Schicksalsmelodie - Karin Bucha - E-Book

Schicksalsmelodie E-Book

Karin Bucha

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Beschreibung

Karin Bucha ist eine der erfolgreichsten Volksschriftstellerinnen und hat sich mit ihren ergreifenden Schicksalsromanen in die Herzen von Millionen LeserInnen geschrieben. Dabei stand für diese großartige Schriftstellerin die Sehnsucht nach einer heilen Welt, nach Fürsorge, Kinderglück und Mutterliebe stets im Mittelpunkt. Karin Bucha Classic ist eine spannende, einfühlsame geschilderte Liebesromanserie, die in dieser Art ihresgleichen sucht. Mühelos fährt der schwere Wagen den Hang hinauf, vorbei an kleinen Bergen von Schnee, die den Weg säumen. Bäume, schnee­verhangen, im Mondlicht glitzernd, huschen vor­über, und dann biegt er in die Einfahrt ein und gleitet lautlos vor den Eingang des hellerleuchteten Hauses. Dr. Jürgen Wellhof greift nach dem Paket, das sorgfältig verpackt neben ihm gelegen hat. Ehe er das Haus betritt, gleitet sein Blick über die Front des Hauses mit den breiten, tiefen Fenstern. Man schreibt den achten Dezember. Wie eine Kostbarkeit trägt er das Paket in der Hand. Es ist eine Kostbarkeit für ihn und für die liebste, geliebte Frau, die er damit überraschen will. Schon in der Diele umfängt ihn die warme, anheimelnde Atmo­sphäre des Hauses und, nachdem er seine Garderobe dem Mädchen übergeben hat, muß er sekundenlang die Augen vor dem Glanz schließen, der ihm aus dem Wohnzimmer entgegenstrahlt. Überall Blumen, Blumen. Dunkelrote Rosen in schier verschwenderischer Fülle füllen die wertvollen Vasen und verbreiten einen süßen, be­rau­schen­den Duft. Dazwischen Kerzen in silbernen Leuchtern und inmitten von Tannengrün. Die Schiebetür ist geöffnet, und er sieht im Nebenzimmer die festlich gedeckte Tafel. Auch hier brennen nur Kerzen. In zwanglo­sen Gruppen stehen die wenigen Gäste. Es ist ein kleiner intimer, aber auserlesener Kreis. Doktor Wellhof kennt sie seit Jahren. Sei­ne hellen Augen suchen nur eine, und da löst sie sich schon aus einer Gruppe. Im schwarzglänzenden Abendkleid von raffinierter Einfachheit, die hohe, schmale Gestalt vorteilhaft zur Geltung bringend, kommt sie auf ihn zu. Ihr rassiges Gesicht scheint heute nur von den dunklen Augen beherrscht zu sein.

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Karin Bucha Classic – 47 –

Schicksalsmelodie

Karin Bucha

Mühelos fährt der schwere Wagen den Hang hinauf, vorbei an kleinen Bergen von Schnee, die den Weg säumen. Bäume, schnee­verhangen, im Mondlicht glitzernd, huschen vor­über, und dann biegt er in die Einfahrt ein und gleitet lautlos vor den Eingang des hellerleuchteten Hauses.

Dr. Jürgen Wellhof greift nach dem Paket, das sorgfältig verpackt neben ihm gelegen hat. Ehe er das Haus betritt, gleitet sein Blick über die Front des Hauses mit den breiten, tiefen Fenstern. Man schreibt den achten Dezember.

Wie eine Kostbarkeit trägt er das Paket in der Hand. Es ist eine Kostbarkeit für ihn und für die liebste, geliebte Frau, die er damit überraschen will.

Schon in der Diele umfängt ihn die warme, anheimelnde Atmo­sphäre des Hauses und, nachdem er seine Garderobe dem Mädchen übergeben hat, muß er sekundenlang die Augen vor dem Glanz schließen, der ihm aus dem Wohnzimmer entgegenstrahlt. Überall Blumen, Blumen. Dunkelrote Rosen in schier verschwenderischer Fülle füllen die wertvollen Vasen und verbreiten einen süßen, be­rau­schen­den Duft. Dazwischen Kerzen in silbernen Leuchtern und inmitten von Tannengrün.

Die Schiebetür ist geöffnet, und er sieht im Nebenzimmer die festlich gedeckte Tafel. Auch hier brennen nur Kerzen. In zwanglo­sen Gruppen stehen die wenigen Gäste. Es ist ein kleiner intimer, aber auserlesener Kreis. Doktor Wellhof kennt sie seit Jahren. Sei­ne hellen Augen suchen nur eine, und da löst sie sich schon aus einer Gruppe.

Im schwarzglänzenden Abendkleid von raffinierter Einfachheit, die hohe, schmale Gestalt vorteilhaft zur Geltung bringend, kommt sie auf ihn zu. Ihr rassiges Gesicht scheint heute nur von den dunklen Augen beherrscht zu sein.

Wellhofs Herz schlägt wie irrsinnig in der Brust. Wie sehr er sie liebt, der er seit Jahren in selbstloser Treue ergeben ist, ohne ihr je von Liebe gesprochen zu haben. Aber heute scheint ihn sein Gefühl überwältigen zu wollen. Seit Jahren gibt es nur eine Frau für ihn.

Kathrin Landt!

»Doktor, endlich!« Ihre Stimme, dunkel und wohltuend, erregt ihn wie immer. »Nun können wir zu Tisch gehen.«

Beide Hände reicht sie ihm, und Wellhof drückt sie voll Wärme.

»Liebe Kath, nochmals meinen herzlichsten Glückwunsch zum fünfzigsten Geburtstag und zum fünfundzwanzigjährigen Berufsjubiläum, und weiterhin Kraft und Glück zum Schaffen.«

Kaths Augen schimmern feucht. »Danke«, murmelt sie bewegt. »Sie haben mich schon mit so viel guten Wünschen überschüttet. Ich danke Ihnen.«

Seite an Seite gehen sie zu den Gästen, und Wellhof begrüßt zunächst die Söhne Kaths, die mit ihren Frauen den Ehrentag der Mutter zu feiern gekommen sind.

Wellhof blickt von den hochgewachsenen Gestalten der Söhne auf Kath und lächelt. »Man traut Ihnen diese Männer nicht zu, Kath. Zwei verheiratete Söhne, zwei Schwiegertöchter und zwei Enkelkinder.«

Lieselotte und Ilona Landt drängen sich an den Freund ihrer Mutter. Beide liebreizende, zarte Erscheinungen vom Glanz der Jugend überstrahlt – und dennoch kann Kath Land sich neben ihnen behaupten.

Etwas Bezwingendes geht von ihr aus, ein ganz besonderer Charme, womit sie sich Menschenherzen erobert.

Überall wird Wellhof, Kath Landts Verleger, mit Hallo empfangen. Er ist überaus beliebt. Von ihm gehen Ruhe und Sicherheit aus. In geistvoller Art versteht er zu plaudern und die Menschen irgendwie in Bann zu schlagen.

»Zu Tisch bitte!« fordert Kath Landt auf und nimmt selbst den Ehrenplatz an der Tafel ein.

Ihr gegenüber, am anderen Ende der Tafel, sitzt Doktor Wellhof. Rechts und links ihre Söhne Klaus und Dieter mit ihren Frauen, und dann schließen sich die Gäste an.

Kath Landt gibt den beiden Mäd­chen einen Wink, und es wird serviert. Beschwingt und gelöst ist die Stimmung. Den ersten Toast bringt Dieter Landt auf seine Mutter aus. Totenstille liegt über dem kleinen Kreis während dieser zu Herzen gehenden Rede.

»… ein halbes Jahrhundert liegt hinter dir, meine geliebte Mutti. Schwere und schöne Zeiten hast du durchlebt. Eins aber zieht sich wie ein roter Faden durch dein ganzes, arbeitsreiches Leben: In guten Zeiten waren immer eine ganze Menge Menschen um dich herum, die alles Gute selbstverständlich für sich in Anspruch nahmen. Schlug aber das Schicksal einmal zu, dann standest du immer allein und mußtest es dennoch schaffen, weil immer jemand da war, der dich brauchte. Auch wir, deine Kinder, waren nicht immer zur Stelle und haben nicht gemerkt, daß du die Tränen nur um uns und um unseren geliebten, leider viel zu früh verstorbenen Vati vergossen hast. Verzeih uns, liebe Mutti, wenn wir dir einmal böse, ungerechte Worte gegeben haben. Du hast sie nie verdient. Du warst uns immer eine gute Mutter und hast uns zu aufrechten Menschen erzogen. Dafür danken wir dir, deine Kinder, geliebte Mutti –«

»Dieter!« flüstert Kath Landt, bis ins Herz ergriffen, und Tränen laufen ihr über die Wangen.

»Auch für die Werke, die du in fünf­undzwanzigjähriger Tätigkeit gebracht hast, muß man dir danken. Wieviel Lebenswahrheiten hast du in deinen Romanen verewigt und so viel Menschen gezeichnet, an denen man sich ein Beispiel nehmen sollte. Wir wünschen dir von ganzem Herzen noch recht viele Jahre Schaffenskraft und Gesundheit.«

Jeder ist tief beeindruckt von Kaths Ältesten und seiner Rede. Als er sich erhebt und seine Mutter innig küßt und sein Glas gegen das ihre klingen läßt, erheben sich auch die anderen Gäste.

Kath Landt ist hilflos ihren Gefühlen preisgegeben. Sie kann kein Wort über die zitternden Lippen bringen.

Auch Doktor Wellhof tritt an die heimlich geliebte Frau heran. Er beherrscht sich meisterhaft. Er kennt den Kampf dieser Frau wie kein anderer, und er hat sie herausgeführt aus Not und Sorgen und ihr zu einer freien künstlerischen Entfaltung verholfen, ohne eigene Wünsche oder einen Anspruch auf ihre Persönlichkeit.

»Und nun kommt meine Überraschung, Kath«, sagt er, und seine hellen Augen ruhen innig in ihren weit geöffneten Augen, Augen, die wie der Spiegel ihrer Seele sind und alle Empfindungen in sich tragen.

Die Gäste gehen hinüber in den Salon, wo bereits der Mokka serviert ist, und nehmen in den bequemen Sesseln Platz. Doktor Wellhof läßt sich das sorgsam gehütete Paket bringen und macht sich an der Musiktruhe zu schaffen.

»Schuberts Unvollendete, liebe Kath«, erklärt er über die Schulter hinweg. Ein leises Raunen, ein Räuspern und Stühlerücken und dann feierliches Schweigen. Wellhof hat sich in den Hintergrund zurückgezogen. Sein warmer, gütiger Blick sucht Kath, und im selben Augenblick schaut sie zu ihm hinüber.

Ein süßer Schreck erfüllt sie. Mein Gott! Er liebt mich! Was in seinen Augen liegt, ist Liebe. Ihr Herz beginnt wie rasend zu arbeiten.

Aber da erklingt Schuberts Musik. Eine machtvolle, aufwühlende, leidenschaftliche Musik, eine Musik der Sehnsucht, ein impulsives Aufbegehren, dann ein Abgleiten in die sphärenhaftesten Töne, ein Anflug von Resignation und immer wieder dieses Aufbäumen, wie ein Nichtbegreifenwollen, wie eine verzweifelte Anklage an das Schicksal, das sich zur Tragik auswirken will.

Schuberts h-Moll-Sinfonie rauscht an den Ohren Kaths vorüber. Ihre Schicksalsmelodie – die Sinfonie ihres Lebens.

Und allmählich legt sich ein Schleier über all die Dinge um sie herum. Alles versinkt. Nur noch die Töne sind da, Töne, die sie ergreifen und aufwühlen, die ihr Herz erzittern lassen und die sie dennoch ruhig machen.

Langsam rauscht die Sinfonie ihres Lebens an ihr vorüber…

*

»Mama, bitte, Mama, laß mich Musikunterricht nehmen. Ich muß Klavierspielen lernen«, stößt die zwölf­jährige Kathrin leidenschaftlich hervor. Sie ist ein sehr impulsives, leicht aufbegehrendes Kind, das auf der anderen Seite durch die Liebe sehr gut zu leiten ist. Helene Willm erschrickt vor der Heftigkeit, mit der Kathrin ihre Hände umschlingt und bittet und fleht.

»Kath, ich bitte dich!« Helene Willm nimmt den Kopf ihres Kindes zwischen ihre Hände. Leicht drückt sie einen Kuß auf die Kinderstirn, in die wirr das dunkle Haar fällt. Wunderbares Haar, dunkel, mit einem rostbraunen Schimmer.

»Ich habe nur einen einzigen Wunsch, Mama. Ich möchte Klavier spielen. Tag und Nacht denke ich daran, wie wunderbar das sein wird, wenn man all die herrlichen Melodien wiedergeben kann, wenn man Menschen mit Musik zu Tränen rührt.«

»Kind, Kind!« mahnt Helene Willm beschwichtigend. »Du vergißt, daß wir kein Instrument haben. Selbst wenn ich dir Unterricht erteilen ließe. Wo willst du üben?«

Mutlos läßt Kath den Kopf sinken. Das sieht sie ein. Es sind unmögliche Widerstände zu überwinden. Man schreibt das Jahr 1918, man hat einen langen Krieg verloren. Man kämpft immer noch um die notwendigsten Dinge des täglichen Lebens. Und da spricht sie von der Anschaffung eines Klaviers.

Keinen Blick läßt Helene Willm von den sprechenden Kinderaugen. Es tut ihr weh, daß sie ihm diesen sehnlichen Wunsch nicht erfüllen kann.

Sie schiebt etwas von sich. »Ich mache dir einen Vorschlag, Kind. Wir gehen zu Onkel Paul. Er versteht etwas mehr von Musik als wir alle zusammen. Er soll mich beraten. Einverstanden?«

Wie Rauhreif fällt es Kath auf die junge Seele. Ausgerechnet zu Onkel Paul, zu dem sie noch bis vor kurzem »Sie« gesagt hat, so viel Respekt hat er ihr eingeflößt, und er ist doch Mamas Bruder.

Trotzdem sagt sie ergeben: »Wie du willst, Mama.«

Kath sieht die Erfüllung ihres einzigen Wunsches in weite, weite Ferne gerückt. Niemals wird Onkel Paul Mama unterstützen oder ihr irgendwie behilflich sein.

Als sie sich dem Eingang des großen schönen Hauses nähern, das Direktor Paul Möckel mit seiner Familie allein bewohnt und in dessen Erdgeschoß sich seine Büroräume befinden, da wird ihr Schritt immer zögernder. Zuletzt muß die Mutter sie am Arm ins Haus schieben.

»Nun sei nicht so schüchtern, Kath. Onkel Paul frißt dich nicht«, weist sie die Tochter zurecht. Seufzend steigt Kath die Treppe ins erste Stockwerk hinan.

Tante Grete empfängt sie mit herzlicher, vornehmer Zurückhaltung. Sie ist nicht hochmütig. Es ist so ihre Art, denn sie hat ein gutes, warmempfindendes Herz. Die beiden Kusinen Erni und Leni und der Vetter Horst spielen im Kinderzimmer. Im Wohnzimmer drückt Kath sich scheu in die ­Ofenecke, aus der sie die Mutter fast mit Gewalt herausziehen muß, so sehr fürchtet Kath sich vor den durchdringenden blauen Augen des Onkels.

»Du willst also ein Klavier haben?« sagt er, und um den ausdrucksvollen, schöngeschwungenen Mund steht ein kleines Lächeln. Das macht ihn Kath sehr sympathisch.

Die Kehle ist ihr wie zugeschnürt. Nur heftig zu nicken vermag sie. Aber kein Wort der Unterhaltung zwischen Onkel und Mama entgeht ihr.

»Ja, liebe Helene, das ist gar nicht so einfach, ein Klavier zu beschaffen, in einer Zeit, wo man glücklich ist, einen warmen Mantel zu besitzen. Da könnte auch Hans nichts ändern, wenn er aus der Gefangenschaft zurückgekehrt wäre –«

Er verstummt, denn er sieht, wie sich ein Schatten auf Mamas Züge legt. Tröstend setzt er hinzu: »Er wird bald wieder bei euch sein. Es kommen ja täglich Gefangenentransporte zurück. Als Mitglied des Roten­-Kreuz-­Komitees erfahre ich zuerst die Ankunft der Züge.«

»Ja – und was machen wir mit Kath?« bringt Mama den Bruder auf den eigentlichen Zweck ihres Besuches zurück.

»Ja, was machen wir da«, überlegt Onkel Paul und betrachtet Kath prüfend.

Eine Weile denkt er nach, und dann glaubt er eine Lösung gefunden zu haben. Er neigt sich etwas vor. »Laß doch Kath Unterricht geben, Helene. Sie kann bei mir üben. Vielleicht kannst du auch mit dem Lehrer ein Abkommen treffen, daß sie bei ihm hin und wieder üben kann. Zuerst wollen wir einmal sehen, ob es nicht nur eine vorübergehende Laune von Kath ist.«

Kaths Herz beginnt hoffnungsvoll zu klopfen. Er rät Mama nicht ab? Vielleicht ist er gar nicht so unzugänglich, wie sie immer geglaubt hat? Wie kann sie auch wissen, daß Paul Möckel als Kunst-Mäzen einen Namen hat, daß er als guter Tenor Vorsitzender von vielen Vereinen ist?

In Kath verwirrt sich alles. Sie soll Unterricht haben? Herrgott, ihr heißester Wunsch soll in Erfüllung gehen?

Zum Abschied streicht Paul Möckel ihr über das rostbraune Haar.

»Mal sehen, Kath, ob du es dir nicht anders überlegst. Wenn du die Musik wirklich so sehr liebst, dann werde ich auch dafür sorgen, daß du ein Instrument bekommst.«

Kath stolpert mit vor Freude bebenden Gliedern hinter Mama die Treppen hinab. Auf der Straße sprudelt es förmlich aus ihr heraus

»Ich werde es euch beweisen, Mama. Ich werde üben – üben – üben –«

»Na, na, abwarten«, dämpft Helene Willm den Überschwang ­Kaths.

Kath bekommt keinen Lehrer, aber eine tüchtige Lehrerin, jung noch, voll Verständnis, und mit dem Rüstzeug einer guten Pädagogin ausgestattet.

Helene Willm erklärt der jungen sympathischen Frau, bei der Kath den ersten Unterricht haben soll, wie die Verhältnisse liegen. Der Gatte noch in amerikanischer Gefangenschaft. Kein Instrument im Hause. Aber Kaths nimmermüde Sehnsucht habe sie veranlaßt, diesen ungewöhnlichen Weg einzuschlagen, nämlich, dem Kind zuerst Unterricht geben zu lassen, sozusagen als Prüfung.

Und Kath bestand die Prüfung glänzend. Nach einem Vierteljahr spielt sie schon Chopin. »Sie hat eine große Begabung«, sagt die Lehrerin zu Helene Willm, die sich von Zeit zu Zeit nach den Fortschritten erkundigt. »Es ist erstaunlich, mit welcher Zähigkeit sich Kath hinter ihre Übungen klemmt. Ich habe meine helle Freude an dem Kind. Sie müssen dafür sorgen, daß sie ein Instrument bekommt. Es ist zu schwierig für sie, immer umherzulaufen, um sich die Zeit zum Üben bei Freunden und Bekannten abzubetteln.«

Die Lehrerin, die gleichzeitig die Vertraute Kaths geworden ist, schüttelt lächelnd den Kopf.

»Was meinen Sie, wo Kath überall übt. Sie selbst hat mir erklärt, sie sei der Schrecken der Nachbarschaft geworden. Sie laufe überall hin und frage nach, ob sie irgendwelche Wege abnehmen könne. Am meisten natürlich diejenigen, die sie zu denen treibt, die ein Klavier besitzen. Und von da an ist keiner mehr vor Kath sicher. Sie übt und übt. Nur so ist der erstaunliche Fortschritt zu erklären. Dazu kommt natürlich die große Begabung.«

Helene Willm ist sprachlos, und zugleich reift ein Entschluß in ihr.

An einem der nächsten Tage fordert sie Kath auf, sich recht sorgfältig anzuziehen.

»Wir besuchen Onkel Paul«, sagt sie, und zitternd schlüpft Kath in ihr Sonntagskleid. Sie ahnt, was Mama mit ihr vorhat, wagt aber keine Frage.

»Paul ist sehr beschäftigt«, müssen sie von Grete Möckel hören. »Wer weiß, wann er heraufkommen kann.«

»Wir warten«, sagt Helene Willm resolut. »Paul soll Kath einmal hören.«

Die Damen unterhalten sich leise, und Kath sitzt still dabei, die Hände im Schoß verschlungen, die Augen unentwegt auf das Klavier gerichtet. Plötzlich gleitet sie von ihrem Stuhl, öffnet leise den Deckel und beginnt aus dem Kopf zu spielen.

Auf einmal ist es still im Zimmer. Helene Willm, die ihr Kind erstmals richtig spielen hört, ist bis ins Herz ergriffen.

Lautlos erhebt Grete Möckel sich, schaltet die Sprechanlage ein, die hinunter ins Büro ihres Mannes läuft und nimmt ihren Platz wieder ein. Keine fünf Minuten sind vergangen, da wird die Tür aufgerissen, und Paul Möckel steht im Zimmer.

»Spiel weiter, Kath«, sagt er mit rauher Stimme, und Kath dreht sich wieder um. Sekundenlang zögert sie, dann spielt sie Chopin. Sie spielt, wie sie nie gespielt hat, sie spielt, als gälte es, ihr Leben zu retten.

Als sie geendet hat, legt sich ihr eine Hand auf die Schulter, und sanft dreht Onkel Paul sie zu sich herum.

»Du hast mir eine riesengroße Freude gemacht, Kath. Du mußt ein Instrument haben, hörst du, Kleines. Paß auf, Kath. Noch heute setze ich mich mit Clemens Berndt in Verbindung. Er muß ein Klavier beschaffen.«

Kaths Augen, diese großen, verträumten Kinderaugen, schwimmen vor Freude in Tränen.

»Wirklich, Onkel?« flüstert sie.

»Ganz bestimmt, Kath. Du bekommst dein Klavier.« Der Onkel ist lebhaft und aufgeschlossen wie noch nie, und immer zieht er Kath mit ins Gespräch, die plötzlich gar keine Scheu mehr vor dem Onkel hat.

Dann wandern sie heim. Kath drückt sich innig an die Mutter. Ihr Herz ist so voll, daß der Mund übersprudelt.

Aber es folgt eine aufreibende Zeit.

Kath hat nun schon ein halbes Jahr Unterricht, aber immer noch läuft sie sich die Füße wund, um zum regelmäßigen Üben zu kommen.

Traurig sitzt sie der Mutter am Tisch gegenüber. Die beiden kleineren Geschwister, beides Mädchen, spielen. Helene Willm läßt keinen Blick von dem blassen Gesicht ihrer Tochter Kath.

»Hör mal, Kind. Ich hätte dir einen Vorschlag zu machen«, bricht sie das Schweigen. »Geh selbst zu Herrn Berndt. Die Adresse haben wir. Such ihn in seiner Villa auf. Versuch selbst, mit ihm zu reden.«

Ungläubig sind die großen dunklen Augen Kaths auf die Mutter gerichtet. Helene Willm weiß, wie sehr diese sprechenden Kinderaugen an das Herz der Menschen rühren können. Darauf baut sie ihren Plan auf.

»Du meinst – ich – sollte…« Kath wagt nicht zu Ende zu sprechen. Die Mutter ist von einer seltenen Betriebsamkeit und reißt Kath einfach mit. Sie schleppt die Sonntagssachen herbei, hilft Kath beim Umziehen und schiebt sie einfach zur Tür hinaus. Vollgestopft mit Ermahnungen, Ratschlägen und tröstenden Worten macht Kath sich auf den Weg.

Als sie vor der prächtigen Villa Clemens Berndt steht, will sie aller Mut verlassen. Es ist ein rauher, unwirscher Novembertag.

Kath sieht die vornehme Villenstraße hinauf und hinunter. Weglaufen – denkt sie!

Aber dann hat sie den Finger schon auf die Klingel gelegt. Lautlos öffnet sich das Tor, und sie steht in einer warmen Halle. Ein Mädchen, freundlich und adrett gekleidet, erkundigt sich nach ihren Wünschen.

»Kann ich Herrn Berndt sprechen?« Kaths Stimme ist wie ein Hauch.

»Herr Berndt ist beschäftigt.«

Riesengroß werden die dunklen Augen in dem schmalen Kindergesicht.

»Nicht zu sprechen?« Kaths Herz scheint auszusetzen. Aber sie rafft allen Mut zusammen.

»Ich komme von meinem Onkel Paul Möckel.«

»Ach so«, hört sie die Stimme des Mädchens. Der Name Möckel scheint hier einen guten Klang zu haben. »Dann komm mal mit«, wird Kath aufgefordert. »Warte hier. Ich hole dich, wenn der Besucher weggegangen ist.«

»Danke!« Kath macht einen Knicks, nimmt die äußerste Kante des angebotenen Sessels ein und schaut sich staunend um.

Auf einmal ruckt sie empor. Musik erklingt. Eine Meisterhand spielt. Sie weiß nicht, was gespielt wird, sie lauscht und lauscht. Sie trinkt die Töne in sich hinein. Und ohne, daß es ihr recht bewußt wird, geht sie der mächtigen, sie aufwühlenden Musik nach.

So spielen zu können, muß das Herrlichste auf Erden sein!

Sie sieht nicht den Mann im weißen Haar, der abseits sitzt und dem Spiel des Künstlers aufmerksam zuhört.

Selbst als der letzte Ton verklungen ist und noch leise im Zimmer schwingt, findet sie sich noch nicht in die Wirklichkeit zurück. Erst als sie eine tiefe Männerstimme hört, schreckt sie zusammen.

»Sie haben die Unvollendete meisterhaft gespielt, Klüglich.«

Sie will davonlaufen. Aber sie ist wie angewurzelt. Ein Seufzer entflieht ihren Lippen, und die beiden Herren sehen sich nach ihr um, entdecken Kath und sehen sie verwundert an.

Der Mann mit weißem Haar macht ein paar Schritte auf sie zu.

»Wen haben wir denn da?«

Kath bringt keinen Laut hervor. Sie gibt sich Mühe, Worte zu formen. Die Stimme versagt ihr einfach den Dienst.

Clemens Berndt liest in den aufgerissenen Kinderaugen wie in einem aufgeschlagenen Buch. Sanft drängt er Kath tiefer ins Zimmer und zu einem Sessel hin.

»Nun erzähl mir mal, wie du hier hereingekommen bist und wer du bist«, ermuntert der Mann im weißen Haar sie und bleibt abwartend vor ihr stehen.

Kath reibt die eiskalt gewordenen Hände gegeneinander. Zu diesem Mann kann man Vertrauen haben – denkt sie – jetzt muß ich mutig sein. Sie bezwingt alle Scheu, alle Hemmungen und trägt ihre Bitte, ihren Wunsch vor.

Meister Klüglich und Clemens Berndt wechseln verständnisvolle Blicke.

»Du kannst schon spielen?« erkundigt Berndt sich, und Kath nickt heftig.

»Dann komm mal her, Kind«, fordert er sie auf. Gehorsam erhebt Kath sich, geht hinüber zu dem glänzenden Bechsteinflügel, und ehe sie es sich versieht, sitzt sie auf dem Hocker vor dem prächtigen Instrument.

»Nun spiele«, hört sie Clemens Bernd sagen. »Spiele, was du magst. Oder brauchst du Noten? Die sind auch vorhanden. Wie lange, sagst du, hast du bereits Unterricht?«

»Ein halbes Jahr.«

Wieder wechseln die Herren einen Blick, diesmal liegt etwas wie Enttäuschung darin. Aber das bemerkt Kath nicht. Sie sitzt vor dem Flügel. Sie möchte über das glänzende polierte Holz streichen. Aber sie wagt es nicht. Zaghaft zuerst legt sie die Hände auf die Tasten, ein Mißton klingt auf, der sie erschreckt und die beiden zuhörenden Herren mitleidig lächeln läßt.

Dann vergißt sie alles um sich herum. Der Raum versinkt. Die beiden Männer sieht sie nicht mehr. Sie weiß auch nicht mehr, weshalb sie den Weg hierher gemacht hat. Sie hört nur die Klänge, die der Flügel unter ihren Händen von sich gibt.

Alles, was ihr einfällt, spielt sie, Sinding, Schubert, Chopin, mit einem so beseelten Vortrag, daß die beiden Männer den Atem anhalten.

Dann läßt sie die Hände sinken. Kein Laut ist zu hören. Noch ist der stimmungsvolle Raum mit Tönen erfüllt, und keiner wagt dieses Nachklingen zu zerstören.

Sanft legt sich eine Hand auf ihre Schulter.

»Du bekommst ein Klavier, Kind, das verspreche ich dir«, hört sie Clemens Berndt sagen, und damit ist sie der Wirklichkeit zurückgegeben.

»Und ich gebe dir weiteren Unterricht«, schließt der Pianist Hans Klüglich sich Berndts Worten an.

Wie Kath das prächtige Haus verlassen hat, weiß sie hinterher nicht mehr zu sagen. Sie spürt nicht den Regen, der ihr in das Gesicht schlägt. Auch der Wind, gegen den sie tapfer ankämpft, kann ihr nichts anhaben.

Zerzaust, durchnäßt, aber mit glühenden Wangen und übergroßen, strahlenden Augen fällt sie ihrer Mutter in die Arme.

»Ich bekomme ein Klavier, Mama. Ich bekomme ganz bestimmt eins. Ach, ich bin so glücklich.«

In den Armen ihrer Mutter weint sie vor Glück und Freude.

*

Die Zeit vergeht und mit ihr der November. Der erste Schnee flattert vom Himmel.

Kath kommt durchfroren, hungrig und müde vom Musikunterricht heim.

»Wie gut, daß du da bist, Kath«, wird sie von ihrer Mutter begrüßt. »Du mußt schnell zum Kaufmann gehen. Es gibt Bonbons ohne Marken. Die können wir so nötig für das Weihnachtsfest brauchen.«

Kath reibt fröstelnd die Hände aneinander. »Aber Mama, kann denn nicht einmal Wally gehen? Ich bin eiskalt. Meine Füße zerspringen fast.«

Die Frage, ob Onkel Paul oder Clemens Berndt etwas von sich hören lassen hat, stellt sie schon gar nicht mehr. Sie fürchtet sich vor dem grausamen »Nein«.

»Kath«, drängt hinter ihr die Mutter. »Sei doch nicht so bockig. Wärm dich ein bißchen auf, und dann lauf. Du bekommst immer mehr als Wally.«

Kath hält die klammen Finger über die Herdplatte. Noch herrscht Kohlenmangel, und man muß froh sein, wenn die Küche wohlig durchwärmt ist. Als sie fühlt, wie die Wärme von den Händen sich langsam über den ganzen Körper verteilt, sagt sie:

»Gut, Mama, ich laufe schnell.«

Sie ist ein sehr williges, gutmütiges Kind. Sie nimmt nicht die Erregung der Mutter wahr. Auch die vor Neugier funkelnden Augen ihrer beiden Schwestern bemerkt sie nicht.

»Wo ist das Geld, Mama?«

Helene Willms sucht im Schrank und wendet sich mit einem Seufzer an sie. »Ach, jetzt habe ich doch das Geld im Herrenzimmer eingeschlossen. Geh, Kath. In Vatis Schreibtisch im linken Fach liegt meine Börse.«

Kath eilt aus dem Zimmer über den Flur, der im Dunkeln liegt, denn man muß Licht sparen, und reißt die Tür zum Herrenzimmer auf.

Wie angenagelt bleibt sie stehen.

Nein! Nein! Das ist doch nicht möglich! Sie reibt sich über die Augen. Das ist ein Traum, ein wunderschöner Traum, der sogleich in Nichts zerrinnen wird. Aber das Bild löst sich nicht auf. Dort steht wirklich und wahrhaftig ein Klavier, ein wunderschönes, neues schwarzglänzendes Klavier, dessen Politur die gegenüberliegenden Gegenstände widerspiegelt.

»Mama!« Das ist ein Schrei aus einem übervollen Herzen. Helene Willm, die beiden Schwestern, Nachbarn und Hausbewohner drängen sich hinterher. Sie alle wollen Kaths Freude miterleben, die große Überraschung.

»Ist das wirklich mein Eigentum, Mama?« Immer wieder stellt Kath diese Frage, und Helene kann nur nicken.

Kath streicht mit behutsamen Händen über das Holz, immer wieder. Mein Klavier – denkt sie! Ich kann spielen, wenn ich Lust habe.

Und dann schlägt sie den Deckel zurück und beginnt zu spielen. Und alle lauschen sie, sind mäuschenstill und wagen sich nicht zu rühren, während ein dreizehnjähriges Menschenkind die große, die übergroße Freude vom Herzen spielt.