Sünde wider die Liebe - Karin Bucha - E-Book

Sünde wider die Liebe E-Book

Karin Bucha

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Beschreibung

Karin Bucha ist eine der erfolgreichsten Volksschriftstellerinnen und hat sich mit ihren ergreifenden Schicksalsromanen in die Herzen von Millionen LeserInnen geschrieben. Dabei stand für diese großartige Schriftstellerin die Sehnsucht nach einer heilen Welt, nach Fürsorge, Kinderglück und Mutterliebe stets im Mittelpunkt. Karin Bucha Classic ist eine spannende, einfühlsame geschilderte Liebesromanserie, die in dieser Art ihresgleichen sucht. Eigentlich müßte der Himmel weinen, als Ulrich Karsten vor seinen Richtern steht. Aber es wölbt sich ein unwirklich blauer Himmel über der Stadt. Die Luft ist wie Seide, und die Menschen sind großzügig gestimmt. Nur Ulrich Karsten merkt nichts davon. Alles sieht er grau in grau. Er wartet auf sein Urteil. Man hat ihn mit seinem Wärter in einen schmalen Raum gebracht. Er sieht nicht die goldenen Kringel, die die Sonnenstrahlen auf den blitzblanken, aber kühlen Fußboden malen. Nichts sieht er. Nicht den Mann, der ihn bewachen muß, der ihn aufmerksam mustert und sich seine Gedanken über seinen Gefangenen macht. Einen Mörder hat er sich ganz anders vorgestellt. Er ist noch nicht lange im Dienst und sein Herz noch nicht verhärtet und ohne Mitleid. In den Zügen dieses Mannes, von denen man behauptet, er sei ein Mörder, sieht er nur tiefe Schatten, Schatten, die ein unerbittliches Schicksal hineingegraben hat. Er sieht überhaupt gut aus! Er ist hochgewachsen, breitschultrig und schmal in den Hüften. Selbst nach langer Haft ist sein Gang aufrecht. Sein Haar ist dunkelbraun und schlicht aus der hohen Stirn gekämmt. Sein Mund gutgeschnitten. Der Wärter dreht sich mit einem Ruck zur Tür und versucht seine Gedanken von dem Gefangenen abzulenken. »Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück!«

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Karin Bucha Classic – 42 –

Sünde wider die Liebe

Karin Bucha

Eigentlich müßte der Himmel weinen, als Ulrich Karsten vor seinen Richtern steht. Aber es wölbt sich ein unwirklich blauer Himmel über der Stadt. Die Luft ist wie Seide, und die Menschen sind großzügig gestimmt.

Nur Ulrich Karsten merkt nichts davon. Alles sieht er grau in grau. Er wartet auf sein Urteil. Man hat ihn mit seinem Wärter in einen schmalen Raum gebracht. Er sieht nicht die goldenen Kringel, die die Sonnenstrahlen auf den blitzblanken, aber kühlen Fußboden malen. Nichts sieht er. Nicht den Mann, der ihn bewachen muß, der ihn aufmerksam mustert und sich seine Gedanken über seinen Gefangenen macht.

Einen Mörder hat er sich ganz anders vorgestellt. Er ist noch nicht lange im Dienst und sein Herz noch nicht verhärtet und ohne Mitleid. In den Zügen dieses Mannes, von denen man behauptet, er sei ein Mörder, sieht er nur tiefe Schatten, Schatten, die ein unerbittliches Schicksal hineingegraben hat.

Er sieht überhaupt gut aus! Er ist hochgewachsen, breitschultrig und schmal in den Hüften. Selbst nach langer Haft ist sein Gang aufrecht. Sein Haar ist dunkelbraun und schlicht aus der hohen Stirn gekämmt. Sein Mund gutgeschnitten.

Der Wärter dreht sich mit einem Ruck zur Tür und versucht seine Gedanken von dem Gefangenen abzulenken.

»Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück!« hieß es, und nun wird in einem der hohen Zimmer über Sein oder Nichtsein Ulrich Karstens entschieden.

Sie sitzen um einen langen Tisch, der Vorsitzende, die Beisitzer und die Geschworenen.

»Ich bin überzeugt«, läßt der Vorsitzende Feurig sich vernehmen, »daß er mit voller Absicht getötet hat. Also Mord.«

Die Geschworenen sehen bleich und abgespannt aus. Es hat einen heißen Kampf zwischen dem Staatsanwalt Kerst und dem Verteidiger Doktor Ernst Rauh gegeben. Sie rauchen hastig ihre Zigaretten. Selbst die einzige Frau unter ihnen, Eva-Maria Harris, hat zur Zigarette gegriffen. Sie gibt sich nach außen hin gelassen. Keiner ahnt, was sie diese Ruhe kostet. Jeder Nerv an ihr zittert.

Sie hört das Gemurmel um sich wie aus weiter, weiter Ferne. Sie kommt sich wie auf einer einsamen Insel vor, ganz ihren quälenden Gedanken preisgegeben. Und noch etwas hält sie eisern gepackt, Angst! Eine wahnsinnige, jedes andere Gefühl unterdrückende Angst. Jawohl, sie hat Angst um den Mann, über den man zu Gericht sitzt, und den sie liebt.

Sie weiß, daß diese Liebe niemals Erfüllung finden wird. Sie weiß, daß es niemals einen Weg von ihr zum Herzen Ulrich Karstens geben wird.

Sein Herz liegt gefesselt in den Banden der einzigen Frau, die ihn hätte retten können und die ihn, keines Blickes würdigend, im Gerichtssaal verriet.

»Ich verweigere die Aussage!«

Mit harter Stimme hat es die schöne blonde Frau mit den grünen Augen gesagt, und ihr stand als Verlobte des Angeklagten das Recht dazu zu.

Das alles erlebt Eva-Maria Harris noch einmal so deutlich, daß ihr das Herz davon schmerzt. Über die Köpfe der Anwesenden hinweg irrt ihr Blick hinüber zu dem Fenster.

Mein Gott! Man wird ihn verurteilen! Er wird lange, vielleicht niemals wieder die Freiheit erlangen.

Lieber Gott! Das kann doch nicht wahr sein! Niemals hat er die Absicht gehabt, John Unger zu töten. Man hat ihn gereizt. Man hat ihn vielleicht angegriffen. Er hat in Notwehr gehandelt!

Plötzlich ist es, als gehe ein Ruck durch ihren Körper. Ich darf nicht träumen. Ich muß ganz aufmerksam sein.

»Ich weiß nicht«, hört sie jetzt Brandt, den Handwerksmeister, sagen. »Mord möchte ich nicht behaupten. Vielleicht Notwehr?«

»Mord?«

Aller Augen sind auf Eva-Maria Harris gerichtet, die dieses Wort entsetzt ausspricht. »Ich glaube nicht daran«, setzt sie bestimmt hinzu.

Präsident Feurig, ein schlanker weißhaariger Mann, mit klaren, durchdringenden Augen, lächelt.

»Liebe, gnädige Frau, hier geht es nicht um Glauben oder Nichtglauben. Hier geht es um Beweise. Der Angeklagte hat gestanden –«

»– und sich dann ausgeschwiegen«, zittert es erregt von Eva-Marias Lippen. »Nicht einmal sein Anwalt hat Licht in das Dunkel der Tat bringen können. Und die einzige Zeugin, die ihn hätte entlasten können, hat geschwiegen.«

»Oder sie hat geschwiegen, um ihn nicht zu belasten«, wirft der Präsident gütig ein. Er mag sie gern, diese aparte, auffallend schöne Frau, mit dem leuchtenden Haar und den jetzt ganz dunkel erscheinenden Blauaugen, die das zarte Gesicht völlig beherrschen.

»Aber das sind doch alles nur Vermutungen«, stößt sie rauh hervor. »Man kann doch einen Menschen nicht verurteilen, wenn man nicht von seiner Schuld überzeugt ist.«

»Sind Sie es nicht, gnädige Frau?«

Diese Frage wirft Eva-Maria völlig aus dem Gleichgewicht. Sie streicht sich über die Stirn. Sie fühlt sich naß an. Kleine Schweißtropfen stehen darauf. Hastig sucht sie nach ihrem Taschentuch und tupft über die Stirn. Sie zwingt sich eisern zur Ruhe.

»Nein!«

»Und sein Geständnis?«

Sie fühlt die Augen der anwesenden Männer auf sich gerichtet.

»Es kann aus edlen Motiven gegeben sein.«

»Wir haben kein edles Motiv gefunden«, antwortet Feurig. »Was uns der Angeklagte verschwiegen hat, haben wir versucht allein zu finden. Es war nichts da. Er hat diesen John Unger erschossen, aus Eifersucht. Das ist kein edles Motiv.«

Eva-Maria Harris sinkt etwas in sich zusammen. Sie spürt ihr Herz bis zum Hals herauf hämmern.

»Ist Ihnen nicht wohl?« schlägt die Stimme des Vorsitzenden an ihr Ohr.

Sie lächelt schwach, hilflos. »In der Tat«, stammelt sie und lehnt sich mit geschlossenen Augen zurück. »Wenn ich um ein Glas Wasser bitten dürfte?«

Ein Gerichtsdiener wird herbeigeklingelt, und er kehrt mit dem Gewünschten zurück. Eva-Maria nimmt ein paar tiefe Schlucke. Dann setzt sie das Glas bedächtig vor sich hin. Es ist eine gewollt langsame Bewegung.

»Es kann sich doch niemals um einen Mord handeln – höchstens um Notwehr«, knüpft sie wieder an das Vorhergesagte an. »Wir wissen, daß der Angeklagte John Unger mit seiner Verlobten überrascht hat. Sie hat sich gewehrt gegen den Mann, und da ist der Angeklagte ihr beigesprungen. So sehe ich jedenfalls die Tat. Ich gebe zu, daß auch Eifersucht dabeigewesen sein mag – aber daß es zu der Tat kam, war die Reaktion auf das Handgemenge, in das seine Verlobte verwickelt war.«

Erstaunt zieht der Vorsitzende die Brauen hoch.

»Woher wollen Sie das wissen? Das steht weder in den Akten, noch ist es in den Vernehmungen zur Sprache gekommen.«

Hilflos zuckt Eva-Maria mit den Achseln. »Ich betonte schon, so sehe ich die Tat. Ich kann nur von Notwehr sprechen.«

Eine Debatte setzt ein, an der sich Eva-Maria Harris nicht beteiligt, aber aufmerksame Zuhörerin ist. Kein Wort entgeht ihr.

Doch sie fühlt, daß eine andere Stimmung unter den Anwesenden herrscht wie zu Beginn. Ihre Augen irren umher, bleiben an dem Zifferblatt der Uhr haften. Noch zehn Minuten Zeit – denkt sie, und sie ist der Verzweiflung ausgeliefert.

Mit einem schwachen Laut, den keiner vernommen hat, so sehr sind sie in Reden und Gegenreden vertieft, lehnt sie sich tief in ihre Sessel zurück.

Nur nicht ohnmächtig werden – denkt sie, aber dann wird es schon dunkel um sie. Dunkel, und barmherzige Ruhe hüllt sie ein.

*

Zur selben Zeit steht Dr. Ernst Rauh, mittelgroß, ziemlich beleibt, aber von einer Lebhaftigkeit, die man ihm nie zugetraut hätte, vor dem stummen Mann, den er verteidigt hat, verteidigen mußte.

»Menschenskind, so reden Sie doch«, schreit er wütend. Er möchte diesem Mann, den er als Mensch wie als begabten, modernen Architekten schätzengelernt hat, helfen, und er spürt, wie dieser selbst sich alle Wege verbaut.

»Karsten«, sagt er besänftigt und legt dem Angeklagten die Hand auf die Schulter. »Ich will Ihnen doch helfen. Meinen Sie, daß es ein Vergnügen ist, einen Mann in sein Unglück rennen zu sehen?«

Karsten öffnet den Mund und schließt ihn sofort wieder. Er zuckt nur mit den Achseln.

»Ich will Ihnen helfen«, betont Doktor Rauh abermals und erhebt seine Stimme wieder. »Aber Sie müssen sprechen.«

Karsten macht eine kurze Handbewegung. »Sie können mir nicht helfen. Keiner kann mir helfen, und ich will auch nicht, daß Sie mir helfen.«

Doktor Rauh möchte den Mann hernehmen und tüchtig schütteln. Er fühlt, daß hinter dieser Ablehnung keine Verstocktheit steht.

Plötzlich hebt Karsten den Kopf. »Sie wollen mich vor einem Unglück retten?« Seine Lippen verziehen sich spöttisch. »Wissen Sie denn, ob es ein Glück für mich wäre, jetzt frei zu sein?«

Doktor Rauh stutzt. Eindringlich fragte er: »Karsten, was verbergen Sie vor mir, vor Ihren Richtern, überhaupt vor den Menschen?«

Sekundenlange Stille, dann ein kurzes, entscheidendes:

»Nichts!«

Achselzuckend wendet Rauh sich der Tür zu und gibt dem Wärter einen Wink, seinen Platz wieder einzunehmen. Zu Karsten sagt er:

»Dann wünsche ich Ihnen nur, daß das Gericht auf mildernde Umstände zurückgreift. Ich kann nichts mehr für Sie tun.«

Karsten kämpft mit sich. Ein kurzer Kampf ist es. Dann steht er schnell auf und geht auf den Mann zu, der in den langen Wochen immer wieder versucht hat, ihm zu helfen. Er streckt ihm seine Hand entgegen.

»Ich danke Ihnen für alles, Doktor. Sie meinen es gut mit mir. Aber –« Er zögert, und vorübergehend pressen sich seine Lippen zusammen. Ganz langsam öffnen sie sich wieder. »Ich – ich habe meine Gründe.«

Karsten sieht mit einem verzweifelten Ausdruck auf die Tür, die sich hinter der massigen Gestalt des Rechtsanwaltes geschlossen hat. Von dieser Minute an kommt die große Unruhe über ihn, Unruhe und eine grenzenlose Einsamkeit.

*

»Im Namen des Volkes…«

Der Gerichtshof steht, auch der Angeklagte steht hoch aufgerichtet in seiner Bank.

»… und so sind wir nach reiflicher Überlegung zu der Überzeugung gekommen, daß es eine Affekthandlung war, zu der der Angeklagte gereizt wurde. Da der Angeklagte ein bis jetzt ernsthafter, unbescholtener Mann mit bestem Leumund war, haben wir unedle Motive ausgeschaltet. Nach Paragraph…«

Ein Laut fällt in die erwartungsvolle Stille. Eva-Maria Harris, blaß bis in die Lippen, hat ihn ausgestoßen. Sie preßt die Hände gegeneinander, schlingt die Finger zusammen, daß sie ihr schmerzen, und verhält sich wieder ruhig.

Der Vorsitzende vollendet seine Rede.

»… aus diesem Grunde hält das Gericht die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat mit zwei Jahren Gefängnis für abgegolten.«

Eva-Maria Harris sinkt mit geschlossenen Augen auf ihrem Stuhl zurück.

Herrgott! Lieber, guter Gott – denkt sie! Zwei Jahre wird er überstehen. In zwei Jahren wird er nicht zugrunde gehen.

Langsam leeren sich die Bänke im Zuschauerraum. Der Gerichtshof hat den Saal verlassen. Auch Karsten wird davongeführt.

Er sieht nicht, daß unweit von ihm eine Frau an der Wand lehnt und mit brennenden Augen zu ihm hinüberstarrt.

Er würde sie wahrscheinlich gar nicht wiedererkennen. Er hat sie sicher vergessen, die Frau, deren Geschäft für Antiquitäten und kunstgewerbliche Arbeiten er vor einem Jahr modern und harmonisch umgestaltet hat. Aber er hat den größten Eindruck bei ihr hinterlassen. Nie hat sie ihn vergessen können. Er war damals besessen von seiner Arbeit und von seiner Liebe zu Marion Wendland.

Als die hohe Männergestalt verschwunden ist, kehrt sie sich dem Ausgang zu.

Zwei Jahre, denkt sie! Ich werde auf ihn warten! Vielleicht wird er eines Tages geheilt von seiner Krankheit, die Marion Wendland heißt.

*

»Wo bleiben denn meine Koffer?« herrscht Marion Wendland die langsam näherkommende Pensionswirtin an. Wenn man die mollige Frau näher betrachtet, hat man den Eindruck, sie sei aus dem vorigen Jahrhundert übriggeblieben. Alles wirkt altmodisch und verstaubt an ihr. Aber das Herz, das sitzt auf dem rechten Fleck, und sie ist ihren Pensionsgästen weniger Wirtin als Mutter. Sie war es auch zu der eleganten Marion Wendland. Eigentlich nicht ihretwegen, aber um des Mannes willen, mit dem sie verlobt war. Sie hat nun einmal ihr Herz an Ulrich Karsten verloren, in wahrhaft mütterlicher Art. Sie hat seinen Wert, seine Zuverlässigkeit und Treue erkannt.

Marion Wendland starrt die Wirtin an. »Mein Gott, wie sehen Sie denn aus? Sind Sie krank?«

»Man kann es auch so nennen«, erwidert die gleichmütig und bleibt in der Tür stehen.

»Und wo bleiben meine Koffer?« Marions Stimme ist herausfordernd.

»Die werden Sie sich wohl selbst vom Boden holen müssen«, erwidert Milli Bothe gelassen. »Das Mädchen hat Ausgang, und ich rühre für Sie keinen Finger mehr.«

Marion Wendland läßt vor Überraschung das Nachthemd aus den Händen gleiten.

»Was soll denn das heißen?«

Milli Bothe kreuzt die Arme über der üppigen Brust. Sie ist ganz verändert. Die kleinen, flinken Augen unter dem ergrauten Haar blitzen nur so vor Verachtung. »Ist das so schwer zu begreifen? Ich sagte es bereits. Keinen Finger rühre ich mehr für Sie – Sie –«

»Erlauben Sie mal«, braust Marion Wendland auf. »Was ist das für ein Ton?«

Langsam kommt Milli Bothe näher.

»Ich will Ihnen mal was sagen«, beginnt sie mit zitternder Stimme, die aus einem empörten Herzen kommt. »Bisher habe ich Sie für eine anständige Frau gehalten. Aber seit heute weiß ich, daß Sie eine ganz schäbige Person sind. Schämen Sie sich kein bißchen vor den Leuten?« unterbricht sie ihren Redestrom und macht eine wegwerfende Handbewegung. »Quatsch! Was gehen mich die Leute an. Vor sich selbst müßten Sie sich schämen. Da sitzt ein grundanständiger Mensch auf der Anklagebank – Ihretwegen –«

Marion Wendland erbleicht und weicht unwillkürlich vor der sich in Fahrt befindlichen Frau zurück.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Warum haben Sie denn dann nicht gesprochen? Sie sind ja seine Verlob-

te –«

»Ich war es, bitte.«

»Das kann ich mir denken«, höhnt Milli Bothe. »Heute, wo er in der Patsche sitzt, da wollen Sie nichts mehr von ihm wissen. Ich war nicht dabei. Aber ich glaube die Szene förmlich vor mir zu sehen. Sie sind an allem schuld.« Jetzt kann Milli Bothe sich nicht länger beherrschen. Sie schreit der Frau ins Gesicht, was sie bedrückt. »Dieser üble Bursche, dieser John Unger, war Ihr Liebhaber –«

»Ich verbitte mir –«

»Sie haben mir überhaupt nichts zu verbieten«, faucht Milli Bothe. »In meinem Haus schon gar nicht. Aber einer muß Ihnen einmal die Wahrheit sagen. Sie haben ein gemeines Spiel mit Ulrich Karsten getrieben.«

Sie ballt die Faust und streckt sie der am ganzen Körper zitternden, sonst so selbstherrlichen Frau entgegen. »Aber das sage ich Ihnen, so wahr ich Milli Bothe heiße, Ulrich Karsten wird alles von mir erfahren, was ich über Sie weiß.«

Milli Bothe atmet tief und erregt. »So, das wollte ich Ihnen nur sagen, und nun können Sie Ihre Koffer packen und verschwinden.«

Die Dielen knarren unter dem ener­gischen Schritt der Frau. Marion Wendland sinkt in den nächsten Stuhl. Sie schlägt die Hände vor das Gesicht und atmet erregt. So völlig unverhofft sind die Vorwürfe der sonst so liebenswürdigen Wirtin, die sie immer für ein wenig dusselig gehalten hat, auf sie herniederprasselt, daß sie erstmals ein Gefühl befällt, was sie sonst nicht gekannt hat.

Angst! Richtige Angst!

»Wahnsinn!« flüstert sie vor sich hin. »Die Frau ist verrückt!«

Sie klettert auf den Boden, immer bedacht, keinen Lärm zu machen. Nicht noch einmal will sie dieser Frau begegnen, vor der sie sich plötzlich fürchtet.

Sie muß dreimal nach dem Boden laufen und ist ganz außer Atem. Dann wirft sie die Sachen in die Koffer, wahllos, ohne Sorgfalt.

Fort – denkt sie – nur fort!

Sie hetzt in die Diele, bestellt sich telefonisch eine Taxe, legt das Geld für das Gespräch auf den daneben stehenden Teller und rennt in ihr Zimmer zurück.

Vor dem Spiegel beginnt sie ihr Gesicht herzurichten. Alles geschieht mit zitternden Händen, die ihr nicht recht gehorchen wollen.

Es ist aber nicht nur die Angst vor der Wirtin. Es sind ein paar helle Männeraugen, vor Erstaunen geweitet, sie sie überallhin verfolgen.

Ich brauche Ruhe, sinnt sie dabei. Ich bin vollständig mit den Nerven fertig.

Sie wühlt in ihren Schriftstücken, immer hastiger, immer nervöser. Du lieber Gott! Sie braucht Geld. Endlich hat sie das Scheckheft gefunden. Gedankenvoll blättert sie darin. Sie sieht die steile energische Schrift Ulrichs, und etwas wie Scham kommt über sie. Wie er ihr vertraut hat. Wie oft hat sie für ihn die Bankgeschäfte erledigen müssen. Bedenkenlos hat er ihr Vollmacht erteilt.

Jetzt soll sein Vertrauen ihr zur Flucht verhelfen. Es soll eine Flucht ins Vergessen werden.

Dann ist alles vorbereitet. Am Fenster wartet sie, bis die Taxe vorfährt. Sie öffnet und winkt den Fahrer herauf. Der schleppt unermüdlich die Koffer. Ohne sich noch einmal umzusehen, verläßt sie die Pension.

»Zur Deutschen Bank«, sagt sie und nimmt aufatmend Platz. Jetzt ist alles an ihr in Unruhe und Nervosität. Wenn Ulrich die Vollmacht gesperrt hat, oder sein Anwalt das Konto?

Äußerlich gelassen geht sie zu dem ihr bekannten Beamten.

»Gnädige Frau«, begrüßt er sie. Sie reicht ihm den Scheck. Bis auf hundert Mark hebt sie das Guthaben Ulrich Karstens bedenkenlos ab, und anstandslos wird ihr die Summe ausgezahlt.

Erst als sie wieder im Wagen sitzt, verläßt sie der Druck. Sie hat sogar ein heimliches Triumphgefühl in sich.

Sie wird ein neues Leben beginnen. Alles wird sie vergessen. Sogar den Mann, der sie selbstlos geliebt hat und mit dem sie… Nicht weiterdenken, kommandiert sie sich selbst.

*

»Eva-Maria Harris, Kunstgewerblerin«, liest Rechtsanwalt Rauh und blickt grübelnd zu seinem Bürovorsteher auf. »Kommt mir bekannt vor, weiß aber nicht wohin damit. Na, lassen Sie die Dame eintreten und bringen Sie eine neue Akte mit.«

»Jawohl, Herr Doktor!« Paul Fricke, der Bürovorsteher, verschwindet und läßt kurz darauf eine Dame eintreten. Die Akte legt er vor seinem Chef auf den Schreibtisch, dann zieht er sich zu-rück.

»Sie sind es!?« Mit diesem Ausruf erhebt Doktor Rauh sich und schiebt seiner Besucherin den Sessel ihm gegenüber zurecht. »Bitte, nehmen Sie Platz.«

Er öffnet die rechte Schublade und bietet Eva-Maria Zigaretten an.

»Danke!« Als er ihr Feuer reicht, sieht er, wie die schmale, feingliedrige Frauenhand leicht zittert.

»Kann ich etwas für Sie tun?« fragte er, und sein Blick ruht bewundernd auf ihrem blassen, schönen Gesicht mit den leuchtenden Augen.

»Für mich nicht, Herr Doktor.« Sie stockt, und er lauscht hinter der dunk­len, wohllauten Stimme her. Er wartet geduldig, bis sie weiterspricht. »Es handelt sich um Ulrich Karsten.«

Wieder stockt sie und sieht ihn erwartungsvoll an. Aber sie vermag nichts in seinen Zügen zu lesen.

»Glauben Sie an die Schuld Ulrich Karstens?«

Er vermag seinen Blick nicht aus den leuchtenden Augen zu lösen. Als habe er sich diese Frage selbst schon längst beantwortet, sagt er:

»Nein!«

Sie lehnt sich zurück. Ihre Brust hebt sich in einem tiefen Atemzug. »Dafür danke ich Ihnen. Ich glaube auch nicht daran.«

»Was kann man tun, um diese Unschuld zu beweisen?«

»Sind Sie deshalb zu mir gekommen?«

Sie nickt.

Er lächelt. »Sie sollten sich an einen tüchtigen Detektiv wenden.«

»Das könnte ich wohl, doch ich will es nicht«, widerspricht sie heftig. »Sie haben ein so menschliches Interesse an Ulrich Karsten genommen, daß es überhaupt nur Sie gibt, der mir helfen könnte.«

»Ihnen?« verwundert Doktor Rauh sich. »Ich denke Ulrich Karsten?«

»Doch, auch mir«, bestätigt sie ernsthaft. Ruckartig hebt sie den Kopf. »Was halten Sie von dieser – dieser Marion Wendland?« Jetzt zittert ihre Stimme etwas.

»Gar nichts!« antwortet er, und seine Züge, soeben noch aufgeschlossen, verhärten sich. »Diese Frau hat den denkbar ungünstigsten Eindruck hinterlassen. Nicht nur bei mir, auch beim Gericht. Trotzdem sie kein Wort gesprochen hat.«

»Man müßte den Hebel bei ihr ansetzen«, sinnt sie.

»Leider hat sie auf unbestimmte Zeit die Stadt verlassen. Auf Reisen«, erklärt er ihr.

Sie ist überrascht.

»Woher wissen Sie das?«

Er lächelt geheimnisvoll. »Ich weiß noch so allerhand.«

»Wußten Sie das schon vor dem Prozeß?« forscht sie mit Spannung.

Er wiegt den Kopf. »Teil – teils. Leider hat mir der Mann alles aus der Hand gewunden – durch sein hartnäckiges Schweigen.«

»Und – und wenn Sie sich jetzt mit ihm in Verbindung setzen würden. Glauben Sie, daß er dann noch schweigt?«

»Möglich! Alles was für ihn spricht, sind Vermutungen. Er ist verdammt stolz – und sehr sensibel.«

»Wollen Sie ihm auch heute noch helfen?« fragt sie atemlos.

»Natürlich!« kommt prompt seine Antwort. Da tritt wieder dieses hoffnungsvolle Strahlen in ihre Augen.

»Weiß Karsten, daß Sie so viel Anteil an seinem Geschick nehmen?«

»Nein! Er wird mich kaum mehr kennen. Ich will zu Ihnen ganz ehrlich von unserer Bekanntschaft sprechen. Damals suchte ich für mein Geschäft einen guten Architekten. Man empfahl mir Ulrich Karsten. Er kam mit seinen Plänen. Wir waren damals viel zusammen. Ich glaube –«, jetzt lächelte sie in ihrer reizenden, hilflosen Art, »ich glaube, er hat nicht einmal bemerkt, daß ich eine Frau bin. Aber wir haben großartig harmoniert, und ich fand seine Pläne einmalig. Nun ja, er hat den Umbau vollendet. Ich war sehr zufrieden damit. Dann verloren wir uns aus den Augen.«

Sie stockt, und wieder erglüht sie. »Das heißt, ich habe ihn nie ganz aus den Augen verloren. Er interessierte mich. Seine Art nahm mich gefangen. Als ich den Prozeß miterleben mußte, war ich erschüttert. Nun wissen Sie Bescheid.«

»Ja, nun weiß ich Bescheid«, wiederholt er und denkt dabei: Die Hauptsache hast du mir natürlich verschwiegen. Nämlich, daß du diesen Mann liebst.

»Sie halten mich sicher für sehr – albern.«

»Nein – für sehr liebenswert.«

Erschreckt weiten sich ihre Augen. Er kommt um den Schreibtisch herum und stellt sich vor ihr auf.

»Wie oft habe ich für Menschen arbeiten müssen, die ich sehr unsympathisch fand. Erschrecken Sie bitte nicht, wenn ich Ihnen ehrlich bekenne, daß es mir Freude bereitet, für Sie und Ulrich Karsten arbeiten zu dürfen.«

»Also – sind wir Verbündete?« strahlt sie und streckt ihm impulsiv die Hand entgegen.

»Das soll ein Wort sein.« Er drückt die feine Frauenhand und nimmt seinen Platz wieder ein. Er dreht ihre Besuchskarte zwischen den Fingern. »Ich darf Sie doch anrufen, wenn ich Ihrer Hilfe bedarf?«

»Jederzeit«, erwidert sie rasch und erlöst und verabschiedet sich.

*

Ulrich Karsten ist ein williger Gefangener. Er kennt weder Auflehnung noch Verstocktheit. Seinem Wesen haftet dagegen etwas Sinnendes, Grüblerisches an.

Umschließen ihn die Wände seiner Zelle, dann starrt er stundenlang ins Leere. Auch in seinem Innern gähnt es vor Leere.

Immer wieder sieht er einen hohen Baum vor sich. Butzenscheiben, durch die schräg das Sonnenlicht fällt und die Dame Justizia beleuchtet. Und dann sieht er die blonde Frau, wie sie dicht an ihm vorüber an diesen Tisch tritt und mit harter Stimme spricht. Eine Stimme, die ihm unendlich fremd war.

Hat er erwartet, daß sie sprechen würde? Hat er nicht nur nach einem aufmunternden Blick aus diesen geliebten graugrünen Augen gehungert?

Stundenlang zermartert er sich so den Kopf. Er fiebert innerlich, wenngleich er sich äußerlich gelassen gibt. Er fiebert auf ein Lebenszeichen von Marion.

Er springt auf, wandert ruhelos hin und her.

Marion liebt ihn! Marion verrät ihre Liebe nicht! Oder er müßte an der ganzen Welt zweifeln.

Etwas ruhiger geworden, sinkt er wieder auf das harte Lager zurück und verfällt abermals in Grübeleien.