Geliebte Schwindlerin - Karin Bucha - E-Book

Geliebte Schwindlerin E-Book

Karin Bucha

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Beschreibung

Karin Bucha ist eine der erfolgreichsten Volksschriftstellerinnen und hat sich mit ihren ergreifenden Schicksalsromanen in die Herzen von Millionen LeserInnen geschrieben. Dabei stand für diese großartige Schriftstellerin die Sehnsucht nach einer heilen Welt, nach Fürsorge, Kinderglück und Mutterliebe stets im Mittelpunkt. Karin Bucha Classic ist eine spannende, einfühlsame geschilderte Liebesromanserie, die in dieser Art ihresgleichen sucht. Annette Birken hetzt den langen Flur entlang, öffnet die Tür zum Chefzimmer und betritt es mit einem leise gemurmelten: »Verzeihung.« Dr. Martin Brecht unterbricht sekundenlang seinen Vortrag, den er den drei anwesenden Journalisten hält, nickt Annette, die sich noch atemlos vom schnellen Lauf abseits niederläßt, gelassen zu, um sofort weiterzusprechen. »Sie haben ausgesprochenes Pech gehabt, meine Herren. Ich nehme zu Ihren Gunsten an, daß Dr. Jörg Kreßner nichts von der Beschattung seiner Person bemerkt hat, sonst hätte es Ihr Nachfolger noch schwerer, als es schon ist.« Dr. Brecht neigt sich weiter vor und spielt dabei mit dem goldenen Drehbleistift. »Wir müssen aber wissen, was an dieser sensationellen Erfindung wahr ist und was Vermutung. Die Berichte unserer Konkurrenz gehen weit auseinander. Meine Meinung ist, sie wissen gar nichts, sie tippen nur. Aber ich habe nun einmal den Ehrgeiz, die Wahrheit zu erforschen…« »Ich auch«, platzt in diesem Moment Annette dazwischen. Sie spürt die leicht ironischen Blicke der Anwesenden auf sich haften und beginnt zu glühen. Wieder einmal hat sie sich in ihrer Lebhaftigkeit zu einer Äußerung hinreißen lassen, die sie in den Augen der Journalisten lächerlich machen muß. Sie können wirklich etwas in ihrem Beruf – und sie, die man den »Piepmatz« getauft hat, weil sie überall herumflattert – meistens dort, wo sie nicht sein soll –, will den Chemiker Jörg Kreßner aushorchen, dessen Verschwiegenheit nahezu sprichwörtlich ist? »Verzeihung, Herr Doktor, ich meine es wirklich ernst«, murmelt sie, als sie das mitleidig wirkende Lächeln auf seinem schmalen Gesicht sieht.

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Karin Bucha Classic – 38 –

Geliebte Schwindlerin

Wie eine dumme Geschichte doch noch glücklich endete

Karin Bucha

Annette Birken hetzt den langen Flur entlang, öffnet die Tür zum Chefzimmer und betritt es mit einem leise gemurmelten: »Verzeihung.«

Dr. Martin Brecht unterbricht sekundenlang seinen Vortrag, den er den drei anwesenden Journalisten hält, nickt Annette, die sich noch atemlos vom schnellen Lauf abseits niederläßt, gelassen zu, um sofort weiterzusprechen.

»Sie haben ausgesprochenes Pech gehabt, meine Herren. Ich nehme zu Ihren Gunsten an, daß Dr. Jörg Kreßner nichts von der Beschattung seiner Person bemerkt hat, sonst hätte es Ihr Nachfolger noch schwerer, als es schon ist.« Dr. Brecht neigt sich weiter vor und spielt dabei mit dem goldenen Drehbleistift. »Wir müssen aber wissen, was an dieser sensationellen Erfindung wahr ist und was Vermutung. Die Berichte unserer Konkurrenz gehen weit auseinander. Meine Meinung ist, sie wissen gar nichts, sie tippen nur. Aber ich habe nun einmal den Ehrgeiz, die Wahrheit zu erforschen…«

»Ich auch«, platzt in diesem Moment Annette dazwischen. Sie spürt die leicht ironischen Blicke der Anwesenden auf sich haften und beginnt zu glühen.

Wieder einmal hat sie sich in ihrer Lebhaftigkeit zu einer Äußerung hinreißen lassen, die sie in den Augen der Journalisten lächerlich machen muß. Sie können wirklich etwas in ihrem Beruf – und sie, die man den »Piepmatz« getauft hat, weil sie überall herumflattert – meistens dort, wo sie nicht sein soll –, will den Chemiker Jörg Kreßner aushorchen, dessen Verschwiegenheit nahezu sprichwörtlich ist?

»Verzeihung, Herr Doktor, ich meine es wirklich ernst«, murmelt sie, als sie das mitleidig wirkende Lächeln auf seinem schmalen Gesicht sieht.

Oder hat sie sich geirrt? Denn ihr setzt beinahe der Herzschlag aus, als er freundlich bemerkt: »Weshalb wohl, meinen Sie, hätte ich Sie zu mir beordert?«

Ihre Augen werden riesengroß. »Wirklich – Sie wollen mir diese Aufgabe übertragen?«

Mecky, Thom und Hans, ihre drei Kollegen, sind fassungslos.

»Ausgerechnet der Piepmatz«, entfährt es Mecky, dem man diesen Spitznamen wegen seiner Igelfrisur gegeben hat, die ihm ein lustiges Aussehen verleiht.

»Ja, ausgerechnet der Piepmatz soll sich an den Chemiker heranmachen. Versuchen wir es einmal mit einer Frau«, Dr. Brecht wirft einen freundlich, bewundernden Blick auf Annette, »und zwar mit einer schönen Frau, die weder auf den Kopf noch auf den Mund gefallen ist.«

Mecky lehnt sich in den Sessel zurück und sagt: »Chef, das war das längste und schönste Kompliment, das Sie jemals einer Kollegin gemacht haben.«

»Aber recht haben Sie damit«, wirft Thom ein, und jetzt hängen seine braunen Augen mit Verzückung an Annettes ausgesprochen schönem Antlitz. Es ist feingezeichnet, mit einer schmalen, klassischen Nase, einem vollen, schöngeschnittenen Mund. Und dann die Augen: groß, rätselhaft, manchmal ganz hell, dann wieder ins Grünliche schimmernd, je nach Stimmung. Über einer klaren Stirn bauscht sich das schönste Haar, das er jemals gesehen hat. Seidengespinst, kastanienbraun mit goldenen Tupfen.

Nein, alles was recht ist, Annette ist schön, bezaubernd schön. Dazu noch die gutgewachsene Figur mit der Wespentaille. Aber sie ist auch klug und kameradschaftlich und bildet sich nichts auf ihre Kenntnisse ein. Sie ist Waise, lebt in einer modernen Einzimmer-Wohnung, mit Dachgarten und Kochnische. Und er, Thom, würde nichts lieber tun, als immer mit ihr zusammen zu sein. Leider betrachtet sie ihn nur als Kollegen.

Er seufzt so laut, daß Mecky ihn in die Seite stößt.

»Laß das Anhimmeln sein«, flüstert er, und Thom blickt leicht gekränkt in die entgegengesetzte Richtung.

Annettes Gesichtchen strahlt vor Glück und Begeisterung. Ihre Augen hängen wie gebannt an dem Mund des Chefs.

»Wenn Sie Ihre Aufgabe zu meiner Zufriedenheit lösen können, steht Ihrer Festanstellung nichts mehr im Weg.«

Annette vermag kein Wort zu sagen. Festanstellung? Du lieber Himmel, was das für sie bedeuten würde! Ein gleichmäßiges, gesichertes Auskommen. Auch manche Anschaffung, die sie sich jetzt hat verkneifen müssen. Und dann ein neues, interessantes Arbeitsgebiet.

Ach, Annette ist in einer Stimmung, in der sie die ganze Welt umarmen könnte! Dr. Brecht muß in Geberlaune sein, denn er reicht Annette über den Tisch hinweg eine Bescheinigung, auf die man ihr an der Kasse einen Vorschuß auszahlen wird.

Dr. Brecht erhebt sich, und das bedeutet, daß sie entlassen sind.

»Hals- und Beinbruch«, sagt er zu Annette, »halten Sie die Ohren steif.«

Thom und Mecky nehmen sie in die Mitte. Sie suchen das gemeinsame Arbeitszimmer auf.

»Ich bin überwältigt«, kommt es gepreßt über Annettes Lippen. »Heute ist ein Glückstag für mich. Ihr seid mir doch nicht böse, daß ich euch die

Chance weggenommen habe?«

»Wir hatten die Chance doch schon, Annette«, antwortet Hans beruhigend und drückt sie auf den Sessel. »Ich werde Ihnen sogar noch einen Tip dazu geben, Piepmatz.«

»Einen Tip?«

Er nickt. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, wippt er auf seinen Füßen. »Heute trifft mit dem Nachmittagsflugzeug aus Paris der Onkel Dr. Kreßners mit seiner Tochter ein. Genügt das?«

»Hans!« Annette springt heftig auf und reicht ihm die Hand. »Sie sind ein feiner Kerl und ein guter Kamerad. Sie könnten es doch für sich ausnut-

zen!«

Er macht eine kleine, beschwichtigende Handbewegung. »Halb so wichtig, Annette, Sie geben mir dafür ein andermal einen Tip, dann sind wir wieder quitt.«

»Ich bin ganz durcheinander, Kinder.« Annette blickt von einem zum anderen. »Eigentlich sollte ich euch zu einem Drink einladen, ja?«

»Ein grandioser Gedanke«, jubelte Mecky begeistert auf. »Habe gerade eine ausgedörrte Kehle.«

»Also, kommen Sie, meine Herren, gehen wir in die Kantine.«

Gegen sechzehn Uhr fährt Annette in Richtung Flugplatz. Sie hätte sich ja ein Taxi nehmen können. Aber sie schafft es auch noch mit dem Bus.

Sie ist ein wenig benebelt, vor Glück, und auch ein bißchen von den zwei Kognaks, die sie im Kreise ihrer Kollegen getrunken hat.

*

Dr. Jörg Kreßner ist eine Erscheinung, die auf den ersten Blick fesselt. Alles vermutet man in ihm, nur nicht den Wissenschaftler. Er ist hervorragender Sportler, hat eine gestraffte Figur, einen federnden Gang und durchaus nicht das Aussehen eines Stubenhockers.

Er ist zwar arbeitsbesessen, aber er liebt auch Bewegung im Freien, genau wie sein Freund und Mitarbeiter Dr. Poldy Turner.

Kreßner stammt aus einer wohlhabenden Familie. Sein Reichtum ermöglicht es ihm, sich ganz seiner Aufgabe zu widmen, und in dem weitläufigen ererbten Elternhaus lebt auch Poldy Turner bei ihm.

Sie sind rein äußerlich ein ungleiches Gespann. Jörg ist ernst, respekteinflößend, Poldy dagegen ein Witzbold, aber ein unermüdlicher Mitarbeiter. Betreut werden sie von Kathrin, der mütterlichen Haushälterin. Und im Labor, das sich in einem massiven Pavillon befindet, steht ihnen Hermann als »Mädchen für alles« zur Seite.

ln diesem Moment geht Dr. Kreßner mit Zeichen größter Erregung in der Bibliothek hin und her, von Poldy aus halbgeschlossenen Augen verfolgt.

»Ich bin tatsächlich sehr besorgt, Poldy. Warum antwortet Onkel Philipp nicht? Warum bekomme ich von Betty keine Post mehr? Ich sitze wirklich wie auf heißen Kohlen. Zuerst wollen sie herüberkommen – und nun hüllen sie sich in Stillschweigen. Warum lassen sie alle meine Briefe unbeantwortet?«

»Es könnte doch zum Beispiel möglich sein, daß sie bereits auf hoher See sind und erst, wenn sie das Festland erreicht haben, telegrafieren?« wirft Poldy ein, der die Aufregung des Freundes nicht ganz versteht.

Jörg verhält den Schritt. »Ja, das könnte möglich sein.«

»Du bist reichlich nervös, Jörg.« Poldy betrachtet den Freund prüfend. »Das geht nicht allein auf die nächtelange Arbeit zurück.«

»Stimmt!« gibt Dr. Kreßner zu. »Mir fallen diese Zeitungsleute langsam auf die Nerven. Überall sehe ich sie herumschleichen. Drei von dieser aufdringlichen Sorte haben wir nun schon hinausgeworfen. Ich werde erst über unsere Arbeit berichten, wenn sie abgeschlossen ist. Das wollen die Leutchen offenbar nicht begreifen.«

Ordentlich in Wut hat sich Dr. Kreßner geredet, während Poldy die Ruhe behält. »Aber ich kann es begreifen, Jörg. Jeder nimmt eben seine Chance wahr. Und vergiß nicht, es ist eine große und seriöse Zeitung, die sich bemühte, etwas über deine Erfindung…«

»Über unsere«, fällt Jörg dem Freund ins Wort.

Doch dieser wehrt heftig ab. »Unsinn! Ich bin nur dein Handlanger. Du bist der Kopf.«

»Das Essen ist serviert«, mischt sich unverhofft eine Frauenstimme ein. Sie haben Kathrins Anklopfen und auch ihren Eintritt überhört. »Ich habe im Wintergarten servieren lassen. Dort ist es jetzt am angenehmsten.«

»Danke, Kathrin«, winkt Dr. Kreßner ihr freundlich zu, und Poldy rekelt sich aus seinem Sessel.

»Dann wollen wir mal, Jörg. Man soll über diese aufregenden Dinge das Essen nicht vergessen.«

Gemeinsam suchen sie den Wintergarten auf. Der weite Raum mit den vielen Blumen und Blattpflanzen, dem Miniaturspringbrunnen, der leise plätschert und angenehme Kühle verbreitet, ist der Lieblingsaufenthalt der beiden Männer. Man hat von hier aus einen schönen Blick über den großen Park und sieht noch einen Teil des Swimming-pools.

»Du bist ein Glückspilz«, unterbricht Poldy das Schweigen, während sie die Suppe löffeln. »Hast einen wunderschönen Besitz, Geld und dazu noch ein geniales Köpfchen. Bald wirst du auch eine schöne Frau haben.«

Dr. Kreßner wirft ihm nur einen langen Blick zu, ohne zu antworten.

»Betty ist doch ein angenommenes Kind, nicht wahr?« hakt Poldy nach.

»Ja«, sagt Kreßner kurz, als bereue er, daß er sich mit seiner in Übersee geborenen Kusine schon so gut wie verlobt hat. Sie haben sich nur auf Bildern gesehen, aber viele Briefe miteinander gewechselt.

Vielleicht kommt seine Nervosität auch daher, daß er sich innerlich doch ein wenig sperrt gegen diese zwar schöne, aber fremde Braut?

»Vielleicht befinden sie sich tatsächlich bereits auf der Überfahrt«, sagt er aus seinen Gedanken heraus zu Poldy, und da soeben Kathrin auftaucht, fragt er sie, wie schon so oft in den letzten Tagen. »Die Zimmer sind doch in Ordnung, Kathrin? Vergißt du auch nicht, die Blumen zu erneuern?«

»Alles in Ordnung, Herr Doktor.« Sie setzt dabei eine beleidigte Miene auf. Als wenn sie jemals ihre Pflichten verletzen würde!

Poldy hat es bemerkt, er zieht sie an ihrem Schürzenband. Sie trägt beim Servieren immer diese schneeweißen, gestärkten Schürzen über ihrem leichten Seidenkleid.

»Nun weine nicht gleich, Kathrin«, tröstet er sie und zwinkert ihr zu. »Du bist der reinste Ausbund an Tugenden.«

Sie winkt ab. »So schlimm ist es nun wieder nicht, Herr Doktor. Aber ich vergesse so leicht nichts.«

Zerstreut nimmt Dr. Kreßner den Teller aus ihrer Hand. »Bist du wirklich gekränkt, Kathrin?«

»Ach wo.« Jetzt ist sie über sich selbst ärgerlich. Sie ist doch sonst nicht empfindlich. So setzt sie noch erklärend hinzu: »Wo es sich um die zukünftige Frau handelt, Herr Doktor, da nehme ich es besonders genau.«

Ein Druck legt sich Jörg Kreßner auf den Magen, und ihm vergeht die Lust am Essen.

Was, wenn er von Betty enttäuscht ist?

*

Schon als Philipp Kreßner in Paris das Flugzeug bestieg, fühlte er sich nicht wohl, und hätte er diesen Flug nicht gebucht gehabt, er wäre in sein Hotel zurückgekehrt.

Nun hat er auch diese letzte Station bald hinter sich gebracht. Vom Flughafen aus wird er Jörg anrufen, das ist dann immer noch früh genug.

Er atmet auf, als das Flugzeug auf der Rollbahn aufsetzt. Die Gurte werden gelöst, Philipp Kreßner dehnt sich, nimmt seinen Handkoffer und steigt hinter den anderen Fahrgästen aus.

Als er das Ende der Treppe erreicht hat, stockt sein Fuß. Seine Hand stößt vor, und er taumelt.

Annette Birken, die mit aller Aufmerksamkeit die Gäste mustert, bemerkt, wie der schwergewichtige Mann sich verfärbt. Sie sieht ihn schwanken und ist im Nu neben ihm, um ihn zu stützen.

»Betty«, flüstert er und umklammert Annettes Arm. Wie aus einem unwahrscheinlich schweren Traum erwachend, blickt er Annette an, so daß es ihr unheimlich wird. Sie spürt, daß der Mann tieferschüttert ist, aber sie ist weit davon entfernt zu glauben, daß sie der Grund dazu ist.

Für kurze Zeit hat sie ihre Aufgabe vergessen. Sie ist nichts als hilfsbereit. Und da der Fremde wie selbstverständlich ihren Arm behält, geht sie mit ihm weiter.

Philipp Kreßner hat sich wieder gefangen. Er begegnet Annettes besorgtem Blick und lächelt schwach. Jetzt kommt ihm das Ungewöhnliche seines Benehmens zum Bewußtsein.

»Sie müssen entschuldigen«, formt er mit rauher Stimme die Worte. Er spricht deutsch, aber mit fremdem Akzent. »Sie sehen meiner Tochter so verblüffend ähnlich, daß ich darüber meine Fassung verloren habe.«

Noch immer versteht Annette nicht, was den Mann so tief bewegt. Sie lächelt etwas hilflos zu ihm auf. Und gerade dieses Lächeln verstärkt noch Philipp Kreßners Verwirrung.

»Darf ich Sie bitten, mich zum Restaurant zu begleiten? Ich hätte mich gern mit Ihnen unterhalten.«

Annette denkt an ihre Aufgabe. Ihre Augen wandern umher. Sie sucht nach einer ganz bestimmten Person. Doch hier ist ein alter Herr, der ihre Hilfe braucht.

Noch ehe sie sich entscheiden kann, spricht er hastig weiter. »Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben. Mein Name ist Philipp Kreßner!«

»Nein!« stößt Annette hervor.

»Sie glauben mir nicht«, lächelt der Fremde nachsichtig und dirigiert Annette sanft an die Sperre.

»Doch, doch«, versichert sie eifrig und ihr Herz hämmert vor Freude. Wenn heute nicht ein einzig großer Glückstag für sie ist, dann glaubt sie überhaupt nichts mehr.

Wenig später sitzen sie sich bei einem Mokka gegenüber, an einem der bis zum Erdboden reichenden Fenster, von wo aus sie das Leben und Treiben gut beobachten können.

Philipp Kreßner hat dafür jedoch überhaupt kein Interesse. Ihn interessiert lediglich das junge schöne Mädchen ihm gegenüber, das seiner Betty so täuschend ähnlich sieht.

»Ich bin Ihnen wirklich eine Erklärung wegen meines Benehmens schuldig«, beginnt er, nachdem er sie noch einmal genau betrachtet hat. »Ihr Anblick hat mich tief erschüttert, da meine Tochter vor einigen Wochen bei einem Ritt tödlich verunglückt ist. Sie sehen ihr so verblüffend ähnlich, daß ich vorübergehend an eine Erscheinung glaubte.« Sein gutgeschnittenes Gesicht mit den klugen Augen überschattet sich. »Nun, Sie sind ein Mensch aus Fleisch und Blut. Werden Sie jetzt einem alten Mann verzeihen, daß er Ihre Zeit in Anspruch nimmt?«

Annette sitzt wie gelähmt. Jetzt erst vermag sie, alles zu verstehen. Wieviel Qual steht hinter diesen Worten. Wie muß dem Mann zumute sein, der der von ihr gesuchte Philipp Kreßner ist.

Niemand wird ihr glauben, wenn sie erzählen würde, auf welche Weise sie in seine Gesellschaft gekommen ist. Sie schüttelt sich ein wenig, als könne sie damit auch den Druck von ihrem Herzen schütteln.

»Ich habe Ihnen wirklich nichts zu verzeihen«, sagt sie beherrscht. »Aber ich kann mir vorstellen, wie es in Ihnen aussehen mag.«

»Am liebsten möchte ich Sie mitnehmen«, hört sie ihn sagen, und sie fährt zusammen.

»Wohin?«

»Zunächst zu meinem Neffen.«

»Ich verstehe nicht«, stammelt sie betroffen

Er läßt einige Sekunden vergehen, als müsse er sich sammeln, dann erklärt er ihr vorsichtig: »Meine Tochter war die Braut meines Neffen.«

Vor Erregung preßt Annette die Hände im Schoß zusammen. »Die Braut Ihres Neffen?«

»Betty haben wir, meine verstorbene Frau und ich, als kleines Kind angenommen. Sie hatte sich zu einem wunderhübschen Mädchen entwickelt.« Er blickt sie offen an. »So – so wie Sie aussehen. Es ist ein merkwürdiges Spiel der Natur. Ich säße nicht hier, wäre es nicht die Wahrheit. Mein Neffe weiß noch nicht einmal, daß seine Braut tot ist. Ich konnte es ihm einfach nicht schreiben, obgleich sie sich noch nie gesehen haben.«

Wie zu sich selbst setzt er hinzu: »Vielleicht wird er gar nicht so schwer an dem Verlust tragen wie ich.«

Annette hat vergessen, daß sie Journalistin ist, vergessen, daß sie hierhergekommen ist, um Philipp Kreßner auszufragen. Ein Schicksal rollt vor ihr ab, das sie tief bewegt. Sie fühlt den Schmerz hinter jedem seiner Worte.

»Ja«, flüstert sie leise. »Vielleicht ist es ihm nicht ein solcher Schicksalsschlag wie Ihnen.«

Sie kennt Philipp Kreßners Neffen noch nicht persönlich, aber sie wird alles tun, um Dr. Jörg Kreßner kennenzulernen.

»Und weshalb wollen Sie mich mit zu Ihrem Neffen nehmen, mich, das fremde Mädchen?« wagt sie die Frage.

Er scheint seine Gedanken von weither zu holen. Bedächtig nimmt er einen Schluck aus der zierlichen Tasse. Dann reicht er ihr ein schwergoldenes Zigarettenetui. »Rauchen Sie?«

»Ja, danke.«

Er versorgt sie und sich mit Feuer. Aufmerksam betrachtet sie ihn, gespannt auf seine Antwort wartend.

»Ach, es ist ja Wahnsinn«, sagt er leise, mit einer Geste seine Worte begleitend, die Resignation ausdrücken soll.

»Bitte, sprechen Sie«, drängt sie, dabei fiebert sie förmlich.

»Ich hatte tatsächlich ein paar törichte Minuten lang den Wunsch, Sie würden mich als meine Tochter Betty zu meinem Neffen begleiten.«

Zunächst ist sie starr, dann gibt sie sich einen Ruck. »Aber das – das wäre doch Betrug?«

»Ein frommer Betrug. Länger als vier Wochen kann ich sowieso nicht in Deutschland bleiben. In dieser Zeit könnte ich meinem Neffen die Wahrheit gesagt haben. Sie müssen verstehen…«, er unterbricht sich, zögert, als dürfe er nicht darüber sprechen, und tut es dann doch, wenn auch mit gedämpfter Stimme: »Mein Neffe ist ein bekannter Chemiker und arbeitet an einer Erfindung. Ich fürchte, wenn ich ihm den Tod meiner Tochter mitteilen muß, stört es ihn wesentlich in seiner Arbeit. Sie würden damit also ein gutes Werk tun.« Aber sofort schüttelt er den Kopf: »Ich weiß, es ist wahnsinnig, was ich da von Ihnen verlange. Sie wissen nichts von mir – und ich nichts von Ihnen.«

»Nein – das geht wirklich nicht.« Annette ringt sich förmlich die Worte ab.

»Das habe ich gedacht.« Sein Gesicht ist wieder von der alten Traurigkeit überschattet. »Ihre Eltern würden es nicht gestatten, vielleicht haben Sie auch einen Verlobten?«

»Beides nicht«, erklärt sie ihm, erregt bis in die Fingerspitzen. Sie hat längst begriffen, welch ungeheure Chance sich ihr da bietet, es ist geradezu überwältigend für sie. Aber alles in ihr sträubt sich dagegen. »Meine Eltern sind auf einer Bergtour tödlich verunglückt. Und verlobt bin ich auch nicht.«

»Wie alt sind Sie eigentlich?«

»Zweiundzwanzig.«

Er faßt sich an den Kopf. »Auch das Alter stimmt.« Und nach einer Pause: »Sprechen Sie englisch?«

»Ja, und französisch auch.«

»Aber Sie haben einen Beruf, nicht wahr?« stellt er seine Fragen immer weiter.

»Ja!« Das kommt ziemlich kurz, und er stutzt.

»Ich verstehe, Sie müssen Geld verdienen.« Langsam legt er seine Hand auf ihre Finger. Er spürt, wie sie sich kalt anfühlen, wie sie zittern. »Ich würde Sie reichlich entschädigen.«

»Nein!« beharrt sie eigensinnig. »Das geht wirklich nicht.«

»Und warum nicht?« Er gibt sich immer noch nicht geschlagen.

Sie schweigt und starrt hinaus über den weiten Platz, ohne von dem regen Verkehr auch nur etwas wahrzunehmen. Nein, sie kann weder diese Rolle spielen, noch den liebenswerten alten Mann aushorchen. Jetzt nicht mehr. Lieber wird sie den Auftrag zurückgeben. Sie will jetzt auch nicht mehr diesen Dr. Jörg Kreßner kennenlernen. Sie will mit der Sache überhaupt nichts mehr zu tun haben.

»Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen«, fällt er in ihren Gedankengang ein. Langsam dreht sie sich ihm zu, und er sieht in ein blasses, verstörtes Gesicht. »Es tut mir leid, Sie so erschreckt zu haben.«

»Sie wollten mir einen Vorschlag machen?«

»Richtig. Mein Neffe weiß noch nichts von meinem Hiersein. Geben Sie mir Gelegenheit, mich Ihnen bekannter zu machen. Vielleicht denken Sie in ein oder zwei Tagen anders darüber.«

Er fährt sich mit der Hand über Stirn und Augen. Er weiß, es ist außergewöhnlich, was er diesem fremden Mädchen anbietet. Aber er ist von diesem Gedanken wie besessen. Jörg wird keinen Schock bekommen und kann ungestört an seiner Erfindung schaffen. Und auch er selbst, das muß er sich eingestehen, handelt nicht ganz frei von Eigennutz. Täglich mit dem Mädchen zusammen sein zu dürfen, das seiner Betty so ähnlich ist, würde ihn über seinen großen Schmerz besser hinwegbringen. Nach dem Tode seiner Frau hat er nur Betty gehabt, und sie waren unzertrennlich gewesen. Nie hatte sie erfahren, daß sie nicht sein eigen Fleisch und Blut war.

Von ihren Gefühlen hin und her gerissen, blickt Annette ins Leere. Sie ahnt, was in dem Mann vor sich geht. Sie kann sogar verstehen, daß er sich an einen Strohhalm klammert. Aber diesr Strohhalm soll sie sein? Vielleicht würde sie sogar gern zugreifen, wenn nicht hinter ihr ein Sonderauftrag stünde?

Und wenn sie für vier Wochen die Rolle der verstorbenen Betty spielt und auf ihren Auftrag verzichtet? Wird sie dann noch die Anstellung bei Dr. Brecht bekommen, wenn sie sich jetzt schon als Versager entpuppt?

Wo gibt es hier einen Ausweg, denkt sie ganz verzweifelt.

Stumm verfolgt Kreßner den Kampf, der sich in ihren feinen Zügen widerspiegelt, in den Zügen, die ihm so vertraut sind, daß er beinahe vergißt, eine Fremde vor sich zu haben, von der er nichts weiß.

Er nimmt noch einen letzten Anlauf. »Zwei Tage nur«, bittet er im beschwörenden Ton. »Nehmen Sie sich zwei Tage Urlaub, es soll Ihr Schaden nicht sein. Ich miete mich hier im ›Vier Jahreszeiten‹ ein. Sie verbringen zwei Tage in meiner Gesellschaft. Dabei kann ich Ihnen von meiner Tochter erzählen und Sie mit allem vertraut machen.«

Zwei Tage – sinnt Annette. Was kann in zwei Tagen nicht alles geschehen? Es könnte sich auch eine andere Lösung finden. Wem kann sie sich anvertrauen, von wem einen guten Rat einholen? Sie sieht das Dreigespann vor sich: Thom, Mecky und Hans. Nein. Dann denkt sie flüchtig an den Chef Dr. Brecht. Nein, keinem!

Und dann kommt ihr ein Gedanke wie eine Erleuchtung. Philipp Kreßner muß sie sich anvertrauen. Wenn er dann noch bereit ist, sie unter dem Namen seiner Tochter in das Haus seines Neffen zu bringen, dann ist die Entscheidung gefallen.

»Sie haben kein Vertrauen zu mir, nicht?« Er nickt. »Begreiflich. Wenn Sie mir wenigstens einen Hoffnungsschimmer ließen?«

»Gut!« Annette richtet sich auf. Sie ist mit sich ins reine gekommen. Vertrauensvoll reicht sie ihm die Hand. »Für zwei Tage stehe ich Ihnen zur Verfügung. Danach wollen wir uns entscheiden.«

Sie kramt in ihrer Tasche, bringt Drehbleistift und einen Notizblock zum Vorschein. Dann schreibt sie schnell ihren Namen, Adresse und die Telefonnummer nieder und reicht das Blatt Philipp Kreßner.

»Meine Adresse und meine Telefonnummer«, sagt sie dabei. »Sie können mich jederzeit erreichen. Ihretwegen werde ich heute meine Wohnung nur verlassen, wenn Sie mich zu sich rufen.«

Mit leicht bebenden Händen holt er seine Brille hervor und liest. »Annette Birken«, murmelt er und sieht sie freundlich lächelnd an. »Ein schöner Name. Er gefällt mir ebenso gut wie seine Trägerin.«

Er atmet tief und wie erlöst. »Dann darf ich Sie jetzt zu Ihrer Wohnung bringen und heute abend als meinen Gast im Hotel begrüßen?«

Als Annette dann neben Kreßner zum Taxi geht, kommt ihr die letzte Stunde vor wie ein Spuk. Ganz Kavalier, hilft er ihr in den Wagen, bringt seinen Handkoffer auf dem Sitz des Chauffeurs unter, während dieser das große Gepäck im Kofferraum verschwinden läßt.

Kreßner nennt Annettes Adresse, und der Wagen rollt davon. Blaß und schweigsam sitzt Annette neben Philip Kreßner.

Ich stürze mich in ein Abenteuer, denkt sie und weiß nicht, wie es ausgehen wird. Aber ist ihr Beruf nicht ein einziges Abenteuer?

Mit einem Seufzer und großen in die Ferne gerichteten Augen versucht sie, abzuschalten, denn die Gedanken kommen und gehen und verwirren sie nur.

*

Annette wählt ein taubenblaues Jackenkleid mit einer hauchdünnen Bluse.

Zweiundzwanzig Jahre ist sie alt, aber noch nie hat sie einen Fuß in das Hotel Vier Jahreszeiten gesetzt. Sie will heute besonders nett aussehen.

Jetzt, da sie sich für den Abend zurechtmacht, sieht alles nicht mehr gar so bedrohlich aus. Ja, wenn nicht dieser Auftrag hinter ihr stünde, würde sie sich mit Vergnügen in diese Rolle stürzen.

Pünktlich um zwanzig Uhr wird sie abgeholt.

In der Hotelhalle steht schon Philipp Kreßner. Er kommt ihr entgegen und reicht ihr die Hand. »Schön, daß Sie da sind«, begrüßt er sie herzlich. »Ich war mir nicht sicher, ob Sie wirklich kämen.«

Sie mißt Kreßner, der im schwarzen Abendanzug eine gute Figur macht, mit einem dunklen Blick.

An dem Aufleuchten seiner Augen erkennt sie, daß auch er mit ihrem Äußeren zufrieden ist.

»Ich halte immer Wort, Herr Kreßner«, sagt sie und sieht sich aufmerksam um. Ja, ganz so hat sie es sich vorgestellt. Die Schritte werden von dicken Teppichen verschluckt. Kreßner wird aufmerksam von dem Personal begrüßt.

»Nehmen wir erst einen Drink. Das Abendessen habe ich für halb neun Uhr bestellt.«

Unauffällig betrachtet er Annette von den Schuhen an bis zu dem leuchtenden Haar, das sich in großen, natürlichen Wellen um den wohlgeformten Kopf schmiegt.

Sie hat Geschmack, stellt er erfreut bei sich fest. Auch Betty verstand, durch kleine Effekte das Strahlende ihrer Erscheinung noch zu betonen.