Katergericht - Heike Wolpert - E-Book

Katergericht E-Book

Heike Wolpert

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Zwei Todesfälle in zwei Tagen. Suizid oder Mord? Die Toten, ein verurteilter Mörder und sein Anwalt, hatten schon von Berufs wegen nicht nur Freunde. Bei den Ermittlungen kommt Kommissar Flott immer wieder sein Kater in die Quere. Die neugierige Spürnase hat ihre ganz eigenen Methoden und Motive, Nachforschungen anzustellen: Keiner schöpft Verdacht, wenn Kater Socke Gespräche belauscht oder sich in fremden Wohnungen umsieht. So ist er seinem Besitzer oft einen Schritt voraus.

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Seitenzahl: 279

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Heike Wolpert

Katergericht

Kriminalroman

Zum Buch

Katzenjammer Kurz nach Verbüßen seiner Haftstrafe wird der verurteilte Mörder und ehemalige Rechtsanwalt Philipp Oberwasser tot aufgefunden. Kaum haben der hannoversche Hauptkommissar Peter Flott und sein Team die Ermittlungen aufgenommen, kommt Oberwassers Anwalt ebenfalls zu Tode. Besteht da ein Zusammenhang? Wurden beide ermordet? Und warum taucht Peter Flotts Mitbewohner, Kater Socke, immer wieder am Tatort auf? Der Kommissar gerät deswegen zunehmend in Erklärungsnot. Sein samtpfotiger Hausgenosse hat nicht nur seine ganz eigenen Ermittlungsmethoden, sondern auch persönliche Gründe dafür: Er vermisst seine Katzenfreundin, deren Verschwinden mit den Todesfällen zusammenzuhängen scheint. Während die menschliche Polizei im Berufs- und Privatleben der Toten die ein oder andere Ungereimtheit findet, mobilisiert Socke all seine tierischen Freunde. Können sie den Fall lösen und das Leben von Katze Mimi retten?

Heike Wolpert, Jahrgang 1966, lebt und arbeitet in Hannover. Abwechslung von ihrem Alltag als Businessanalystin bei einer großen Landesbank findet sie im Schreiben von Krimis und Kurzgeschichten. Der vorliegende Band ist bereits der vierte in ihrer Reihe rund um den tierischen Schnüffler Kater Socke, die sich sowohl bei Katzen- als auch Krimifreunden gleichermaßen großer Beliebtheit erfreut. Dass ihr die Ideen nicht ausgehen, dafür sorgt der echte Socke – der schwarz-weiße Kater lebt nun seit fast zehn Jahren bei der Autorin.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Katertrunk (2018)

Schlüsselreiz (2016)

Schönheitsfehler (2015)

Impressum

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © FabrikaSimf / shutterstock.com

und © Vladimir Sitkovskiy / shutterstock.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6206-1

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Personenverzeichnis

Handelnde Personen:

Peter Flott, ermittelnder Hauptkommissar, ein ganz normaler Mann, Sockes Dosenöffner

Christa Eisele, genannt Chris, Peters Freundin, viel beschäftigte Tierärztin

Lisa Sander, Kommissarin und Peters langjährige Kollegin und Vertraute

Friedrich Eberhard, genannt Fritz, der Älteste im Ermittlerteam, eher phlegmatisch, erledigt deshalb am liebsten die Schreibtischarbeit

Antonia Boccabella, genannt Toni, die jüngste Kommissarin im Team, manchmal etwas aufbrausend

Sebastian Meyer, genannt Basti, Kollege von der Kripo Osnabrück, Tonis Freund

Ulrich Zeitler, Chef der Spurensicherung

Dr. Joachim Breithaupt, Staatsanwalt

Prof. Dr. Kremski, Chef der Gerichtsmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH)

Dr. Eilig, Mitarbeiter der Gerichtsmedizin

Frau Bilgur, ältere Dame, Clooneys und Gismos Frauchen, Peters Nachbarin

Max Petkow, Malermeister, wohnt im selben Stadtteil wie Peter, »Mimis Mensch«

August Klämmerle, pensionierter Verwaltungsbeamter, Herrchen von Dackeldame Angelique und Suleikas Katzensitter

Heike Stolze, Friseurmeisterin

Philipp Oberwasser, geständiger Mörder von Dr. Adalbert Sontheim

Thorsten Oberwasser, Philipps Bruder, Zahnarzt

Stefan Zweibold, Philipp Oberwassers Anwalt

Katharina Zweibold, Stefans Frau, lebt in Trennung von ihm

Kevin Zweibold, 17-jähriger Sohn von Stefan und Katharina

Charlotte Ratzke, Katharinas Freundin

Ruth Konetzky, Rentnerin, lebt im selben Haus wie Philipp Oberwasser

Clara Puppenmacher, Anwaltsgehilfin in Zweibolds Praxis

Patrizia Sontheim, Witwe des Mordopfers Adalbert Sontheim, lebt seit dem Tod ihres Mannes sehr zurückgezogen

Jan van der Straaten, Patrizias neuer Lebensgefährte, ein niederländischer Geschäftsmann

Elise Reitmeier und Andreas Strelitz, ehemalige Kommilitonen von Philipp Oberwasser

Abraham Bayerlein, genannt Abe, Geschäftsmann mit mehreren Lokalen in Hannovers Rotlichtviertel

Kai Krüger, kennt Oberwasser aus dem Gefängnis, mehrfach vorbestraft wegen Einbruchs, Dealerei und anderer Delikte

Gero von Haberberg, macht Toni schöne Augen

*

Handelnde Tiere:

Socke, schwarzer Kater mit weißen Pfoten, lebt bei Hauptkommissar Peter Flott, liebt Katze Mimi

Mimi, dreifarbige Tigerkatze, Sockes Freundin

Clooney, mollige grau getigerte Katze, Sockes Nachbarin, einem Imbiss nie abgeneigt

Mikey, Tigerkater mit blauem Halsband, Revierchef, kann lesen

Suleika, Perserkatze, weiß immer alles (besser)

Gismo, Jungkater mit Entdeckerdrang, Clooneys Sohn

Champion, freiheitsliebender norwegischer Waldkater, der im Revier lebt

Jasper, stets kränkelnder Riesenschnauzer, lebt im selben Haushalt wie Suleika

Angelique, Dackeldame und Jaspers Flamme

Prolog

»Du glaubst gar nicht, wie viele Mörder frei herumlaufen.« Seine Sprache war alkoholbedingt verwaschen.

Max nickte, ohne die Aussage seines ehemaligen Klassenkameraden so ganz zu erfassen. Dafür war er zu angetrunken. Außerdem redete Stefan nun schon seit beinahe zwei Stunden über seine Arbeit als Anwalt und prahlte damit, was er dabei alles erlebt hatte. Wenn alles, was sein früherer Kumpel erzählte, der Wahrheit entsprach, so hatte der innerhalb der vergangenen 120 Minuten mehrfach das Anwaltsgeheimnis verletzt. Denn auch wenn er keine Namen nannte, die geschilderten Fälle waren sehr speziell. Ein interessierter Zuhörer würde die Beteiligten schnell ausfindig machen. Max allerdings hörte lediglich mit halbem Ohr zu und bereute, überhaupt zu dem Klassentreffen gekommen zu sein.

Schließlich war er nur ein einfacher Malermeister. In den Augen der anderen also ein Loser. Die meisten seiner ehemaligen Schulkameraden, mit denen er vor 20 Jahren Abitur gemacht hatte, hatten studiert und konnten eine sogenannte Karriere vorweisen. Zudem wurden Familienfotos herumgereicht und alle erzählten stolz vom hochbegabten Nachwuchs und vom attraktiven Ehepartner, während er nur eine gescheiterte Beziehung und das Bild seiner geliebten Katze vorweisen konnte.

Stefan winkte der Bedienung und zeigte auf die fast leeren Gläser vor ihnen. Halbherzig versuchte Max zu protestieren. »Meinst du nicht, wir haben genug?« Die meisten waren inzwischen schon gegangen oder im Gehen begriffen.

»Einen noch«, lallte Stefan. »Eine Story muss ich dir einfach erzählen, das glaubst du nicht, wenn ich die an die Öffentlisch…« Er brach ab und griff zu dem Glas, das gerade vor ihm abgesetzt wurde. »Wenn ich wollte, könnte ich da richtig absahnen.«

Kapitel 1 Montag

Patrizia Sontheim ging nervös im Zimmer auf und ab. Seit zwei Monaten war er wieder auf freiem Fuß. Damals, kurz nach dem Mord an ihrem Mann, hatte sie wochenlang keinen klaren Gedanken fassen können. Kein Tag war vergangen, an dem sie nicht an seinen gewaltsamen Tod gedacht und Angst gehabt hatte. Es hatte lange gedauert, bis einigermaßen Normalität eingekehrt war. Die Anwaltskanzlei hatte sie geschlossen, ihren Beruf aufgegeben. Das Vermögen, das sie geerbt hatte, ermöglichte ihr ein Leben ohne Arbeit. Aus der Öffentlichkeit, in der sie aufgrund der Popularität ihres verstorbenen Mannes gestanden hatte, hatte sie sich, so gut es ging, zurückgezogen. Zwar gab es den ein oder anderen Vorstoß der Presse, doch sie blieb standhaft und man hatte zumeist Verständnis. Nach und nach verlor sich so das Interesse an ihr.

Einen Mann hatte es, nach Adalbert, an ihrer Seite lange Zeit nicht gegeben. Seit beinahe drei Monaten war sie nun jedoch mit Jan liiert, was die Öffentlichkeit über kurz oder lang bestimmt wieder auf den Plan rufen würde. Bei ein paar besonders flinken Journalisten wurden sie bereits als Traumpaar gehandelt. Beide reich und gutaussehend, sie mit einer tragischen Vergangenheit, das weckte die Neugier der Allgemeinheit. Doch darüber schwieg sie sich aus, und selbst ihr neuer Partner, ein niederländischer Geschäftsmann, wusste nach wie vor sehr wenig über die Ereignisse von damals. Als Gentleman drängte er sie nicht und respektierte ihr Schweigen, auch wenn sie spürte, dass er gerne mehr erfahren würde und sie seinen Beschützerinstinkt geweckt hatte.

Vielleicht war ja bald der Moment gekommen, sich ihm zu offenbaren?

Seit Philipp Oberwasser aus der Haft entlassen worden war, verspürte sie jedoch erneut diese Angst. Gestern war Jan geschäftlich nach München gereist, und er hatte sie gebeten, mitzukommen. War es ein Fehler gewesen, ihn nicht zu begleiten?

*

Majestätisch saß Clooney auf der Mauer und blickte selbstzufrieden auf Socke herab, der gerade des Weges kam.

»Was machst du denn da oben?«, fragte der schwarze Kater mit den weißen Pfoten die pummelige Grautigerin. »Wo ist Suleika? Pass nur auf, dass sie dich nicht auf ihrem Stammplatz erwischt. Das gibt Ärger.«

»Suleika kommt heute nicht.« Gemächlich begann Clooney ihre linke Vorderpfote zu putzen.

»Was ist los mit ihr? Ist sie krank?«

»Du vermisst sie doch nicht etwa?«, erkundigte sich die mollige Katze nuschelnd, während sie ihre Krallenzwischenräume leckte.

»Na ja …«, setzte Socke an.

In diesem Moment bog der Nachbarskater Mikey um die Ecke. Offenbar kehrte er von seiner Revierinspektion zurück. Er hinterließ noch eine Duftmarke an einer Mauerecke, dann wandte er sich ebenfalls an Clooney: »Das ist Suleikas Platz. Ich möchte nicht, dass es wieder Streit gibt«, ermahnte er sie.

»Suleika kommt heute nicht«, wiederholten Clooney und Socke gleichzeitig.

Die Grautigerin fuhr fort: »Sie ist im Haus. Ihr Mensch ist mit Jasper in Urlaub gefahren und deshalb ist keiner da, der sie rauslässt.« Selbstzufrieden reckte sie die Schnauze in die Höhe und genoss sichtlich die Aufmerksamkeit der beiden Kater.

»Und wer füttert sie?«, dachte Mikey praktisch.

»Ha, das ist besonders gut.« Clooneys Schwanz peitschte aufgeregt hin und her. »Das sogenannte Herrchen von diesem Dackel, Angelique, ihr wisst schon. Der versorgt sie. Gibt ihr Futter und macht das Klo sauber.« Sie kicherte. »Er hat es meiner Menschin selber erzählt.«

Nun grinsten auch die zwei Kater. Die Perserin Suleika war manchmal ein wenig eingebildet. Außerdem hatte sie, nach Meinung der anderen Katzen, ein gestörtes Verhältnis zu Hunden. Sie bemutterte den im gleichen Haushalt wie sie selbst lebenden Riesenschnauzer Jasper nämlich, was für eine Katze ganz und gar nicht normal war, und beäugte mit großem Misstrauen jeden, der ihrem vierbeinigen Hausgenossen zu nahe kam. Besonders eifersüchtig beobachtete sie dessen Schwärmerei für Dackeldame Angelique. Dass ihr Wohl nun ausgerechnet von deren Herrchen abhing, war ihr bestimmt ein Dorn im Auge.

Clooney drehte sich um und warf einen Blick in den Garten des Hauses. »Ha! Ich sehe sie hinter der Scheibe sitzen«, triumphierte sie und begann auf der Mauer entlangzustolzieren.

Socke wandte sich zum Gehen. »Das muss ich noch schnell Mimi erzählen, bevor Peter nach Hause kommt.« Damit machte er sich auf den Weg zum Amerikaplatz, der ein paar Straßen weiter gelegen war und wo seine geliebte Mimi wohnte.

»Clooney! Es ist nicht fair, die Situation auszunutzen«, maßregelte Mikey derweil die Grautigerin streng, wobei seine Schnurrhaare verdächtig zuckten. »Äh, ich muss nach Hause, es gibt bestimmt bald Abendessen.« Damit überließ er die beiden Streitkatzen ihrem stummen und ungleichen Gefecht.

*

Ruth Konetzky war 71 Jahre alt und Rentnerin, doch sie liebte es, während der Feierabendzeit einzukaufen. Sehr zum Ärger der arbeitenden Bevölkerung, die schnell ein paar Besorgungen erledigen wollte. Die alte Dame ließ sich gerne viel Zeit, verwickelte andere Kunden und das Personal in Gespräche und brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie ihr Portemonnaie gefunden hatte. Die meisten Kassiererinnen und Kassierer bei Rewe kannten sie schon und nahmen ihre Anwesenheit hin wie einen lästigen Schnupfen. Ein kleines Schwätzchen, da musste man halt durch. Zufrieden bahnte sich die Rentnerin mit ihrem Einkaufstrolley den Weg nach Hause. Dort wartete niemand, sie hatte also keine Eile. Wenn sie Glück hatte, würde sie im Treppenhaus auf den jungen Mann treffen. Dann würde sie ihm gleich ins Gewissen reden, denn als sie vorhin das Haus verlassen hatte, war seine Wohnungstür offen gestanden. Sehr leichtsinnig, wie sie fand, man wusste schließlich nicht, wer sich so alles im Gebäude herumtrieb. Erst gestern hatte sie mehrere Unbekannte das Mehrfamilienhaus betreten sehen. Einen davon sogar spät abends. Wenn sie nicht gerade fernsah oder einkaufen ging, saß sie am Fenster und behielt den Bereich vor der Eingangstür im Auge. Sie wusste Bescheid.

Ächzend zog sie den Trolley mit ihren Einkäufen die Treppe hoch. Der Weg in den zweiten Stock wurde zunehmend beschwerlich. Laut und vernehmlich polterte sie die letzten Stufen zum ersten Treppenabsatz hinauf. Der Mieter aus der ersten Etage hatte ihr beim letzten Mal geholfen, als sie dort stöhnend pausiert hatte. Heute tat sich nichts. Seine Wohnungstür war immer noch leicht geöffnet. Ruth Konetzky runzelte die Stirn. Da stimmte etwas nicht. Sie trat näher heran, klopfte und lauschte.

Keine Reaktion. Sie klingelte und horchte abermals ins Innere. Nichts tat sich.

Ob er unterwegs war und vergessen hatte, die Tür zu schließen? Sollte sie sie einfach zuziehen?

Vielleicht war auch etwas passiert?

Ruth Konetzky war von Natur aus neugierig. Über den Bewohner dieser Wohnung wusste sie wenig, außer dass er vor zwei Monaten eingezogen war und keiner geregelten Arbeit nachging.

»Oberwasser«, stand auf dem Klingelschild. Sie klopfte erneut, dieses Mal heftiger, sodass die Tür langsam aufschwang.

»Herr Oberwasser!«, rief sie ins Innere, das völlig im Dunkeln lag. Sie würde kurz nach dem Rechten sehen und dann die Wohnungstür ordentlich schließen. Sie trat ein und tastete nach dem Lichtschalter, eine nackte Glühbirne erhellte den Flur. Die Wohnung lag direkt unter ihrer und war gleich geschnitten. Die Milchglastür links führte in die Küche. Geradeaus ging es wahrscheinlich ins Wohnzimmer. Daneben lag das Badezimmer und angrenzend befand sich vermutlich das Schlafzimmer. So war es bei ihr. Alle Türen waren geschlossen und einen Moment lang sah sie sich unschlüssig um. Dann bemerkte sie einen Lichtschimmer unter der Wohnzimmertür und öffnete sie.

Ihr Blick fiel auf eine Stehlampe, die den Raum nur schwach erhellte. Daneben stand ein abgenutzter Sessel, auf den ausgeschalteten Fernseher ausgerichtet. Oberwasser saß da, als sei er beim Fernsehen eingeschlafen. Sein Kopf war zur Seite gesunken, die Augen allerdings weit geöffnet, von seinem Mundwinkel zog sich eine getrocknete dunkle Spur bis zum Hals hinab. Blut? Sein linker Arm hing seitlich herunter, neben ihm auf dem Boden lag eine Waffe. Am Kopfteil des Sessels befanden sich Flecke. Das musste Blut sein – und etwas anderes … Hirn? Sah so das Gehirn eines Menschen aus, wenn es mit Gewalt aus seinem Schädel katapultiert wurde? Plötzlich sackten ihr die Beine weg. Sie versuchte, sich am Türrahmen festzuhalten, und schrie, als ginge es um ihr Leben.

*

»Ein Caffé Latte Soja mit wenig Milchschaum!«, schallte es durch den Raum.

Britta kämpfte sich durch die Menschentraube am Tresen, wo man ihre Bestellung entgegennahm. Um die Feierabendzeit war die Kaffeebar nahe dem Hauptbahnhof immer gut besucht. Schnell besetzte sie wieder ihren Platz am Fenster und sah ungeduldig zur Tür. Wo blieb nur ihre Freundin Anna? Es war gar nicht so einfach, den letzten freien Stuhl an ihrem Tisch zu verteidigen. Sie ließ sich ein paar Schlucke der Kaffeespezialität schmecken.

Endlich, mit 20-minütiger Verspätung, traf Anna ein.

»Mannomann, was ist denn los in dieser Stadt?«, stöhnte sie, als sie sich auf den Stuhl gegenüber fallen ließ. »Man meint, es gäbe was umsonst!«, schob sie hinterher und sprang gleich wieder auf, um ebenfalls eine Bestellung aufzugeben.

Britta genoss derweil ihr laktosefreies Getränk. Irgendwie fühlte sie sich komisch.

»Dauert einen Moment. Ist dir schlecht? Du bist so blass«, hörte sie ihre Freundin wie durch einen Schleier sagen.

Sie nickte. »Mir ist ein bisschen schwindelig.« Sie merkte selbst, dass sie lallte.

»Möchtest du an die frische Luft?« Anna nahm sie am Oberarm und führte die schwankende Freundin vor die Tür. »Hast du was getrunken? Ich meine, Alkohol?«, fragte sie besorgt.

Britta schüttelte heftig den Kopf, was sie noch mehr torkeln ließ. Endlich erreichten sie einen der Außensitzplätze. Obwohl es mit gerade mal 17 Grad für Anfang Juli recht frisch war, saßen hier ein paar Gäste, die drinnen keinen Platz mehr ergattert hatten.

»Britta!« Anna tätschelte ihr die Wange. »Hast du irgendwas zu dir genommen? Oder kann das an der Milch liegen? Vielleicht haben die dir was Falsches gegeben …« Hilflos sah ihr die Freundin ins Gesicht.

Britta wollte den Kopf schütteln, doch sie sackte nur zur Seite und hatte das Gefühl, gleich das Bewusstsein zu verlieren.

Andere Gäste waren hinzugetreten, um ihre Hilfe anzubieten. Eine Frau zückte ihr Handy und rief den Notarzt.

*

Socke hatte keinen Appetit. Chris hatte ihm vor einiger Zeit sein Abendessen serviert – Huhn in pikanter Soße –, doch der Kater hatte es bisher nicht angerührt. Sein Ausflug zum Amerikaplatz war enttäuschend verlaufen. Mimi glänzte durch Abwesenheit. Auch ihr Mensch, Malermeister Max Petkow, schien die hübsche Katze zu vermissen.

»Na, wo hast du denn deine Freundin gelassen?«, hatte er von Socke wissen wollen.

Der hatte ihm darauf keine Antwort geben können. Mimi machte in der Regel keine größeren Alleingänge und so war ihre Abwesenheit einigermaßen verwunderlich.

»Gleich ist Abendbrotzeit«, hatte Max gesagt, »da ist sie sonst immer da.«

Socke konnte ihm nur recht geben, war ihm kurz um die Beine gestrichen und hatte anschließend einen gründlichen Rundgang durchs Revier unternommen. Ohne Ergebnis. Keine Spur von seiner Geliebten und ebenso wenig eine Nachricht.

Schließlich war er nach Hause gegangen. Vielleicht wussten seine Menschen mehr. Chris, die Tierärztin, die im Revier viel herumkam, und Peter, seines Zeichens Hauptkommissar und ebenfalls gut unterrichtet, was sich in der Stadt so tat. Bisher war diesbezüglich allerdings nichts zur Sprache gekommen. Kein Grund zur Beunruhigung, sagte sich der Kater. Mimi war eine vorsichtige Katze, und sie führten eine moderne Beziehung. Zwar sahen sie sich täglich, doch es ging auch mal jeder seiner Wege. Trotzdem hatte er keinen Hunger.

Ganz im Gegensatz zu seinen Menschen, die sich gerade ein Kichererbsencurry schmecken ließen. Währenddessen sprachen sie über Belanglosigkeiten. Der Schäferhundmischling aus dem Hooverweg hatte Übergewicht und musste Diät halten, was seine Besitzer zum wiederholten Male ins Wartezimmer von Chris’ Tierarztpraxis getrieben hatte.

»Du glaubst gar nicht, wie erfinderisch der Gute ist, wenn es darum geht, an Fressen zu kommen«, berichtete Chris amüsiert.

»Heute hat er einen Schokoriegel geklaut und aufgefuttert. Zum Glück war es nur ein kleiner, also kein Grund zur Sorge, aber seinen Besitzern hat er damit einen gehörigen Schrecken eingejagt.« Sie schüttelte den Kopf. Neulich hatte Kalle, wie der übergewichtige Dieb hieß, bei der Rentnerin aus der Nachbarschaft einen Apfelkuchen gemopst, den die zum Auskühlen auf den Fenstersims der Küche gestellt hatte, von dem teuren Rinderfilet, das er tags zuvor direkt aus dem Einkaufskorb seiner Leute gestohlen hatte, ganz zu schweigen.

Peter lachte und häufte sich eine weitere Portion Reis auf den Teller. Gerade als er sich vom Curry nehmen wollte, klingelte sein Handy.

»Oh, oh, ich fürchte, es gibt Arbeit«, meinte er nach einem Blick auf das Display. Er erhob sich. »Flott«, meldete er sich im Hinausgehen.

Die Blicke seiner Lebensgefährtin und Sockes folgten ihm. Nebenan hörte man ihn sprechen. Chris rührte gedankenverloren in ihrem Essen. »Tja, Socke, da musst du wohl heute Abend mit meiner Gesellschaft vorliebnehmen.«

Und tatsächlich trat der Hauptkommissar kurz darauf wieder durch die Tür und zuckte bedauernd die Achseln. »Ich hoffe, es dauert nicht zu lange.« Mit diesen Worten verabschiedete er sich. Dabei war nicht ganz klar, ob er seinen Einsatz am heutigen Abend oder die daraus resultierenden Ermittlungen meinte. Wahrscheinlich beides.

*

Kevin Zweibold betrat das schicke Reihenhäuschen in der Gravensteiner Allee und ließ seine Sporttasche an Ort und Stelle fallen.

»Räum deine Trainingsklamotten bitte weg«, rief seine Mutter.

Er ignorierte sie und stürmte an der offenen Wohnzimmertür vorbei in die Küche.

Kurz darauf streckte er den Kopf ins Wohnzimmer, wo Katharina Zweibold mit ihrer Freundin saß und bei einem Glas Rotwein über den »Tatort« vom vergangenen Abend diskutierte.

»Ist kein Cola mehr da?«, blaffte er dazwischen.

»Guten Abend, Kevin. Schön dich zu sehen«, grüßte Katharinas Freundin Charlotte betont höflich.

Kevin brummte nur und knallte die Tür hinter sich zu.

»Auf dem Herd steht was zu essen«, rief ihm seine Mutter nach. Sie seufzte und dachte wehmütig an früher. Es war gar nicht so lange her, da hatte Kevin sich einen Hund gewünscht. Um sich das Tier und auch eventuell anfallende Tierarztkosten leisten zu können, hatte er bei den Nachbarn Rasen gemäht, kleinere handwerkliche Tätigkeiten übernommen und vor allem deren Hunde ausgeführt. Doch sein Vater hatte ihm nicht erlaubt, sich ein Haustier anzuschaffen, und sie hatte sich nicht getraut ihrem Mann diesbezüglich zu widersprechen. Das war der Zeitpunkt gewesen, als Kevin begonnen hatte, sich von ihnen zurückzuziehen. Wenn sie richtig informiert war, sparte er jetzt auf ein Motorrad.

»Er wird seinem Vater immer ähnlicher.« So, wie Charlotte das sagte, klang es nicht nach einem Kompliment. »Hast du von dem etwas gehört in letzter Zeit?«

Katharina nahm einen Schluck Rotwein und schüttelte den Kopf. »Er spricht nur noch mit meinem Anwalt. Ist wahrscheinlich besser so.«

Ihre Freundin nickte. »Friedhelm hat ihn neulich in einer Kneipe am Steintor gesehen. Er war ziemlich betrunken. Er hat was davon gefaselt, dass er mit einem Mandanten verabredet sei.«

Katharina sah nachdenklich in ihr Glas. Natürlich war es möglich, dass ihr zukünftiger Exmann einen Klienten getroffen hatte. Viele seiner Kunden waren in Hannovers Party- und Amüsierviertel ansässig, und längst nicht alle waren Schläger, Zuhälter oder Flittchen, nur weil sie dort arbeiteten oder verkehrten, das wusste sie. Doch schien Stefan eine Schwäche für zwielichtige Gestalten und mondäne Damen zu haben. Das war nicht zuletzt der Grund gewesen, weshalb sie die Scheidung eingereicht hatte.

»Lass uns von etwas anderem reden«, wechselte sie das Thema. »Wie hat dir die Szene in diesem Filmstudio gestern gefallen?«

*

Antonia Boccabella, genannt Toni, empfing Peter an der Eingangstür. Da die im Normalfall zuständige Kollegin Lisa, mit der der Hauptkommissar von allen in seiner Truppe am längsten zusammenarbeitete, an einer hartnäckigen Darmgrippe litt, hatte Peter die junge Kommissarin mit an den Tatort bestellt, obwohl sie eigentlich ab morgen Urlaub hatte. Entgegen ihrer sonst so aufbrausenden Art war Toni ohne Widerworte eingesprungen, und da sich der Ort des mutmaßlichen Verbrechens ganz in der Nähe ihrer Wohnung in der Kriegerstraße im hannoverschen Stadtteil List befand, wartete sie bereits – in einem der unvermeidlichen Einmalanzüge der Spurensicherung – auf den Hauptkommissar, als dieser eintraf.

»Der Tote heißt Philipp Oberwasser«, unterrichtete sie ihren Chef. »Hat 15 Jahre wegen eines Tötungsdelikts abgesessen und war gerade mal seit zwei Monaten draußen.«

Der Hauptkommissar zog die Augenbrauen hoch. Der Name kam ihm bekannt vor.

»So wie es aussieht, hat er sich selbst umgebracht«, erklärte seine Kollegin.

»Wenn Sie schon alles wissen, kann ich ja wieder gehen«, ätzte der Gerichtsmediziner Dr. Eilig, der gerade hinter Peter die Treppe hochkam.

»Guten Abend, ich freue mich, auch Sie zu sehen«, grüßte die Angesprochene betont freundlich.

Der Arzt murmelte ein paar Worte in seinen modischen Hipsterbart, drängelte an ihr vorbei in den Flur der Wohnung und ließ sich von den SpuSi-Leuten ebenfalls ausstaffieren.

»Wie es aussieht, hat er sich in den Kopf geschossen«, flüsterte Toni. »Neben ihm liegt eine Waffe, eine Sig Sauer, sagt unser SpuSi-Uli.«

Die Tür zum Wohnzimmer wurde weiter geöffnet und gab den Blick auf die Leiche frei. Jetzt erinnerte sich Peter wieder.

*

Es war am 15. November 2001, als er um kurz vor 20 Uhr zu einem Tatort gerufen wurde. Der Weg führte ihn in die Seelhorststraße im Zooviertel in eine Villa mit angrenzender Rechtsanwaltskanzlei. Das Opfer war kein Geringerer als Dr. Adalbert Sontheim, Anwalt zahlreicher Prominenter und selbst angesehener Bürger Hannovers. Anwesend waren: seine beinahe 30 Jahre jüngere Ehefrau Patrizia und ein gewisser Philipp Oberwasser, der als Referendar in Sontheims Kanzlei tätig war. Letzterer hatte die Polizei verständigt. Sontheim war mit einer Bronzestatue erschlagen worden.

Schon bei einer ersten kurzen Befragung gestand Oberwasser die Tat und wurde noch am selben Abend in Haft genommen.

*

»Hast du Mimi gesehen?« Socke sah zu Clooney auf, die sich ein weiteres Mal auf Suleikas Mauer breitgemacht hatte.

»Hihi, vorher war Angeliques Herrchen da. Er hat sie in der Zwischenzeit in den Garten gelassen, während er Suleika versorgt hat. Ui, Suleika hat sich vielleicht aufgeregt, sie wäre fast durch die Scheibe gesprungen. Und dann …« Erst jetzt schien sich die Grautigerin auf Sockes Worte zu besinnen. »Mimi ist schon wieder weg?«

»Ich habe sie seit heute Morgen nicht mehr gesehen, und zum Abendessen hat sie sich auch nicht blicken lassen.« Sockes Schnurrhaare zuckten besorgt.

»Kein Abendbrot?« Das gab der molligen Grautigerin ebenfalls zu denken. Keine Katze ließ das ihrer Meinung nach freiwillig ausfallen. »Meinst du, es ist ihr etwas zugestoßen?«

»Hm, sie ist eigentlich sehr vorsichtig. Nach den schlechten Erfahrungen, die sie gemacht hat.«

»Na ja, vielleicht lag irgendwo etwas besonders Leckeres.« Nachdenklich beobachtete Clooney einen Spatz, der ein paar Krümel auf dem anderen Ende der Mauer aufpickte und dann schnell davonflog. »Du weißt, ich bin normalerweise äußerst wachsam, aber wenn ein Imbiss lockt … und Katze gerade hungrig ist …«

Socke wusste, dass die rundliche Tigerin blind war für jede Gefahr, wenn etwas Essbares in Reichweite kam, doch behielt er einen entsprechenden Kommentar lieber für sich.

»Hast du schon überall gesucht? Am Amerikaplatz ist vor Kurzem eine ältere Frau eingezogen, die scheint Katzen zu mögen. Sie hat mir neulich eine Scheibe Wurst gegeben. Vielleicht ist Mimi bei ihr.« Clooney schluckte. »Soll ich dir zeigen, wo sie wohnt?« Sie sprang von der Mauer. »Obwohl, abends bleibt sie meistens drinnen, und sie wird Mimi ja wohl kaum mit reingenommen haben.« Sie streckte sich ausgiebig und fügte an: »Und ich sollte mich auch mal wieder zu Hause blicken lassen.«

»Tu das. Ich drehe noch eine schnelle Runde und dann gehe ich rein. Heute können wir sowieso nicht mehr viel tun.« Socke klang zwar nicht überzeugt, doch tatsächlich gingen ihm die Ideen aus. Die Häuser und das Areal rund um den Amerikaplatz hatte er bereits am Nachmittag gründlich abgeschnüffelt. Spuren von Mimi gab es da erwartungsgemäß jede Menge, aber nichts, was ihm weitergeholfen hätte. Vermutlich war es wirklich das Beste, erst einmal abzuwarten. Jede Katze vergaß mal die Zeit und blieb länger als üblich von ihrem Zuhause fern. »Kein Grund zur Beunruhigung«, redete er sich ein.

Kapitel 2 Dienstag

»Was machst du denn hier?« Erstaunt blickte Friedrich Eberhard Toni an, mit der er sich ein Büro teilte.

»Danke, Fritz. Echt toll, dass ihr euch alle so freut mich zu sehen. Der Beamte am Empfang konnte auch kaum an sich halten«, war die ironische Erwiderung.

»Na, ich dachte, du hast Urlaub«, verteidigte sich der ältere Kollege. »Wenn ich gewusst hätte, dass du da bist, hätte ich dir doch was mitgebracht.« Er legte eine Bäckertüte auf seinen Schreibtisch.

»Wir wollten sowieso erst morgen losfahren, und Lisa hat immer noch diesen fiesen Norovirus«, erklärte Toni. »Außerdem haben wir einen Fall. Also vielleicht. Ein Toter in der List, bei mir um die Ecke. Philipp Oberwasser, sagt dir das was?«

Fritz schüttelte den Kopf.

»Der hat seinerzeit den Sontheim umgebracht.« Toni drehte den Bildschirm ihres PCs so, dass ihr Kollege das Foto des ermordeten Promi-Anwalts darauf sehen konnte.

»Ach der! Klar, jetzt erinnere ich mich. Der Täter hat gleich gestanden, der Fall war in Rekordzeit gelöst.« Fritz selbst war zwar nicht an den Ermittlungen beteiligt gewesen, wusste aber noch, wie enttäuscht die Medien damals gewesen waren, dass der Mord so unspektakulär zu den Akten gelegt werden konnte. In der Folge hatte es daher viele Berichte über das Opfer, sein Leben und Wirken gegeben. Immerhin hatten zu seinen Klienten viele sogenannte Stars und stadtbekannte Geschäftsleute gehört, von denen sich manche bei dieser Gelegenheit zu Wort gemeldet hatten. »Ist sein Mörder raus? Wie hieß der noch mal?«

»Oberwasser. Er wurde vor zwei Monaten entlassen. Und nun hat er sich angeblich umgebracht.«

»Du glaubst nicht an Suizid?«

»Wieso sollte er sich gerade jetzt umbringen, wo er wieder auf freiem Fuß ist?«, zweifelte Toni und klickte einen Artikel über den damaligen Mordfall an.

»Na, mir fallen da schon Gründe ein. Vielleicht ist er mit dem Leben draußen einfach nicht zurechtgekommen. Wäre nicht der Erste.« Ihr Kollege wandte sich zur Tür. »Ich hol mir Kaffee, soll ich dir einen mitbringen?«

Toni deutete auf die halbvolle Tasse neben ihrer Tastatur und schüttelte den Kopf. »Um 11 ist Dienstbesprechung«, rief sie ihm hinterher. »Da soll der Obduktionsbericht vorliegen und dann sehen wir ja.«

*

Philipp Oberwasser hatte noch am Tatort darum gebeten, eine Aussage machen zu dürfen.

»Ich habe ihn getötet«, gestand der damals 28-Jährige ohne Umschweife. Das Angebot, einen Anwalt hinzuzuziehen, lehnte er mit Hinweis auf seine eigene Ausbildung ab.

Als Kommissar Peter Flott in der Seelhorststraße ankam, hatte sein damaliger Vorgesetzter bereits mit dem zuständigen Staatsanwalt gesprochen und eine vorläufige Festnahme erwirkt.

Oberwasser schilderte den Tathergang wie folgt: »Ich wollte mir noch eine Akte ansehen. Mein Chef, Adalbert Sontheim, hielt sich zu dieser Zeit im angrenzenden Wohnbereich auf. Gegen 19.30 Uhr kam er ins Büro zurück, weil er dort sein Handy vergessen hatte. Er verwickelte mich in ein Gespräch, bis seine Ehefrau auftauchte. Ich habe mich daraufhin wieder meiner Akte zugewandt und gelesen. Kurze Zeit später stritten die beiden Eheleute heftig. Sontheim bedrängte seine Frau und drohte ihr Gewalt an. Wie die Situation in so kurzer Zeit derartig eskalieren konnte, kann ich nicht erklären. Als ich mitbekam, wie Sontheim Patrizia in die Enge getrieben hat, sah ich rot. Immerhin hatten wir in Studententagen eine Beziehung miteinander und waren nach wie vor befreundet. Ich griff nach dem erstbesten Gegenstand, der mir in die Finger kam. Eine Statue aus Bronze. Damit habe ich zugeschlagen.«

*

Als Socke an diesem Morgen in den schmalen Weg zwischen den Häuserreihen 14 und 15 des Karl-Schurz-Wegs trat, bot sich ihm ein bekanntes und doch auch ungewohntes Bild: Perserin Suleika saß, wie eigentlich fast immer, auf der Mauer vor ihrem Zuhause. Allerdings blickte sie nicht, wie sonst stets, missbilligend auf zufällige Passanten, in diesem Fall Socke, herunter, sondern saß mit dem Hinterteil zu ihm gewandt. Sie fauchte und keifte in den Garten hinein. Ihr Schwanz glich einer überdimensionalen Flaschenbürste und peitschte hin und her.

Von der anderen Seite der Mauer hörte Socke eine männliche Stimme, die in unnatürlich hoher Tonlage lockte: »Komm, süßes Miezekätzchen, ich hab da ein ganz feines Leckerle für dich«, begleitet von aufgeregtem Gekläffe. Letzteres stammte eindeutig von Dackeldame Angelique.

»Blöder Köter!«, kreischte Suleika.

»Hast du Angst vor dem Hundi? Das ist doch eine ganz Liebe, die tut dir nichts, die will nur spielen. Komm!«, beteuerte der Mann mit süßlichem Tonfall.

Suleika schien auszuholen, ihr Hintern wackelte bedenklich und das Fauchen wurde eine Nuance schriller. Dann stieß sie weitere Schimpfworte aus, bei denen Socke sich wunderte, wo sie die herhatte.

Socke setzte sich auf die Schwelle zu Peters Haus und lauschte fasziniert. Nebenan öffnete sich die Haustür. Grautigerin Clooney nebst ihrem Sohn Gismo schlüpften ins Freie.

»Was ist denn hier los?«, staunte der Jungkater.

Clooney kicherte schadenfroh.

Das Bellen auf der anderen Seite der Mauer wurde zu einem Knurren. »Warte hier!«, forderte Angeliques Herrchen von Suleika und schien sich entfernen zu wollen.

»Du Flohficker!«, rief die Perserin. »Kratzbaumkacker!«

»Kesselflickerkatze!«, entgegnete Angelique.

»Komm jetzt«, war die Stimme ihres Menschen zu vernehmen, dann verschwand er mit der zeternden Dackeldame außer Hörweite.

»Pussypisser!«, schickte die aufgebrachte Suleika ihnen nach und wandte sich um.

Drei Augenpaare starrten sie erstaunt an.

»Wo hat die bloß die ganzen Schimpfwörter her?« In Gismos Stimme schwang eine gewisse Bewunderung mit.

»Was ist denn ein Pussypisser?«, verlangte Clooney zu wissen.

»Ach, halt doch die Schnauze!«, erwiderte die Perserin, bevor sie sich besann. »Dieser Flegel behandelt mich wie eine ordinäre Straßenkatze«, beschwerte sie sich und fiel in ihren gewohnten blasierten Tonfall zurück.

»Du klingst ja auch so«, murmelte Gismo leise.

Sockes Schnurrhaare zuckten amüsiert. Wenn er das Mimi erzählen würde. Der Gedanke an seine geliebte Freundin ließ ihn nachdenklich werden. Wo war sie nur?

»Hat er dir zu fressen gegeben?«, interessierte sich Clooney.

»Er hat gesagt, ich bekomme erst etwas, wenn er mich gebürstet hat. Pah, ich bin doch kein Babykätzchen.«

»Das ist echt gemein«, erklärte sich die Grautigerin solidarisch. »Aber du musst dir das wohl gefallen lassen, wenn du nicht hungern möchtest«, schob sie schadenfroh nach. »Ich habe nämlich nichts Essbares über. Du etwa?« Sie blickte Socke fragend an. Der hielt den Blick grübelnd auf seine Vorderpfoten gesenkt.

»Ist was mit dir?«, erkundigte sie sich, als er nicht reagierte.

Der Kater hob den Kopf. »Mimi ist verschwunden«, antwortete er leise.

»Immer noch?«, entfuhr es Clooney.

»Schon wieder?«, zeigte sich Suleika ebenfalls verwundert. »Sie ist doch gerade erst wieder gefunden worden. Es wird hoffentlich nichts Schlimmes passiert sein.« Einen Moment hatte es den Anschein, sie habe ihre eigenen Probleme vergessen. Sie blickte besorgt in die Runde.

»Ey, Kumpel, Katzen sind so«, versuchte Gismo Socke zu trösten, »mal rücken sie dir auf die Pelle und sind anschmiegsam und dann verpassen sie dir eine und verschwinden tagelang. Das ist normal. Weiber eben!«

Clooney schien es aufgrund der Weisheiten ihres Sprösslings einen Moment die Sprache verschlagen zu haben.

Suleika ließ sich zu einem missbilligenden »Pah!« herab.

Socke straffte sich. »Du hast recht, ich drehe jetzt eine Runde, vielleicht ist sie inzwischen wieder aufgetaucht.« Er wandte sich zum Gehen.

»Hoffentlich ist sie nicht entführt worden«, hörte er Clooney in seinem Rücken sagen. Er achtete nicht auf sie. Wahrscheinlich hatte Gismo recht, man musste nicht immer gleich das Schlimmste annehmen.

Auf halbem Weg zum Amerikaplatz begegnete ihm Angeliques Herrchen, diesmal ohne die Dackeldame, und Socke grinste in sich hinein. Die zweite Runde zwischen ihm und Suleika würde er wohl leider verpassen.

*

Kevin Zweibold hatte Mühe, sich auf den Mathematikunterricht zu konzentrieren. Nicht nur, dass ihm vor lauter Müdigkeit immer wieder die Augen zufielen. Das, was er am Abend zuvor erlebt hatte, ließ ihn nicht mehr los.

Er und sein Kumpel Marcel waren in der »Badewanne« gewesen. Ein lächerlicher Name für die Kneipe. Aber es handelte sich um die Stammkneipe von Kevins Vater, und als Marcel ihm angeboten hatte, mit ihm hinzufahren, war er neugierig geworden. Marcel und Kevin spielten zusammen Handball, und gestern beim Training hatte der 21-Jährige Kevin auf seinen Vater angesprochen, den er am Steintor gesehen habe. »Ey, wenn du willst, nehm ich dich mit dorthin. Ich wollte heute sowieso mal wieder einen Zug durch die Gemeinde machen«, hatte Marcel ihm angeboten.

Kevin hatte nicht lange überlegt. Seit dessen Auszug hatte er nicht mehr mit seinem Erzeuger gesprochen. Er fühlte sich gekränkt und war der Meinung, sein Vater schulde ihm etwas. Das hatte er vor Kurzem Marcel gegenüber erwähnt und der bestärkte ihn darin, seinen Vater zur Rede zu stellen.