Katzen - Abigail Tucker - E-Book

Katzen E-Book

Abigail Tucker

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Beschreibung

Katzen sind unsere liebsten Haustiere. Im Laufe ihrer gemeinsamen Geschichte mit uns wurden sie zu einer der erfolgreichsten Tierarten auf diesem Planeten. Heute herrschen sie über Hinterhöfe, ferne antarktische Inseln und unsere Wohnzimmer. Einige sind sogar zu Stars des Internets geworden, die höhere Klickzahlen erreichen als so manche Hollywood-Größe. Aber wie haben Katzen diese Dominanz erreicht? Anders als Hunde haben sie für uns keinen praktischen Nutzen. Sie sind miserable Rattenjäger und eine Bedrohung für viele Ökosysteme. Dennoch lieben wir sie. Um unsere Hausgenossen besser zu verstehen, macht sich Abigail Tucker auf die Reise zu Züchter:innen, Umweltaktivist:innen und Wissenschaftler:innen. Profund und unterhaltend erzählt sie, wie diese kleinen Kreaturen ihre Beziehung zu uns Menschen genutzt haben, um zu einer der einflussreichsten Spezies der Erde zu werden. Nach der Lektüre werden Sie unsere pelzigen Begleiter mit anderen Augen sehen und sich selbst womöglich auch.

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Seitenzahl: 393

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Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel

The Lion in the Living Room bei Simon & Schuster, New York

Copyright © 2016 by Abigail Tucker

Copyright der deutschen Übersetzung © 2017 by wbg, Darmstadt

Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;Detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber www.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

wbg Paperback ist ein Imprint der wbg.

© 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt)

2. Auflage der 2017 bei wbg Theiss erschienen Ausgabe mit dem Titel

Der Tiger in der guten Stube.

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder

der wbg ermöglicht.

Satz: Melanie Jungels, www.typoreich.de

Einbandabbildung: fotojagodka / iStockphoto

Einbandgestaltung: Andreas Heilmann, Hamburg

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-27520-5

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

eBook (PDF): 978-3-534-27538-0

eBook (epub): 978-3-534-27539-7

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Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen über die Autorin

Impressum

Inhalt

Einleitung

Katakomben

Katzenwiege

Wenn die Katze im Haus ist, tanzen die Mäuse

Die Katze lässt das Jagen nicht

Die Katzenlobby

CAT-Scan

Alles für die Katz’

Der schöne Schein

Die Vergötterten

Danksagung

Anmerkungen

Register

Einleitung

Im Sommer 2012 zelteten Denise Martin und ihr Mann Bob in der lieblichen Landschaft von Essex, etwa 80 Kilometer östlich von London, nahe des Badeortes Clacton-on-Sea.1 Als sich die Abenddämmerung über den Campingplatz senkte, erspähte Denise durch den Rauch ihres Lagerfeuers plötzlich etwas Unerwartetes. Die 52-jährige Fabrikarbeiterin griff nach dem Fernglas, um sich die Sache genauer anzusehen.

„Was hältst du davon?“, fragte sie ihren Mann. Auch er nahm das gelbbraune Wesen ins Visier, das sich in ein paar Hundert Metern Entfernung auf einem Feld rekelte.

„Das ist ein Löwe“, sagte Bob.

Eine Zeit lang beobachteten sie das Tier und es schien sie seinerseits zu beobachten. Seine Ohren zuckten und dann fing es an, sich zu putzen. Später trottete es an einer Hecke entlang. Die beiden behielten die Ruhe und legten eine fast schon philosophische Gelassenheit an den Tag. („So etwas bekommt man in der freien Natur nur selten zu sehen“, zitierte die Daily Mail Denise später.)

Andere Campinggäste reagierten weniger abgeklärt.

„Himmel, da ist ja ein Löwe!“, schrie ein anderer Mann Berichten zufolge und suchte schleunigst Deckung in seinem Wohnmobil.

Die Katze – angeblich „so groß wie zwei Schafe“ – verschwand bald darauf in der Nacht und Panik breitete sich aus. Scharfschützen der Polizei bezogen Stellung. Zoowärter mit Betäubungsgewehren rückten an. Über ihren Köpfen kreisten Hubschrauber mit Wärmebildgeräten. Der Campingplatz wurde evakuiert und Journalisten trafen ein, um die Großwildjagd zu dokumentieren. Twitter in Großbritannien explodierte geradezu mit Nachrichten über den „Löwen von Essex“.

Doch der blieb spurlos verschwunden.

Der Löwe von Essex ist eine sogenannte Phantom-Katze oder, kryptozoologisch korrekt, eine ABC (Alien Big Cat).2 Wie ihre vielen schwer fassbaren Brüder und Schwestern – etwa die Bestie von Trowbridge oder der Hallingbury-Panther – ist sie eine Art Katzen-UFO, eine rätselhafte Erscheinung, die vor allem in Teilen des früheren Empire – England, Australien, Neuseeland – verbreitet ist, wo Großkatzen in freier Wildbahn nicht mehr vorkommen oder nie vorgekommen sind. Einige der Phantome haben sich als bewusst kolportierte Fabelwesen oder rechtmäßig Entlaufene aus exotischen Menagerien entpuppt.3 Häufig erweisen sich diese frei herumlaufenden Panther und Leoparden als etwas viel Vertrauteres: die gemeine Hauskatze, verwechselt mit ihren Ehrfurcht gebietenden Verwandten, denen sie in allem gleicht außer in der Größe.

So war es auch mit dem Löwen von Essex, der so gut wie sicher nichts anderes war als ein stattliches orangefarbenes Haustier namens Teddy Bear. Teddys Besitzer – die zur Zeit der Löwenjagd in Urlaub waren – hatten ihn sofort im Verdacht, als sie die Abendnachrichten sahen.

„Er ist das einzige dicke orangefarbene Etwas in der Umgebung“, ließen sie die Journalisten wissen.

Und das war das Ende der absurden Safari.

Vielleicht waren die Camper aber gar keine Idioten, sondern Visionäre. Immerhin stellen echte Löwen keine wirkliche Gefahr mehr dar. Vielen Menschen tun die armen Kreaturen im Grunde leid – denken Sie nur an den internationalen Aufschrei der Empörung, als Cecil, der Löwe aus Simbabwe, von einem Zahnarzt aus Minnesota ins Jenseits befördert wurde. Früher die Herrscher der Wildnis, sind Löwen heute nur noch Relikte ohne Königreich: 20 000 Versprengte fristen noch mühsam ihr Leben in ein paar afrikanischen Reservaten und einem einzigen indischen Urwald, abhängig vom gespendeten Geld der Naturschutzorganisationen und unserer Gnade.4 Ihre Habitate schrumpfen Jahr für Jahr und Biologen fürchten, dass sie bis zum Ende des Jahrhunderts ausgestorben sind.

Derweil hat sich der kleine spaßige Bruder des Löwen, einst nichts weiter als eine Fußnote der Evolution, zu einer wahren Naturgewalt aufgeschwungen. Die globale Hauskatzenpopulation beträgt 600 Millionen, Tendenz steigend;5 jeden Tag werden allein in den USA mehr von ihnen geboren, als es Löwen in der freien Wildbahn gibt.6 Die jährliche Menge von Frühjahrskatzen in New York City macht der Anzahl der wilden Tiger Konkurrenz.7 Weltweit sind Hauskatzen bereits dreimal so zahlreich wie Hunde, ihre großen Rivalen um unsere Gunst, und diesen Vorsprung bauen sie immer weiter aus.8 Die Zahl der Hauskatzen in den USA stieg zwischen 1986 und 2006 um 50 Prozent9 und nähert sich heute der 100-Millionen-Marke.10

Ähnlich sprunghafte Entwicklungen sind weltweit zu verzeichnen:11 Allein in Brasilien wächst die Zahl der Hauskatzen jährlich um eine Million Tiere. In vielen Ländern ist die Menge der als Heimtier gehaltenen Katzen jedoch nichts gegen die stetig anwachsenden Kolonien verwilderter Katzen – Australiens 18 Millionen herumstreunende Exemplare übertreffen die Zahl der Heimtiere um das Sechsfache.12

Ob wild oder zahm, am heimischen Herd oder als Streuner – all diese Katzen gebärden sich zunehmend als Herrscher über Natur und Kultur, den Großstadtdschungel und die echte Wildnis dahinter. Sie haben die Kontrolle über Städte und Kontinente, ja sogar über den Cyberspace an sich gerissen. Sie beherrschen uns auf vielfältige Weisen.

Durch die Rauchschwaden des Lagerfeuers erhaschte Denise Martin womöglich einen Blick auf die simple Wahrheit: Die Hauskatze ist der neue König der Tiere.

Mittlerweile ist wohl jedem klar, dass unsere Kultur – onwie offline – in einem Katzenwahn gefangen ist. Prominente Hauskatzen unterzeichnen Filmverträge, spenden für wohltätige Zwecke und zählen Hollywood-Sternchen zu ihren Twitter-Followern. Ihre Duplikate aus Plüsch bevölkern die Regale großer Kaufhausketten; sie bewerben ihre eigenen Modelinien und Eiskaffeesorten; Bilder von ihnen überschwemmen das Internet. Hauskatzen managen sogar Katzencafés, bizarre Etablissements, die gerade in New York und Los Angeles und anderen Metropolen auf der ganzen Welt ihre Tore öffnen. Dort bezahlen Menschen Geld dafür, ihren Tee zwischen willkürlich drapierten Stubentigern zu schlürfen.

All dieser höhere Blödsinn lenkt jedoch den Blick von etwas weitaus Interessanterem ab. Trotz unserer unbestrittenen Katzenmanie wissen wir nur äußerst wenig darüber, wer diese Tiere eigentlich sind, wie sie in unsere Mitte gelangten oder warum sie – sowohl innerhalb als auch außerhalb unserer eigenen vier Wände – eine solch immense Macht über uns ausüben.

Noch spannender wird die Sache, wenn wir einmal darüber nachdenken, wie wenig wir offenkundig von dieser überfrachteten Beziehung profitieren. Menschen haben sich daran gewöhnt, domestizierte Tiere äußerst hart ranzunehmen. Wir erwarten, dass unsere Leibeigenen bei Fuß gehen, unsere Siebensachen schleppen oder gehorsam zum Schlachthaus trotten. Katzen aber bringen uns nicht die Zeitung, legen keine schmackhaften Eier oder erlauben uns, auf ihnen zu reiten. Es kommt sonst nicht oft vor, dass wir uns ratlos am Kopf kratzen und uns fragen, wieso in aller Welt wir uns diese Art von Haustier halten, geschweige denn Hunderte Millionen davon. Die Antwort liegt auf der Hand: Wir mögen Katzen – ja, wir lieben sie sogar. Aber warum? Was ist ihr Geheimnis?

Das ist umso erstaunlicher, als ebendiese verehrte Kreatur auch als eine der „einhundert schlimmsten invasiven Arten“ der Welt klassifiziert wurde, weil sie eine ganze Reihe von Ökosystemen bedroht und sogar seltene Tierarten zum Aussterben bringt.13 Kürzlich beschrieben australische Wissenschaftler streunende Katzen als größere Bedrohung für die Säugetiere des Kontinents als die globale Erwärmung oder den Verlust von Lebensräumen14 – in einer Landschaft, die von menschenfressenden Haien und giftigen Ottern wimmelt, ist es die Hauskatze, die Australiens Umweltminister als „wilde Bestie“ ausgemacht hat.15 Manche verwirrte Tierliebhaber wissen schon gar nicht mehr, ob sie Katzen Dosenlachs mit Crème fraîche auf dem Silbertablett servieren oder ihre Herzen auf ewig vor ihnen verschließen sollen.

Die gleiche Unsicherheit durchdringt auch die US-amerikanische Gesetzgebung – in einigen Bundesstaaten ermöglichen „Haustierstiftungen“, dass Hauskatzen rechtmäßige Erben von Millionen Dollar werden;16 andernorts werden im Freien lebende Katzen als „Schädlinge“ eingestuft. Vor Kurzem sperrte New York City einen großen Bereich seines gewaltigen U-Bahn-Systems, um zwei streunende Kätzchen zu retten;17 gleichzeitig werden in den USA Jahr für Jahr routinemäßig Millionen von gesunden jungen und ausgewachsenen Katzen eingeschläfert.18 Unser Umgang mit Hauskatzen steckt voller Widersprüche.

Die verstörende Natur der Beziehung zwischen Mensch und Katze erklärt auch, warum wir Hauskatzen hartnäckig mit schwarzer Magie in Verbindung bringen. In der Tat ist die Vorstellung von der „Hexenvertrauten“ eine wunderbare Definition der Hauskatze. Hexerei könnte eine durchaus plausible Erklärung für die mysteriöse und zuweilen aufreizende Macht der Katzen über uns sein. Bezeichnenderweise taucht eine moderne Version dieser mittelalterlichen Paranoia häufig in Diskussionen über eine verbreitete von Katzen übertragene Krankheit auf, die das menschliche Hirngewebe befällt und uns angeblich in unserem Denken und Handeln beeinträchtigt.19

Mit anderen Worten: Wir fürchten, verhext worden zu sein.

Ich sollte gestehen, dass ich selbst seit jeher dem Zauber der Katzen erlegen bin. Ich habe nicht nur Katzen besessen – die meiste Zeit meines Lebens war ich jemand, dem man Auflaufformen mit Schnurrhaaren und dazu passende Topflappen schenkte, ich schmücke mein Heim mit Katzendecken und -kissen und fülle ganze Fotoalben mit Bildern streunender Mittelmeerkatzen. Ich habe reinrassige Katzen von gemeinnützigen Katzenrettungsorganisationen gekauft (einst munkelte man, sie seien der weltweit größte Laden für ausgefallene Katzen)20 und verwilderte Exemplare aus Unterschlupfen und von der Straße adoptiert. Bei alldem habe ich private und berufliche Risiken auf mich genommen – kürzlich musste ich erfahren, dass die hoch allergische Mutter einer Freundin die Straßenseite wechselt, sobald sie mich kommen sieht, und einmal bei einer Recherche im Auftrag einer Zeitschrift – ich besuchte eine unter Wissenschaftlern berühmte Präriewühlmauskolonie – begann ein Forscher wortlos Katzenhaare von meinem Pullover zu picken, damit der Geruch die zu untersuchenden Nager nicht erschreckte und die Seriosität verschiedener Experimente gefährdete. In meinen eigenen vier Wänden wähle ich Teppiche nach wie vor aus einem eng begrenzten Farbspektrum aus, das Katzenkotze möglichst unsichtbar macht.

Nur wenige Menschen können von sich behaupten, dass sie ihre Existenz Katzen verdanken. Ich bin einer von ihnen: Meine Eltern gelobten einst, erst dann Kinder zu haben, wenn sie ihre erste Katze „erzogen“ hätten. (Zu guter Letzt lernte sie, einem Korken nachzujagen, was als ausreichend erachtet wurde.) Unsere Familie hat immer nur Katzen gehabt. Meine Schwester ist einmal über 600 Kilometer weit gefahren, um eine panische Russisch Blau aus dem Badezimmer eines Hundeliebhabers zu retten. Meine Mutter pflegt auf langen Autofahrten ihre Tigerkatze wie eine Pelzstola um die Schultern zu drapieren, während sie an verblüfften Zollbeamten vorbeiflitzt.

Weil ich so sehr daran gewöhnt war, Katzen um mich zu haben, machte ich mir selten Gedanken darüber, wie merkwürdig es war, diese kleinen Erz-Raubtiere zu beherbergen – das heißt, nur, bis ich Mutter wurde. Mit den gnadenlosen Ansprüchen meines eigenen Nachwuchses konfrontiert, erschien mir meine Hingabe an die Gelüste und sanitären Gewohnheiten einer fremden Spezies zunehmend töricht und sogar ein wenig verquer. Ich beobachtete meine Katzen mit neuem Argwohn: Wie genau hatten diese listigen Kreaturen es geschafft, mich in ihre Fänge zu bekommen? Warum hatte ich sie so viele Jahre lang wie meine eigenen Babys behandelt?

Doch während diese Zweifel in mir aufkeimten, machte ich auch die Erfahrung, Hauskatzen mit den Augen kleiner Kinder zu betrachten. „Katze“ war das allererste Wort meiner beiden Töchter. Sie bettelten um Kleidung, Spielzeug, Bücher, Geburtstagspartys, die sich um Katzen drehten. Für Kleinkinder besaßen diese Haustierchen fast schon Löwengröße und das Leben mit ihnen schien in ihnen Vorstellungen von einer wilderen Welt zu wecken: „Ich möchte so sein wie Lucy mit Aslan“, seufzte eine der beiden kurz nach einem Ausflug nach Narnia, während sie vom Fenster aus eine Nachbarskatze beobachtete. „Hat Gott Tiger lieb?“, fragten sie beim Schlafengehen und drückten die Plüschkatzen im Kinderbett fest an sich.

Also gelobte ich, mehr über diese Kreaturen und das Wesen unserer rätselhaften Beziehung zu ihnen in Erfahrung zu bringen. Tatsächlich habe ich in meinem Berufsleben viel Zeit damit verbracht, für Zeitungen und Magazine über Tiere zu schreiben, und bin buchstäblich bis ans Ende der Welt gereist, um die Wahrheit über verschiedene Lebewesen – von Rotwölfen bis zu Quallen – herauszufinden und sie als unabhängige Organismen in einer vom Menschen dominierten Welt zu begreifen. Manchmal jedoch liegt die beste Story von allen direkt vor unseren Füßen.

Und genau dort findet man jederzeit Cheetoh, die hellorange Muse dieses Buches.

Cheetoh ist mein aktuelles Haustier; ich habe ihn in einer abgelegenen New Yorker Wohnwagensiedlung aufgelesen, wo sein Vater vermutlich Waschbären bekämpfte. Bereits vor dem Frühstück bringt er um die zwanzig Pfund auf die Waage. Seine ungewöhnliche Größe ließ den Klempner beim Eintreten in unser Wohnzimmer vor Ehrfurcht erstarren, und der Typ von der Telefongesellschaft machte gleich Fotos mit dem Handy, um sie seinen Freunden zu zeigen. Katzensitter haben sich schon geweigert, ein zweites Mal zu kommen, weil Cheetoh sie in wilder Jagd nach Essbarem mit wackelndem Bauch verfolgt hat. Dank seiner nicht alltäglichen Proportionen fühlt man sich im eigenen Heim wie Alice im Wunderland – man fragt sich ständig, ob man geschrumpft ist oder er gewachsen.

Kaum zu glauben, dass dieses am Fußende meines Bettes zusammengerollte Riesencroissant zu einer Spezies gehört, die fähig ist, ein Ökosystem auf den Kopf zu stellen. Doch biologisch gesehen unterscheidet sich eine verhätschelte Stubenkatze nicht von einem armseligen australischen Streuner oder einer Mieze in den dunklen Ecken einer Großstadt. Ob Heimtier oder verwildert, reinrassig oder Bastard, Bewohner einer Scheune oder einer mehrstöckigen Luxuswohnung – Hauskatzen sind immer die gleichen Tiere. Die Domestikation hat ihre Gene und ihr Verhalten für immer verändert, selbst wenn sie noch nie einen Menschen zu Gesicht bekommen haben. Heimtiere und Streuner paaren sich immer mal wieder und sorgen auf diese Weise wechselseitig für die Erhaltung ihres Bestands. Tatsächlich kann eine Hauskatze ihr Leben als Exemplar der einen Kategorie beginnen und als Vertreter der anderen beenden. Der einzige Unterschied liegt in den äußeren Umständen und der Semantik.

Und selbst wenn Cheetoh nicht eben den Eindruck erweckt, dass er getrennt von seinem Futternapf überleben würde, verweist seine aufdringliche „Fütter-mich“-Beharrlichkeit auf eine wichtige Tatsache: Hauskatzen sind ausgesprochen gebieterische Tiere. Und das nicht, weil sie die allerschlauesten Lebewesen wären – und auch nicht die stärksten, insbesondere im direkten Vergleich mit ihren nahen Verwandten wie Jaguar und Tiger. Abgesehen von ihrer geringen Körpergröße sind sie mit dem gleichen Körperbau und dem lästigen Bedarf an proteinreicher Kost ausgestattet, der andere Mitglieder der Katzenfamilie an den Rand des Aussterbens bringt.

Hauskatzen sind jedoch äußerst anpassungsfähig. Sie können überall leben, und da sie so viel Protein brauchen, fressen sie praktisch alles, was sich bewegt, von Pelikanen zu Heuschrecken, sowie vieles, was sich nicht bewegt, wie Hotdogs.21 (Einige Vertreter ihrer gefährdeten Verwandten sind hingegen auf die Jagd einer seltenen Chinchilla-Art spezialisiert.)22 Hauskatzen sind sehr flexibel, was ihre Schlafphasen und ihr Sozialleben betrifft. Sie können sich vermehren wie die Karnickel.

Beim Erforschen ihrer Naturgeschichte konnte ich kaum umhin, diese Wesen auf immer neue und verrücktere Weise zu bewundern. Und nach Interviews mit Dutzenden Biologen, Ökologen und anderen Wissenschaftlern habe ich das Gefühl, dass viele von ihnen – manchmal gegen ihren Willen – ebenfalls Katzen verehren. Das überraschte mich ein wenig, weil sich die Kluft zwischen Katzenliebhabern und der wissenschaftlichen Zunft in den letzten Jahren vertieft hat, und das nicht nur, weil Forscher häufig mit Gruppen verbandelt sind, die Katzen als ökologisches Ärgernis betrachten. Der klinische Bereich der Forschung scheint ebenfalls das Herzstück feliner Subtilität und Rätselhaftigkeit mit Verachtung zu strafen: Für verzauberte Katzenfans mag es fehl am Platze (wenn nicht gar langweilig) erscheinen, von den „vorteilhaften Aminosäuresubstitutionen“ zu lesen, die die scheinbar mysteriöse Nachtsicht ihrer Haustierchen erklären helfen.23

Dennoch stammen einige der eloquentesten und originellsten Katzenbeschreibungen geradewegs aus wissenschaftlichen Publikationen: Katzen sind „opportunistische, kryptische, einsame Jäger“,24 „subventionierte Raubtiere“25 sowie „entzückende und bestens gedeihende Profiteure“.26 Und viele, wenn nicht die meisten meiner wissenschaftlichen Interviewpartner für dieses Buch – ob sie nun die bedrohte Fauna Hawaiis, das Gehirn befallende Katzenparasiten oder die angenagten Knochen unserer urzeitlichen menschlichen Vorfahren erforschen – haben selbst Katzen zu Hause.

Das sollte uns gar nicht einmal so sehr überraschen, denn der bemerkenswerteste Aspekt der Anpassungsfähigkeit von Hauskatzen und ihre größte Kraftquelle ist ihre Fähigkeit, eine Beziehung zu uns zu gestalten. Zuweilen bedeutet dies das Reiten auf der Welle globaler Trends, wobei sie das, was wir der Welt angetan haben, zu ihrem uneingeschränkten Vorteil ausnutzen. So war die Urbanisierung für sie ein Segen. Über die Hälfte der globalen Menschenpopulation lebt mittlerweile in Städten,27 und da die platzsparenden und (angeblich) pflegeleichten Katzen für die beengten Verhältnisse des Stadtlebens besser geeignet scheinen als Hunde, kaufen wir mehr von ihnen als Haustiere. Mehr Haustiere bedeutet auch mehr Streuner, die die gleichen Gene haben, welche Menschen in ihrer näheren Umgebung für sie erträglich machen, womit sie gegenüber anderen Tieren, die in unseren lauten, stressigen Metropolen herumschleichen, im Vorteil sind.

Doch wenn es um die Beziehung zum Menschen geht, laufen Katzen uns nicht immer nur hinterher – sie können auch mutig die Initiative ergreifen, und das war schon immer so. Sie sind eine seltene Haustierspezies, von der es heißt, dass sie sich ihre Domestizierung selbst „erwählt“ haben, und heute, dank einer Kombination von hübschem Aussehen und wohlüberlegtem Verhalten, halten sie Hof in unserem Heim, auf unseren Kingsize-Matratzen, sogar in unserer Fantasie. Ihre jüngste Eroberung des Internets ist nur der letzte Sieg in einem fortwährenden weltweiten Wettstreit, ohne dass ein Ende in Sicht wäre. Tatsächlich ereignen sich täglich unzählige heimische Übernahmen: Während die meisten Leute auf der Suche nach einem neuen Familienhund das Haus verlassen müssen, kommt es statistisch gesehen sehr oft vor, dass Hauskatzen eines Abends einfach so vor der Hintertür stehen und sich Einlass verschaffen.28

Auch wenn der spielerische Überlebenskampf der Katzen in einer vom Menschen dominierten Welt erstaunlich und einzigartig ist, hat ihre Geschichte auch globale Auswirkungen. Sie zeigt beispielhaft, wie ein einziger kleiner und scheinbar unschuldiger menschlicher Akt – es mit der Miniaturausgabe einer Wildkatze aufzunehmen und ihr die Herrschaft über unseren Herd und letztlich auch unser Herz zu überlassen – eine Lawine weltweiter Konsequenzen auslösen kann, die sich von den Wäldern Madagaskars über psychiatrische Kliniken bis zu Onlineforen erstreckt.

In gewisser Weise ist der Aufstieg der Hauskatze tragisch, weil die gleichen Kräfte, die ihnen zugutekommen, viele andere Lebewesen zerstört haben. Katzen sind Glücksritter, Emporkömmlinge, und sie gehören zu den schlimmsten Invasoren, die die Welt je gesehen hat – abgesehen von Homo sapiens natürlich. Es ist kein Zufall, dass bei ihrem Erscheinen in einem Ökosystem Löwen und andere Vertreter der Megafauna meist schon wieder auf dem Rückzug sind.

In der Geschichte der Hauskatze geht es aber auch um das Wunder des Lebens und die fortwährende Fähigkeit der Natur, uns zu überraschen. Das bietet uns die Chance, unsere Selbstbezogenheit beiseitezuschieben, und eröffnet einen klareren Blick auf ein Lebewesen, das wir gerne wie ein kleines Kind behandeln und beschützen möchten, dessen Horizont aber weit über unsere Wohnzimmer und Katzenklos hinausreicht. Eine Hauskatze ist keineswegs ein pelziges Baby, sondern etwas viel Bemerkenswerteres: ein winziger Eroberer mit dem gesamten Planeten zu seinen Füßen. Hauskatzen könnten ohne Menschen nicht existieren, aber wir haben sie nicht erschaffen, und ebenso wenig besitzen wir nun die Kontrolle über sie. In unserer Beziehung geht es weniger um Besitztum als um Beihilfe.

Es mag ketzerisch anmuten, unsere anbetungswürdigen Gefährten in diesem kalten Licht zu betrachten. Wir stellen uns Katzen meist als von uns abhängige Haustiere vor und nicht als entwicklungsgeschichtlich freie Akteure. Sobald ich mit den Recherchen für dieses Buch begonnen hatte, sah ich mich mit vorwurfsvollen Kommentaren vonseiten meiner Mutter und meiner Schwester konfrontiert.

Wahre Liebe erfordert jedoch Verständnis. Und ungeachtet unserer wachsenden Faszination für die Stubentiger geben wir unseren Katzen vielleicht weniger, als ihnen zusteht.

Die angemessene Reaktion auf eine Kreatur wie Cheetoh ist wohl nicht „Ach wie süß!“, sondern „Großartig!“.

Katakomben

Auf dem Wilshire Boulevard, mitten im Stadtzentrum von Los Angeles, blubbern mit natürlichem Teer gefüllte Gruben, die La Brea Tar Pits, vor sich hin; sie sehen aus wie Tümpel voller giftiger schwarzer Karamellbonbonmasse. Früher holten sich amerikanische Siedler hier Teer, um ihre Dächer abzudichten, doch heute sind diese Vorkommen eine wahre Schatzgrube für Paläontologen, die die Fauna der Eiszeit studieren. Fantastische Tiere aller Art versanken in diesen klebrigen Todesfallen: Präriemammuts mit geschwungenen Stoßzähnen, ausgestorbene Kamele, umherziehende Adler.

Doch am berühmtesten sind die La-Brea-Katzen.

Vor rund 11 000 Jahren und noch früher gab es in der prähistorischen Region des heutigen Beverly Hills mindesten sieben verschiedene Katzentypen: enge Verwandte der modernen Luchse und Pumas, aber auch mehrere heute ausgestorbene Arten. Mehr als 2000 Skelette von Smilodon populator – dem größten und furchterregendsten Vertreter der Säbelzahnkatzen, der auch als Säbelzahntiger bezeichnet wird – sind aus der 90 000 Quadratmeter großen Grabungsstätte geborgen worden, was sie zur weltweit größten Fundgrube ihrer Art macht.

Es ist später Vormittag, und während die Temperaturen steigen, erwärmen sich die Gruben, und die Luft riecht wie schmelzender Straßenbelag. Schwarze Blasen steigen in der Teergrube empor und lassen es so aussehen, als atme direkt unter der Oberfläche ein Monster. Die Dämpfe beißen mir in den Augen, und als ich einen Stock in die Masse stecke, stelle ich fest, dass ich ihn nicht wieder herausziehen kann.

„Man braucht nur ein paar Zentimeter, um ein Pferd bewegungsunfähig zu machen“, meint John Harris, der Oberkurator des hiesigen Museums. „Ein Riesenfaultier würde kleben bleiben wie eine Fliege an einem Fliegenfänger.“ Aus seiner Stimme spricht ein gewisser Stolz.

Die einzige Möglichkeit, den Teer wieder von der Haut zu bekommen, besteht darin, sie mit Mineralöl oder Butter zu massieren, wie einige einheimische Spaßvögel auf die harte Tour lernen mussten. Mit der Zeit sickert der Teer sogar in die Knochen ein, und konservierte die Überreste der Riesentiere, die dort unter Qualen starben, so gut, dass die Teergrubenexemplare nicht einmal wirklich versteinert sind. Wenn man die Rippe einer derart konservierten Säbelzahnkatze anbohrt, riecht es wie beim Zahnarzt: nach verschmortem Kollagen. Es riecht lebendig.

In der Dunkelheit der Teergruben suche ich nach Hinweisen auf die ursprüngliche Beziehung zwischen Mensch und Katze. Unsere Katzenhaltung, die uns so intuitiv erscheint, ist in Wirklichkeit eine recht junge und radikale Entwicklung. Obgleich wir die Erde seit fünf Millionen Jahren teilen, sind die Katzenfamilie und die Menschheit früher nie miteinander ausgekommen, geschweige denn, dass sie miteinander auf der Couch gekuschelt hätten. Wir konkurrieren um Fleisch und Lebensraum,1 und das macht uns zu natürlichen Feinden. Weit entfernt davon, Nahrung zu teilen, haben Menschen und Katzen den größten Teil unserer langen gemeinsamen Geschichte damit verbracht, sich gegenseitig Beute zu stehlen und sich die zerfleischten Überreste des jeweils anderen einzuverleiben – um ganz ehrlich zu sein, in den meisten Fällen verspeisten sie uns. Es waren Katzen wie die La-Brea-Säbelzahnkatzen, kolossale Geparden und riesige Höhlenlöwen – und später ihre modernen Erben –, die den ungezähmten Planeten beherrschten. Unsere Vorfahren teilten ihren Lebensraum mit diesen Ungeheuern in Nord- und Südamerika, und in Afrika hatten wir es viele Millionen Jahre lang mit verschiedenen Arten von Säbelzahnkatzen zu tun. So mächtig war der Einfluss, dass Katzen geholfen haben könnten, uns überhaupt zum Menschen zu machen.

In einem Lagerraum zeigt mir Harris die Milchzähne einer jungen Smilodon-Katze, Sie haben eine Länge von fast zehn Zentimetern.

„Wie haben ihre Mütter sie gesäugt?“, frage ich.

„Sehr vorsichtig!“, antwortet er.

Die oberen Reißzähne der erwachsenen Tiere sind 20 Zentimeter lang, und ihre Form erinnert mich an ein Sensenblatt. Ich lasse meine Finger über die gezackte Innenkurve gleiten, und eine Gänsehaut läuft mit über den Rücken. Man weiß immer noch nicht viel über diese Tiere – Forscher bauten einmal ein Stahlmodell eines Smilodon-Gebisses, um zu verstehen, wie um alles in der Welt diese Tiere kauten, und „wir haben erst vor Kurzem gelernt, Männchen und Weibchen zu unterscheiden“, gibt Harris zu –, aber man darf wohl ohne Übertreibung sagen, dass sie absolut Furcht einflößend waren. Diese Tiere wogen wohl an die 180 Kilogramm und benutzten ihre kräftigen Vorderpranken, um Mammuts niederzuringen, bevor sie ihrer Beute die dolchförmigen Zähne durch die dicke Haut in den Hals stießen.

Dann wandert mein Blick zu dem Skelett eines amerikanischen Löwen ganz in der Nähe, der einen Kopf größer war als die Säbelzahnkatzen und wahrscheinlich doppelt so schwer.

Das sind also die Gegner, mit denen es unsere Vorfahren zu tun hatten.

Die schiere Ungeheuerlichkeit solcher Raubtiere und das grausige Erbe unserer Auseinandersetzungen mit ihnen machen es besonders erstaunlich, dass die Menschheit heutzutage in Begriff ist, die Familie der Katzen vom Erdboden zu vertilgen. Die meisten modernen Katzenarten,2 ob groß oder klein, sind inzwischen im Rückgang begriffen und verlieren gegenüber den Menschen täglich an Boden.

Das heißt, mit einer Ausnahme. Harris führt mich zu einer laufenden Ausgrabung in der Nähe eines Asphalttümpels nicht weit entfernt von der Tür des Museums. Während zwei Frauen in teerbefleckten T-Shirts einen Smilodon-Oberschenkelknochen reinigen, wischt mir plötzlich ein brauner Schatten um die Knöchel und Bob, eine schwanzlose weibliche Hauskatze mit Schmerbauch und besitzergreifendem Auftreten, tänzelt mir um die Beine. Die kichernden Ausgräberinnen erzählen mir, wie sie Bob nach einem Autounfall retteten, bei dem die Katze ihren Schwanz verlor, und sie wieder gesund pflegten. „Keine Überraschungsmäuse mehr!“, meint eine der Frauen und tätschelt Bobs Rumpf mit dem amputierten Schwanz.

Was ist seltsamer, frage ich mich: die Tatsache, dass Beverly Hills ein Friedhof für riesige, hier ehemals heimische Löwen ist oder dass ein kleiner blinder Katzenpassagier, der ursprünglich aus den Nahen Osten stammt, heute hier eine Heimat gefunden hat?

Aber tatsächlich ist der Aufstieg der Hauskatze die Kehrseite des Untergangs der Löwen. Die Geschichte des fortlaufenden Niedergangs der Katzenfamilie hilft zu erklären, was Organismen wie Bob und Cheetoh und all unsere anderen geliebten Hauskatzen wirklich sind: perfekt ausgestattete Raubtiere, wie Luchse oder Jaguare oder irgendeine andere Katzenart, aber auch extreme biologische Sonderfälle.

Wenn man von der menschlichen Zivilisation einmal absieht, könnte die Gegend um Los Angeles noch immer ein erstklassiges Habitat für heimische Katzen sein, die das Eiszeitalter (Pleistozän) überlebten. Einige Pumas streifen noch immer durch die Santa Monica Mountains, auch wenn die Population hoffnungslos isoliert und ingezüchtet ist und die wenigen Jungtiere oft dem Straßenverkehr zum Opfer fallen.3 Ein Puma, der als P22 bekannt war,4 wurde kürzlich fotografiert, wie er nachts unter dem Hollywood-Schriftzug stand und auf die hell erleuchtete Stadt heruntersah.

Aber heute ist es Bob, der die Teergruben regiert.

Die Säbelzahnkatzen und Riesenlöwen von La Brea starben gegen Ende der letzten Eiszeit aus – warum, wissen wir nicht. Aber wir können erklären, warum die meisten der überlebenden wilden Katzen – selbst die kleineren Arten, von denen einigen unseren geliebten Hausgenossen sehr ähnlich sehen – heute in solchen Schwierigkeiten stecken. Die Geschichte beginnt, wo so viele unserer Vorfahren endeten: im Maul einer Katze.

Die Katzen (Felidae) sind eine Familie aus der Säugetierordnung Carnivora (Fleischfresser).5 Sämtliche Carnivora, von Wölfen bis Hyänen, ernähren sich teilweise oder überwiegend von Fleisch, und warum sollten sie das nicht tun? Fleisch ist eine wertvolle Ressource, voller Eiweiß und Fett und wunderbar leicht verdaulich. Aber es ist schwierig, an Fleisch zu kommen, daher ergänzen die meisten Tiere, darunter fast alle, die zu den Carnivora zählen, ihren Speisezettel mit anderen Nahrungselementen. In der Bärenfamilie, beispielsweise, mampfen Schwarzbären Eicheln und Wurzeln mit pflanzenzermalmenden Backenzähnen, die im Maul einer Kuh nicht fehlt am Platze wirken würden, Große Pandas ernähren sich, wie allgemein bekannt, fast ausschließlich von Bambus, und selbst die mit eindrucksvollen Reißzähnen ausgestatteten Eisbären lassen sich gelegentlich Beeren schmecken.

Nicht so Katzen. Von der nicht mal ein Kilogramm wiegenden Rostkatze bis zum Sibirischen Tiger, der 270 Kilogramm auf die Waage bringen kann, sind alle rund drei Dutzend Katzenarten Hypercarnivoren, wie Biologen es nennen.

Sie fressen kaum etwas anderes als Fleisch. Die pflanzenzerkleinernden Backenzähne (Molaren) von Katzen sind auf kümmerliche Reste geschrumpft, kaum größer als das, was ein Kind für die Zahnfee hinterlässt, und ihre übrigen Zähne sind außerordentlich lang und scharf, eine Mischung aus Steakmessern und Brechscheren. (Der Unterschied zwischen dem Gebiss einer Katze und dem eines Bären ist wie der zwischen Alpen und Appalachen.) Obwohl die Eck- oder Reißzähne als Caninen bezeichnet werden (und sich damit von lateinisch canis, Hund, ableiten), sind sie bei Katzen relativ größer als bei Hunden, was nicht überraschend ist: Katzen benötigen zur Ernährung dreimal soviel Protein wie Hunde, Jungkatzen sogar viermal so viel.6 Hunde können selbst bei veganer Ernährung überleben, doch Katzen können wichtige Fettsäuren nicht selbst synthetisieren, sondern müssen sie aus dem Körper ihrer Beutetiere beziehen. Katzenzähne haben nur einen einzigen Zweck – Beute zu töten und zu zerlegen –, und das ist der Grund, warum alle Katzengebisse selbst für Biologen ähnlich aussehen. Die Bezahnung eines insektenfressenden Malaienbärs sieht ganz anders aus als bei einem Grizzly, doch manchmal können selbst Experten nicht sagen, ob sie ein Tiger- oder ein Löwengebiss vor sich haben, weil beide demselben Zweck dienen und sich entsprechend ähneln. Das gilt auch für den übrigen Katzenkörper. Es gibt riesige, manchmal fast schon komische Unterschiede in der Größe von Katzen – manche messen von der Schnauze bis zur Schwanzspitze 35 Zentimeter, andere fast 4,20 Meter –, doch im Körperbau unterscheiden sie sich kaum. „Der wichtige Punkt bei großen und bei kleinen Katzen ist nicht, dass sie unterschiedlich sind, sondern dass sie sich so sehr ähneln“, schreibt Elizabeth Marshall Thomas in Das geheime Leben der Katzen, ihrer Geschichte der Familie Felidae.7 Hauskatzen und Tiger, so Thomas, sind „das Alpha und das Omega ihres Schlags“.8 Natürlich haben Tiger Streifen und Löwen Mähnen, und Pumas haben acht Brustwarzen, Langschwanzkatzen hingegen nur zwei. Doch der Bauplan bleibt derselbe: lange Beine, kräftige Vorderextremitäten, eine flexible Wirbelsäule, ein Schwanz (der manchmal halb so lang ist wie der ganze Körper) zum Balancieren und einen kurzen Verdauungstrakt, um Fleisch und nichts als Fleisch zu verdauen. Katzen besitzen rückziehbare Krallen, hochempfindliche Vibrissen (Tasthaare) an der Schnauze und drehbare Ohrmuscheln für ein schon fast unheimlich gutes Richtungshören und den größtmöglichen Hörbereich. Ihre Augen liegen vorn im Kopf und verleihen Katzen ein ausgezeichnetes räumliches Sehvermögen sowie eine gute Nachtsicht. Der Katzenschädel ist gewölbt und das Gesicht ist abgerundet und kurz mit kräftigen, fest verankerten Kiefermuskeln, eine Anordnung, die die Bisskraft vorn im Maul maximiert. Ob die Beute ein Kaninchen oder ein Wasserbüffel ist, fast alle Katzen (mit Ausnahme der ultraschnellen Geparde) jagen auf dieselbe Weise: nachstellen, auflauern, angreifen und die Mahlzeit genießen. Selbst der träge Cheetoh jagt auf diese Art, wobei sein plumpes Hinterteil in Erwartung zuckt, wenn er sich auf einen ahnungslosen Schnürsenkel stürzt. Katzen sind vorwiegend visuelle Beutegreifer und setzen auf das Überraschungsmoment, wenn sie den Tötungsbiss applizieren, indem sie ihre Reißzähne zwischen die Halswirbel ihrer Beute schieben „wie einen Schlüssel in ein Schloss“9 (so der Verhaltensforscher Paul Leyhausen). Katzen können Beutetiere überwältigen, die dreimal größer sind als sie selbst,10 und damit ist ihr Ehrgeiz manchmal noch nicht befriedigt: Als Kind habe ich unsere Siamkatze oft dabei beobachtet, wie sie sich an Hirsche anschlich und sich auf Felsblöcken über dem nichts ahnenden Rudel zusammenkauerte.

Die modernen Katzenartigen waren zehn Millionen Jahre lang oder länger weltweit eine überaus erfolgreiche Tiergruppe und haben ein bemerkenswertes Spektrum von Lebensräumen besiedelt.11 Katzen haben eine Vorliebe für die asiatischen Tropenwälder,12 doch der feline Archetypus kommt in fast allen Klimazonen vor: der Schneeleopard im Himalaja, der Jaguar im Amazonasgebiet, die Sandkatze im Herzen der Sahara. Vor vielen Tausend Jahren lebten Löwen nicht nur in Beverly Hills, sondern auch im englischen Devon und in Peru – so gut wie überall auf der Welt mit Ausnahme von Australien und der Antarktis. Löwen waren vermutlich die wilden Landtiere mit der größten Verbreitung, die es jemals gab,13 König der Wälder und der dazwischenliegenden Wüsten, Feuchtgebiete und Bergregionen.

Was wilde Katzen brauchen, um zu gedeihen, ist Platz. Aus diesem Grund sind sie in freier Natur gewöhnlich weniger häufig als andere große Fleischfresser wie Bären und Hyänen.14Selbst die kleinsten Katzenarten brauchen ein relativ großes Jagdrevier, um an die nötigen Proteine zu kommen. Eine sehr grobe Daumenregel besagt, dass 100 Pfund Beutetier nötig sind, um ein Pfund in seinem Lebensraum ansässiges Raubtier zu ernähren.15 Bei Hypercarnivoren ist das Verhältnis jedoch noch ungünstiger. Diese Tiere haben keinen evolutionären Plan B. Sie müssen töten oder sterben. Tatsächlich töten Katzen recht häufig andere Katzen. Löwen fressen Geparde, Leoparden fressen Karakals (Wüstenluchse), Karakals fressen Falbkatzen. Katzen töten sogar Artgenossen, und diese Feindseligkeit erklärt – neben ihrer heimlichen Jagdweise und der begrenzten Tragfähigkeit eines gegebenen Ökosystems für eine große Zahl von Feliden –, warum die meisten Arten Einzelgänger sind.

Obgleich Menschen heutzutage eine erstaunliche Menge an Fleisch verzehren, gehören wir nicht zur Ordnung Carnivora. Wir sind Primaten. Unsere Verwandten, die Großen Menschenaffen, verzehren nicht viel Fleisch. Und das galt auch für unsere frühe menschenartige Verwandtschaft, die vor sechs oder sieben Millionen Jahren begann, die Bäume zu verlassen, lange nachdem Katzen ihre Stellung an der Spitze der Nahrungskette gefestigt hatten. Unsere Vorfahren aßen nicht nur kaum Fleisch, sondern spendeten es freigiebig in Form ihrer Körper und ihrer Babys. Eine ganze Palette von Geschöpfen hatte es auf unsere Vorfahren abgesehen:16 riesige Adler, Krokodile, Schlangen, so lang wie ein Bus, archaische Bären und vielleicht auch Riesenotter. Aber selbst unter solch furchterregender Gesellschaft waren Katzen höchstwahrscheinlich unsere gefährlichsten Prädatoren.

Die frühen Vorfahren der Menschheit entwickelten sich in Afrika während der „Blütezeit der Katzen“, schreibt der Anthropologe Robert Sussman, dessen Buch Man the Hunted (etwa: Der gejagte Mensch) unsere Geschichte als Beutetier schildert. In Regionen, in denen sich unsere Verbreitung mit derjenigen von Katzen überschnitt „hatten sie vollständig die Oberhand“, erklärte er mir – sie zerrten uns in Höhlen, verschlangen uns auf Bäumen, schleppten unsere ausgeweideten Körper in ihre Speisekammer. Tatsächlich wüssten wir vielleicht nicht annähernd so viel über die menschliche Evolution, wenn diese Großkatzen nicht so häufig Menschen erbeutet hätten.17 Der weltweit älteste, vollständig erhaltene Schädel der Gattung Homo, bekannt als Schädel Nr. 5, wurde in einer Höhle in Dmanisi, in Georgien, entdeckt, die ausgestorbenen riesigen Geparden wahrscheinlich als eine Art Picknickplatz diente. In Höhlen in Südafrika wunderten sich Paläontologen lange Zeit über Stapel von Hominiden- und anderen Primatenknochen und versuchten, die Ursache für dieses Gemetzel zu finden. Hatten unsere Vorfahren einander umgebracht? Dann fiel einem der Wissenschaftler auf, dass die Löcher in manchen Schädeln perfekt zu den Reißzähnen von Leoparden passten.

Auch heutzutage noch gibt es Hinweise auf den Tribut, den Katzen von unseren Vorfahren forderten. Sussman und seine Kollegin Donna Hart werteten Daten darüber aus, wie oft Primaten zum Opfer von Raubtieren werden, und stellten fest, dass die Katzenfamilie noch immer für ein Drittel aller Primatentötungen verantwortlich ist (Hunde und Hyänen hingegen nur für sieben Prozent). Eine Studie in den kenianischen Lavahöhlen von Mount Suswa ergab, dass die Leoparden dort Paviane fressen und praktisch nichts anderes. Selbst unsere stärksten und klügsten heute lebenden Primatenverwandten können Katzen zum Opfer fallen, die nur halb so groß sind wie sie: Wissenschaftler fanden im Kot von Leoparden die kurzen schwarzen Zehen von Tieflandgorillas, und im Kot von Löwen Schimpansenzähne.

Wissenschaftler beginnen gerade erst, unser eigenes Erbe als Beute offiziell zu erforschen,18 und stellen beispielsweise fest, dass sich unsere Fähigkeit zum Farbensehen und unsere Tiefenwahrnehmung entwickelt haben könnten, um uns das Erkennen von Schlangen zu erleichtern. Wie Experimente gezeigt haben, können selbst Kleinkinder Formen von Schlangen besser erkennen als diejenigen von Eidechsen; sie entdecken Löwen auch leichter als Antilopen.19 Gegen Fressfeinde gerichtete Strategien lassen sich noch heute in vielen menschlichen Verhalten nachweisen; das reicht von unserer Tendenz, unseren Nachwuchs in den dunkelsten Nachtstunden zu gebären (viele unserer Prädatoren jagten bevorzugt in der Abend- zw. Morgendämmerung), vielleicht bis zu unserer besonderen Wertschätzung für Landschaftsmalerei des 18. Jahrhunderts, deren weite Ausblicke uns das angenehme Gefühl verleihen, eine drohende Gefahr rechtzeitig kommen zu sehen. Die Gänsehaut, die ich in La Brea verspürte, als ich den Reißzahn einer Säbelzahnkatze in Händen hielt, stammt aus einer Zeit, als sich meine Körperhaare beim Näherkommen eines Raubtiers aufgerichtet hätten – was mich hätte größer und, so hoffe ich, auch Furcht einflößender hätte aussehen lassen.

Der Raubtierdruck hat wahrscheinlich auch unsere Körpergröße und unsere Haltung (ein hochgewachsener aufrechter Körper erlaubte unseren Vorfahren, weiter zu schauen), unsere Vorliebe für Gemeinschaft und Geselligkeit (ein Euphemismus für „Sicherheit liegt in der Zahl“) und unsere komplexen Formen der Kommunikation beeinflusst. Selbst weniger sprachbegabte Verwandte wie Grüne Meerkatzen haben eine Lautäußerung, die „Leopard“ bedeutet.20 (Aber wie um sich nicht übertrumpfen zu lassen, ahmen die kleinen, im Amazonasgebiet heimischen Langschwanzkatzen beim Jagen gelegentlich die Rufe von Affenkindern nach.21)

Möglicherweise basierte der wichtigste Beitrag von Katzen zur Evolution unserer Art jedoch nicht auf der Beziehung von Beutegreifer und Beute, sondern von Beutegreifer und Aasfresser. Dieses Geschenk war unsere erste schicksalhafte Begegnung mit dem Geschmack von Fleisch.

Die frühesten Belege für unseren Fleischkonsum datieren rund 3,4 Millionen Jahre zurück.

Schnittspuren auf Huftierknochen, die in der Nähe von Dikika, Äthiopien, gefunden wurden, zeigen, wie hart unsere weitgehend vegetarischen Vorfahren arbeiteten, um das Fleisch von den Knochen zu lösen; an anderen Fundorten hämmerten sie die Knochen auf, um an das nahrhafte Mark zu gelangen. Aber woher kamen diese ersten schmackhaften Knochen? Es sollte noch Millionen Jahre dauern, bis unsere Vorfahren Jagdtechniken entwickelten.

Nach Ansicht von Briana Pobiner, einer Expertin für menschliche Carnivorie (Fleischverzehr) am National Museum of Natural History, hetzten unsere unbewaffneten, auf Fleisch versessenen Vorfahren einige ihrer ersten Beutetiere möglicherweise einfach zu Tode oder steinigten sie, bis sie starben. Pobiner – die in ihrem Büro unter den fotografierten Blicken zweier sehr großer Löwinnen arbeitet – hält es jedoch für wahrscheinlicher, dass wir schamlose Diebe und Aasfresser waren, sogenannte Kleptoparasiten. Unsere wenig freundlichen Wirte waren demnach die großen Katzen, die Huftiere erlegten, sich satt fraßen und dann fortwanderten, um später zu ihrem Riss zurückzukehren. Das war der Zeitpunkt, an dem unsere raffinierten Vorfahren heranschlichen und stahlen, was sie tragen konnten. Vielleicht haben wir Antilopen aus den Bäumen geholt, wo Leoparden sie versteckt hatten (möglicherweise, um sie vor noch mächtigeren Katzen, wie Löwen, in Sicherheit zu bringen). Doch die Säbelzahnkatzen haben wohl die besten Überreste zurückgelassen, wie der Anthropologe Curtis Marean betonte, denn ihre mächtigen Zähne waren hervorragend zum Töten geeignet, jedoch nicht unbedingt zum Kauen, sodass viel Fleisch am Knochen blieb. Einige Wissenschaftler vermuten sogar, dass die Überbleibsel von der Tafel der Säbelzahnkatzen so reichlich und so wesentlich für die Ernährung der frühen Menschen waren, dass wir den Katzen von Afrika nach Europa folgten, die erste echte Wanderung unserer Art.22

Nachdem unsere Vorfahren einmal Geschmack an Fleisch gefunden hatten, so reich an Nährstoffen und Aminosäuren, wollten sie mehr davon. Einige Paläoanthropologen sind der Meinung, dass es der Fleischkonsum war, der uns letztlich zum Menschen machte. Es war sicherlich ein entscheidender Schritt.

„Fleischessen war so wichtig, dass wir bei der Herstellung von Steinwerkzeugen immer geschickter wurden“, erklärt Pobiner. „Es war eine Rückkopplungsschleife. Mehr Fleisch zu erbeuten, verlangt eine gute Kenntnis des Lebensraums, Kommunikation und Planung. Wir hätten nicht denselben evolutionären Weg eingeschlagen, wenn es nicht ums Fleischessen gegangen wäre.“

Tatsächlich könnte es sein, dass Fleischkonsum buchstäblich unseren geistigen Horizont erweitert hat, so die „Expensive-Tissue“-Hypothese (Hypothese vom teuren Gewebe), bei der es um die Entwicklung unseres Gehirns geht.23 Da vegetarische Primaten große Mengen an zähem Pflanzenmaterial verdauen müssen, haben sie einen sehr langen, viel Energie verbrauchenden Verdauungstrakt. (Darum sehen ansonsten schlanke Affen auch so aus, als hätten sie einen Bierbauch.) Tiere mit einem ständigen Zugang zu leicht verdaulichem Fleisch könnten jedoch den evolutionären Spielraum haben, ihren Darmtrakt zu verkürzen und die damit gesparte Energie in etwas Raffinierteres zu investieren: in ein enorm großes Gehirn. Dieses Kronjuwel von Homo sapiens ist energetisch außerordentlich kostspielig, es macht nur zwei Prozent unseres Körpergewichts aus, verbraucht aber in Ruhe 20 Prozent unserer Kalorienaufnahme.24 Möglicherweise können wir uns diesen Luxus nur leisten, weil wir Fleisch essen.

Der größte Sprung beim Hirnvolumen unserer Vorfahren ereignete sich vor rund 800 000 Jahren – nicht lange, nachdem wir gelernt hatten, mit Feuer umzugehen, das uns erlaubte, Fleisch zu erhitzen, sodass es länger haltbar blieb und sich besser transportieren ließ. Ein paar hunderttausend Jahre später fanden wir heraus, wie wir Großtiere aus eigener Kraft erlegen konnten. Noch ein paar weitere hunderttausend Jahre vorgespult, und vor rund 200 000 Jahren spaltete sich schließlich die Homo-sapiens-Linie vom Stammbaum ab.

An diesem Punkt wich die ursprüngliche, schiefe Machtbalance zwischen Menschen und Großkatzen einem fragilen Gleichgewicht, bei dem unser aufgebauschtes Gehirn ihre Muskeln austarierte. Mit unseren neuen Jagdwaffen konnten wir Großkatzen wahrscheinlich manchmal von ihrem Riss vertreiben und sogar einige töten, wenn es wohl auch die beste Strategie war, sich gegenseitig aus dem Weg zu gehen. Dennoch konnten wir offenbar nicht anders, als unsere eleganten und mächtigen Gegner zu bewundern. 30 000 Jahre alte Malereien in der südfranzösischen Chauvet-Höhle, die zu den ältesten Kunstwerken der Welt gehören, zeigen großartige ockerfarbene Leoparden und Löwen, gezeichnet mit einem Auge für biologische Details, bis zu den Spitzen der Tasthaare.

Diese uralte Pattsituation zwischen Katzen und Menschen, in der beide Parteien schwer bewaffnet und mehr oder minder gleich stark waren, was dem Kampf um Fleisch betraf, hielt bis vor rund 10 000 Jahren an,25 als die Menschen irgendwo im Nahen Osten auf die Idee kamen, wie sich unser unstillbarer Fleischhunger auf einfache Weise sättigen ließ: Tiere selbst züchten und töten. Die Domestikation von Herdentieren und Pflanzen, ein evolutionsgeschichtlicher Coup, der als Neolithische (jungsteinzeitliche) Revolution bezeichnet wird, erlaubte Jäger-und-Sammler-Gesellschaften, sesshafte Gemeinschaften zu bilden, was schließlich zur Geburt von Kultur und Geschichte und der Welt führte, wie wir sie kennen.

Für viele andere Geschöpfe, vor allem Katzen, läutete das Auftauchen unserer ersten Herden und Pflanzungen den Anfang vom Ende ein.

Wir glauben häufig, die Notlage von wilden Groß- und Kleinkatzen sei ein relativ neues Phänomen, und Europäer, allen voran die Briten, nehmen oft einen Großteil der Schuld für ihr Verschwinden auf sich. Es stimmt, dass die Kolonialherren Gewehre nach Indien und Afrika brachten und für Katzenfelle gut bezahlten. Bei einem Gelage 1911 erlegte die Jagdpartie des englischen Königs George V. innerhalb von zwei Wochen 39 indische Tiger. Die Viktorianer füllen die Londoner Zoos mit afrikanischen Löwen, die in Gefangenschaft dahinsiechten und gewöhnlich innerhalb weniger Jahre starben (wenn es auch einigen gelang, vor ihrem Ableben den einen oder anderen Karrengaul mitzunehmen).26 Die imperialen Feldzüge gegen Großkatzen sind in Jagdgeschichten festgehalten, eine singuläre Literaturgattung, die ein Biologe mir gegenüber als „die harte Zeit der Säugetierforschung“ bezeichnete. In dem Klassiker The Man-Eaters of Tsavo schildert der britische Kolonialoffizier James Henry Patterson mit eisiger Gelassenheit seinen Zusammenstoß mit zwei mähnenlosen, offenbar heruntergekommenen afrikanischen Löwen. Doch trotz all ihrer kühlen Effizienz beschleunigten die Briten lediglich einen Prozess, der mit dem Aufkommen der Agrikultur begann.

„Katzen sind sehr empfindlich“, erklärt mir der Katzengenetiker Steve O’Brien. „Wenn sie nicht genügend zu fressen haben, verhungern sie, einfach so. Es ist nicht die Jagd, die problematisch ist. Es ist die Errichtung von Farmen und Siedlungen.“

Katzen kommen biologisch einfach nicht mit dem allgegenwärtigsten Muster menschlicher Zivilisation zurecht.

Und das war so von Anfang an: Ägypten, die erste große Agrarkultur, verlor nach und nach den größten Teil seines Löwenbestands.27 Die Römer – die Großkatzen bei ihren Prozessionen und Kolosseum-Spektakeln einsetzten – berichteten bereits um 325 v. Chr. von einem Mangel an Großkatzen in bestimmten Regionen.28 Ab dem 12. Jahrhundert gab es in Palästina, wo sie einst häufig waren, keine Löwen mehr. Schon vor Ankunft der Europäer in Indien fragmentierten Mughal-Herrscher den Lebensraum von Tigern und damit ihre Population, indem sie Wälder abholzten. Und so erging es wilden Katzen aller Art.

Es ist nicht die Zeit oder die Jagdmethode, sondern der Ort, der die britischen Jagdgeschichten so informativ macht, denn sie illustrieren genau die Art von Plätzen und Situationen, an denen es zu Konflikten zwischen Menschen und Großkatzen kommt – nicht tief im Dschungel, sondern an den frisch gepflügten Rändern der Zivilisation: Zuckerrohr- und Kaffee-Plantagen, die an den indischen Dschungel angrenzen, Schienenwege, die sich durch den kenianischen Busch ziehen. An solchen Rändern dringen wir tiefer ins Territorium von Katzen vor und die Katzen wandern in unseres ein.

Je weiter wir vorrücken, desto schwieriger, ja fast unmöglich wird die Koexistenz mit wilden Katzen. Erst roden wir das Land, dringen immer tiefer in den Regenwald oder die Steppe vor und essen oder verscheuchen die Beutetiere. Das schadet den dort heimischen Katzen, von den Löwen und Tigern, die direkt mit uns um die großen Pflanzenfresser konkurrieren, die uns schmecken, bis zu hauskatzengroßen Feliden wie der Afrikanischen Goldkatze, deren kleinere Beute ausgerottet oder als Bushmeat verkauft wird.

Nachdem wir die Wälder abgeholzt und die heimischen Beutearten restlos verputzt haben, bringen wir unsere eigenen Nutztiere mit, wie Rinder, Schafe, Hühner und Fische – die die wilden Katzen aller Größen, die nun ohne Fleischquelle dastehen, natürlich als Beute ansehen. Nun sind sie an der Reihe, sich als Kleptoparasiten zu betätigen, und die Bauern lassen sich diesen felinen Diebstahl nicht gefallen.

Dazu kommt, dass die größten Katzen manchmal noch immer Geschmack an uns finden. Selbst im 21. Jahrhundert kommt es an der Grenze von Regionen, an denen sich ausbreitende menschliche Gemeinden auf Katzenreviere treffen, zu Todesfällen durch Raubkatzen. Ein einsamer Waldläufer kann in Russlands riesigen Birkenwäldern ein ganzes Leben lang jagen, ohne auf einen Sibirischen Tiger zu treffen, doch im indischen Sundardance Delta, in dem vier Millionen Menschen leben, sind menschenfressende Tiger durchaus ein Problem, und im tansanischen Ruffii-Distrikt mit seiner boomenden Landwirtschaft können Löwen pro Jahrzehnt Hunderte Dorfbewohner töten.29

Nur haben heutzutage Schädlingsbekämpfungsmittel Gewehre als unsere Waffe der Wahl ersetzt. Man vergifte einen Giraffenkadaver mit Pestiziden, und man eliminiert nicht nur den menschenfressenden Löwen, sondern das ganze rastlos umherstreifende Rudel, und entledigt sich des Königs der Tiere wie jedes anderen Schädlings. Wenn gerade kein Gift zur Hand ist, greifen die Dörfler auch zu anderen Mitteln. Indische Tiger, die außerhalb von Schutzgebieten angetroffen wurden, wurden einfach zu Tode geknüppelt.

Es ist einfach, Menschen in fernen Ländern die Schuld für den Niedergang der Großkatzen in die Schuhe zu schieben, bis man sich vorstellt, was es bedeutet, einen siebenjährigen Hirtenjungen auszuschicken, um eine von Löwen unsicher gemachte Weide zu bewachen, oder einen Leoparden in seiner Latrine zu entdecken. Und wenn das Problem zu Hause auftritt, verhalten sich Amerikaner nicht anders.30 Ein Großteil von Amerika war schließlich früher Großkatzenland, doch die Siedler machten schon vor langer Zeit mit Jaguaren im Süden und Pumas östlich des Mississippis kurzen Prozess – ausgenommen blieb nur der Florida-Panther, eine Unterart des Pumas, ingezüchtet und krank, die sich in einem entlegenen Zipfel der Everglades-Sümpfe von Gürteltieren ernährt