Katertrunk - Heike Wolpert - E-Book

Katertrunk E-Book

Heike Wolpert

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Eva Liepold liegt tot auf ihrem Sofa - nur einen Tag nach ihrer Wahl zur Stadtbezirksrätin von Hannover. War es Mord? Liepold hatte sich unbeliebt gemacht, beruflich und privat. Die Liste der Verdächtigen von Kommissar Peter Flott ist lang. Unterstützung erhält er von Kater Socke, der ganz eigene Gründe für seine Ermittlungen hat: Evas Katze, Sockes große Liebe, ist unauffindbar. Liegt hier der Schlüssel zur Lösung des Falls? Die Suche beginnt. Doch statt die Katze zu finden, verschwindet Socke spurlos …

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Seitenzahl: 294

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Heike Wolpert

Katertrunk

Kriminalroman

Zum Buch

Alles für die Katz Kater Socke ist verliebt. Doch sein Glück währt nicht lange, denn die Katze seines Herzens verschwindet spurlos und ihre Besitzerin wird tot aufgefunden. Ein ungeklärter Todesfall, der auch Sockes Herrchen, Hauptkommissar Peter Flott, beschäftigt. Die Tote, Kandidatin einer Tierschutzpartei, hat sich nicht nur durch ihre beruflichen Aktivitäten Feinde gemacht. Auch ihr Privatleben ist längst nicht so makellos, wie es zunächst scheint. Verdächtige gibt es also mehr als genug. Während sich Socke auf die Suche nach seiner Liebsten macht, muss Kommissar Flott seinerseits Ermittlungen anstellen. Dabei würde er sich viel lieber auf sein Privatleben konzentrieren, denn seine Beziehung zu Tierärztin Chris steckt in einer Krise. Immerhin ist es dann auch Chris, die ihn auf die Katze der Toten und deren Verschwinden aufmerksam macht. Liegt hier der Schlüssel zur Lösung des Falls? Socke ist davon überzeugt und macht sich auf die Suche. Doch statt die Katze zu finden, verschwindet Kater Socke spurlos …

Heike Wolpert, Jahrgang 1966, lebt und arbeitet in Hannover. Abwechslung von ihrem Alltag als Businessanalystin bei einer großen Landesbank findet sie im Schreiben von Krimis in Kurz- und Langversion. An ihrer Reihe rund um den tierischen Schnüffler Kater Socke erfreuen sich Katzen- und Krimifreunde gleichermaßen. Durch den kriminellen Freizeitführer „Mörderisches aus Hannover“ fand sie außerdem Gefallen am Verfassen von Kurzgeschichten und mit dem Krimi „Taubertaltod“ entdeckte sie die Liebe zu ihrer Geburtsstadt Bad Mergentheim und der umliegenden Region neu. Beides zusammen führte zum vorliegenden Kurzgeschichtenband.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Christian Gode/photocase.de

ISBN 978-3-8392-5634-3

Handelnde Personen:

Peter Flott, ermittelnder Hauptkommissar, ein ganz normaler Mann, Sockes Dosenöffner

Christa Eisele, genannt Chris, Peters Freundin, viel beschäftigte Tierärztin

Lisa Sander, Mitte 50, Kommissarin und Peters langjährige Kollegin und Vertraute

Friedrich Eberhard, genannt Fritz, der älteste im Ermittlerteam, eher phlegmatisch, erledigt deshalb am liebsten Schreibtischarbeit

Antonia Boccabella, genannt Toni, die jüngste Kommissarin im Team, manchmal etwas aufbrausend

Sebastian Meyer, genannt Basti, Kollege von der Kripo Osnabrück, Tonis Freund

Francesco, Tonis Cousin

Ulrich Zeitler, Chef der Spurensicherung

Dr. Joachim Breithaupt, Staatsanwalt

Meike Heitmann, Pressesprecherin der Polizei

Eva Liepold, ambitionierte Politikerin, Mitglied der Tierschutzpartei TiePa (Kurzform für »TierPartner«)

Christian Liepold, Fotograf, Evas Ehemann

Rosa Schablonski, Journalistin, interessiert sich nicht nur für Peters Arbeit

Heiko Vetter, Parteivorsitzender der TiePa, erfolgreicher Manager

Gudrun Vetter, Heikos Ehefrau

Wolfgang Junghans, ebenfalls Mitglied in der TiePa

Kathrin Schleierweg, Nachbarin der Liepolds

Frau Bilgur, ältere Dame, Clooneys und Gismos Frauchen, Peters Nachbarin

Herr Petkow, Malermeister, neu in Peters Nachbarschaft

*

Handelnde Tiere:

Socke, schwarzer Kater mit weißen Pfoten, lebt bei Hauptkommissar Peter Flott, liebt Katze Mimi

Mimi, dreifarbige Tigerkatze, lebt bei der Politikerin Eva Liepold

Clooney, mollige grau getigerte Katze, Sockes Nachbarin, einem Imbiss nie abgeneigt

Mikey, Tigerkater mit blauem Halsband, Revierchef, kann lesen

Suleika, Perserkatze, weiß immer alles (besser)

Gismo, Jungkater mit Entdeckerdrang, Clooneys Sohn

Champion, freiheitsliebender Norwegischer Waldkater, der im Revier lebt

Jasper, stets kränkelnder Riesenschnauzer, lebt im selben Haushalt wie Suleika

Angelique, Dackeldame und Jaspers Flamme

Prolog

Versonnen betrachtete er das Plakat. »Ist sie nicht wunderschön?«

»Hm.«

»Diese herrlichen grünen Augen! Das niedliche Näschen.«

»Auf solchen Werbeplakaten sehen die immer toll aus«, brummte sein Kumpel.

Aber er ließ sich nicht beirren: »Die anmutige Haltung!«

»Ist ja schon gut. Können wir jetzt weitergehen?«

»Der elegante Schnurrbart!«

»Socke, es reicht«, schnaufte Kater Mikey entnervt. »Ich habe verstanden, dass dir diese Katze gefällt. Und sie ist ja auch ganz hübsch. Aber das ist ein Wahlplakat und auf denen sehen alle gut aus. Lass uns in den Park gehen, Mäuse fangen«, lockte der Getigerte seinen Katzenkumpel.

Den schwarzen Kater mit den weißen Pfoten konnte diese Argumentation nicht überzeugen. Er wollte sich einfach nicht von dem Anblick losreißen, der sich ihm bot. Mit verschleiertem Blick himmelte er die dreifarbig getigerte Katze auf dem überlebensgroßen Plakat an, die werbewirksam neben einer blond gelockten, nach menschlichen Maßstäben ebenfalls durchaus ansehnlichen Frau posierte.

»Hallo. Erde an Socke«, versuchte es Mikey weiter. »Wenn du nicht in den Park möchtest, können wir auch einen Gang durchs Revier machen. Ist sowieso mal wieder Zeit.«

Socke schwieg und schmachtete.

»Hör mal. Wir könnten bei dieser Schönen zu Hause vorbeischauen«, spielte Mikey seinen letzten Trumpf.

Endlich schien er zu seinem Kumpel durchgedrungen zu sein. »Du weißt, wo sie wohnt?«

»In der Esperantostraße. Hab es in der Zeitung gelesen.«

Socke glaubte ihm aufs Wort, denn der getigerte Kater konnte tatsächlich lesen. Er hatte es zusammen mit der Tochter seiner Familie gelernt. Als das kleine Mädchen vor zwei Jahren in die Schule gekommen war, hatte der schlaue Kater ihr über die Schulter geschaut.

»Gestern war ein großer Bericht über diese Frau in der NHP«, erläuterte Mikey. »Am Sonntag ist doch Wahl und sie möchte, ähm«, er dachte angestrengt nach, »sie will Stadtbezirksrat werden«, beendete er schließlich seinen Satz und setzte eine wichtige Miene auf.

»Aha!«

Ein bisschen mehr Euphorie hätte sich der getigerte Kater schon gewünscht. »Dann mache ich mich halt alleine auf den Weg«, sagte er und wandte sich zum Gehen.

»Nein, warte!« Endlich riss sich Socke vom Anblick seiner Angebeteten los. »Ich komm ja schon …«

Kapitel 1 Sonntag, Wahltag

Bald würde sie tot sein!

Zufrieden verkorkte er ein Fläschchen und verstaute es in einem Jutesäckchen. Im Internet hatte er recherchiert: Je grober der Stoff, desto schwerer ist es, Fingerabdrücke darauf festzustellen. Deshalb hatte er eigens zu diesem Zweck ein Geschenktütchen aus grober Jute gebastelt. Er packte das Ganze in eine Papiereinkaufstasche und zog schließlich die Plastikhandschuhe aus. Seine Hände waren schweißnass, aber so hatte er nahezu keine Spuren hinterlassen. Und das würde auch so bleiben. Leider musste er das Jutebeutelchen kurz anfassen, um es ihr zu übergeben. Die Einkaufstasche hingegen würde er zurückbehalten. Weder die Verpackung noch der Inhalt konnten Hinweise auf ihn geben. Es handelte sich um Dutzendware; er hatte beides in der Ernst-August-Galerie hier in Hannover gekauft und bar bezahlt. Tausende Menschen gingen täglich in diesem Einkaufszentrum nahe des Hauptbahnhofs ein und aus.

Ja, er war gut vorbereitet. Selbst was mögliche Motive anging, hatte er sich, wie er fand, geschickt aus der Schusslinie gebracht. Der anonyme Brief war ein genialer Schachzug gewesen. Nur zur Sicherheit, falls diese dumme Reporterin immer noch nicht gemerkt hatte, was längst die Spatzen von den Dächern pfiffen.

Jetzt hieß es, den geeigneten Moment für die Übergabe abzuwarten. In Gedanken hatte er auch den bereits geplant. Er kannte ihre Gewohnheiten genau und war sich sicher, dass es heute dazu kommen würde. Dass sie wegen seiner überraschenden Zuwendung misstrauisch werden könnte, zog er nicht in Betracht, dazu war sie viel zu egozentrisch und selbstverliebt.

Er lachte in sich hinein. Nicht mehr lange, dann würde ihr ebendiese Ich-Bezogenheit zum Verhängnis werden.

Bald war sie tot – und der Weg frei für ihn …

*

Katerstimmung!

Socke wusste zwar nicht, warum, aber genau mit diesem Wort beschrieben die Menschen den Zustand, in dem sich Peter gerade befand. Peter Flott, Hauptkommissar der Mordkommission, bei dem der schwarze Kater mit den weißen Pfoten seit gut einem Jahr lebte, war eindeutig in Katerstimmung.

Angefangen hatte alles vor etwas mehr als einer Woche. Peters Freundin Chris – eine Tierärztin, zu der Socke ein durchaus ambivalentes Verhältnis hatte –, hatte das gemeinsam geplante Wellnesswochenende in Lüneburg kurzfristig abgesagt. Ein Kollege von ihr war erkrankt und es fand sich kein anderer Ersatz für den Wochenend-Notdienst. Peter habe doch sicher Verständnis? Hatte er nicht. Er war erst ziemlich laut, dann ganz leise geworden. Nämlich als Chris ihm eine vorübergehende Auszeit vorschlug. Vorsichtig hatte Socke hinter einem Sessel hervorgelugt, wo er sich zu diesem Zeitpunkt sicherheitshalber verschanzt hatte. Er kannte solche Ausbrüche von seinem Mitbewohner nicht und ahnte, dass es ernst war. Chris und Peter hatten danach noch eine ganze Weile geredet und deshalb tatsächlich vergessen, Socke pünktlich zu füttern – es musste also wirklich ernst sein. Schließlich war Chris nach Hause gefahren und Peter hatte den Kurzurlaub abgesagt.

Seither hatte der Hauptkommissar schlechte Laune und vernachlässigte seinen tierischen Mitbewohner aufs Sträflichste. Wäre der Kater nicht gerade in besonders guter Stimmung gewesen, hätte er ernsthafte Konsequenzen, wie Zerfetzen der ungelesenen Tageszeitung oder Verschleppen des Haustürschlüssels, in Betracht gezogen.

Doch Socke war verliebt. Und dank seines Katzenkumpels Mikey sah er seine Angebetete jetzt täglich. Sie wohnte nur ein paar Straßen weiter und saß meistens im Wohnzimmer ihres Hauses hinter dem großen Pa­­noramafenster. Von da aus schmachteten sich Socke und Mimi an. Freigang hatte die schöne dreifarbige Katze nicht, aber die beiden verständigten sich mit Blicken und Gesten, was in Katzenkreisen nicht unüblich ist. Ihren Namen kannte Socke, dank Mikey, dem getigerten Nachbarskater und Revierchef, aus der Zeitung.

Während also Socke im siebten Himmel schwebte, herrschte bei dem 51-jährigen Peter Flott Katerstimmung, verkehrte Welt!

Gestern Abend war der von Liebeskummer Geplagte mit seinem Kumpel, dem Tierpfleger Arno, einen trinken gewesen. Zuvor hatte er sich am Telefon ausführlich über die Frauen im Allgemeinen und Chris im Besonderen beklagt. Socke war nicht ganz klar geworden, was Peter an der Tierärztin plötzlich störte. Natürlich, sie gehörte von Berufs wegen nicht zu den Freunden des Katers, aber daran hatte Peter bislang nichts auszusetzen gehabt. Und dass er sich darüber beklagte, seine Freundin habe nie Zeit für ihn und würde häufig Verabredungen absagen, fand Socke ungerecht, denn als Hauptkommissar der Mordkommission war Peter selbst nicht besser. Nicht zuletzt deshalb war seine Ehe seinerzeit in die Brüche gegangen. Genau das hatte ihm gestern Abend wohl auch Arno, unter Zuhilfenahme von reichlich Rotwein, erklärt. Jedenfalls bedauerte Peter heute Morgen sein unkooperatives Verhalten gegenüber Chris von vor einer Woche und seinen Alkoholkonsum der vergangenen Nacht.

»Ob ich sie anrufen soll?« Unschlüssig betrachtete er den Telefonhörer.

Mach doch!, dachte Socke.

Der Kommissar legte den Hörer zurück. »Na, ich trinke erst mal einen Kaffee. Und ein Aspirin wäre ebenfalls nicht schlecht.« Er erhob sich ächzend und schlurfte Richtung Küche.

Socke setzte sich gleichfalls in Bewegung: Dann kannst du mich auch endlich füttern, dachte er.

*

Rosa Schablonski schenkte sich Kaffee nach und gähnte. Dabei war es gestern gar nicht sonderlich spät geworden. Raimund oder »Ray«, wie er sich selbst nannte, hatte sich als absoluter Reinfall entpuppt. Den ganzen Abend über hatte er von sich und seinen Reisen geredet. Von denen, die er unternommen hatte, und denen, die er plante. Irgendwann, als er ihr die Gewürze eines marokkanischen Marktstandes einzeln aufgezählt hatte, hatte Rosa auf Durchzug geschaltet und das Date so schnell wie möglich beendet. Sie hatte Ray im Internet auf einer dieser Dating-Plattformen kennengelernt und sich spontan mit ihm verabredet. Sein Profil hatte ganz nett geklungen, und er hatte signalisiert, dass ihm der üppige Typ lag, den sie verkörperte. Ausnahmsweise trug sie ihre langen dunklen Haare offen und statt ihrer Brille die blau getönten Kontaktlinsen. Vergebliche Liebesmühe, wie sich herausstellte, sein Interesse galt einzig sich selbst. Es war nicht die erste Pleite, die sie auf diese Weise erlebt hatte, dennoch gab es in ihrem Bekanntenkreis viele Anhänger von Singlebörsen. Vielleicht war sie zu anspruchsvoll, was Männer anging? Sie hatte konkrete Vorstellungen vom idealen Mann und denen wurden eben nicht so viele gerecht.

Sie warf einen Blick auf die Zeitung von gestern. Die heute stattfindenden Kommunalwahlen hatten es bis auf die erste Seite geschafft. Eva Liepold wurde im Bezirk Döhren-Wülfel, zu dem der Stadtteil Mittelfeld gehörte, als eine der Favoritinnen für das Amt der Stadtbezirksrätin gehandelt. Nicht zuletzt dank des Interviews, das sie selbst, Rosa, mit ihr geführt hatte, wurde sie jetzt als sympathische, offene und kompetente Kandidatin dargestellt, die, getreu den Maximen ihrer Partei, Tierschutz nicht nur predigte, sondern lebte. Die Zeit war reif für einen Wandel. Die Verantwortung, die diese junge Frau übernahm für die arme, hilfsbedürftige Tierheimkatze – gut sichtbar auf den Wahlplakaten –, kam an, und ihr attraktives Äußeres, werbewirksam in Szene gesetzt mit der niedlichen Katze, tat das Übrige. Rosa kannte Eva von früher. Dieser Umstand hatte ihr das Interview mit ihr beschert, und Eva war wirklich sehr nett gewesen. Aber Rosa wusste, dass sich hinter dieser einnehmenden Fassade eine knallharte Karrierefrau verbarg, die, wenn nötig, über Leichen ging.

Und offenbar war sie nicht die Einzige, die das herausgefunden hatte, wie ein anonymes Schreiben bestätigte. Der Brief hatte sie am Freitagmorgen in der Redaktion erreicht und sie war gleich damit zu ihrem Chefredakteur gegangen. Doch der hatte abgewinkt. »Du hast keinerlei Beweise«, war sein erster Einwand gewesen, gefolgt von: »Allein die Aufmachung ist lächerlich.« Damit hatte er recht gehabt, der Brief bestand aus ausgeschnittenen Buchstaben und wirkte auf den ersten Blick tatsächlich eher albern als bedrohlich. Besonders grotesk war die Unterschrift »ein Freund«. Das Schreiben war an sie, Rosa, gerichtet gewesen und nicht an den gehörnten Ehemann der Denunzierten. »Das ist nicht unser Niveau«, hatte ihr Chef die Diskussion beendet.

Rosa besah sich den Brief nun zum wiederholten Male. Die Art und Weise wirkte tatsächlich wie ein Dummejungenstreich, aber der Inhalt erschien plausibel und das darin beschriebene Verhalten war ihrer ehemaligen Studienkollegin durchaus zuzutrauen. Ob es ihrem Chef nun passte oder nicht, sie würde der Sache auf den Grund gehen. Sie griff zum Telefonhörer.

*

»Socke, hast du mir überhaupt zugehört?« Ungeduldig tippte die mollige Grautigerin Clooney ihrem Katzennachbar auf die Schulter.

»Äh, es ging um, äh, Essen?«, riet der Angesprochene, immerhin war das Clooneys Lieblingsthema.

»Tatsächlich, du hast mir also doch zugehört. Ich habe gerade laut darüber nachgedacht, ob man als prominente Katze besonderes Futter bekommt.«

»Prominente Katze?«, kam es von oben. Suleika war auf der Mauer gegenüber aufgetaucht, die sie gerne als »ihre Mauer« bezeichnete, weil sie das Haus umgab, in dem die Perserin zusammen mit ihrem Menschen und dem Riesenschnauzer Jasper lebte. »Redest du von mir?«

»Wie kommst du denn darauf? Du bist doch nicht prominent«, fauchte Clooney.

Socke versank wieder in seine Gedanken und schaltete auf Durchzug, die obligatorischen Wortgefechte der beiden Nachbarskatzen interessierten ihn wenig. Er fuhr sich mit der Pfote über die Ohren. Er beabsichtigte, gleich noch mal in der Esperantostraße vorbeizuschauen, und da musste jedes Härchen sitzen.

»Nun in gewisser Weise schon«, behauptete Suleika.

»Na, die gewisse Weise will ich kennenlernen«, stichelte Clooney weiter.

»Das kannst du gerne«, versprach die Perserin.

»Mist«, murmelte die Grautigerin, während Suleika fortfuhr: »Das Herrchen von Angelique, diesem Dackelflittchen, hat sich gestern bei meinem Menschen nach mir erkundigt. Er hatte mich bereits vermisst, weil ich ein paar Tage unpässlich und deshalb nicht auf meiner Mauer anzutreffen war.«

»Statt dass er froh ist, der Blödmann!«, warf Clooney ein.

»Interessiert es euch denn gar nicht, was ich hatte?«, wollte Suleika wissen.

»Solange du es überlebt hast? Nein!«, gab die Grautigerin zurück. »Im Übrigen habe ich eben ein wichtiges Gespräch mit Socke geführt, als du uns gestört hast.«

Der Angesprochene verrenkte sich gerade, um seinen Rücken zu putzen, und reagierte nicht.

»Pah! Ich hatte eine Futtermittelallergie«, trumpfte die Perserin auf.

»Ach du liebe Güte. Ist das ansteckend? Socke! Sag doch auch mal was!« Der Kater blickte erstaunt auf. Clooney zuckte nervös mit dem Schwanz und trat vorsichtig ein paar Schritte zurück, ohne die graue Perserin aus den Augen zu lassen.

Suleika setzte eine blasierte Miene auf. »Wo denkst du hin? Nun, also, ich habe eine ganz leichte Form, aber es gibt schlimmere Ausprägungen, da kann man an einem allergischen Schock sterben, wenn …«

Clooney machte sich zum Sprung auf die Mauer bereit. Socke stellte sich ihr in den Weg. Beim letzten Mal, als die beiden Katzen aneinandergeraten waren, hatte Suleika eine böse Schramme auf der Wange davongetragen, die nach ihrer eigenen Aussage drei Wochen lang mit einer scharfen Salbe hatte behandelt werden müssen. Glaubte man den Worten der Perserkatze, war sie nur knapp mit dem Leben davongekommen.

Auf erneutes Wehklagen dieser Art konnte der Kater verzichten. »Was wolltest du gleich von mir wissen?«, lenkte er deshalb die mollige Grautigerin ab.

»Ich möchte wissen, ob deine Freundin, die von dem Wahlplakat, besonderes Futter bekommt?«, interessierte sich Clooney.

»Pah, Ignoranten!«, hörte man von der Mauer.

»Ich hab sie nicht gefragt.«

»Über was redet ihr denn die ganze Zeit?«, wunderte sich die Tigerin, um gleich darauf mit verträumtem Blick fortzufahren: »Also, ich könnte mir schon vorstellen, dass man als berühmte Katze jede Menge Fanpost bekommt mit verschiedensten Leckereien aus der ganzen Welt.«

»Diesen Unsinn höre ich mir nicht länger an.« Suleika sprang mit geräuschvollem Schnauben zurück in den Garten ihres Hauses.

*

Was war nur mit dem Kater los? Peter betrachtete ratlos den Futternapf. Ganz gegen seine Natur hatte Socke ihn halb voll zurückgelassen, als er sich vor einer guten Stunde zu seinem Streifzug aufgemacht hatte. In letzter Zeit war sein pelziger Hausgenosse auffällig viel unterwegs. Vielleicht war ihm die depressive Stimmung des Hauptkommissars auf den Magen geschlagen? Peter straffte die Schultern. Arnos Standpauke von gestern Abend hatte ihn wachgerüttelt. Zwar hatte er sich bisher nicht dazu durchringen können, Chris anzurufen, doch er hatte es sich fest für den Abend vorgenommen. Eine ausgiebige Dusche beseitigte einen Teil der Spuren seines gestrigen Gelages. Halbwegs wiederhergestellt wollte er seiner Bürgerpflicht nachkommen. Er steckte Ausweis und Benachrichtigung ein und machte sich auf den Weg zum Wahllokal. Normalerweise hätte er, trotz der kurzen Strecke bis zur Spittastraße 2, seinen Roller genommen, aber heute würde ihm und seinem Kater die frische Luft sicher guttun.

Schon von Weitem sah er ihren Wagen mit dem Logo der Tierarztpraxis. Klar, Chris wohnte im selben Wahlkreis. Einen Moment überlegte Peter, einen Umweg zu gehen, um das Zusammentreffen noch etwas hinauszuzögern, doch dann fasste er sich ein Herz. Immerhin nahm er es Tag für Tag mit den übelsten Verbrechern auf, da würde er doch jetzt nicht vor der Begegnung mit seiner Ex zurückschrecken. Während er in Gedanken den Begriff »Ex« mit dem Adjektiv »vorübergehend« versah, betrat er das Wahllokal. Chris befand sich gerade in einer der Kabinen und so nutzte er seine kleine Schonfrist dazu, sich auszuweisen und seinen Wahlzettel entgegenzunehmen. Als er sich umdrehte, stand sie hinter ihm und lächelte. Sein Herz machte einen erschrockenen Satz. Die Tierärztin hatte ihre dunkelbraunen Haare nachlässig hochgesteckt. Eine dunkelgrüne Brille zierte ihr Gesicht – was nicht immer der Fall war –, dieses Modell betonte ihr schmales Gesicht mit den grünen Augen vorteilhaft. Peter merkte, wie er rot wurde. Typisch für Chris, stellte sie sich offensichtlich ohne Zögern der Situation.

»Hallo, wie geht’s?«, eröffnete sie das Gespräch.

»Na ja«, Peter räusperte sich, »nicht besonders.« Als er die interessierten Blicke der Umstehenden bemerkte, fügte er hinzu: »Soll ich dich zum Wagen bringen?«

Chris nickte. »Wie war es in Lüneburg?«, fragte sie im Hinausgehen.

»Bin nicht dort gewesen.« Verlegen betrachtete Peter die Wahlunterlagen in seinen Händen. »Ich … habe es abgesagt.«

»Hast du das Geld zurückbekommen?«

Peter schüttelte den Kopf.

»Das ersetze ich dir selbstverständlich. War schließlich meine Schuld.« Die Tierärztin wandte sich zum Gehen.

»Nein!«, rief Peter. Ein Passant musterte ihn erstaunt. »Du musst mir kein Geld geben«, fuhr er leiser fort. »Aber ich würde mich freuen, wenn …«

»Wie wäre es, wenn wir uns morgen bei unserem Italiener treffen?«, schlug Chris lächelnd vor.

Peter nickte.

»Um sieben?«

»Hm, hm.«

»Na dann … ich muss weiter, hab mal wieder Wochenenddienst.« Mit diesen Worten wandte sich Chris ihrem Auto zu. »Na, hoffentlich ist er bei seinen Verhören wortgewandter«, meinte Peter von ihr noch zu hören.

*

Heiko Vetter legte seinem Schützling den Arm um die Schulter und winkte den Fotografen zu. Kameras klickten. Die ersten Hochrechnungen waren eindeutig, man hatte allen Grund zu feiern: Eva Liepold hatte es als Einzelvertreterin der TiePa in den Stadtbezirksrat geschafft.

»Kann ich später noch bei dir vorbeikommen?«, raunte er der attraktiven Blondine zu. »Hab meiner Frau erzählt, wir wollen unseren Sieg feiern. Wo dein Mann doch gerade Luchse im Harz fotografieren muss.«

»Ich habe den Sekt schon kalt gestellt.« Eva stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte dem 57-Jährigen einen Kuss auf die Wange.

Der wich ruckartig aus. »Übertreib es nicht.«

»Er ist wie ein Vater für mich«, rief Eva den Reportern fröhlich zu, die sich bereits zum Gehen gewandt hatten und nach dieser Geste ihre Fotoapparate erneut zückten. Die frischgebackene Stadtbezirksrätin erkannte Rosa Schablonski zwischen den Blitzlichtern und zwinkerte ihr übermütig zu. Sie spürte, wie Heikos Griff fester wurde. »Autsch«, entfuhr es ihr leise, dann sagte sie laut an die Journalisten gerichtet: »Ich verdanke ihm viel.«

»Mehr als du denkst«, presste ihr Mentor zwischen den Zähnen hervor.

»Wenn du später lieber zu deiner Frau nach Hause willst? Bitte!«, zischte Eva und strahlte weiter in die Kameras. Die Reporter verloren nun trotzdem endgültig das Interesse. Es war Sonntagabend und das hier nicht die Bundestagswahl. Die Fotos waren im Kasten, und auf den einen oder anderen wartete schon der nächste Wahlkreis.

Nur Rosa hatte es nicht eilig. »Glückwunsch!«, sagte sie, als sie näher herangekommen war.

»Danke, gehst du zur Siegesfeier?«, fragte Eva. Der Seitenblick ihres Gegenübers auf Heiko entging ihr genauso wenig wie dessen daraufhin versteinerte Miene.

»Ach, ich will nicht stören.«

Evas Antwort »Du störst doch nicht« kam zeitgleich mit Heikos: »Das ist für Außenstehende auch langweilig«, wobei Rosa sein warnender Unterton nicht entging. Fragte sich nur, wem die Warnung galt.

Auf Eva machte sie jedenfalls keinen besonderen Eindruck. Sie befreite sich von Heikos Arm und gesellte sich zu den letzten verbliebenen Parteigenossen. Ein junger Mann hielt ihr ein Päckchen Zigaretten entgegen und nach kurzem Nicken verschwanden die beiden Richtung Hinterausgang.

*

Heikos Miene hatte sich während dieser Szene weiter verfinstert. Rosa betrachtete ihn von der Seite. Für sein Alter sah er ganz gut aus. Groß und athletisch gebaut und nur an den Schläfen ergrautes, volles dunkles Haar. Ein Mann, der wusste, was er wollte, und es auch bekam. Nicht umsonst war er Chef einer großen Unternehmensberatung. Sie nahm ihre Brille ab und ließ sie in ihre Handtasche gleiten.

»Haben Sie noch Fragen?«, erkundigte er sich unwirsch, ohne sie auch nur anzusehen.

»Wie steht Ihre Familie eigentlich zu Ihrem Engagement in der TiePa-Partei? Als Manager einer großen Firma haben Sie doch sicher ohnehin wenig Zeit.«

Endlich wandte er sich ihr zu. »Meine Frau steht voll und ganz hinter mir. Sie hat gewusst, auf was sie sich einlässt, als sie mich geheiratet hat.«

Sein abschätziger Blick ärgerte sie. »Man kann seine Meinung ändern. Heute zum Beispiel: Den ganzen Sonntag sind Sie im Dienste der Partei unterwegs und abends noch die Siegesfeier.«

»Das«, die Stimme des Topmanagers war jetzt gefährlich leise, »lassen Sie mal meine Sorge sein.«

Kapitel 2 Montag

»Socke! Socke, warte doch mal.« Schnaufend lief Clooney dem weißpfotigen Kater hinterher, der sich mal wieder auf dem Weg in die Esperantostraße befand. »Gehst du zu deiner Freundin?«

Socke blieb widerstrebend stehen und drehte sich um. »Ja.«

»Ich komme mit.« Die mollige Katze ließ sich schweratmend vor ihm nieder. »Nur noch einen kleinen Moment.«

Socke war wenig begeistert. »Ich weiß nicht. Für dich ist das doch langweilig, wenn wir …«

»Ach was«, unterbrach die Grautigerin ihn. »Ich denke, es wird sehr interessant. Ich möchte sie fragen, was man als berühmte Katze so zu fressen bekommt.«

»Ich kann sie doch fragen«, bot Socke an.

»Das hättest du schon lange tun sollen, aber du vergisst es ja immer. Nein, ich begleite dich besser.«

»Nehmt ihr mich mit?« Zu Sockes Unmut näherte sich jetzt auch noch Gismo, Clooneys Sohn. Eigentlich war er ein ganz patenter Kerl, aber zu Mimi wäre Socke lieber alleine gegangen. »Ich habe deine Freundin im Fernsehen gesehen.«

Gismo und Clooney wohnten beide bei Frau Bilgur, einer älteren Dame, die aufgrund ihrer Sehschwäche eine Fernbedienung mit besonders großen, seniorengerechten Tasten besaß. Der findige Jungkater hatte irgendwann herausgefunden, wie man damit umgehen muss, und war seither über das TV-Programm bestens informiert. Frau Bilgur wunderte sich zwar, warum ihr Fernseher manchmal angeschaltet war, wenn sie beispielsweise vom Einkaufen zurückkam. Aber da sie mit dem Programmieren von dessen Zeitschaltuhr auf Kriegsfuß stand, vermutete sie darin den Grund dafür.

»Im Fernsehen?« Sowohl Socke als auch Clooney merkten auf.

»Auf h1, das ist ein hannoverscher Sender. Die bringen einmal im Monat einen Bericht aus dem Tierheim hier. Kennt ihr das nicht?«

Blöde Frage! Die beiden Älteren schüttelten einvernehmlich den Kopf.

»›Tierheim TV‹ heißt das. Ist echt spannend«, begeisterte sich Gismo. »Na, und Mimi kommt ja aus dem Tierheim, deshalb haben die über sie berichtet.«

»Was haben sie denn gesagt?«, wollte Socke wissen.

»Haben sie gezeigt, was sie so zu fressen bekommt?«, interessierte sich Clooney.

»Jemand hat sie in einem Karton in der Mülltonne gefunden«, berichtete der Jungkater. »Da war sie noch ein Baby. Inzwischen ist sie ja ein ganz schön heißer Feger.«

Socke fauchte ihn reflexartig an.

»Hey, schon gut, Kumpel«, wiegelte Gismo ab. »Ich mach dir die Kleine nicht abspenstig.«

»Er schaut eindeutig zu viel fern«, murmelte seine Mutter nachdenklich, dann richtete sie sich auf. »Was ist jetzt? Gehen wir?«

Socke sah ein, dass er die beiden nicht loswerden würde, und so trabten sie gemeinsam Richtung Esperantostraße. Die letzten Meter preschte er voraus, schlüpfte durch die niedrige Hecke, die das Grundstück seiner Angebeteten umgab, und hielt auf die große Terrasse zu. Wenige Meter bevor er sein Ziel erreichte, stellten sich seine Nackenhaare auf. Eine eisige Hand schien nach seinem Herzen zu greifen. Der Platz hinter dem riesigen Panoramafenster, von dem aus seine Liebste ihn immer begrüßte, war leer. Sie wusste doch, dass er kommen würde, und bisher hatte sie dort jedes Mal auf ihn gewartet. Wie angewurzelt blieb Socke stehen. Fassungslos starrte er hinein. Gismo und Clooney schlossen zu ihm auf.

»Wo ist sie?«, fragte die Katze.

»Sie ist weg!« Socke hatte in seiner Panik Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu halten.

»Vielleicht frisst sie gerade«, mutmaßte Clooney.

»Oder sie musste mal«, suchte Gismo nach einer Erklärung. »Im Fernsehen haben sie gesagt, sie sei eine reine Hauskatze, die gehen aufs Katzenklo.«

»Ihr Kissen«, flüsterte Socke. »Das Kissen, auf dem sie immer sitzt … Es ist weg.«

»Ach, das kann tausend Gründe haben«, die Grautigerin schien den Ernst der Lage nicht erkennen zu wollen. »Sie hat bestimmt draufgekleckert und ihr Mensch wäscht das Kissen gerade.«

Socke schüttelte nur stumm den Kopf.

»Meinst du, sie wurde entführt?«, witterte der fernsehbegeisterte Gismo ein Verbrechen.

Der Kater mit den weißen Pfoten suchte das Innere des Raums mit den Augen ab, seine Schnurrhaare zitterten. »Auf jeden Fall stimmt da etwas nicht.«

»Schau mal, dort drinnen! Auf dem Sofa liegt eine Frau.« Clooney klopfte mit der Pfote an die Scheibe.

Gismo bewegte sich schnüffelnd an der Hauswand entlang. »Du warst hier«, wandte er sich mit dem überflüssigen Ergebnis seiner Untersuchung an Socke.

»Jeden Tag«, seine Mutter richtete sich am Fenster auf. »Das ist kein Geheimnis.«

Socke spähte weiter in den großen Raum hinein. Tatsächlich lag da eine Frau auf der Couch. Soweit er erkennen konnte, war es die von den Plakaten, Mimis Menschin, wie er wusste. Sie schien zu schlafen, und zwar fest, denn sie reagiert nicht auf Clooneys fortwährendes Klopfen. Auf dem Tisch vor ihr standen Flaschen und zwei Gläser. Sektgläser, der Kater kannte die Form. Möglicherweise hatte die Frau zu viel von dem Sekt getrunken und wachte deshalb nicht auf. Ein derartiges Phänomen hatte Socke bei den Menschen beobachtet. Neben der Frau machte er ein Kissen aus – dem von Mimi, das gestern noch direkt vor dem Fenster gelegen hatte, nicht unähnlich. Von Mimi selbst entdeckte er keine Spur. Die Szenerie hinter der Scheibe wirkte wie eingefroren. Irgendwie gespenstisch. Die Frau bewegte sich nicht, sie schien nicht einmal zu atmen. Clooney ließ resigniert die Pfote sinken: »Meint ihr, sie ist tot?«

*

»Sie ist tot!« Die Stimme der Anruferin überschlug sich.

10.37 Uhr. Der Beamte in der Notrufzentrale notierte routinemäßig die Uhrzeit – eine Marotte von ihm, denn selbstverständlich wurde die automatisch festgehalten –, während er versuchte, die Dame am anderen Ende der Leitung zu beruhigen. Gleichzeitig galt es, so schnell wie möglich die Lage zu erfassen. »Was ist passiert?«

»Ich weiß es doch nicht. Ich … ich bin gerade erst gekommen und … und da lag sie.«

»Wo? Wo befinden Sie sich?«

Die Frau atmete schwer, schien jedoch ein klein wenig ruhiger zu werden. »Ich bin Kristina Herzog, die Putzfrau«, stellte sie sich unaufgefordert vor und schluchzte auf.

»Frau Herzog, wo befinden Sie sich?«, bemühte sich der Bereitschaftspolizist um eine sanfte Tonlage.

»Esperantostraße 7«, flüsterte die Putzfrau, als habe sie Angst, belauscht zu werden. »Bei Liepold.«

Der Name kam ihm bekannt vor, hatte er den nicht vorher in der Zeitung gelesen? »Können Sie mir sagen, was passiert ist?«

»Sie sieht aus, als ob sie schläft. Es ist Eva Liepold.«

Natürlich! Im Regionalteil hatte er ein Foto von ihr gesehen, die neue Bezirksrätin im Stadtteil Mittelfeld. Ehrgeizig, jung, attraktiv und nun tot? »Frau Herzog, bleiben Sie bitte vor Ort, Hilfe ist unterwegs.«

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»Sie ist tot!« Gebannt starrte Clooney durch die Scheibe. »Habt ihr das gehört?«

Die ältere Dame im Inneren des Hauses gebärdete sich sichtlich erregt. Gemächlich war sie in den Raum eingetreten, fröhlich vor sich hin summend. Als sie die Frau auf dem Sofa hatte liegen sehen, hatte sich ihr Schritt beschleunigt. »Hallo, Frau Liepold, aufwachen!«, hatte sie laut gefordert, und als keine Reaktion erfolgt war, hatte sie die Leblose an der Schulter gefasst. Ein Blick in deren Gesicht hatte gereicht, und sie hatte entsetzt aufgeschrien. Die Katzen hatten die Luft angehalten. Hektisch hatte die Frau nach dem Telefon gesucht, schien sich in ihrer Aufregung mehrfach verwählt zu haben, bevor sie schließlich die drei Worte in den Hörer gekreischt hatte: »Sie ist tot!«

Socke saß wie versteinert da, die Augen schreckgeweitet. »Mimi!«, flüsterte er.

»Nicht Mimi«, korrigierte ihn Clooney, »die Frau auf dem Sofa.«

»Sie sieht aus, als ob sie schläft«, ließ Gismo sich von oben vernehmen. Um einen besseren Überblick zu haben, war er auf einen kleinen Apfelbaum geklettert, dessen Ast sich unter dem Gewicht des Katers gefährlich bog. »Mimi ist nirgends zu sehen«, versuchte er seinen Katzenkumpel zu beruhigen.

»Aber wo kann sie sein?«, maunzte der verzweifelt.

»Vielleicht sucht sie was zu fressen«, bot Clooney eine Erklärung. »Du weißt ja nicht, wie lange die Frau schon tot ist.«

Der Ast des Apfelbaums knackte, als Gismo heruntersprang. »Wir müssen die Spuren sichern, bevor hier noch mehr Menschen auftauchen.« Damit steuerte er resolut zur Hausecke, Richtung Eingang.

»Mein Sohn.« Stolz schwang in Clooneys Stimme mit. Sie streckte sich kurz und folgte dann dem Jungkater.

Zögernd schloss sich Socke den beiden an. Sein Instinkt sagte ihm, dass sich seine Angebetete nicht mehr im Haus befand. Bisher hatte er sie immer hier angetroffen, auch wenn sie nicht verabredet gewesen waren. Sie hatte jedes Mal seine Nähe gespürt und war zum Fenster gekommen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie heute freiwillig fernblieb. Hier stimmte etwas nicht, und er, Socke, würde herausfinden, was. Er würde Mimi finden!

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»Du hast ja so gute Laune.« Erstaunt sah Lisa Sander ihren Chef über die Schüssel mit Kürbiscremesuppe hinweg an.

Peter lächelte und schob seinen Teller zur Seite. Die beiden aßen in der Polizeikantine zu Mittag, und er hatte sich für einen Fitnesssalat entschieden, schließlich wollte er sich für den Abend beim Italiener seinen Appetit bewahren. »Soll das heißen, ich war in der letzten Zeit schlecht gelaunt?«

»Na ja, sagen wir’s mal so: Ich kann mir jetzt vorstellen, woher der Ausdruck ›Miesepeter‹ kommt. Aber erzähl«, beeilte sich die 55-Jährige zu sagen, bevor die Stimmung ihres Vorgesetzten wieder umschlug, »hattest du am Wochenende ein Date?« Sie und Peter kannten sich ihr halbes Berufsleben lang, und so durfte sie sich solch eine indiskrete Frage erlauben. Früher waren sie Seite an Seite Streife gelaufen. Lang, lang war es her. Zwischenzeitlich war der Kontakt etwas eingeschlafen. Lisa war vor einigen Jahren Mutter geworden und an ihre Elternzeit hatte sich eine längere Periode als Halbtagskraft in der Schreibstube der Polizei angeschlossen. Dann hatte Peter, nunmehr Hauptkommissar der Mordkommission, sie in sein Team geholt und die alte Vertrautheit war wieder gewachsen. »Oder hast du dich mit Chris ausgesöhnt?« Sie wandte sich der Nachspeise auf ihrem Tablett zu.

»Beinahe.« Die rote Grütze sah lecker aus. Peter überlegte, ob er sich nach dem übersichtlichen Salat nicht wenigstens einen Nachtisch gönnen sollte. »Wir sind heute Abend verabredet«, verriet er.

»Wie schön!« Lisa freute sich ehrlich. »Hast du dir ein Herz gefasst und sie angerufen?« Sie leckte genüsslich ihren Dessertlöffel ab.

»Das erzähle ich dir gleich.« Peter erhob sich. »Zuerst hole ich mir noch einen Nachtisch.« In dem Moment klingelte sein Telefon, das er neben seinem Teller auf das Tablett gelegt hatte. An der Nummer auf dessen Display erkannte er, dass er wohl auf sein Dessert verzichten müsste.

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Sieben Anrufe in Abwesenheit. Heiko Vetter legte sein Handy zurück auf den Nachttisch. Er hatte den Termin mit den Vertretern der Tischlerei Grothuis verpasst, aber so, wie er seine Sekretärin Anna kannte, hatte sie die Situation gemeistert und mit den Damen und Herren einen Folgetermin vereinbart. Mal abgesehen davon, dass er zurzeit andere Probleme hatte, ärgerte er sich, das Meeting mit dem Handwerksbetrieb überhaupt auf den Montagvormittag nach der Kommunalwahl gelegt zu haben. Doch im Moment boomte das Geschäft. ›Corporate Responsibility‹ hieß das Zauberwort, und seine Beratungsfirma, die sich lange vor dieser Modeerscheinung auf Nachhaltigkeit spezialisiert hatte, konnte sich vor Aufträgen kaum retten. Weil seine Firmenphilosophie seiner persönlichen Überzeugung entsprach, hatte er es nicht über sich gebracht, einfach nein zu sagen, und hatte den Termin mit dem Mittelstandsunternehmen dazwischengeschoben. Leider hatte er in letzter Zeit immer öfter den Überblick verloren. Sein langjähriges Engagement in der TiePa-Partei, die Expansion seiner Beratungsfirma und nicht zuletzt sein unseliges Verhältnis mit Eva Liepold drohten ihm, das Genick zu brechen. Hatten es möglicherweise bereits getan, schoss es ihm durch den Kopf, als Bilder der vergangenen Nacht vor seinem geistigen Augen auftauchten.

Was um Himmels willen war geschehen? Er konnte sich nur noch daran erinnern, wie er mit Eva auf ihren Wahlsieg angestoßen hatte. Danach: Filmriss! Panik stieg in ihm auf, als er seine leblose Geliebte wieder vor sich sah. War sie tot? Und hatte er etwas mit ihrem Tod zu tun? Sie hatte ausgesehen, als ob sie schliefe, aber er hatte sie nicht wecken können und schließlich überstürzt das Haus verlassen. Konnte es sein, dass er ein paar Stunden zuvor die Kontrolle verloren hatte? So etwas war ihm bisher noch nie passiert, doch Eva gelang es regelmäßig, ihn zu provozieren. Genau das war es, was ihn anfangs an ihr gereizt hatte. Sie forderte ihn heraus, und er ließ sich nur allzu gerne auf ihre Spielchen ein. Er, der brave Ehegatte, erfolgreiche Geschäftsmann, verantwortungsbewusste Mitbürger, fühlte sich geschmeichelt, als diese attraktive, junge Frau ihn begehrte. Ein bisschen Abwechslung in seinem Sexleben war ihm nach 26-jähriger Ehe gerade recht gekommen. Und hey! Er war doch der Siegertyp, der Macher, dem alles gelang. Midlife-Crisis nannte man das wohl.