschen zurück, siedete das Wasser und er brühte frische Pfefferminzblätter aus seinem Kräutergarten auf. Schnuppernd hob sie die Nase und machte „hmmm“.

„Ah, das scheint paläo-international zu sein“, lachte Andreas fröhlich.

Sie lächelte. Es gefiel ihr, wie er sich freute.

„Ich bin Andreas“, sagte er auf seine Brust deutend. „Andreas“, wiederholte er. „Und du?“ Er deutete auf sie, dann noch einmal auf sich: „Andreas.“

Sie zeigte ebenfalls auf ihn. „An-de-ras.“

„Andreas.“

„An-de-ras.“

Er winkte schmunzelnd ab, tippte sich noch einmal auf die Brust und sagte: „Andy.“

„An-dy?“

„Andy!“

Sie nickte heftig, zeigte auf sich. „Kara.“

„Kara“, wiederholte Andreas. „Ein schöner Name.“

Er goss für sie heißen Tee ein und legte die restlichen Früchte aus dem Rucksack in eine selbst gebrannte Tonschale auf dem Tisch.

„Vielleicht möchtest du ja lieber Fleisch haben“, mutmaßte er und holte den Topf mit den getrockneten Streifen.

In Karas Gesicht ging die Sonne auf. Sie nahm sich zwei Stücke und begann genüsslich zu kauen.

Nach dem Essen stand sie auf, sagte ein paar Worte und lief zur Tür. Andreas wollte ihr folgen, doch sie wehrte ab.

Was hat sie denn bloß, überlegte er, vorsichtig um die Ecke spähend. Kara verschwand zwischen den Büschen etwas weiter weg vom Häuschen. Andreas schlug sich an den Kopf. Na logisch, die dringenden Bedürfnisse gab es ja auch noch, da machte keiner eine Ausnahme.

Augenblicke später schlüpfte sie wieder ins Haus. Er hatte in der Zwischenzeit die Reißverschlüsse seines Schlafsackes geöffnet, ihn so in eine große Partnerdecke verwandelt.

Ein paar Felle, die er im Laufe der Zeit zusammengetragen hatte, bildeten die Matratze. So etwas kannte Kara und steuerte ganz freiwillig und unverzüglich die Schlafstatt an, womit sie Andreas völlig überraschte.

Jetzt bekam Kara große Augen, denn er zog sein T-Shirt aus und die Jeans, während sie ihr einfaches Lederkleid nicht ablegte, ihn dafür aber in ziemlich eindeutiger Pose erwartete.

Ihm fiel es äußerst schwer, die Offerte zu ignorieren. Kara drehte sich enttäuscht herum und schlief rasch ein.

Rollenverteilung

Ungewohnte Geräusche weckten Andreas am Morgen. Er brauchte ein paar Sekunden, um sich im Halbdunkel zu orientieren. Kara hockte mit angezogenen Knien auf dem Boden neben dem Kamin und schluchzte verhalten. Es dauerte ziemlich lange, bis Andreas begriff, dass er sie sehr verletzt, indem er nicht auf das eindeutige Angebot reagiert hatte.

Ich bin doch so ein Idiot! Wir sind hier in was weiß ich für einer Zeit und ich kehre den zivilisierten Mann heraus, der eine Frau erst dann, wenn er sie kennt ... Dabei täte ich doch nichts lieber, als mich mit ihr ganz hautnah zu beschäftigen.

Kara weinte noch immer und Andreas’ schlechtes Gewissen driftete dahin ab, seine Hormone in Wallung zu bringen, sodass er es kaum noch erwarten konnte, ihr zu geben, was sie sich wünschte. Kein Aas würde hier auf Alimente klagen oder, weiß der Kuckuck, was, für Gelder fordern.

„Kara!“

Sie hob den Kopf und schaute ihn mit geröteten Augen traurig an.

„Komm her!“ Er schlug die Decke beiseite und klopfte mit der Hand auf die freie Stelle neben sich.

Sofort huschte sie zu ihm ins Bett.

„Es tut mir leid“, flüsterte Andreas, um Verzeihung bittend.

Ein Vorspiel schien man hier wohl nicht zu kennen, stellte er mit einem amüsierten Grinsen fest. Natürlich nahm er sich die Zeit, etwas genauer hinzusehen und bemerkte mit Erstaunen, dass Kara hier komplettes Neuland betrat.

Möglich, da den Grund zu suchen, weshalb sie sich sofort in Pose warf. Vielleicht beruhigten hier die Damen ja auch auf diese Weise ihre Männer, und dieses Ritual wurde durch das tägliche Leben an den Nachwuchs weitergegeben.

Andreas fielen die Bonobos ein, die in dieser Hinsicht ziemlich kreativ waren. Aber diese Parallelen erschienen tief in seinem Unterbewusstsein – er widmete sich mit allen Sinnen Kara, die sicher bei den anderen Sippenmitgliedern täglich gesehen hatte, wie man einen Mann aufheitern konnte.

Und da er sie zu seiner Behausung getragen hatte, war für sie klar, dass er sie als Gefährtin ansah. Nun wollte sie ihm einfach das geben, was ihm zustand, wobei es gleichzeitig eine Geste der Unterwerfung war.

Andreas spielte nach seinen Regeln und Kara genoss die vielen Zärtlichkeiten so intensiv, dass sie kaum spürte, wie er plötzlich tief in ihren Schoß eindrang.

Als er später neben ihr lag, sie schützend im Arm haltend, flüsterte sie einige Worte, die eindeutig nach Belobigung klangen. Er genoss die Zweisamkeit doppelt in dieser fremden Welt.

Als er sich endlich zum Aufstehen entschloss, strahlte die Sonne schon ziemlich hoch am Himmel. Kara folgte ihm zum Bach, wo er seine Morgenwäsche begann. Sie tat es ihm gleich.

Danach gingen sie zurück zur Hütte, wo Andreas den kalten Tee vom Vortag in zwei Becher füllte, Obst und gekochte Enteneier auf den Tisch stellte.

Kara beobachtete jede seiner Bewegungen genauestens. Normalerweise wäre es ihre Aufgabe gewesen, für das Frühstück zu sorgen. Nur kannte sie sich mit den vielen fremden Dingen nicht aus und An-dy schien sich nichts daraus zu machen, Frauenarbeit zu verrichten.

Immer, wenn er nach etwas fasste, nannte er die Bezeichnung, wie Kara sehr schnell begriff. Sie wiederholte laut und freute sich, wenn An-dy lobend nickte. Noch grandioser fand sie, dass sie ihn überallhin begleiten durfte und nicht im Haus eingesperrt wurde.

Gerade eben hockte sie sich neben ihn ans Flussufer und schaute zu, wie er die Angel mit einem Wurm auswarf. Es dauerte auch keine fünf Minuten, da zappelte ein großer Fisch am Haken und Augenblicke später im Korb.

Kara bewachte die Beute mit Argusaugen und gleichzeitig prägte sie sich ein, wie es Andreas anstellte, so erfolgreich beim Nahrungserwerb zu sein.

Als er die Nylonschnur kurz ablegte, hielt sie auf dem Boden ihr Hände darüber, als befürchtete sie, jemand könnte sie stehlen. An-dys geheimnisvolles durchsichtiges Band war für sie ganz großer Jagdzauber. Aber er war sowieso ein Zauberer.

Wer einem heiligen Bären das Opfer vor der Nase wegstahl und dabei unversehrt blieb, der musste einfach magische Kräfte haben.

Bald schon war der Korb voller Fische und sie brachten den reichen Fang nach Hause. Vier große Fische steckte Andreas an Spießen übers Feuer. Kara kannte das und drehte sie rechtzeitig, wie er sehr erfreut feststellte.

„Sehr gut“, lobte er.

Diesmal aß Kara mit bestem Gewissen, denn schließlich hatte sie ein kleines bisschen geholfen. Statt Mittagsruhe zu halten, nahm Andreas nun noch die anderen Fische aus, um sie zum Trocknen vorzubereiten. Er stach mit einem großen Messer Löcher in die Schwänze und Kara fädelte die Tiere auf eine feste Binsenschnur.

Einen Fisch hatte er wohl vergessen und sie piekte das Loch selber hinein. Dann schlug sie plötzlich die Hände vor das Gesicht und flüchtete in den hintersten Winkel des Häuschens. Es standen die furchtbarsten Strafen darauf, die Werkzeuge der Männer, ohne Aufforderung anzufassen.

Andreas ahnte, was in ihr vorging und hatte ernsthafte Mühe, sie zu beruhigen. Weil sie am ganzen Körper zitterte, zog er sie einfach ins Bett.

Der Plan funktionierte, Kara kuschelte sich Schutz suchend an und Andreas ließ die Fische, Fische sein. Die schwammen nicht weg und, ob sie eine halbe Stunde eher oder später in der Sonne hingen, war völlig unerheblich. Wenn er schon das große Glück hatte, mit jemandem sein Leben teilen zu können, dann sollte wenigstens der Spaßfaktor an vorderster Stelle stehen.

Andreas nahm sich richtig Zeit für Kara, die sich inzwischen wie im Traumland und ganze Schmetterlingswolken im Bauch fühlte, wenn er sie nur anschaute. Die tiefe Dankbarkeit für ihre Rettung hatte sich, seit er sie am Morgen zu sich ins Bett geholt und so eindeutige Besitzansprüche angemeldet hatte, zu sichtbaren Spuren von Liebe gewandelt, die gerade eben kräftig Nahrung bekamen.

Karas Hände glitten über Andreas’ Rücken, modellierten die ausgeprägten Muskelpartien nach, streichelten seinen knackigen Hintern, um ihn im nächsten Moment fest an sich zu ziehen.

Er genoss die Streicheleinheiten nur zu gern und, weil sich draußen gerade finstere Wolken zu einem Gewitter zusammenzogen, wie es jetzt beinahe täglich vorkam, hängte er nahtlos noch einen leidenschaftlichen Geschlechtsakt an.

Die Schnur mit den Fischen landete irgendwann am frühen Nachmittag am Dachbalken vor dem Kamin, statt draußen zwischen den Bäumen. Der Himmel sah noch immer aus, als würde er jeden Moment alle Schleusen öffnen.

Kara schürte vorsichtig das Feuer, legte noch zwei Scheite Holz hinein und hängte den kleinen Teekessel in die Flammen.

„Gute Idee“, freute sich Andreas. Es war recht kühl geworden und etwas Warmes war durchaus angebracht. Kara schien nie zu frieren, obwohl sie nur das Lederkleid trug.

Sie musste aus dem kühlen Norden stammen, wenn Andreas die Bilder, die sie zur Erklärung in die Erde vor der Hütte geritzt hatte, richtig verstand. Mit neunzehn anderen Sippenmitgliedern war sie nach Süden aufgebrochen.

Sie hatte sogar die einzelnen Familien als Gruppen dargestellt und war, in ihrer Gemeinschaft, das älteste Kind gewesen, denn sie hatte sich kleiner als die Eltern, aber größer als die drei Geschwister gemalt. Sie waren mehrere Monate gewandert, hatten Flüsse überquert und Seen umrundet. Zwei Kinder starben durch die Strapazen – ein Baby und ein etwas größeres Kind, welches von einem Tier getötet worden war.

Dann kamen die Fremden mit Keulen und Speeren, die Sippe floh und Kara, die auf Beerensuche gewesen war, wurde gefangen genommen und verschleppt.

Sie malte auf, wie sie misshandelt und schließlich an den Pfahl gebunden wurde, hob den Kopf und lächelte Andreas liebevoll an. Der zog sie an sich, streichelte ihr Haar und war nicht minder glücklich, dass sein waghalsiger Plan gelungen war.

Seine Zeichnung betrachtete sie fast ehrfürchtig. Er malte Häuserfluchten, Autos, Flugzeuge und viele andere Dinge, die sie einfach nicht fassen konnte. Mittendrin zog er eine Linie, hinter der sich Urwald auftat.

Er erklärte ihr mit Bildern den Bau des Häuschens und wie einsam er sich in all den vielen Monaten gefühlt hatte. Auf die einfache Bank vor der Hütte malte er schließlich eine Frau und einen Mann. „Kara und Andy“, sagte er mit leuchtenden Augen.

Sie streichelte seinen Arm und lachte. „An-de-ras?“

Er schmunzelte. „Ja, so ähnlich. An-dre-as.“

Kara blinzelte seufzend. „An…“

„…dre…“, half er ihr.

„… as.“

„Genau! Andreas!“

„An-dre-as.“

„Richtig! Sehr gut!“ Er küsste sie zärtlich und Kara flüsterte noch einmal seinen Namen. Dann zeigte sie durch die Tür und sagte: „Bett.“

Andreas begann, amüsiert zu kichern. Das hatte sie sich sofort eingeprägt. Aber Kara hatte sich in den wenigen Stunden noch mehr gemerkt. Sie konnte Tee, Feuer, Dolch und Angel genau bezeichnen. Alles Dinge, die das Leben sehr erleichterten.

Für den heutigen Nachmittag war ein Spaziergang durch den Wald angesagt, mit der Suche nach Pinienzapfen, Pilzen und allem, was noch irgendwie brauchbar erschien. Andreas trug seinen Rucksack und Kara hatte sich den kleinen Korb mitgenommen.

„Ah! Schau nur! Da steht urtümliches Getreide!“, rief Andreas begeistert, während er schon vorsichtig die reifen weizenartigen Ähren abschnitt.

Kara hob die Augenbrauen. Weshalb wollte Andreas nur das stachelige Zeug mitnehmen? Aber, da sie sehr viel aus seiner Welt nicht kannte, half sie bei der Suche. Er werde sicher genau wissen, was man damit machen konnte.

Ungläubig und äußerst zaghaft nahm sie das kleine Messer entgegen, welches er ihr sofort reichte, damit sie die spröden Stängel nicht mühsam abreißen musste. Der Korb füllte sich schnell, auch wenn die Gräser nur wenige winzige Körner enthielten.

Zwischen den Halmen fing Kara ein Tier, das wohl ein riesengroßer fetter Hamster sein musste, wenn es sich Andreas genau anschaute. Als er noch überlegte, wie er es töten könnte, hatte sie dem Tier schon das Genick gebrochen und es mit Bast außen an den Korb gebunden. Sie rieb sich den Bauch und sagte: „Gut.“

Andreas nickte. „In Mittelamerika isst man Meerschweinchen – dieses kleine Ding ist bestimmt auch ganz lecker.“

Schwer beladen kehrten sie nach Hause zurück und Andreas deutete auf einen Stein. „Etwas gewölbt und so groß muss er sein.“ Er formte in der Luft, was er sich vorstellte. Dazu hob er zwei Finger.

Gemeinsam liefen sie hinunter zum Fluss, um glatt geschliffene Steine zu suchen. Sie fanden tatsächlich einen Brocken mit einer schüsselförmigen Vertiefung. Nur war der viel zu schwer, um ihn mitzunehmen.

Also forschten sie nach zwei handlichen flachen Steinen. Andreas winkte schließlich ab. Es war schon spät und das Korn musste erst zum Mahlen vorbereitet werden.

Für heute war also nur Kochen und Spaß haben angesagt. Kara freute sich riesig, als Andreas das Messer neben den Hamster auf den Tisch legte und sie bittend anschaute.

Mit wenigen Handgriffen hatte sie ihn gehäutet, ausgenommen und spähte nach dem Feuer. Andreas schüttelte den Kopf.

„Das machen wir anders.“

Er trennte das reichlich vorhandene Fett ab und warf es in den Kochtopf, den er auf den Rand der Kochstelle setzte. Dann löste er das Fleisch von den Knochen, schnitt es in kleine Würfel, die er in eine Tonschale häufte. Ein paar Pilze zerlegte er in dünne Scheiben. Inzwischen brutzelte das Fett und er gab alles in den Topf. Mit einem Holzstab rührte er immer wieder um.