Geliebte, bezaubernde Amelie - Karin Bucha - E-Book

Geliebte, bezaubernde Amelie E-Book

Karin Bucha

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Beschreibung

Karin Bucha ist eine der erfolgreichsten Volksschriftstellerinnen und hat sich mit ihren ergreifenden Schicksalsromanen in die Herzen von Millionen LeserInnen geschrieben. Dabei stand für diese großartige Schriftstellerin die Sehnsucht nach einer heilen Welt, nach Fürsorge, Kinderglück und Mutterliebe stets im Mittelpunkt. Karin Bucha Classic ist eine spannende, einfühlsame geschilderte Liebesromanserie, die in dieser Art ihresgleichen sucht. »Professor Martens bitte nach OP 1!« In kurzen Abständen wird die Durchsage wiederholt. »Professor Martens bitte nach OP 1!« Martens hebt den Kopf von seiner Arbeit. Soeben hat er noch etwas Müdigkeit bei der Abfassung des Berichtes für die Fachzeitschrift »Der Arzt« gespürt. Er schiebt die Arbeit von sich und eilt davon. Nichts mehr vor Müdigkeit spürt er. Er wird gebraucht. Irgendein Mensch braucht seine ärztliche Hilfe. Im Vorraum zum Operationssaal findet er seinen Oberarzt Dr. Lenz, den Narkosearzt und Assistenzarzt Dr. Berthold beim Händewaschen. Er stellt sich neben sie an das freie Becken und läßt das Wasser über seine Hände laufen. »Ein Unfall?« »Ein Unfall, ja. Irgendein Idiot hat ein junges Mädchen angefahren. Ich vermute Milzverletzung. Operation eilt jedenfalls. Bluttransfusion habe ich bereits angeordnet.«

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Karin Bucha Classic – 52 –

Geliebte, bezaubernde Amelie

Karin Bucha

»Professor Martens bitte nach OP 1!«

In kurzen Abständen wird die Durchsage wiederholt.

»Professor Martens bitte nach OP 1!«

Martens hebt den Kopf von seiner Arbeit. Soeben hat er noch etwas Müdigkeit bei der Abfassung des Berichtes für die Fachzeitschrift »Der Arzt« gespürt.

Er schiebt die Arbeit von sich und eilt davon. Nichts mehr vor Müdigkeit spürt er. Er wird gebraucht. Irgendein Mensch braucht seine ärztliche Hilfe.

Im Vorraum zum Operationssaal findet er seinen Oberarzt Dr. Lenz, den Narkosearzt und Assistenzarzt Dr. Berthold beim Händewaschen.

Er stellt sich neben sie an das freie Becken und läßt das Wasser über seine Hände laufen. Dabei erkundigt er sich:

»Ein Unfall?«

»Ein Unfall, ja. Irgendein Idiot hat ein junges Mädchen angefahren. Ich vermute Milzverletzung. Operation eilt jedenfalls. Bluttransfusion habe ich bereits angeordnet.«

»Sehr gut, danke«, erwidert der Professor in seiner knappen Art, an die sich seine Mitarbeiter längst gewöhnt haben. Sie alle bewundern ihn restlos, sein Können, sein unermüdliches Ringen um jedes Menschenleben, das ihm anvertraut wurde.

Wenig später steht jeder an seinem Platz.

Und dann operiert der Professor. Kaum ein Laut außer dem leisen Klirren der zurückgelegten Instrumente und den knapp gegebenen Befehlen ist hörbar in dem grüngekachelten weiten Raum, der mit allen Neuerungen ausgestattet ist.

Der Oberarzt und die Operationsschwester haben wieder einmal Gelegenheit, die souveräne Ruhe des Professors zu bewundern. Sie überträgt sich auf den gesamten Mitarbeiterstab. Professor Martens operiert schnell und sicher.

Manchmal trifft ein schneller Blick den Narkosearzt, und dieser nickte beruhigend.

Keiner blickt auf die elektrische Uhr. Sie stehen ganz im Bann der meisterhaft geführten Operation. Sie erwachen erst daraus, als sie das erlösende: »Fertig!« hören.

In diesem Augenblick zieht Dr. Lenz das Tuch vom Gesicht der Verunglückten. Während ihm Schwester Karla das Mundtuch und den Kittel abnimmt, hat er Zeit, in das süße Mädchengesicht zu blicken. Über einer hohen, klugen Stirn bauschen sich tiefschwarze kurze Locken. Etwas rüh­rend Hilfloses liegt über der stillen Gestalt.

Nachdenklich kehrt er in den Waschraum zurück. Auch die anderen Ärzte folgen ihm nach und nach, während die Oberschwester mit Schwester Karlas Hilfe die Operierte aus dem Operationssaal schiebt.

Wie alle Frischoperierten fahren sie das junge Mädchen in das für diese Zwecke bereitstehende Einzelzimmer.

Indessen fragt der Professor seinen Oberarzt:

»Wissen Sie den Namen der Verunglückten? Sind Angehörige zu verständigen?«

»Bisher war dazu noch keine Zeit, Herr Professor. Es ging um das Leben der Unbekannten. Aber selbstverständlich erkundige ich mich sofort.«

»Tun Sie das«, fordert der Professor ihn auf. »Ich gehe zu der Operierten. Falls Sie mich brauchen…«

Damit verschwindet der Professor, und der Oberarzt eilt in die Aufnahme, wo das Eigentum des junge Mädchens abgegeben wurde.

Bei Professor Martens’ Eintreten erhebt sich Schwester Karla sofort.

»Wie steht es?«

»Alles normal, Herr Professor.«

Er winkt ab. »Danke. Sie haben Nachtdienst?« Und als sie bejaht, setzt er hinzu: »Sollte ich Sie benötigen, klingle ich.«

»Jawohl, Herr Professor.«

Sie neigt sich zum Nachttisch, um etwas zurechtzurücken, dabei hört sie es in ihrer Tasche rascheln. Leichenblaß fährt sie empor und lehnt sich gegen die Wand.

»Herr Professor«, stammelt sie mit versagender Stimme. »Ich – ich – mir ist etwas Schreckliches passiert.« Sie reicht ihm ein Telegramm, das sie nun schon seit Stunden in ihrer Tasche trägt.

»Was gibt es?« Mit seinem durchdringenden Blick sieht er die Schwester an, so daß sich ihr Mund hilflos öffnet und schließt. »Nun reden Sie schon.«

»Hier – dieses Telegramm – an Sie.« Hier versagt ihr die Stimme. Der Professor nimmt es der Schwester aus der Hand. Sie zittert am ganzen Körper.

Gespannt öffnet und liest der Professor die Depesche.

»ankomme mit nachtflugzeug aus paris stop da ortsunkundig erwarte ich abholung stop deine nichte amelie baxter.«

Nichte! Nichte! Die Gedanken wirbeln ihm durch den Kopf. Mein Gott, er hat eine einzige Schwester. Es kann nur Irmgards Tochter sein, die abgeholt sein will. Sein Blick fällt auf Schwester Karla, die keinen Tropfen Blut mehr im Gesicht hat.

»Nun fallen Sie mir bloß nicht in Ohnmacht«, sagt er mit heiserer Stimme. »Erkundigen Sie sich lieber, wann das Nachtflugzeug aus Paris auf dem Flughafen eintrifft.«

Schwester Karla ist so erschüttert über ihre Vergeßlichkeit, daß sie kein Glied zu rühren vermag.

»Sie hatten reichlich viel Arbeit heute, Schwester Karla. Dabei kann man schon einmal etwas vergessen. Kein Mensch ist unfehlbar.«

»Sie nicht, Herr Professor«, platzt sie schwärmerisch heraus. Wo sie einen Anschnauzer erwartet, tröstet er sie noch? Das ist noch nie dagewesen. Sie hetzt davon und wäre draußen beinahe mit dem Oberarzt zusammengeprallt. Kopfschüttelnd sieht er hinter ihr her, wie sie den Korridor entlangfegt.

Hat sie einen Anpfiff bekommen? Sah ganz danach aus. Dabei ist sie ein so lieber, hilfsbereiter Kerl, der alles tut, um die Ärzte und die ihr anvertrauten Kranken zufriedenzustellen.

Er unterdrückt einen Seufzer und betritt das Krankenzimmer.

Martens dreht sich um und winkt Dr. Lenz zu sich heran.

»Etwas gefunden?« erkundigt er sich. Das Telegramm dreht er nervös in seinen Händen. »Geben Sie her. Und bitte, wissen Sie zufällig, wann das Nachtflugzeug aus Paris hier eintrifft?«

Der Oberarzt wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. »Jetzt ist es gleich vier Uhr morgens. Es ist vor vier Stunden schon gelandet.«

Martens bekommt einen Schreck. »Irren Sie sich auch nicht?«

»Gewiß nicht, Herr Professor. Ich habe erst neulich einen Freund von diesem Flugzeug abgeholt.«

»Danke«, würgt Martens hervor, und das ist gleichzeitig die Verabschiedung für Lenz, der sich auch sofort zurückzieht.

Mein Gott, denkt er verzweifelt, jetzt steht das Mädel irgendwo in der Nacht.

Weiter kommt er nicht mit seinen Überlegungen. Schwester Karla taucht auf und bestätigt ihm, was er bereits weiß. Und dann ist er endlich allein. Er sinnt darüber nach, was zu tun ist. Ganz zufällig, geistesabwesend, öffnet er den Paß des operierten Mädchens, den ihm sein Oberarzt mit einem Schreiben überreicht hat. Er starrt wie hypnotisiert auf das Bild im Paß. Das Gesicht gleicht genau dem, das vor ihm in den Kissen liegt. Und nun liest er auch den Namen:

»Amelie Baxter«, leise murmelt er den Namen vor sich hin und überfliegt auch die übrigen Eintragungen.

Immer wieder vergleicht er das Foto. Gütiger Himmel! Vor ihm liegt seine Nichte, die ihm ihr Kommen durch das Telegramm angekündigt hatte!

Wieder wird er gestört. Ärgerlich blickt er auf.

»Verzeihen Sie, Herr Professor«, flüstert Dr. Lenz, »daß ich noch einmal stören muß. Unten in der Halle sitzt ein Mann. Er ist völlig durcheinander. Beinahe wäre er mir unter den Händen weggesackt. Er behauptet, er habe den Unfall verschuldet. Er gehe nicht eher, bevor er wisse, wie es um die verletzte Frau steht. Er möchte Sie unbedingt sprechen.«

Kalte Wut steigt in Martens auf. Sicher ist der Mann betrunken, denkt er und erhebt sich.

»Bleiben Sie solange hier. Ich mache es so kurz wie möglich.«

Den an ihn gerichteten Brief und den Paß steckt er in die Tasche seines Kittels.

Kaum hat er die Flügeltür geöffnet, schnellt aus einem der Sessel ein Mann in die Höhe und stürzt sich förmlich auf Martens.

»Mein Name ist Ernst Stewing, Rechtsanwalt und Notar. Darf ich Ihnen eine Erklärung geben?«

Martens Gesichtsausdruck ist verschlossener denn je.

»Ich bitte darum.«

Forschend mustert Martens den Anwalt. Er wirkt sympathisch.

»Die baumbestandene Straße war menschenleer. Aus der Ferne kam mir ein Wagen mit aufgeblendeten Scheinwerfern entgegen und hielt auf der linken Seite. Ich war etwas geblendet, sah aber trotzdem einen Schatten vor meinen Wagen huschen; und dann merkte ich, ich hatte jemanden zu Fall gebracht. Ich stieg aus, erkannte eine Frau, die leblos vor mir lag, und alarmierte sofort den Pförtner dieses Krankenhauses. Gemeinsam brachten wir die Verletzte hierher. Der Wagen war inzwischen weggefahren. Vermutlich war es ein Taxi, aber genau kann ich das nicht sagen.«

»Hatten Sie Alkohol getrunken?« forscht Martens kühl.

»Keinen Tropfen. Hinter mir lag eine stundenlange Konferenz. Ich gebe zu, etwas müde gewesen zu sein.«

»Trotzdem muß ich Sie bitten, sich einer Blutprobe zu unterziehen.«

Der Rechtsanwalt bejaht heftig. »Selbstverständlich bin ich dazu sofort bereit.«

»Gut«, entscheidet Martens, und ihm ist genauso elend zumute wie dem Mann, der Amelies Unfall verschuldete. Trägt er nicht ebensoviel Schuld? Wäre Amelie, die Tochter seiner einzige Schwester, abgeholt worden –! Nein! So weit darf er nicht denken. Nicht einmal Schwester Karla kann er dafür verantwortlich machen. Eine Verkettung unglücklicher Zufälle, wie es sie so oft im Leben gibt. Er fühlt den abwartenden Blick des Anwalts und reißt sich zusammen. »Warten Sie hier. Ich schicke meinen Oberarzt. Er wird die Sache erledigen. Gute Nacht – oder vielmehr guten Morgen«, verbessert er sich und wendet sich der Flügeltür zu. Im Nu steht der Mann wieder neben ihm und ergreift seinen Arm. »Die Hauptsache haben Sie mir noch nicht gesagt, Herr Professor. Ich hätte gern gewußt, wie es Ihrer Patientin geht und ob ich etwas für sie tun kann.«

Martens verhält den Schritt. »Es wird alles getan, dessen können Sie versichert sein. Auch wenn die junge Dame nicht zufällig meine Nichte wäre. Guten Morgen!«

Entgeistert sinkt Rechtsanwalt Stewing in den nächsten Sessel. Gütiger Gott, die Nichte des berühmten Professors ist ihm vor den Wagen gelaufen! Was wird sich alles für ihn Unangenehmes daraus entwickeln? Sehr zugänglich war dieser Professor nicht.

Als er sich einigermaßen gesammelt hat, taumelt er zu dem Glasverschlag mit dem Schild »Anmeldung«.

»Halt!« Erschreckt fährt er herum. Richtig, die Blutprobe.

Er geht dem Oberarzt entgegen. »Jetzt wäre ich Ihnen bald davongelaufen«, sagt er und wirft einen unsicheren Blick auf den Oberarzt. Doch der lächelt verständnisvoll.

»Sie stehen immer noch unter der Schockeinwirkung. Kommen Sie bitte mit.«

Stewing folgt dem Arzt.

*

Nachdem Martens noch einmal Blutdruck und Puls kontrolliert hat und alles in Ordnung fand, zieht er endlich den Brief aus der Tasche, öffnet ihn und liest:

Lieber Bruder Matthias!

Wenn Amelie, meine Tochter, Dir diesen Brief aushändigt, bin ich längst unter der Erde. Meine Zeit ist bemessen, deshalb die Kürze. Doch mein Rechtsanwalt Ben Allison besitzt ein umfangreiches Schreiben von mir, eine Art Lebensbeichte, die er Dir, wenn er all meinen Besitz veräußert hat, senden will. Er ist ein jahrelanger Vertrauter und dieses Vertrauens würdig. Mein Mann, Tom Baxter, war sehr wohlhabend. Amelie hätte ein Leben in Luxus führen können. Sie wollte es nicht. Sie hat Medizin studiert und zwei Jahre unter dem berühmten Professor Kelly gearbeitet.

Nimm sie bei Dir auf, lieber Matthias, ich bitte Dich von Herzen darum. Amelie soll die Geborgenheit meines Elternhauses kennenlernen und – vielleicht kann sie auch bei Dir als Kinderärztin arbeiten.

Ich segne Dich aus der Ferne,

Deine Schwester Irmgard Baxter.

»Irmgard tot«, murmelt Matthias Martens fassungslos vor sich hin. Seine Mutter hat er zärtlich geliebt. Mit seinem Vater verband ihn ein inniges Verhältnis, aber Irmgard, seine um zehn Jahre ältere Schwester, liebte er abgöttisch. Alles war sie ihm, dem damals fünfzehnjährigen Junge, der beste Kamerad, den er sich überhaupt denken konnte.

Als er einst aus den mit heißer Sehnsucht erwarteten Ferien heimgekehrt war, hatte er alles wie ausgestorben in seinem Elternhaus vorgefunden. Alle waren sie verändert, die Mutter, der Vater. Irmgard war aus dem Elternhaus geflohen, war dem Mann ihrer Liebe gefolgt, den seine Eltern abgelehnt hatten, weil er Rennfahrer war.

Jeder verschloß sich vor dem anderen, und von da an war er innerlich vereinsamt. Er hatte sich wie besessen auf sein Studium geworfen. Irmgards Flucht lag heute noch wie ein Schatten über seinem Dasein.

Und nun lag Irmgards Tochter vor ihm. Wird er sie dem Tod entreißen können? Jede Minute, die er an diesem Bett verbringt und auf das Erwachen wartet, wird ihm zur Qual.

Immer wieder drehen sich seine Gedanken im Kreise. Irmgards Tochter – meine Nichte!

Aber er spürt eine heftige Abneigung gegen diese Nichte, die ihm seine Schwester so warm ans Herz legt, denn er kann sie nur als Eindringling betrachten. Sie wird ihn stören. Sie wird alle seine liebgewonnenen Gewohnheiten über den Haufen stoßen. Babette, seine Haushälterin, jahrelang erprobt, stellt ihm nie überflüssige Fragen, ob er nun heimkommt oder im Krankenhaus übernachtet. Sie nimmt alles gelassen hin, aber fast unsichtbar wirkt sie wie ein guter Engel im Haus und sorgt für sein Wohlbefinden.

Nun wird das mit einem Schlage alles anders sein. Er wird fortan für einen Menschen die Verantwortung tragen, der ihm einfach aufgezwungen wurde.

Er sucht in dem außergewöhnlich liebreizenden Gesicht – so ehrlich ist er, es sich zuzugeben – nach einer Ähnlichkeit mit seiner Schwester und kann sie nicht finden. Sicher ähnelt sie ihrem Vater.

Was für einen Charakter hat sie? Wird er mit ihr auskommen? Fragen über Fragen stürmen auf ihn ein. Er ist wie erlöst, aus seinen dumpfen Grübeleien durch seinen Oberarzt herausgerissen zu werden.

In seiner lautlosen Art nähert er sich seinem Chef.

»Kein Alkohol im Blut«, berichtet er sachlich. »Ich habe mir die Anschrift des Rechtsanwalts aufgeschrieben. Hier ist sie.«

Inzwischen ist es sechs Uhr morgens geworden. Martens fühlt sie erschöpft. Aber auch sein Oberarzt sieht abgespannt aus. Eigentlich kann er stolz auf seine Mitarbeiter sein. Obwohl er keinem etwas schenkt, sind sie alle sehr anhänglich.

Wenn er auch nicht darüber spricht: Er weiß genau, was er an seinem gutgeschulten Stab von Ärzten und Schwestern hat. Er möchte keinen missen.

»Soll ich Sie ablösen, Herr Professor?« fragt der Oberarzt. Martens lehnt entschieden ab.

»Legen Sie sich lieber ein paar Stunden hin. Ich warte nur das Erwachen der Patientin ab.«

Er sagt nicht »meiner Nichte«. Er kann sich nicht von einer Stunde zur anderen daran gewöhnen, Onkel zu sein.

Wenn es nach ihm ginge, würde keiner erfahren, wer Amelie Baxter ist. Aber es wird schnell durchsickern. In einem so großen Haus spricht sich so etwas schnell herum.

Er ahnt nicht, daß Dr. Lenz bereits von dem Rechtsanwalt Stewing unterrichtet worden ist.

*

Er muß wohl eingeschlafen sein. Schwester Karla geht auf Zehenspitzen durch den Raum, zieht die Vorhänge beiseite und läßt strahlendes Sonnenlicht herein, vor dem Martens die Augen schließen muß. Sie schaltet die Nachtbeleuchtung aus und verschwindet wieder.

Martens blickt auf die Uhr. Jetzt muß Amelie jeden Augenblick erwachen. Gespannt beugt er sich zu ihr hinunter. Die Lider flattern etwas, und dann öffnen sich die Augen. Augen von so intensivem, leuchtendem Blau, daß Martens fasziniert ist.

»Wo – wo bin ich?« flüstert sie.

»Im Annen-Krankenhaus«, gibt er ihr Antwort.

»Ach«, seufzt sie, und die Lider mit den dichten dunklen Wimpern legen sich wieder über die Augen. Minuten vergehen, die Martens mit Spannung durchlebt.

Amelie ist, als würde sie von unsichtbaren Händen aus abgrundtiefer Finsternis ins Helle getragen. Wie kommt sie in das Bett? Und warum ist ihr so sterbensübel?

Sie versucht sich zu erinnern, vermag es nicht und kämpft gegen ihre Hilflosigkeit an.

»Was ist geschehen?« fragt sie stockend, und jedes Wort, das über ihre Lippen kommt, bereitet ihr Schmerzen.

»Du bist vor einen Wagen gelaufen – ich habe dich operiert.« Ganz tief muß Martens sich zu ihrem Ohr neigen, damit sie ihn auch versteht.

»Wagen gelaufen – operiert?« wiederholt sie. Eine steile Falte steht auf ihrer schöngeformten Stirn.

Er legt seine Hand leicht auf die ihre, die unruhig auf der Decke umherirrt.

»Du darfst jetzt nicht so viel nachdenken, Amelie.« Er wundert sich selbst über die Weichheit seiner Stimme. Aber sie ist in diesem Augenblick nichts als seine Patientin, der er Trost zusprechen muß.

»Du –?« Amelie reißt die Augen weit auf und begegnet kühlforschenden grauen Augen.

»Onkel Matthias«, stellt sie fest, und sie umklammert wie hilfesuchend seine Hand. »Das ist gut, sehr gut.«

Rührung will ihn überkommen. Er verbannt das Gefühl tief in sich. Er will nicht weich werden. Er wehrt sich mit aller Kraft gegen den Zauber, der von ihr ausgeht.

Sekundenlang später schläft sie, tief und regelmäßig atmend.

Seine Hand läßt sie nicht los, selbst im Schlaf hält sie sich daran fest, als brauche sie einen Halt.

Er möchte sich aus dem Griff der schmalen Mädchenhand lösen und vermag es nicht. Schlaf ist das beste, was er ihr wünschen kann.

So verharrt er reglos in dieser unbequemen Stellung. Schon manche Nacht hat er am Lager Schwerkranker gesessen, doch niemals mit so widerstreitenden Gefühlen. Sein Mitleid gilt dem Menschen, an dem er alle ärztliche Kunst versucht hat, um sein Leben zu retten; seine Abneigung gilt der Frau, die seine Nichte ist und die in sein Privatleben eindringen will.

*

Aus Schwester Karlas Händen nimmt Dr. Lenz eine Tasse starken Kaffee entgegen.

»War ein arbeitsreicher Tag und eine aufregende Nacht«, beginnt er ein Gespräch, dabei nimmt er Schluck um Schluck von dem belebenden Trank. »Ach, das tut gut«, stöhnt er vor Behagen. »Keiner versteht so guten Kaffee zu kochen wie Sie.«

Die Schwester neigt sich tiefer über den Tisch. Sie ist bis unter die Stirn rot geworden. Jedes Lob aus seinem Mund bringt sie in Verlegenheit. Sie hat ihn sehr gern, den ernsten Arzt mit dem blonden Haar und den tiefblauen Augen.

»Trinken Sie nicht mit?« fragt er erstaunt. Sie schüttelt abwehrend den Kopf.

»Zuerst muß ich dem Professor eine Tasse bringen«, erklärt sie mit abgewandtem Gesicht. »Ich – ich habe viel gutzumachen an ihm und seiner Nichte.«

»Tun Sie das, Schwester Karla«, ermutigt er sie und schaut interessiert zu, wie sie Kaffee in die Tasse schenkt, Zucker und Sahne dazugibt, so wie der Professor es liebt, und sich dann zur Tür wendet. »Ich bin gleich wieder zurück.«

Professor Martens’ Nichte, sinnt Dr. Lenz. So ein Glück im Unglück, ausgerechnet von Martens operiert worden zu sein. Er hätte keinen Pfifferling mehr um ihr Leben gegeben. Nun scheint alles gut zu sein.

Er wartet Schwester Karlas Rückkehr ab. »Was macht die Kranke?« überfällt er sie förmlich.

»Anscheinend alles in Ordnung«, gibt sie mit tiefem Aufatmen zurück. Sie ist durchsichtig blaß, blasser als gewöhnlich.

»Sie dürfen sich die Sache mit dem Telegramm nicht so zu Herzen nehmen.« Er sucht ihren Blick, doch sie weicht ihm beharrlich aus.

»Das sagen Sie so«, erwidert sie schuldbewußt. »Hätte ich das Telegramm nicht vergessen, wäre jemand zum Flugplatz gefahren und hätte die Nichte des Professors abgeholt. Ewig werde ich mir Vorwürfe machen.«

Er hebt leicht die Schultern. »Eines Tages werden Sie darüber hinweggekommen sein. Es geschehen so viele unverständliche Dinge im Leben, die wir einfach mit Zufall bezeichnen. Es kann auch Bestimmung gewesen sein. Was weiß ich.«

Sie schlägt die brennenden Augen voll zu ihm auf. »Sie meinen es gut mit mir. Augenblicklich ist das aber kein Trost für mich. Dieses junge Mädchen muß durch ein Meer von Schmerzen gehen, und ich habe die Schuld.«

»Unsinn, Schwester Karla.« Er erhebt sich aus seiner lässigen Lage und kommt auf sie zu. Er hebt ihr Kinn an und blickt ihr in die tränenverdunkelten Augen. »Kopf hoch, Schwester Karla.« Seine Stimme klingt weich und zärtlich, und ihr klopft das Herz bis zum Halse, als wolle es ihr die Brust sprengen. Sie fühlt, es ist nicht nur eine kollegiale Geste. Es liegt mehr, viel mehr darin. Und das macht sie noch verwirrter, als sie schon ist.

Er gibt sie ebenso rasch frei, wie er ihr Kinn zärtlich umfaßt hat. »Warum wollen Sie päpstlicher als der Papst sein? Wenn der Professor es hingenommen hat, warum wollen Sie sich länger quälen?«

Er blickt auf die Uhr. »Ich bin verteufelt müde, Schwester Karla. In zwei Stunden beginnt mein Dienst wieder. Ruhen Sie sich auch aus. Sie werden sehen, wenn Sie ausgeruht sind, sieht alles ganz anders aus. Guten Morgen!«

»Guten Morgen, Herr Oberarzt«, flüstert sie und sieht seiner aufrechten Gestalt im weißen Kittel versonnen nach.

*

Amelies Genesung macht täglich Fortschritte. Sie träumt in die dunklen schattenspendenden Bäume hinaus, denn inzwischen ist es Sommer geworden.

Sie fühlt sich in der Abgeschlossenheit des Einzelzimmers nicht einsam, sondern in der Obhut der Ärzte geborgen. Immer ist jemand um sie, der sie nach ihren Wünschen fragt. Am allermeisten bemüht sich Schwester Karla um sie. Sie sind richtige Freundinnen geworden. Sie weiß ja nicht, daß Schwester Karla täglich ein Stück von ihrer Schuld an Amelie abtragen will.

Nur ihr Onkel macht sich rar. Sie sieht ihn flüchtig bei den Visiten, er prüft ihren Puls und kontrolliert die Herztätigkeit, nickt zufrieden und verschwindet immer so rasch, daß es ihr mitunter wie eine Flucht vorkommt.

Sie hat längst von Schwester Karla erfahren, wie tüchtig und beliebt ihr Onkel ist. Privat weiß sie kaum etwas über ihn. Darüber will sie sich mit der Schwester nicht unterhalten.

Einmal wird er sie ja aus dem Krankenhaus herausholen, und dann wird sie das Elternhaus ihrer Mutter kennenlernen, das sie fast greifbar vor sich zu sehen glaubt, so viel und so oft hat ihre Mutter davon gesprochen.

In ihr ist heimliche Spannung und ergebene Erwartung. Als Ärztin weiß sie selbst, daß Ungeduld unzuträglich ist.

Und doch schnürt es ihr die Kehle zu, wenn sie ihren Onkel mit verschlossener Miene, sachlich und kühl, an ihrem Bett sieht.

Sie möchte ihm so viel sagen und wagt es nicht. Genau wie er, zieht sie sich zurück und verrät nichts von ihren Wünschen, Empfindungen und dem dumpfen Gefühl, ihm unerwünscht zu sein.

Schwester Karla huscht ins Zimmer. Strahlend legt sie Amelie einen Brief mit fremdländischen Marken auf die Decke.

»Post für Sie, ist das nicht schön?«

»Oh!« Freudig bewegt liest Amelie den Absender: »Dr. Ben Allison.«

Ungeduldig öffnet sie ihn. Den besten Freund hat sie während ihres Krankenlagers ganz vergessen. Ihr Herz schlägt höher. Es ist ein beruhigendes Gefühl, einen Menschen zu haben, der ihr vertraut ist und der ihr vor ihrer Abreise noch mit auf den Weg gegeben hat, sie könne jederzeit zu ihm und in sein Haus zurückkommen.

Amelie liest:

Liebe Amelie!

Meine Frau und ich sind sehr in Sorge um Dich. Kein Telegramm über Deine gute Ankunft haben wir erhalten, überhaupt keine Post. Was ist los? Hast Du Deine alten Freunde vergessen? Hat Dein Onkel Dich freundlich aufgenommen? Wir vermissen Dich sehr, mein Liebes. Unser Haus kommt uns beiden Alten öde und leer ohne Dich vor. Schreibe bitte sofort. Die Veräußerung Deiner Besitzungen geht nicht so schnell voran, wie ich dachte. Ich möchte natürlich für Dich so viel wie möglich herausschlagen, wenngleich Du ein bescheidenes und anspruchsloses Menschenkind bist. Arbeitest Du in Deinem Beruf? Schreib alles über Dich. Wir warten sehr darauf.

Es grüßen Dich von Herzen

Dein alter Ben Allison und Frau.

Vor Heimweh und Rührung steigen Amelie die Tränen in die Augen. Die Allisons waren eigentlich die einzigen Bekannten, mit denen ihre Mutter gute Freundschaft hielt. Nach ihrem Tod, als sie vor Schmerz wie erstarrt gewesen war, hatten sich die Allisons liebevoll um sie bemüht.

Als Schwester Karla ihr das Mittag­essen serviert und die Tränenspuren bemerkt, sagt sie ganz entsetzt:

»Aber Sie dürfen doch nicht weinen! Hat Sie der Brief so sehr aufgeregt? Und ich glaubte, Sie würden sich darüber freuen.«

Amelie zwingt ein mühsames Lä­cheln auf ihre Lippen.

»Es ist die Freude, Schwester Karla. Wissen Sie nicht, daß man auch aus Freude weinen kann?«