Schlüsselreiz - Heike Wolpert - E-Book

Schlüsselreiz E-Book

Heike Wolpert

4,9

Beschreibung

Hannover, Heimtiermesse. Kater Socke möchte endlich einen seiner Verwandten finden, als er nicht über seine Wurzeln, sondern über eine Leiche stolpert. Der Tote im Schnee ist der Wachmann Dennis Dragowski. Wurde er mit seinem eigenen Schlagstock ermordet? Hauptkommissar Peter Flott, Sockes Besitzer, nimmt die Ermittlungen auf. Aber auch Socke und sein pelziges Team sind dem Täter auf der Spur. Hat der Tod des Wachmanns etwas mit dem Verschwinden eines prämierten Rassekaters zu tun? Peter Flott stochert indes im Liebesleben des Opfers herum, was nicht nur Freunde auf den Plan ruft.

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Heike Wolpert

Schlüsselreiz

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © fraufleer/photocase.de

ISBN 978-3-8392-5164-5

Kapitel 1, Freitagabend

»Glückwunsch.«

Die Gratulation fiel mehr als spärlich aus, und die Gratulantin schaute angestrengt an Edeltraud Hempel vorbei. Ihr Mann verzichtete sogar ganz auf solche Höflichkeiten und turtelte demonstrativ mit dem Norwegischen Waldkater Oasis, der diesmal nur zweiter Sieger geworden war.

»Danke!«, Edeltraud nickte huldvoll und heftete die Siegerschleife an Champions Käfig. Der »Best in Show« bei den Langhaarkatzen hatte ihr wenig gesellig den Rücken zugedreht und drückte damit überdeutlich seine Meinung zu der Show aus, die er über sich ergehen lassen musste.

Ganz entgegen den typischen Wesenszügen von Norwegischen Waldkatzen war dieses Exemplar Menschen gegenüber mürrisch und verschlossen. Vielleicht lag das an dem winzigen dunklen Fleck in seiner Ahnenreihe, der wahrscheinlich verhindern würde, dass der Kater mit dem Namen Champion ebendiesen Titel jemals erlangen würde. Heute war er das erste Mal zum »Anwärter auf einen Titel« gekürt worden. Um die Auszeichnung »Champion« zu erlangen, benötigte er drei solche Anerkennungen – und zwar von verschiedenen Preisrichtern. Genau das war das Problem, denn nicht jeder Juror würde einen Makel im Stammbaum so großzügig übergehen wie der heute. Viel Eigeninitiative und das entsprechende Quäntchen Glück hatten die Katzenzüchterin Edeltraud Hempel dahin gebracht, wo sie jetzt war. Sie seufzte und nahm noch mehr Beglückwünschungen entgegen. Sie würde wohl keine weitere Ausstellung mit dem Norwegischen Waldkater besuchen, aber schon die Ehrerweisung heute würde Geld in ihre Kassen spülen. Champion, wie sie ihn in ihrer ersten Euphorie getauft hatte, war ein gefragter Deckkater, und mit der Schleife an seinem Käfig konnte sie locker das Dreifache als bisher für seine Liebesdienste verlangen. Das und die Tatsache, dass sie ihre ärgsten Konkurrenten, die Krupkas, heute aus dem Feld geschlagen hatte, hoben ihre Stimmung um einiges. Sie stellte ihrem desinteressierten Schützling noch eine Portion Trockenfutter in seine geräumige Unterkunft und wandte sich dem nächsten Gratulanten zu.

Schließlich kam die Siegerin von den British Kurzhaarkatzen zu einem Schwätzchen herüber und lud sie auf ein Glas Sekt abends an der Bar ein. Man logierte im selben Hotel, in dem im Übrigen auch die Krupkas, ein Großteil der anderen Züchter und der eine oder andere Preisrichter wohnten.

*

»Musst du nicht zur Arbeit?« Marietta Kühlmann schloss die Haustür hinter sich und pellte sich aus ihrem schicken neuen Mantel.

Ihr Mann Hans-Jürgen erhob sich vom Küchentisch. »Ich habe noch auf dich gewartet, du bist spät dran.«

Marietta ignorierte seinen missbilligenden Ton, warf ihren Mantel über einen Stuhl und wandte sich dem Kühlschrank zu. »Es war noch eine eilige Bestellung reingekommen, die auf jeden Fall heute fertig werden sollte«, murmelte sie, Hans-Jürgen den Rücken zudrehend.

»Du machst in letzter Zeit ganz schön viele Überstunden.« Er ärgerte sich selbst über seine quengelnde Stimme.

Seine Frau wandte sich um, in einer Hand eine Packung Magerquark, in der anderen ein Glas saure Gurken. »Sei doch froh, dass es so gut läuft, andere Firmen müssen entlassen.« Sie stellte Quark und Gurken auf den Tisch und inspizierte den Inhalt des Brotkastens.

»Ich geh dann mal.« Hans-Jürgen nahm ihren Mantel vom Küchenstuhl und entfernte sich Richtung Haustür, aus dem Augenwinkel sah er noch, wie Marietta sich eine Scheibe Vollkornbrot auf einen Teller legte. Sie achtete in letzter Zeit sehr auf ihre Figur und hatte schon sieben Kilo abgenommen, wie sie noch am Morgen stolz verkündet hatte. Beim Friseur war sie auch gewesen, ihre neue Frisur war ihm eine Idee zu modern und die Farbe ein bisschen zu schrill. Er hängte den Mantel an die Garderobe und zog sich seinen dunkelblauen Parka über.

Tütelütütüü. Während er nach seinen pelzgefütterten Handschuhen griff, erklang eine leise Melodie. Das Zeichen, dass Marietta eine SMS erhalten hatte. Sie schien ihr Handy in der Manteltasche vergessen zu haben. Einem plötzlichen Impuls folgend griff er in die Tasche und rief die Kurznachricht ab: »Schön, dass du noch vorbeigekommen bist. GLG D.« Die Nummer war nicht gespeichert, denn es stand kein Name im Display, nur eine Ziffernfolge, die er sich schnell einprägte. Er hatte ein ausgezeichnetes Zahlengedächtnis. Mit nur geringfügig schlechtem Gewissen löschte er anschließend die Mitteilung, wie es Marietta offenbar bei früheren Nachrichten dieses Absenders ebenfalls getan hatte. Dann steckte er das Mobiltelefon wieder zurück und machte sich auf den Weg zur Arbeit.

*

»Willkommen in der Messestadt Hannover. Sie haben Anschluss an Züge des Nah- und Fernverkehrs …«

Fred Zaunkamp bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge. Es war tatsächlich gerade Messe in Hannover, das wusste er aus dem Internet, und das war mit ein Grund, warum es so schwer gewesen war, kurzfristig ein Hotelzimmer zu bekommen. Aber er kannte niemanden in Hannover, bei dem er hätte unterkommen können. Obwohl sein früherer Kollege und damals bester Kumpel Dennis aus Hannover kam, war Fred noch nie hier gewesen. Zähneknirschend hatte er ein Zimmer im Intercity-Hotel direkt am Bahnhof gebucht, wo er natürlich den regulären Preis zahlen musste. Während der Messezeiten gab es keine Sonderangebote, zumindest nicht, wenn man so kurzfristig dran war wie er. Die Unterkunft hatte er für zwei Nächte reserviert. Das musste reichen. Die junge Frau am Empfang war höflich, aber restlos überlastet. Dauernd klingelte das Telefon, und es dauerte ewig, bis die Formalitäten erledigt waren. Sie hatte rote Haare und unzählige Sommersprossen trotz der winterlichen Temperaturen. Ihr Lächeln wirkte nett, aber angestrengt. Endlich bekam er seinen Personalausweis zurück und die Zugangskarte für sein Zimmer ausgehändigt.

»Können Sie mir vielleicht ein nettes Restaurant in Hannover empfehlen, in das man eine hübsche rothaarige Dame ausführen kann?«, versuchte er zu flirten.

»Ich kann Ihnen gerne im hoteleigenen Restaurant einen Tisch reservieren lassen«, war die unverbindliche Antwort. Das Telefon vor ihr klingelte erneut. »Für wie viele Personen?«, fragte sie ihn diensteifrig, während sie bereits den Hörer abnahm. »Intercity-Hotel Hannover, Susanna Krämer, was kann ich für Sie tun?«

Fred nahm die Abfuhr hin und verbuchte sie unter »Aufwärmübung«. Es war schon eine Weile her, dass er sich mit einer Frau verabredet hatte. Er winkte ab und schulterte seine Reisetasche.

Sein Zimmer war geräumig. Der pure Luxus, verglichen mit seiner Bleibe der letzten 18 Monate. Als Erstes schaltete er den Fernseher ein, danach inspizierte er die Minibar. Die ließ keine Wünsche offen. Zumindest nicht die eines Ex-Knastis, der gerade mal seit drei Wochen wieder die normale Zivilisation genoss. Er holte sich ein Glas aus dem Badezimmer und genehmigte sich einen Whisky. Eine angenehme Schwerelosigkeit umfing ihn schon nach wenigen Schlucken. Er war Alkohol nicht mehr gewöhnt. Dann suchte er aus seiner Tasche die Unterlagen heraus. Von einem ehemaligen gemeinsamen Kollegen hatte er erfahren, dass Dennis wieder in seine Heimatstadt Hannover gezogen war und eine Stelle als Wachmann in einer Security-Firma angenommen hatte. Der Rest war dank Internet kein Problem gewesen. Inzwischen kannte er den Sitz der Firma und wusste durch ein Telefonat mit deren Sekretariat, wo sich Dennis’ erster Einsatzort befand. Jetzt galt es, alte Rechnungen zu begleichen. Er schenkte sich einen Cognac ein, nahm das Telefon vom Nachttisch und wählte.

*

»Was ist jetzt, will jemand mit?«, fragte Socke in die Runde.

»Das ist ziemlich langweilig dort, versprich dir nicht zu viel.« Mikey, ein grau getigerter Kater mit blauem Halsband, schüttelte verneinend den Kopf, und auch die anderen anwesenden Katzen schienen kein Interesse zu haben.

Socke, ein schwarzer Kater mit weißen Pfoten, der seit dem Sommer im Haus des Kriminalhauptkommissars Peter Flott wohnte, hatte seinen tierischen Nachbarn einen Ausflug zum Messegelände vorgeschlagen. Dort hatte heute Morgen, einen Tag vor dem Start der bekannten Messe »Auto Boot Freizeit«, kurz ABF, die Heimtiermesse begonnen. Diese kleine Ausstellung dauerte nur drei Tage und beanspruchte neben der großen ABF lediglich eine Halle. Im Verlauf des heutigen Tages standen verschiedene Schauen und Prämierungen auf dem Programm, im Anschluss daran konnten sich übers Wochenende Tierfreunde über alles rund ums Haustier informieren. Unter anderem war dort das Tierheim Krähenwinkel aus Langenhagen bei Hannover mit einem Messestand vertreten. Peters Freundin, Tierärztin und ehrenamtliche Mitarbeiterin im Tierheim, hatte beim Abendessen davon gesprochen. Neugierig hatte Socke ihren Ausführungen gelauscht. Was eine Messe war, wusste er ja inzwischen, seit er quasi in der Nachbarschaft des Messegeländes in Hannover wohnte, aber eine, in der Tiere die Hauptrolle spielten, das musste er sich näher anschauen. Bisher hatte er das angrenzende Gelände gemieden, aber jetzt wollte er die Umgebung dieser Tiermesse in Augenschein nehmen, und vielleicht ergab es sich sogar, einen Blick in die besagte Halle zu werfen.

»Ferdinand, der Hund von der Freundin meiner Familie, ist letztes Jahr dort gewesen und sagt, es ist für Tiere furchtbar öde. Er musste an ganz kurzer Leine gehen, und als er an einem Katzenkäfig hochgesprungen ist, hat man ihn sogar rausgeschmissen«, entrüstete sich Mikey.

»Dieser Hund ist ein ungezogener Flegel!« Die Perserin Suleika blickte missbilligend auf die anderen Katzen he­runter. Wie sie da auf der Mauer des Nachbarhauses saß, sah sie ein bisschen aus wie ein aufgeplatztes graues Sofakissen. Ein Vergleich, den die mollige Katze Clooney, Sockes direkte Nachbarin, gestern gezogen hatte. Der weißfüßige Kater musste zugeben, dass eine gewisse Ähnlichkeit nicht von der Pfote zu weisen war.

»Da kann er hundertmal ein reinrassiger Boston Terrier sein, an Benehmen fehlt es ihm«, lamentierte das Sofakissen gerade.

»Er hat sie in den Schwanz gezwickt«, erklärte die grau getigerte Clooney schadenfroh.

»Er ist an der Mauer hochgehüpft«, ergänzte Mikey, »ich hätte nicht gedacht, dass er so hoch springen kann.« In seiner Stimme schwang Hochachtung.

»Suleika ist vor Schreck hinten runtergefallen«, kicherte Clooney.

»Unmöglich war das. Und ihr müsst euch noch darüber lustig machen! Ich habe mir eine Prellung am, äh, Hinterteil zugezogen.« Die Perserin verzog ihr Gesicht und legte die Ohren an. Jetzt glich sie einem langhaarigen Buddha. »Aber um wieder auf dein Vorhaben für heute Nacht zurückzukommen«, wandte sie sich an Socke, »du solltest es lieber nicht tun. Der Wetterbericht meldet Schnee, und du kannst dir eine böse Erkältung holen. Und du in deinem Zustand …«

Mit »Zustand« meinte Suleika Sockes gelähmten Schwanz. Seit einem Unfall als junges Kätzchen hatte der Kater dieses Handicap, was ihn aber so gut wie gar nicht beeinträchtigte. Trotzdem konnte es Suleika, die selbst unter zahlreichen, allerdings durchwegs eingebildeten, Krankheiten litt, nicht lassen, immer wieder damit anzufangen.

Socke ignorierte den letzten Halbsatz der Perserin. »Wozu habe ich denn meinen dicken Winterpelz?«, protestierte er.

»Mehr als 50 Prozent der Wärme gehen über die Pfoten verloren«, dozierte Suleika.

»Woher die das wieder weiß?«, flüsterte Clooney, »lesen kann sie nicht und angeblich sieht sie auch nicht fern.« Laut fuhr sie fort: »Ich muss dir leider absagen, Socke. Ich habe keine Lust, die ganze Nacht im Freien zu verbringen. Ich habe schließlich keine Zaubertür, die immer aufgeht, wenn ich komme.«

Damit spielte sie auf die Katzenklappe an, die Peter Flott im vergangenen Herbst in die Wand zur Terrasse eingebaut hatte. In seinem Beruf konnte sich der Hauptkommissar der Mordkommission leider nicht immer über geregelte Arbeitszeiten freuen, und so hatte er für den Kater diesen jederzeit möglichen Zugang geschaffen.

»Das ist keine Zaubertür«, belehrte Suleika die pummelige Grautigerin, »es handelt sich lediglich um eine chipgesteuerte Katzenklappe.«

»Häh?«

»Fast alle Haustiere wie wir haben einen Chip im Nacken implantiert. Die Klappe wiederum liest diesen Chip aus und …«

»Also Chips, die darf Louisa manchmal vorm Fernseher essen, wenn sie die ›Sendung mit der Maus‹ schaut«, warf Mikey ein.

»Sendung mit der Maus?«, fragten Socke und Clooney wie aus einem Mund. »Das klingt aber sehr interessant, könnte fast eine von diesen Kochshows sein«, fügte Clooney hinzu. Mit dem Fernsehprogramm kannte sie sich aus, seit ihr Sohn Gismo herausgefunden hatte, wie man mit den Tasten der Fernbedienung umgehen muss.

»Bin ich hier denn nur von Ignoranten umgeben?«, kam es von der Mauer.

*

Er war spät dran. Die Spionageaktion am Handy seiner Frau und die dadurch verpasste Straßenbahn hatten Hans-Jürgen eine gute Viertelstunde gekostet. Zum Glück fuhr die Linie 8 Richtung Messe Nord um diese Uhrzeit noch alle zehn Minuten. Seine Kollegen Achmed Özgur und Stefan Maurer standen schon mit dem Neuen vor dem Verwaltungsgebäude und warteten auf ihn. Dietmar Heisenberg, der Älteste der kleinen Truppe, fehlte noch. Hans-Jürgen verkniff sich einen Kommentar, war er doch selber nicht ganz pünktlich erschienen.

»Mir ist leider zu Hause noch das Telefon dazwischengekommen«, entschuldigte er sich im Näherkommen, und das war ja noch nicht mal wirklich gelogen. »Habt ihr euch schon bekannt gemacht?«, erkundigte er sich dann und schloss die Tür zum Büro auf.

Seine Kollegen bejahten, und er begann, die Aufgaben für diese und die kommenden Nächte auf dem Messegelände zu verteilen. Während er den jungen Männern die für ihre Bereiche notwendigen Schlüssel aushändigte, kreisten seine Gedanken um Marietta. Seine Frau durchlebte offensichtlich eine sogenannte Midlife-Crisis, das war nicht schwer zu erraten. Sie legte überproportional viel Wert auf ihr Äußeres, gab Unmengen für Kleidung und Kosmetika aus, besuchte wieder regelmäßig das Fitnessstudio, bei dem sie schon lange zahlendes Mitglied war, und wälzte ständig Diätpläne. Etwas länger als zwei Monate ging das jetzt schon so. Nachdem er diese Entwicklung bereits mit Argwohn beobachtet hatte, war er vollends misstrauisch geworden, als sie Anfang des Jahres plötzlich immer mehr Überstunden machen musste. Neulich sogar samstags. Seine Frau arbeitete bei einer Spedition, und da war Wochenendarbeit nicht ganz abwegig, aber bisher hatte es Marietta nicht betroffen. Außerdem passierte es in letzter Zeit öfter, dass er sie nicht erreichte, wenn er versuchte, sie im Büro anzurufen. Ihre Begründungen dafür erschienen ihm fadenscheinig. Und jetzt diese SMS. Es gab keine andere Erklärung: Sie betrog ihn. Die Nachricht klang eindeutig.

Inzwischen hatten sich seine Kollegen Kaffee aus dem Automaten gezogen und wärmten sich auf, bevor es an die Arbeit ging. Bis auf Dietmar und ihn selber musste jeder von seinen Mitarbeitern einen Teil des Außengeländes im Auge behalten, und die Temperaturen waren heute Abend zum ersten Mal in diesem Winter auf einen Wert deutlich unter null Grad gesunken.

Hans-Jürgen schaute auf die Uhr. »So, Leute, an die Arbeit.«

Die jungen Männer erhoben sich. »Dennis, wir machen deine erste Runde gemeinsam«, wandte er sich an den Neuen. Der verzog das Gesicht. Ob wegen des bitteren Automatenkaffees, oder weil er diese Bevormundung für überflüssig hielt, war nicht klar zu erkennen. Hans-Jürgen tat so, als habe er es nicht bemerkt. Er musterte den Neuling unauffällig. Schon beim Kennenlernen hatte ihn dessen überhebliche Art abgestoßen. Das Vorstellungsgespräch mit Dennis Dragowski war kurz vor Weihnachten gewesen. Ausgerechnet an diesem Tag hatte seine Frau ihn von der Arbeit abgeholt, weil sie gemeinsam ein Weihnachtsgeschenk für ihre seit Kurzem in Berlin studierende Tochter aussuchen wollten. Die bewundernden Blicke Mariettas, als er ihr diesen arroganten Muskelprotz vorstellte, hatten Hans-Jürgen vollends gegen den Neuzugang eingenommen. Wäre es nach ihm gegangen, hätte man ihn nicht eingestellt, aber seine Chefin war, genauso wie Marietta, dessen Charme erlegen.

An der Tür prallten die beiden Männer regelrecht mit Dietmar zusammen.

»Da bist du ja endlich«, schnauzte Hans-Jürgen ungehalten, noch ganz im Einfluss seiner negativen Gedanken.

Der ältere Kollege sah die beiden nur stumm und ohne ein Wort des Grußes an, bevor er sich an ihnen vorbei in den Aufenthaltsraum schob.

»Wir sprechen uns noch«, rief ihm Hans-Jürgen hinterher, dann verließ er mit Dennis den Raum.

Kapitel 2, Samstag

Der erste Schritt war getan. Es war ihm ein Leichtes gewesen, das Schloss zu öffnen. Diese Fertigkeit hatte er bisher immer verheimlicht, niemand ahnte davon. Vielleicht waren sie deshalb so nachlässig geworden. Ja, sie wussten vieles nicht über ihn und zeigten auch kein Interesse daran.

Die Verbitterung über seine Gefangenschaft hatte die Erinnerung an eine Zeit davor fast vollständig ausgelöscht. Vom ersten Tag an erwartete ihn der immer gleiche Ablauf – kein Unterschied, ob es sich um Arbeitstage, Wochenende oder Feiertage handelte. Täglich feste Mahlzeiten, kontrollierter Freigang. Der Wunsch, dem zu entrinnen, war mit jedem dieser wiederkehrenden Tagesverläufe stärker geworden. Sein Plan war gereift, als er von der Veranstaltung erfuhr. Er wusste, dass es hier einen Moment geben würde, in dem die Aufmerksamkeit gering war. Diesen Augenblick hatte er genutzt. Dass es bei seiner Flucht Opfer gegeben hatte, tat ihm leid, war aber nicht zu ändern. Er hielt sich nicht lange mit reumütigen Gedanken auf. Sein Blick schweifte über die nur spärlich beleuchteten Flure, in denen er im Notlicht gerade noch die weiteren Verliese ausmachen konnte. Die anderen schienen ihn gar nicht zu bemerken, schliefen oder taten zumindest so. Keiner schlug Alarm. Noch war er nicht ganz frei, doch er hatte seinen Plan. Wenn der Wachmann käme, würde er ihn austricksen, und mit etwas Glück würde es keine weiteren Verluste geben. Es konnte nicht mehr lange dauern, sein Zeitgefühl trog ihn selten – er brauchte keine Uhr.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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