Die unstillbare Schuld - Karin Bucha - E-Book

Die unstillbare Schuld E-Book

Karin Bucha

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Beschreibung

Karin Bucha ist eine der erfolgreichsten Volksschriftstellerinnen und hat sich mit ihren ergreifenden Schicksalsromanen in die Herzen von Millionen LeserInnen geschrieben. Dabei stand für diese großartige Schriftstellerin die Sehnsucht nach einer heilen Welt, nach Fürsorge, Kinderglück und Mutterliebe stets im Mittelpunkt. Karin Bucha Classic ist eine spannende, einfühlsame geschilderte Liebesromanserie, die in dieser Art ihresgleichen sucht. »Anja, hören Sie mir eigentlich zu?« Seit einer Weile redet Prof. Dr. Martin Heymer auf das junge Mädchen ein, das vor ihm auf der Couch liegt, ohne daß es darauf reagiert hätte. Sie hat nur einmal den Kopf mit dem tiefschwarzen Haar zur Wand gedreht. Professor Heymer blickt verzweifelt zu Dr. Karola Wilmers, seiner Verlobten und rechten Hand in der Klinik, die mit ausdruckslosem Gesicht an der Wand lehnt, die Hände tief in die Taschen ihres weißen Kittels vergraben. Ratlos hebt sie die Schultern. Der Professor angelt sich einen Stuhl herbei und setzt sich neben Anja von Bergen. Er greift nach ihrer Hand und beginnt abermals mit seiner sympathischen Stimme, in der tiefes Mitgefühl schwingt: »»Hören Sie, Anja! Wir haben alles getan, was menschenmöglich war, und konnten das Leben Ihrer Mutter nicht festhalten. Glauben Sie mir, wir sind genauso erschüttert wie Sie. Aber nur Ihr Vater und ich wußten, wie sehr herzkrank Ihre Mutter war. Immer hat sie die heitere, liebenswürdige Dame gespielt. Dabei hätte sie jede Stunde Ruhe dringend nötig gehabt. Außerdem hat sie Ihren Vater zu sehr geliebt, so daß sie seinen plötzlichen Tod nicht überwinden konnte…« Professor Heymer greift zu seinem Taschentuch und tupft sich die Schweißperlen von der Stirn. Anja hat alles gehört, obgleich der Professor das Gefühl hat, gegen eine gläserne Wand zu sprechen. Kann denn eine Liebe tödlich sein? – denkt sie, und sie lauscht begierig weiter den Worten des Professors.

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Karin Bucha Classic – 65 –

Die unstillbare Schuld

Karin Bucha

»Anja, hören Sie mir eigentlich zu?«

Seit einer Weile redet Prof. Dr. Martin Heymer auf das junge Mädchen ein, das vor ihm auf der Couch liegt, ohne daß es darauf reagiert hätte. Sie hat nur einmal den Kopf mit dem tiefschwarzen Haar zur Wand gedreht.

Professor Heymer blickt verzweifelt zu Dr. Karola Wilmers, seiner Verlobten und rechten Hand in der Klinik, die mit ausdruckslosem Gesicht an der Wand lehnt, die Hände tief in die Taschen ihres weißen Kittels vergraben. Ratlos hebt sie die Schultern. Der Professor angelt sich einen Stuhl herbei und setzt sich neben Anja von Bergen. Er greift nach ihrer Hand und beginnt abermals mit seiner sympathischen Stimme, in der tiefes Mitgefühl schwingt: »»Hören Sie, Anja! Wir haben alles getan, was menschenmöglich war, und konnten das Leben Ihrer Mutter nicht festhalten. Glauben Sie mir, wir sind genauso erschüttert wie Sie. Aber nur Ihr Vater und ich wußten, wie sehr herzkrank Ihre Mutter war. Immer hat sie die heitere, liebenswürdige Dame gespielt. Dabei hätte sie jede Stunde Ruhe dringend nötig gehabt. Außerdem hat sie Ihren Vater zu sehr geliebt, so daß sie seinen plötzlichen Tod nicht überwinden konnte…«

Professor Heymer greift zu seinem Taschentuch und tupft sich die Schweißperlen von der Stirn.

Anja hat alles gehört, obgleich der Professor das Gefühl hat, gegen eine gläserne Wand zu sprechen.

Kann denn eine Liebe tödlich sein? – denkt sie, und sie lauscht begierig weiter den Worten des Professors.

»Sie müssen sehr tapfer sein, Anja, denken Sie an Ihre Geschwister…«

Mit einem kleinen unterdrückten Schrei schwingt Anja die Beine von der Couch, streicht sich mit einer fahrigen Handbewegung das lange, bis auf die Schultern fallende Haar aus dem Gesicht und eilt zur Tür, reißt sie auf, daß sie gegen die Wand fliegt, und ist im nächsten Augenblick im Gang verschwunden.

Diese Reaktion hat Professor Heymer nicht erwartet. Er läuft hinter Anja her.

Diese rennt über den breiten, langen Flur und direkt in die Arme Norbert Rinkendorfs hinein.

»Hoppla! Hoppla!« sagt er und hält sie fest, um sie vor einem Sturz zu bewahren.

Anja will sich losreißen. Er sieht in ein verstörtes, tränenüberströmtes Gesicht und löst seine Arme. Im selben Augenblick sackt Anja vor ihm zu Boden.

Professor Heymer kommt um die Ecke gejagt, erkennt den Freund, der Anja bereits auf seine Arme genommen hat.

»Bring sie in mein Zimmer, Norbert«, sagt er aufgeregt zu dem Freund, und dieser nickt. Heymer hält ihm die Tür auf, und Rinkendorf trägt die ohnmächtige Anja an ihm vorbei in das Zimmer und legt sie dort auf die breite Liege.

»Jetzt ist sie das zweite Mal umgekippt.« Verzweifelt wühlt Martin Heymer durch sein dichtes braunes Haar. »Das ist aber auch ein bißchen zu hart für ein so empfindsames Mädchen wie Anja von Bergen. Da können Menschen mit stärkeren Nerven umfallen, wenn ihnen innerhalb von vierzehn Tagen die Eltern wegsterben…«

»Was?!« unterbricht Rinkendorf den Professor. »Frau von Bergen ist…«

»... tot!« vollendet der Professor. »Herzinfarkt. War nichts mehr zu machen.«

Dr. Karola Wilmers hat sich indessen um Anja bemüht. Endlich schlägt sie die Augen auf. Tiefblaue Augensterne, die jetzt von Schatten umgeben sind und die von durchwachten Nächten zeugen, von Nächten, in denen sie um das Leben ihrer Mutter gezittert hat.

Richtig ins Bewußtsein gedrungen ist ihr der Tod ihrer Mutter erst, als der Professor sie an ihre Geschwister erinnerte.

Sie versucht, sich aufzurichten. Diesmal ist es Dr. Wilmers, die sie sanft zurück in das Kissen drückt.

»Bleiben Sie ganz ruhig liegen, Anja. Erst müssen Sie ganz ruhig werden.«

Rinkendorf hat sich in die äußerste Ecke des Zimmers zurückgezogen. Er nagt hilflos an der Unterlippe. Wie entsetzlich! denkt er, und ich wollte Frau von Bergen einen Krankenbesuch machen!

Er hat sich sehr gut mit der immer fröhlichen Sophia von Bergen verstanden. Sehr zu seinem Leidwesen nimmt Anja jedoch von ihm so gar keine Notiz. Sie geht an ihm vorbei wie an einem Fremden, dabei liebt er sie.

Heymer und seine Verlobte wechseln einen raschen Blick miteinander, und daraufhin verschwindet Karola Wilmers, um mit einer Spritze wieder aufzutauchen.

Heymer beugt sich tief zu Anja hinab, die mit geschlossenen Augen vor ihm liegt und einen total erschöpften Eindruck macht.

»Bitte, Anja, hören Sie mir einmal gut zu! Sie werden heute nacht hier bei mir bleiben. In diesem Zustand kann ich Sie einfach nicht nach Hause gehen lassen.«

Anja reißt die Augen auf. »Ich muß aber heim, Herr Professor. Meine Geschwister darf ich doch jetzt nicht allein lassen.«

Heymer macht eine heftig abwehrende Kopfbewegung.

»Ausgeschlossen, Anja. Sie bleiben heute hier. Gilbert ist sechzehn Jahre alt und Verena zwölf. Gustav und Hedwig werden sich um die beiden kümmern. Ich gebe Ihnen jetzt eine Beruhigungsspritze, und Sie werden schlafen. Schlaf haben Sie jetzt nötiger als sonst etwas. Haben Sie mich verstanden?«

Sie nickt. Unter den geschlossenen Lidern quellen die Tränen hervor.

Gott sei Dank! denkt der Professor, sie weint. Bald wird sich die Verkrampfung lösen und sie wird schlafen, tief schlafen.

Er macht seine Injektion, und dann warten sie alle drei, bis tiefe, gleichmäßige Atemzüge verraten, daß Anja endlich eingeschlafen ist.

»Bleibst du bei ihr?« fragt der Professor seine Verlobte.

»Ja«, erwidert sie. »Bitte, kann ich eine Zigarette haben?«

Er reicht ihr sein Etui und Feuer und wendet sich an Rinkendorf.

»Komm, Norbert, gehen wir in mein Arbeitszimmer.«

Sie gehen gemeinsam den Gang hinunter und achtlos an den Blumen vorbei, die Norbert Rinkendorf beim Zusammenprall mit Anja verloren hat, und die für Frau Sophia von Bergen bestimmt waren.

Eine Schwester sammelt sie auf und stellt sie in eine Vase.

*

In Professor Heymers Zimmer wirft Rinkendorf Mantel und Hut achtlos in einen Sessel und nimmt dann Platz.

»Hast du einen Brandy hier?« fragt er den Freund. »Mir ist verflixt elend zumute.«

Wortlos holt Heymer Flasche und Gläser herbei und schenkt ein. Beide stürzen sie den Inhalt der Gläser in einem Zug hinunter.

»Weißt du auch, daß sich Franz von Bergen hier vor mir erschossen hat?« beginnt der Professor mit finster zusammengezogenen Brauen. »Das war eine schöne Schererei mit der Polizei. Ich habe wenigstens verhüten können, daß es in die Öffentlichkeit drang. Nicht mal Frau von Bergen hat es erfahren. Ich glaube, sie wäre auf der Stelle tot umgefallen.«

Mit entgeistertem Gesichtsausdruck starrt Rinkendorf auf den Freund.

»Das ist doch wohl nicht möglich«, stößt er ungläubig hervor. »Wie konnte der Mann seiner Familie so etwas antun.«

Heymer hebt die Schultern. »Schulden«, sagt er kurz. »Er wußte wohl nicht mehr aus noch ein.«

»Hat er denn Geld von dir gewollt, das du ihm verweigert hast?« tastet Rinkendorf sich vor.

»Nein! Ich hätte ihm jede Summe gegeben. Wenn du mir das glauben willst?« Er blickt erwartungsvoll auf den Freund.

»Ich glaube dir«, sagt dieser ohne zu zögern. Er kennt den Professor und seine vornehme Gesinnung.

Heymer spricht weiter: »Er bat mich um eine gründliche Untersuchung. Das habe ich getan und mußte ihm leider sagen, daß er Raubbau mit seiner Gesundheit treibe, und wenn er so weitermache, könne er gleich sein Testament machen. Konnte ich denn wissen, daß Franz von Bergen mit einem Schießprügel in der Tasche durch die Gegend läuft? Allerdings hätte ich als Arzt sehen müssen, daß er in einer höchst deprimierten Stimmung war. Das ist der große Vorwurf, den ich mir mache. Schließlich bin ich bei ihm aus und ein gegangen und habe längst bemerkt, daß bei Franz von Bergen längst nicht mehr alles Gold war, was da glänzte.«

Schweigend hat Rinkendorf zugehört. Er hat den Kopf in die Hände gelegt und starrt vor sich hin.

Großer Gott! – geht es ihm durch den Kopf – warum ist Franz von Bergen nicht zu mir gekommen? Warum hatte er plötzlich kein Vertrauen mehr zu mir?

Er greift zu seinem Glas und schiebt es dem Professor zu. »Gib mir noch einen, Martin.«

Auch dieses Glas leert er in einem Zug, steht dann unvermittelt auf und greift nach seiner Garderobe.

»Entschuldige mich, Martin. Ich muß das erst alles verdauen.«

Sie schütteln sich die Hände, und Rinkendorf verläßt die Klinik. Der Professor kehrt zu Anja und seiner Verlobten zurück.

*

In dieser Nacht findet Norbert Rinkendorf keine Ruhe. Er geistert durch sein Haus, geht von Zimmer zu Zimmer.

Er ist ebenso hochgewachsen wie Heymer, nur viel breiter in den Schultern. Er hat ein etwas derbes Gesicht. Aber seine Augen sind hell und klar, und sein Mund ist ausdrucksvoll. Daß sein massiger Körper zur Fülle neigt, verbergen die gutsitzenden Schneideranzüge.

Morgens, kurz nach acht Uhr, läutet das Telefon. Er ruckt aus einem kurzen Dämmerschlaf empor und greift widerwillig zum Hörer.

»Ja!« meldet er sich verschlafen.

»Hier Anwaltsbüro Dr. Freitag. Herr Doktor möchte Sie sprechen«, hört er eine Frauenstimme sagen, und dann meldet sich Freitag.

»Morgen, Norbert…«

»Menschenskind«, brüllt Rinkendorf durch das Telefon den Freund an. »Bist du verrückt, mitten in der Nacht anzurufen?«

»Sieh mal auf deine Uhr«, meint Dr. Freitag belustigt. »Es geht auf neun Uhr.«

»Schon gut, Reimund. Ich bin etwas durcheinander: Er klemmt sich den Hörer unter die Achsel und angelt sich eine Zigarette vom Schreibtisch. »Also, was gibt’s?«

»Kannst du mal bei mir vorbeikommen?«

»Ist es denn so eilig?« erkundigt sich Rinkendorf.

»Wie man’s nimmt. Es handelt sich um einen Brief Franz von Bergens, der an dich gerichtet ist…«

»Was sagst du?« unterbricht Rinkendorf ihn.

»Es handelt sich um einen Brief«, wiederholt Dr. Freitag ungeduldig. »Bist du denn heute morgen so schwer von Begriff?«

»Scheint so. Also, ich komme vorbei.«

Norbert haut den Hörer förmlich auf die Gabel. Alles, was mit dem Namen von Bergen zusammenhängt, fällt ihm auf die Nerven.

Er geht ins Badezimmer, läßt Wasser einlaufen. Eine Stunde später steigt er in seinen Wagen. Er wird sofort bei Dr. Freitag vorgelassen.

Sie begrüßen sich, wie es alte Freunde zu tun pflegen.

Kopfschüttelnd betrachtet Freitag den Freund. »Wie siehst du bloß aus? Wie Braunbier mit Spucke. Junge, Junge, mußt du dich betrunken haben.«

»Hab’ ich auch. Ein Mokka und dein Anruf haben mich wieder auf die Beine gebracht.«

»Richtig«, erinnert sich der Rechtsanwalt und Notar. »Der Brief. Hier ist er.«

Er überreicht Rinkendorf den verschlossenen weißen Umschlag.

»Moment mal, Reimund. Wann hat Franz von Bergen den Brief an dich gesandt?« will Rinkendorf wissen.

»Er hat ihn mir selbst übergeben. Er verlangte eine Liste seiner Schuldverschreibungen. Er bekam sie, und nach einer Stunde gab er diesen Brief bei mir ab. Er enthalte seine letzte Verfügung.« Resigniert hebt Freitag die Schulter. »Obwohl es doch gar nichts zu verfügen gibt.«

Rinkendorf überlegt kurz und öffnet den Brief. Er liest:

»Lieber Norbert!

Seit ein paar Tagen laufe ich kopflos herum. Ich weiß weder aus noch ein. Ich bin überzeugt, daß Du mir noch einmal, wie schon so oft, geholfen hättest, aber das wäre eine Kette ohne Ende geworden. Mit Bestürzung habe ich feststellen müssen, daß ich nichts, gar nichts mehr besitze, und daß schon alles Dir gehört.

Nichts habe ich aus meinem Leben machen können. Ich habe meine Familie maßlos geliebt und verwöhnt. Ich bin überzeugt, Du wirst niemals einen Druck auf sie ausüben, wenn ich einmal nicht mehr da bin. Ich weiß, Du liebst Anja! Nimm Anja als Deine Frau, damit meiner Frau und den Kindern das Elternhaus erhalten bleibt.

Ich weiß nicht, ob man so einfach über einen Menschen bestimmen darf, wie ich es mit meiner Tochter Anja mache. Aber ich hätte es immer gern gesehen, daß aus Dir und Anja ein Paar würde…

Hier läßt Rinkendorf den Brief sinken.

»Jetzt dreht er mir doch tatsächlich noch seine Tochter an!« stößt er wütend hervor.

»Was sagst du da?« fährt Freitag ihn an. »Ich denke, du liebst Anja!«

»Ja, eben deshalb.« Rinkendorf schüttelt sich. »Soll ich etwa zu Anja von Bergen gehen und sagen: Guten Tag, Anja, mir gehört hier alles, Sie mit inbegriffen? Das ist doch eine Unmöglichkeit, Reimund. Stell dir das doch vor. Jetzt ist mir doch jede Möglichkeit genommen, anständig um sie zu werben!«

Der Rechtsanwalt wiegt den Kopf hin und her.

»So unanständig finde ich den Gedanken gar nicht. Du bekommst die Frau, die du liebst, und sie einen herzensguten Mann.«

»Den sie leider Gottes nicht liebt«, fällt er dem Rechtsanwalt bitter ins Wort.

»Sie wird es so oder so erfahren, daß du derjenige gewesen bist, der jahrelang gezahlt hat. Es wird für die stolze Anja von Bergen ein schwerer Schlag werden.«

»Das wäre dann der dritte innerhalb kurzer Zeit«, sagt Norbert trocken.

Dr. Freitag klappt die Akte zu.

»Mir fällt jetzt die unangenehme Aufgabe zu, Anja von Bergen aufzuklären. Übrigens, was meinst du mit dem dritten Schlag?«

»Sophia von Bergen ist heute nacht gestorben. In Martins Klinik. Herzinfarkt!«

Reimund Freitag läßt sich zurückfallen in seinen Sessel. »Donnerwetter!« sagt er nur, dann herrscht Stille. Beide grübeln sie über ein Problem nach, können es aber nicht lösen.

Rinkendorf ergreift wieder das Wort: »»Jetzt haben wir erst einmal Zeit gewonnen. Du kommst mit deinen Enthüllungen immer noch früh genug. Hör mal, Reimund, muß Anja von Bergen von dem Brief etwas erfahren?«

»Ich meinte, sie hätte ein Recht darauf und du einen guten Grund, um sie um ihre Hand zu bitten«, versetzt der Freund ruhig und gelassen.

Rinkendorf faßt sich an den Kopf. »Das ist alles zum Verrücktwerden!«

Wenig später sitzt er wieder in seinem Wagen und fährt seinem Hauptwerk zu, das etwas außerhalb der Stadt gelegen ist.

*

Als Dr. Freitag sich bei Anja von Bergen melden läßt, ist sie auf dem Tiefstand angekommen. Gilbert und Verena sitzen verschüchtert herum, und Anja selbst weiß nichts mit sich anzufangen. Eine grenzenlose Leere ist in ihr. Aus dieser Apathie wird sie jäh durch das Erscheinen des Rechtsanwaltes zerrissen.

»Ich lasse bitten«, sagt sie zu Gustav, dessen Rücken seit dem Tode Frau von Bergens gebeugt ist, als trage er unsichtbar die Bürde mit, die man den Kindern auferlegt hat.

Freitag ist entsetzt, als er in Anjas blasses, schmal gewordenes Gesicht blickt. Sie ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ihre übergroß erscheinenden Augen sind fragend auf ihn gerichtet.

»Bitte!« Anja weist auf den Sessel vor dem Schreibtisch ihres Vaters.

Freitag lehnt seine Aktentasche an seinen Sessel. »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, gnädiges Fräulein. Es ist wohl der unangenehmste Besuch, den ich jemals machen mußte…«

»Ich verstehe Sie nicht.« Ihre Augen blicken ängstlich drein.

»Mir fällt die unangenehme Aufgabe zu, Ihnen mitzuteilen, daß Ihr Herr Vater leider nichts hinterlassen hat, als…«

Er stockt. Er, der versierte Anwalt, stockt vor dem Blick der tiefblauen Augen. Anja neigt sich etwas vor.

»Warum sprechen Sie nicht weiter, Herr Doktor, als –?«

»… als Schulden«, vollendete er hastig, so hastig, als sei er froh, es endlich gesagt zu haben.

Anja zuckt zusammen, als habe sie einen Schlag empfangen. Mühsam bewahrt sie ihre Haltung.

»Was gehört uns noch?« fragt sie tapfer weiter.

»Nichts mehr, gar nichts, auch nicht dieses Haus.«

Anja lehnt sich zurück und schließt die Augen. Alles dreht sich um sie. Sie sieht aus, als lebe sie nicht mehr, und Freitag, von Angst gepackt, läuft aus dem Zimmer.

»Bringen Sie schnell ein Glas Wasser«, sagt er zu dem Diener Gustav. Dieser läuft, so schnell ihn die Beine tragen, und kehrt sofort mit dem Gewünschten zurück.

Anja schlägt die Augen auf und atmet ein paarmal tief durch. Gehorsam nimmt sie das Glas und setzt es an den Mund. Aber ihre Hand zittert so heftig, daß die Hälfte auf ihr Trauerkleid rinnt.

»Danke!« würgt sie hervor. Gustav nimmt das leere Glas mit sich.

»Soll das heißen«, nimmt Anja den Faden wieder auf, als sich die Tür hinter Gustav geschlossen hat, »daß uns nicht einmal dieses Dach über dem Kopf bleibt?«

Dr. Freitag nickt. Anjas Augen wandern hinüber zu der dem Schreibtisch gegenüberliegenden Wand, die ein großes Bild trägt, das unter der Hand eines der berühmtesten Maler entstanden ist und das Sophia von Bergen als junge, strahlende Frau zeigt.

Ein Glück, Mama – geht es durch Anjas Kopf – welch großes Glück, daß du das nicht mitzuerleben brauchst.

»Ich danke Ihnen, Herr Doktor.« Anjas Mund verzieht sich etwas. »Das war für Sie bestimmt nicht angenehm. Für meine Geschwister und mich bedeutet es das Ende.«

Dr. Freitag spürt ein Würgen im Hals. Er bückt sich nach seiner Aktentasche, öffnet sie und legt eine Akte auf den Tisch.

»Wenn Sie sich gefaßt haben, bitte, prüfen Sie alles genau nach. Sie wissen, daß ich auch der Freund Ihres Vaters war, und ich verbürge mich mit meinem Ehrenwort, daß die Listen stimmen und die Endsumme ebenfalls.«

»Danke!« haucht Anja und erhebt sich. Ein wenig unsicher auf den Beinen, gibt sie dem Rechtsanwalt das Geleit bis zur Tür.

Er neigt sich über ihre Hand und geht. In seinem Wagen muß er erst mal tief Luft holen. Lieber zu Fuß nach Sibirien – überlegt er – als noch einmal eine solche Nachricht überbringen müssen. Er kam sich wie ein Henker vor.

In ähnlichem Sinne äußert er sich Norbert Rinkendorf gegenüber.

»Und wenn du jetzt nicht rausfährst zu Anja von Bergen oder irgend etwas unternimmst, dann sind wir Freunde gewesen, verstanden?«

»Verstanden«, sagt Rinkendorf kurz. »Also soll ich auch den Henker spielen…«

»Oder den Wohltäter«, fällt Dr. Freitag ihm ins Wort. »Das liegt in Anjas Hand.«

Anja hat die Papiere gesichtet, und sie weiß jetzt, wem ihr Vater das viele Geld schuldet.

Hochaufgerichtet steht sie hinter dem Schreibtisch, als Rinkendorf das Zimmer betritt.

»Sie haben es sehr eilig, sich in Erinnerung zu bringen.« In ihrer Stimme schwingt abgrundtiefe Verachtung.

»Ich verstehe Sie nicht.« In seinen hellen Augen blitzt es kurz auf. »Was ich Ihnen zu sagen habe, wollte ich Ihnen so schnell als möglich mitteilen, nämlich, daß ich keinen Wert darauf lege, daß Sie dieses Haus verlassen.

Ich möchte nicht als Wohltäter in Ihren Augen erscheinen. Da ich Ihren Stolz kenne, möchte ich Sie nur um etwas befragen. Wie haben Sie sich Ihr weiteres Leben gedacht?«

Anjas Augen irren verwirrt zur Seite. »Ich – ich weiß es noch nicht«, flüstert sie leise. Sie preßt die Fingerspitzen gegen ihre Schläfen, wo es pocht und hämmert.

Rinkendorf spürt, wie seine Lippen trocken werden. Am liebsten würde er um ein Glas Wasser bitten, dabei hat sie ihm noch nicht einmal Platz angeboten. Es scheint ihr jetzt erst in den Sinn zu kommen.

»Bitte!« Ihre schlanke Hand weist auf den Sessel, in dem vor ihm Dr. Freitag gesessen hatte.

»Ich hätte Ihnen einiges zu sagen, wenn Sie mir glauben wollen, daß es aus einem uneigennützigen Herzen kommt. Ich könnte Ihnen die Schuldscheine zerrissen auf den Tisch legen. Wahrscheinlich werden sie auch dort liegen, wenn ich diesen Raum verlasse. Aber wie wollen Sie das Haus unterhalten? Die Dienerschaft bezahlen? Ihrem Bruder Gilbert das Weiterstudieren ermöglichen?«

»Ich werde arbeiten!« sagt sie stolz und abweisend.

Ach du heilige Einfalt, denkt er, und wenn es nicht so tragisch wäre, hätte er jetzt aufgelacht. Er gibt sich einen Ruck.

»Ich liebe Sie, Anja von Bergen! Werden Sie meine Frau, und geben Sie mir das Recht, Sie zu beschützen und für Sie und Ihre Geschwister sorgen zu dürfen.«

Entsetzen flattert in ihren Augen auf.

»Niemals werde ich Ihre Frau, Herr Rinkendorf! Ich liebe Sie nämlich nicht.«

»Ich wußte es«, sagt er trocken. Er faßt in seine Tasche und legt alle Schuldscheine auf den Tisch.

»Da – ich zerreiße sie.«

Anja hört Papier rascheln, kurze, harte Schritte und eine Tür, die zuschlägt.

Sekundenlang sitzt sie regungslos, ganz in sich zusammengesunken. In ihrem Kopf dreht sich alles. Mit einem kleinen Laut wirft sie sich auf die Schreibtischplatte und beginnt hemmungslos zu schluchzen. Als sie sich ausgeweint hat, läuft sie in ihr Zimmer und läßt sich auf das Bett fallen.

Nebenan wird die Tür geöffnet, sie hört Gilbert und Verena ins Nebenzimmer treten.

»Das war vielleicht ein Karton«, hört sie den Bruder sagen.

Und dazwischen zwitschert Verena: »Ein wunderschöner Wagen. Du, Gilbert, das war von uns bestimmt unanständig, zu lauschen.«

Gilbert lacht kurz auf. »Alles was in diesem Hause vorgeht, geht auch uns etwas an.«

Pause.

»Warum nimmt Anja denn den reichen Rinkendorf nicht?« fragt Verena.