Kastl 93 - Elisabeth Thaler - E-Book

Kastl 93 E-Book

Elisabeth Thaler

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Beschreibung

Die drei Erzählungen thematisieren die individuelle Herangehensweise an Leben und Werk bekannter Autoren, fernab der germanistischen Theorie. Der Leser begleitet die Protagonistin Laura auf ihrer Reise zu den Dichtern ETA Hoffmann, Friedrich Hölderlin und Rainer Maria Rilke. Dabei geraten Laura und die Autoren in eine seltsame, wechselseitige Beziehung...

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Inhaltsverzeichnis

Ein Wort zuvor

Kastl 93

Fluten der Zeit

Herz-Innenraum

Nachwort von Dr. Dieter Scheidig

Ein Wort zuvor

Ein Germanistikstudium schützt vor Torheit nicht. Vieles natürlich erfährt man, doch vieles wird dem Begeisterten auch entzaubert, indem einem Menschen feststehende literarische Deutungen oft aufgezwungen werden.

Wieso war und ist es nicht statthaft, als Student individuelle und eigene Erfahrungen mit einem Text, ja mit dem Werk eines Dichters zu machen, die nicht dem allgemein literaturwissenschaftlichen Konsens entsprechen?

Warum soll es nur die eine, rein theoretische und einzig auf Nutzen orientierte Zugangsweise zu den Texten großer Autoren geben?

Bei stiller Mitstreiterschaft des Literaten Timo Kölling, der sich auch unter Berufung auf den Forscher Hamlin gegen diese festgefahrene Meinung stemmt, dort in seinem Essay „Hölderlins Landschaft“1 , schlägt die Autorin einen anderen Weg zur Erkundung von Literatur ein.

Denn was ist gegen ein naiv-begeistertes Bild zu sagen, das man von einem Dichter haben kann, wenn es jungen Menschen eine besondere Bewunderung vermittelt, welche vielleicht zu einer lebenslangen Beziehung sich entwickelt?

Vorerst sollen drei Schriftsteller in diesem Erzählungsband nun in ihrem Leben und Wirken durch die Augen des Mädchens und der Frau Laura geschildert werden. Sie begibt sich mutig und unvoreingenommen in die Lebensbereiche von E.T.A. Hoffmann, Friedrich Hölderlin und Rainer Maria Rilke. Ihr und das Leben der Dichter verschmelzen auf wunderbare Weise; die Literaturschaffenden werden gleichsam zu Schicksalsgenossen, die sich ein Leben in ungewisser Zeit zu teilen haben. Und doch sind alle drei Erzählungen durch Motive verbunden.

Und eines ist gewiss: Laura wird künftig noch andere Schriftsteller begleiten…

Denn das ist ihre Leidenschaft.

Elisabeth Thaler, den 17. März 2024

1 Zitiert nach Timo Kölling „Hölderlins Landschaft“ Dort S. 53, Fußnote 63.

Kastl 93

Ein Versuch über die Dichtung und das Leben E.T.A. Hoffmanns

All meinen Schülern und dem Meister Georg zugeeignet!

Diese Erzählung bedient sich noch nicht der Rechtschreibreform

Misericordias Domini in aeternum cantabo2

1

Manche Abende sind von einem ganz eigenartigen Zauber. Der Künstler spürt, daß gerade zu dieser späten Stunde etwas Besonderes entstehen will, weiß sich aber nicht zu erklären, warum es genau dieser Abend ist, wiewohl es doch zahllose andere gibt. Vielleicht ist es so, weil alles übereinstimmt: Die Erinnerung an die Begebenheiten des Tages, friedliche Gedanken, Ruhe und anderes, was das Herz eines Menschen geneigt macht, Kraft zu sammeln, um sich aufschwingen zu können.

Im Jahre 1993 lag einer dieser Abende über der altehrwürdigen, fränkischen Bischofsstadt Bamberg. In einem Hinterhof, wo noch die Brunnen ein wenig Wasser hervorglucksten und zwischen den großzügig verlegten Pflastersteinen Moos und Grasbüschel wucherten, begann ein Fliederstrauch seine vielen tausend duftenden Blüten zu öffnen und streckte seine Arme wie Fühler nach den holzgezimmerten Balkonen und Balustraden jener Häuser aus, die auf sehr liebenswürdige Art ein wenig heruntergekommen waren und somit einem alten Mütterlein gleichen mochten.

In einem solchen Haus brannte hinter einem der Fenster noch Licht in der Stube.

Ein schwarzhaariger Mann in einem grünen Arbeitskittel beugte sich an einem einfachen Tisch über ein großes Stück Papier. Augen, denen keine Einzelheit zu entgehen schien, musterten die geschwungenen und gerade gezogenen Linien auf dem Papierbogen: Ja, es war die perfekte Form.

Meister Georg Kastl entwarf eine Geige nach einem alten italienischen Modell, nach den Werken des Meisters Guadagnini3 Perfekt, dachte er bei sich, perfekt und vielleicht gerade deswegen fast irgendwie langweilig. Mit einem Seufzen der Ratlosigkeit ließ er sich an die Lehne seines grobgezimmerten Sessels fallen und verschränkte die Arme.

Geschichte, das wäre es! Wenn eine ganz neue Geige bereits eine Geschichte erzählen könnte wie die über mehrere hundert Jahre alten, wäre sie einzigartig!

Mitten in diesen Erwägungen vernahm Meister Georg ein merkwürdiges Knirschen in der Wand seiner Werkstatt. Ihn verwunderte dies, weil es im rückwärtigen Teil des Gebäudes um diese Uhrzeit sonst recht still war. Vorne lärmten die Studenten, die von einem Verbindungshaus zum anderen zogen, doch hinten war nichts davon zu hören.

„'S werden doch nicht die Ratzen und Mäus das Haus in Beschlag nehmen“, befürchtete der Mann und stand energisch vom Tisch auf, um dem Geräusch auf die Spur zu kommen. Das konnte er nun wirklich nicht brauchen! Er hatte von einem Passauer Kollegen gehört, daß der unlängst entdeckt habe, wie eine Maus in einem seiner Bässe ihre Brut großzog. Bemerkt habe er es nur, weil die schwarzglänzende Hauskatze ständig am F-Loch des Basses herumtappte.

Schon wieder wurde das Knarren laut, doch zu diesem mischte sich unversehens ein Ächzen, wie es nur einem Menschen entstammen konnte, dessen Leben im Grunde verfehlt war, der in allem, was er je tat, jene tiefe Vergeblichkeit zu sehen glaubt, welche eine Seele müde und verzagt werden läßt.

Diesmal schabte und kratzte es bei den Hobeln.

„Wer ist da?“ entfuhr es Meister Kastl, „es muß jemand da sein!“

Er brauchte nicht lange zu suchen. Vis á vis von seinem Arbeitsplatz, wo die Skizze lag und wohin er gerade zurückkehren wollte, saß eine bleiche Frau, deren Anblick erschreckend durchsichtig und immateriell war. In einen schmutzigen Lumpen gehüllt glarte sie den Meister aus blicklosen Augen an. Ihn ergriff staunendes Entsetzen über diese Erscheinung. Bisher hatte er die Existenz von armen, unerlösten Seelen für einen Unfug gehalten, den sich einmal ein paar geistliche Herrn ausgedacht hatten, um die Leute in Furcht zu versetzen. Aber manchesmal schien in alledem ein Fünklein Wahrheit zu stecken, besonders wenn er bei seiner Arbeit unwillkürlich über das jämmerliche Dasein jener Unruhegeister nachsann und ihm dann ein Klingenzug oder eine Lackarbeit besonders gut glückte.

Obwohl er den nächtlichen Besuch nicht ohne Schaudern beobachtete, setzte er sich dennoch gefaßt zu der Erscheinung an den Tisch.

„Wer bist du“, fragte er nach einer Weile, „und warum bist du hier?“

Die Art, wie das Wesen die Lider senkte, erinnerte ihn an ein verwöhntes Mädchen, dem man etwas sagt, was es nicht hören will. Wie erschrak aber der Meister, als das sonderbare Geschöpf wieder aufblickte und er in den Augenhöhlen züngelnde Flammen bemerkte, welche aus glühenden Kohlen zu fahren schienen. Die Frau jedoch ahnte seine Bestürzung.

„Hab keine Angst vor mir, ich kann dir nichts antun, außer dir Furcht einzuflößen und selbst die ist unnötig; denn ich bin sehr elend und mich umfängt seit meinem Tode die größte Pein.“

Trotz seines manchmal etwas ruppigen Benehmens war Meister Georg ein sehr herzlicher und freundlicher Mann, der Mitleid mit der geplagten Kreatur empfand. Er hatte sogar Verständnis dafür, wenn neue Geigen noch nicht so herausragend klangen, weil das Holz sich immer noch als Teil eines Baumes fühlte, der in der Natur ganz anderen Schwingungen und Tönen ausgesetzt war.

Für den Augenblick schienen Plan und Skizze zur neuen Geige vergessen, den Meister ergriff Ungeduld. Was dem neuen Instrument fehlte, nämlich die Geschichte, bot sich ihm auf einmal unvermutet dar. Diese Seele hatte etwas zu berichten, was interessant zu werden versprach.

„Nun, erzähl', erzähle!“ drängte der Meister und wollte die Papiere zur Seite schieben, allein, die Frau hinderte ihn daran mit einer Geste ihrer Hand.

„Laß sie ruhig liegen. Diese Aufzeichnungen sind wichtig, sie könnten helfen, mich von meiner Qual zu befreien... Zunächst, wer ich bin? Wenn du schon nach einem Namen für mich suchst, dann nenne mich Julia. Vor vielen, vielen Jahren lebte ich zwei Straßen von deiner Werkstatt entfernt; ich blühte als unscheinbares Pflänzchen, weder besonders schön noch besonders klug. Meine Mutter, eine Konsulenwitwe, trichterte mir früh schon ein, daß ich bereit sein solle, wenn eine gute Partie für mich in Aussicht stünde. Du schüttelst den Kopf, Meister Georg, aber solch ein Vorgehen war zu der Zeit in unseren Kreisen ganz üblich. Vielleicht wirst du es nicht glauben: Ich war nicht unglücklich; denn ich sonnte mich in dem Glück, künftig die Gattin eines braven Amtsrates oder Registrators zu sein. Ach, bald würden alle mir nachschauen und sagen: „Wie hübsch doch die Beamtengattin mit dem köstlichen Geschmeide von Perlen ist, das ihr der Herr Gemahl unlängst verehrt hat! Wie groß muß diese Liebe sein, daß er ihr solche Pretiosen schenkt!“

Allein die Mutter – durch meine derartigen Vorstellungen ermutigt – war darum besorgt, mich in eine bessere Gesellschaft zu bringen und mir die dafür förderlichen Fertigkeiten vermitteln zu lassen. Von meinem zwölften Jahr an kamen täglich irgendwelche Leute ins Haus, die mich in Konversation, im Tanz, aber auch in geringem Maße in den Wissenschaften unterrichteten.“

Meister Kastl lauschte aufmerksam und dachte bei sich, warum nicht? Die Burschen werden Lehrer, Arzt, Beamter oder Pfarrer und die Mädel heiraten dann einen Lehrer, Arzt oder Beamten. Da bleibt man unter sich. Heutzutage ist natürlich alles anders. Aber tempora mutantur, klaubte er sein bißchen Latein zusammen. Oder hieß es nicht etwa: o tempora, o mores!

„Ja, Meister, die Zeiten ändern sich. Früher war es eben so. Und es wäre auch alles gut oder wenigstens nicht so arg geworden, wenn nicht dieser... dieser...“

Bei solchen Worten schlug sich das blasse Mädchen die fahlen Hände vor den blutleeren Mund. Aus ihren Augenhöhlen züngelten wirre Flammen. Den Meister überlief es heiß und kalt.

„Julia, bitte sag mir, was geschehen ist!“

Dunkel erinnerte sich Georg an eine Geschichte, in der jemand für ziemlich viel Verdruß gesorgt hatte,4 weil er einen anderen nicht nach der Ursache seines Leidens gefragt hat. Und daß dieses seltsame Wesen vor ihm litt, war augenscheinlich, also fragte er geradeheraus.

„Julia...bitte...“

„Meine Mutter bestellte auch einen Gesangslehrer für mich. Er hatte einen recht sperrigen Namen... wie war der noch einmal? Genau, Ernst Theodor Amadeus Hoffmann5, ja so hieß er. Wie entsetzte ich mich, als er zum ersten Mal ins Zimmer trat, sich des Flügels bemeisterte und eine Flut von Melodien und Akkorden vor mir ausbreitete, wie wenn jemand seine Truhe aufklappte, mit vollen Händen hineingriffe und den gesamten Inhalt auf die Straße gösse. Dieses kleine Männlein, der Hoffmann, das Hoffmännlein, wie ich ihn immer nannte, das es verstand, seinen Mantel und seinen Umhang so theatralisch abzustreifen, als sei es eben von den Brettern der Bühne herabgesprungen, dieser Wicht von einem Mann mit seinen glühenden, moorgrünen Augen und den wirren schwarzen Locken, die ihm immer in die Stirn hingen, dieser ordinäre Kerl mit dem zusammengekniffenen Mund und der spitzen Nase...ja, der brachte mein schön vorgefertigtes Leben durcheinander.“

„Oh“, hakte Meister Georg etwas launig ein, „etwa so ein Durcheinanderbringer...ein Diabolus?“

„Ich weiß nicht, die Leute hielten ihn für einen, doch nach all dem, was ich erdulden und leiden mußte, will ich ihn einen Angelus nennen, denn der Teufel pflegt mitunter auch in recht konvenabler Gestalt zu erscheinen. Warum sollte ein guter Geist nicht unansehnlich sein, um das Herz der Menschen zu prüfen?“

Das leuchtete Meister Georg ein. Er sah es ja bei den Geigen. Diejenigen Instrumente, welche für einen Wettbewerb gebaut wurden, klangen seltsam hohl und wesenlos, wenngleich sie makellos waren. Natürlich lag er mit seinen Werken bei derartigen Veranstaltungen nie im vorderen Feld, aber das war ihm gleichviel; er hatte andere Vorstellungen von Perfektion. Das wettbewerbsmäßig Perfekte ist nicht das Wahre, weil es einzig zu dem Zweck gebaut wurde, der Konkurrenz überlegen zu sein. Wo blieb da die Seele, wo diese Art von Schönheit, die auf keinen Vergleich angewiesen ist?

„Die Wahrheit, lieber Georg“, erriet Julia zu des Meisters Entsetzen seine Gedanken, „liegt eben nicht im äußerlich Perfekten. Nun, dieser Mensch, der Hoffmann gab mir Gesangstunden und es war mir, als blickte er mir an den Grund der Seele. Mein Herz lag in meinem Singen vor ihm wie ein offenes Buch, dessen Blätter mit jedem Tone beschrieben wurden, von mir und … vom Lehrer! Eines Tages nämlich sangen wir ein Duett, das er komponiert hatte. Mit dem ersten Klang lag mein „Buch“ wie zur Einsicht da, er blätterte darin und mitten im Gesange glaubte ich, daß er mich fragte: Was heißt Lieben? Singend zuckte ich die Schultern: Was wird es schon heißen? Plötzlich lachte der seltsame Mann grotesk und bitter auf. Er wandte sich mir zu und blickte mir in die Augen, so geradewegs, daß mir beinahe das Notenblatt entgleiten wollte. In diesem Moment lösten sich unter seinen Händen Ströme von Tönen, ohne Maß, so wie ich es bei unserer ersten Begegnung erlebt hatte. Sein ganzes musikalisches Hab und Gut schüttete er vor mir aus, dann ergriff er die Feder seines Gesanges und schrieb in das „Buch“: Zu lieben heißt alles geben.“

Dem Meister stiegen bei dieser Erzählung Tränen in die Augen. Ja, das ist die Liebe: alles zu geben. Doch wer kann das schon von sich behaupten, alles gegeben zu haben? Im Ende sind die Menschen Egoisten und wenn es um ihr Herz geht, tauschen sie es ja doch nur um ein anderes ein und schenken es nicht her. Unbestreitbar hat dieser Hoffmann seine Julia geliebt, aber nie ein einziges Wort gesagt.