Was es bedeutet, eine Mutter zu werden - Abigail Tucker - E-Book

Was es bedeutet, eine Mutter zu werden E-Book

Abigail Tucker

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Beschreibung

Ein Kind zu bekommen bedeutet weit mehr als schlaflose Nächte und Schwangerschaftsstreifen. Denn die Natur stattet werdende Mütter mit absoluten physischen und psychischen Superkräften aus. Und das aus gutem Grund: Sie und ihr Baby leben in einem Rhythmus, und das mütterliche Gehirn wird während Schwangerschaft und Stillzeit so neu strukturiert, wie es vorher nur in der Pubertät passiert. Wir alle wissen, wie Babys entstehen – aber wie entstehen Mütter? Was es bedeutet, eine Mutter zu werden ist ein Buch, das sich ganz den neuesten Erkenntnissen der Mütter-Forschung widmet. Viel zu lange wurden Frauen, die Kinder bekommen haben, von der Wissenschaft nämlich übersehen. Mit leichtem Ton, faszinierenden wissenschaftlichen Fakten und zahlreichen Geschichten aus ihrer eigenen Erfahrung erzählt Abigail Tucker von der Heilkraft fetaler Stammzellen, was es mit mütterlicher Aggression auf sich hat und warum Mamas Gehirn "leuchtet", wenn sie ein Baby weinen hört.

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Was es bedeutet, eine Mutter zu werden

Die Autorin

ABIGAIL TUCKER ist Journalistin und Autorin für verschiedene Magazine und Zeitungen und wurde für ihre Arbeit mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrem Mann und vier Kindern in New Haven, Connecticut.

Das Buch

Ein Kind zu bekommen bedeutet weit mehr als schlaflose Nächte und Schwangerschaftsstreifen. In diesem Buch erfahren Leserinnen und Leser alles über die biologischen Superkräfte von echten Superheldinnen, von der Heilkraft fetaler Stammzellen, was es mit mütterlicher Aggression auf sich hat und warum Mamas Gehirn »leuchtet«, wenn sie ein Baby weinen hört.»Dieses brillante und faszinierende Buch ist gefüllt mit atemberaubenden Fakten und Erkenntnissen und packend von der ersten Seite an. Abigail Tucker (…) beleuchtet mit einnehmender und oft urkomischer Stimme die Biologie von Müttern. Ich konnte es nicht aus der Hand legen.«AMY CHUA, AUTORIN VON DIE MUTTER DES ERFOLGS

Abigail Tucker

Was es bedeutet, eine Mutter zu werden

Die Superkräfte von Müttern und was die Wissenschaft heute darüber weiß

Aus dem Amerikanischen von Susanne Reinker

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

1. Auflage November 2021© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin, 2021Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Mom Genesbei Gallery Books/Simon & Schuster, New YorkUmschlaggestaltung: FAVORITBUERO, MünchenUmschlagmotiv: Anna Efetova / Getty ImagesAutorinnenfoto: © Ross DouthatE-Book Konvertierung powered by pepyrus.com

ISBN: 978-3-8437-2619-1

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

EinführungVon Mäusen und Müttern

Kapitel 1Mutterinstinkte zwischen Dichtung und Wahrheit

Kapitel 2Mutters Werk und Vaters Beitrag

Kapitel 3Mamamorphose

Kapitel 4Wonnen und Nachwehen

Kapitel 5Alle gleich, aber auch anders

Kapitel 6Auf der Suche nach dem Supermama-Gen

Kapitel 7Achtung, Influencer!

Kapitel 8Mutters Courage

Kapitel 9Die Mutter aller Mamakräfte

Kapitel 10Mutter werden ist nicht schwer …

Danksagung

Quellenverzeichnis

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

EinführungVon Mäusen und Müttern

Widmung

Für Ross
Da riefen alle: »Wendy, sei unsere Mutter.«»Soll ich?«, fragte Wendy strahlend. »Natürlich ist das schrecklich verlockend, aber, versteht ihr, ich bin nur ein kleines Mädchen. Ich habe keine Erfahrung.«»Macht nichts«, sagte Peter, als wäre er der einzige, der sich auskennt, obwohl er in Wirklichkeit am wenigsten wusste. »Wir brauchen bloß eine nette mütterliche Person.«»Wisst ihr«, sagte Wendy, »ich habe das Gefühl – genau das bin ich.«J. M. Barrie, Peter Pan

EinführungVon Mäusen und Müttern

»Ich fühl mich, als wär mir ein neues Herz gewachsen.«

Das sagte meine beste Freundin an dem Tag zu mir, an dem sie ihre Tochter zur Welt brachte. Damals verdrehte ich innerlich die Augen bei so viel Frischgebackene-Mama-Gesülze. Aber zehn Jahre und drei eigene Kinder später kommt mir Emilys Satz wieder in den Sinn, als ich in einem überfüllten Aufzug zum Forschungszentrum des New Yorker Mount Sinai Hospital stehe. Dort ergründen Kardiologinnen und Kardiologen die Geheimnisse unserer Mutterherzen.

Tausende schwangerer Mütter und Wöchnerinnen landen jährlich wegen plötzlich auftretender, lebensbedrohlicher Herzschwächen in der Notaufnahme. Zu den Symptomen zählen Atemnot und geschwollene Halsvenen. Die Herzen der Mamas schlagen wie wild. Die Ursache dieser »peripartalen Kardiomyopathie«, kurz PPCM, ist unbekannt, obwohl es sich um einen Gesundheits-GAU handelt, der normalerweise auf direktem Wege zu einer Herztransplantation führt. Oder auf den Friedhof.

Und doch hat das Schicksal mit frischgebackenen Müttern etwas anderes vor. Bei ungefähr der Hälfte von ihnen kommt es zu einer spontanen Zustandsverbesserung und damit zur proportional höchsten Heilungsrate bei dieser Krankheit.1 Einige Mamaherzen sind schon nach zwei Wochen quasi wieder so gut wie neu.2 Normalerweise erholt sich Herzgewebe längst nicht so schnell, aber Mütter sind offenbar in der Lage, so einfach neue Herzzellen sprießen zu lassen wie Eidechsen einen neuen Schwanz.

Im Forschungszentrum des Mount Sinai Hospital arbeitet die Kardiologin Hina Chaudhry, die hofft, die Erklärung für dieses Phänomen gefunden zu haben. Sie und ihr Team lösten bei trächtigen Mäusen zunächst künstlich einen Herzinfarkt aus. Als sie die winzigen Herzen dann unter die Lupe nahmen, entdeckten sie, was sie bereits vermutet hatten: Herzzellen, deren DNA nicht derjenigen der Mausmütter entsprach.

Die mysteriösen Zellen stammen von ihren ungeborenen Mäusebabys. Während der Tragezeit dringen ihre Zellen durch die Plazenta hindurch in den Körper ihrer Mamas und unternehmen fröhlich Spritztouren durch ihre Blutgefäße, bis das Mutterherz gefährlich erhöhte Entzündungswerte aufweist. Woraufhin die Babyzellen umgehend auf Notfalleinsatz umschalten und dem geschädigten Herz zu Hilfe eilen – ganz so wie meine zweitgeborene Tochter mit einem Pflaster angerannt kommt, wenn ich mich beim Parmesanreiben fürs Abendessen am Finger verletzt habe.

»Sie sind von jetzt auf gleich da«, erklärt Dr. Chaudhry. »Sie rasen zum Herz wie Wärmesuchraketen.«

Diese sogenannten fetalen Stammzellen vermehren sich in der Herzgegend der Mutter, entwickeln sich zunächst zu winzigen blutgefäßartigen Röhrchen und dann weiter zu etwas, das man getrost als Heiligen Gral der Kardiologie bezeichnen könnte: voll entwickelte Herzmuskelzellen. Seit Jahrzehnten beißen sich einschlägige Spezialisten die Zähne daran aus, sie im Reagenzglas nachzuzüchten. Diese Zellen sind es, die den lädierten Mutterherzen zur schnellen Genesung verhelfen.

»Ich fühl mich, als wär mir ein neues Herz gewachsen.«

Auf ihrem Computerbildschirm zeigt Dr. Chaudhry mir stark vergrößerte Videoaufnahmen von ausgebüchsten Mausbaby-Stammzellen in einer Petrischale. Sie sind mit einem grün fluoreszierenden Protein markiert worden und sehen aus wie frische grüne Erbsen in grauer Sauce.

Als sie auf Play klickt, beginnen die Erbsen zu zucken, zu pulsieren. Kurz bilde ich mir ein, sie sogar zu hören. Ga-gung, ga-gung. Wie damals Patrick Swayze in Dirty Dancing. Ich kneife die Augen zusammen, um es besser erkennen zu können. Warum um alles in der Welt, frage ich die Forscherin, hüpfen die Stammzellen so wild herum?

Dr. Chaudhry grinst. »Sie schlagen.«

Es ist nicht nur das Herz. Der Körper einer Mutter ist wie ihr Wohnzimmer, überall liegen die Sachen ihrer lieben Kleinen herum. Wissenschaftler*innen finden fetale Stammzellen an den unfassbarsten Stellen, genau wie ich irgendjemandes Schienbeinschoner hinter dem Fernseher finde oder eine Kindertiara im Wäschekorb. Unsere Kinder besetzen unsere Lungen, Nieren und Schilddrüsen, unsere Milz und unsere Haut. Ihre Zellen machen es sich in unserem Knochenmark und in unseren Brüsten gemütlich.

Und oft bleiben sie für immer. Forschende entdeckten schon wanderlustige fetale Stammzellen im Gewebe verstorbener alter Damen, deren letztgeborene Söhne heute Männer mittleren Alters sind. In den Körpern von Leihmüttern finden sich noch lange nach der Geburt überall Gene der Nachkommenschaft völlig fremder Menschen.

Die Wissenschaft bezeichnet dieses Phänomen als »fetalen Mikrochimärismus« – »Mikro«, weil es sich normalerweise nur um winzige Zellmengen handelt.

Eine »Chimäre« wiederum ist ein merkwürdiges Monster aus der griechischen Mythologie. Ein Mix aus verschiedenen, eigentlich ganz normalen Tieren, der ein völlig neues Wesen ergibt.

Gedankenversunken starre ich auf das Foto einer Bronzeskulptur auf meinem Bildschirm. So haben sich die alten Griechen also eine Chimäre vorstellt: Ziegenbeine, Löwenherz, Drachenflügel. Und Feueratem aus den Nüstern eines der insgesamt drei Köpfe.

Das ist kein Monster, denke ich. Das bin ich, und zwar fast jeden Morgen. Das ist ganz eindeutig eine Mutter.

Obwohl fetaler Mikrochimärismus aus evolutionsbiologischer Sicht nichts Neues ist und bei Säugetiermüttern von Kühen bis Katzen vorkommt, wird dieses Phänomen erst seit Kurzem wissenschaftlich erforscht. Und bei der Mütterforschung sieht es kaum anders aus, obwohl derzeit gut und gerne zwei Milliarden von uns diesen Planeten bevölkern.3 Genau genommen sind wir sogar noch viel mehr, weil Mikrochimärismus auch in die umgekehrte Richtung funktioniert: Mütterliche Rumtreiberzellen verschaffen sich Zugang zu den Körpern ihres Nachwuchses und leben dort weiter. Deshalb sind ein paar Zellen einer meiner besten Freundinnen, die vor drei Jahren an Krebs starb, derzeit in der zweiten Klasse.

Weltweit werden über neunzig Prozent aller Frauen zu Müttern.4 Doch bis vor gar nicht allzu langer Zeit interessierten sich Wissenschaftler*innen, vor allem Vertreter so bahnbrechender Bereiche wie den Neurowissenschaften, höchstens am Rande für das, was so alles in uns vorgeht. Von mir aus können Sie jetzt mit dem Finger auf die historisch gewachsenen Macho-Strukturen des wissenschaftlichen Establishments zeigen. Einige Intellektuelle verorten den Ursprung dieses Desinteresses sogar bei Charles Darwin, der mutterlos aufwuchs und jedweden Gedanken an unsereins vermutlich nicht ertragen konnte, der arme Kerl. Jedenfalls haben die National Institutes of Health, die wichtigste Behörde der USA für biomedizinische Forschung, bis 2014 gebraucht, um die »übermäßige Konzentration auf männliche Tiere und Zellen« zuzugeben und weibliche Lebensformen (gelegentlich sogar Mütter) hochoffiziell in ihre Forschungsarbeit zu integrieren.5

Ein weiteres altbekanntes Problem der Mütterforschung ist die Tatsache, dass die wenigen überhaupt existierenden Ansätze oft nichts anderes sind als verkappte Säuglingsforschung. Schließlich sind Babys als Abbild der Menschheit eine ganze Ecke niedlicher, völlig unbeeinflusst von so lästigen Variablen wie Persönlichkeit und kultureller Prägung und außerdem mit ein paar Crackern als Lohn für ihren Zeitaufwand völlig zufrieden (schon kapiert, Leute). Im Vergleich zu ihrem sich rasend schnell weiterentwickelnden Nachwuchs stehen Mütter in dem Ruf, langweilig und durchschaubar zu sein und damit alles andere als ein Nährboden für sexy Hypothesen. In der Natur verwechseln manche Tiere, etwa Walbabys, ihre Mütter mit Bojen und sonstigen großen, runden, unbelebten Objekten. Wissenschaftler erliegen offenbar ähnlichen Trugschlüssen.

Doch nun ist es endlich so weit: Immer mehr Akademiker, unter ihnen viele junge Frauen, widmen sich der Mütterforschung.6 Sie befestigen winzige Beobachtungskameras auf Babyköpfen und nähen Knopfmikrofone in Strampler.7 Ihr megamodernes Forschungsinstrumentarium umfasst die Basics eines jeden Mutterlebens: Fotoalben, Froot Loops, Kinderknete. Und langsam entdeckt die Wissenschaft, dass auch die Mütter selbst gar nicht so langweilig sind. Möglicherweise sind wir sogar vielschichtiger und faszinierender, als alle immer dachten.

Genau das ist an Dr. Chaudhrys Herzforschung so bemerkenswert: Sie ist der unwiderlegbare Beweis dafür, dass Mütter oft genug völlig anders aussehen als der Rest der Menschheit. Jedenfalls, wenn man genau hinschaut.

Derweil versuchen Wissenschaftler*innen weiterhin zu ergründen, warum das so ist und welche Folgen es für die Mütter hat. Denn Dr. Chaudhry und ihr Team hoffen zwar,8 dass ihre Mikrochimärismus-Forschung letztlich zu einer Vielzahl vielversprechender Therapieansätze für Herzkrankheiten führt, von denen weltweit viele Menschen betroffen sind. Aber noch weiß niemand, was genau die Babyzellen in den Körpern ihrer Mamas so alles anstellen.

Immerhin besteht die Hoffnung, dass sie im Wesentlichen Gutes tun. »So läuft das in der Evolutionsbiologie«, sagt Dr. Chaudhry,9 die ihre erste Studie über Mikrochimärismus bereits 2012 veröffentlichte. »Der Fötus ist biologisch so angelegt, dass er die Mutter schützt«, sprich den Organismus, von dem sein Überleben abhängt.

Tatsächlich halten sich die fetalen Zellen im Wesentlichen brav an die Musterkindnummer, ganz so, als wäre demnächst das Taschengeld fällig. Sie können nicht nur angegriffene Mütterherzen flicken, sondern auch Fleischwunden – mein Kaiserschnitt wird mit ihrer Hilfe vermutlich schneller zusammenwachsen –, und ganz allgemein leisten sie uns Beistand bei einem Haufen schwerer Erkrankungen. So wurden im Rahmen einer niederländischen Langzeitstudie 190 Mütter im Alter zwischen fünfzig und siebzig Jahren über zehn Jahre regelmäßig untersucht.10 Teilnehmerinnen, in deren Körper sich noch ein paar Zellen ihrer Kinder fanden, waren vor so gut wie jeder lebensbedrohlichen Krankheit besser geschützt. Es wird sogar vermutet, dass solche Wanderzellen den Alterungsprozess verlangsamen, ganz ohne 300-Dollar-Beauty-Seren.

In einem berühmt gewordenen Fall stellten die Ärzte fest, dass ein paar übrig gebliebene Sohnemannzellen in der ruinierten Leber seiner Mutter einen komplett neuen Leberlappen hatten wachsen lassen.11 (Dieser Fall ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil die betreffende Mutter gar kein Kind zur Welt gebracht hatte. Ihr Sohn war nicht geboren, sondern abgetrieben worden, seine Zellen lebten aber in ihr weiter.)

Manchmal machen die Zellen unserer Babys allerdings auch ziemliche Dummheiten. Wer Kindern schon mal beim Verkleiden zugeschaut hat, kann sich prima vorstellen, dass es unklug wäre, den lieben Kleinen auch bei der Umgestaltung des menschlichen Körpers immer wieder bereitwillig freie Hand zu lassen. Gierige Babyzellen – okay, eigentlich sind Zellen bloß geistlose Einheiten, aber sogar Wissenschaftler*innen neigen dazu, sie sprachlich zu vermenschlichen, wenn es sich um Kinderzellen handelt – können mit bestimmten Krebsarten, insbesondere Brustkrebs, in der subversiven Absicht kooperieren, Mamas Milchproduktion in die Höhe schießen zu lassen. Sie können auch unsere Schilddrüse überschwemmen, um unsere Körpertemperatur anzuheizen, damit sie es kuschelig warm haben. Schön für sie. Uns bescheren sie damit allerdings diverse Stoffwechselprobleme.

Trotz der süßen Muppet-Show-Stimmchen unserer Knirpse spricht also einiges dafür, dass wir ihre Marionetten sind und sie möglicherweise etwas unsanft mit uns umgehen. (Einige Evolutionsbiologen vermuten sogar, dass im Falle mehrerer Geburten die jeweiligen Babyzellen einander im Mutterleib bekriegen. Ganz ehrlich: Meinen drei Kids würde ich das durchaus zutrauen.)

Dass Kinder zu süßem Verrat fähig sind, weiß jede Mutter, die schon mal erlebt hat, wie sie liebevoll Konfetti für Mamas Geburtstag fabrizieren und einen Moment später mal eben kurz die Spülmaschine außer Gefecht setzen.12 Aus diesem Grund habe ich ganz genau hingeschaut, als ich erfuhr, dass es auch in Müttergehirnen Hinweise auf Mikrochimärismus gibt. Bedeutet das etwa, dass Undercover-Babyzellen in meinem Kopf die Erklärung für die verwirrenden Veränderungen sind, die ich in den letzten zehn Jahren verspürt habe: meine plötzliche Begeisterung für samtige Bäckchen, meerblaue Augen, tiefe Grübchen und sinnfreies Krähen? Und dieses hartnäckige geistige Wegdriften von den präzisesten Plänen? Die Überlagerung meines bisherigen durch ein anderes Ich?

So, wie es aussieht, spielen sich sogar noch viel seltsamere Dinge in Müttergehirnen und -gemütern ab. Genau darum geht es in diesem Buch.

Über die harten wissenschaftlichen Fakten hinter dem so weich klingenden Mutterinstinkt dachte ich erstmals nach, als ich vor einigen Jahren das berühmte Präriewühlmaus-Forschungszentrum der Emory University, Atlanta, besuchte. Der wissenschaftliche Leiter Larry Young erklärte mir damals, dass diese Tierart aufgrund einer Besonderheit ihres Botenstoffsystems zur lebenslangen Paarbildung in der Lage ist. Dieses greift offenbar auf eine der ältesten und grundlegendsten Säugetiereigenschaften zurück: den mutterspezifischen neuronalen Schaltkreis, der aktiviert wird, wenn Säugetierweibchen Nachwuchs bekommen.

Obwohl ich damals schon mein zweites Kind erwartete, hatte ich bis dato immer gedacht – oder möglicherweise einfach glauben wollen –, dass Mutterschaft eine selbst gewählte Lebensform ist und nicht etwa eine biologische Kategorie, eine Bezeichnung und kein Seinszustand und letztlich nichts anderes als eine der vielen Kopfbedeckungen, die ich manchmal je nach Laune aufsetze – im Gegensatz zu meinem Kopf selbst und all seinen teuer erworbenen Inhalten. Aber so wie mir Professor Young seinerzeit in Atlanta Mutterschaft beschrieb, handelte es sich dabei offenbar um eine unmerkliche und bisher kaum erforschte Zellen-Revolution, an deren Ende der Totalumbau des weiblichen Gehirns steht.

Hmmm … kann schon sein. In den letzten Jahren war ich tatsächlich ziemlich neben der Spur gewesen mit meinen zwei Schwangerschaften plus Vollzeitjob als Journalistin für eine Zeitschrift. Ich war oft zerstreut; anstatt sich zu konzentrieren, zog mein Gehirn einzelne Gedanken hervor und warf sie gleich wieder weg, so ähnlich wie meine Hände das mit den Babyfeuchttüchern machten.

Sobald ich wieder ein bisschen mehr Schlaf bekomme, ist der Spuk bestimmt vorbei, dachte ich. Dann läuft mein Gehirn doch locker wieder zu seiner alten Hochform auf, genau wie mein Körper wieder problemlos in die Vor-Schwangerschafts-Jeans passt (so meine naive Hoffnung), die im untersten Kleiderschrankregal zwischengelagert waren, gerade mal eine Armlänge entfernt – und trotzdem völlig außer Reichweite. Bis zu jenem Tag in Atlanta hatte ich mir wesentlich mehr Gedanken über meine alten Jeans gemacht als über mein neues Gehirn.

Dieser oberflächliche Blickwinkel ist nur zu verständlich. Denn allein schon die sichtbaren Veränderungen, die das Muttersein nach sich zieht, geben mir reichlich Grund zum Grübeln, auch wenn ich nicht gerade mit Piratenstickern beklebt bin. Im Laufe dreier Schwangerschaften habe ich über 45 Kilo zu- und anschließend … nicht ganz wieder abgenommen. (Wobei, es könnte schlimmer sein: Tragende Blauwale nehmen über 45 000 Kilo zu.) Mein Bauch ist bedeckt von blitzförmigen Schwangerschaftsstreifen.

Während einer Schwangerschaft ist unser gesamter Körper quasi im Fluss. Muttermale werden dunkler, die Stimme fällt eine Oktave tiefer. (Die Schauspielerin und Sängerin Kristen Bell war während der Tonaufnahmen für Die Eiskönigin schwanger, der Soundtrack hätte also stellenweise noch wesentlich schriller ausfallen können). Die Nase weitet sich, das Fußgewölbe flacht ab, und die Zehennägel lösen sich. Manchmal wechselt das Haar seine Farbe oder wird lockig. Nicht auszuschließen, dass wir rülpsen müssen, als hätten wir einen Tornado verschluckt. Vielleicht produziert die Leber so viel Gallenflüssigkeit, dass ein bisschen davon in Blut und Gewebe gerät und uns einen teuflischen Juckreiz beschert. Und wegen unserer erhöhten Körpertemperatur und CO2-Emission werden wir nachweislich zum Leckerbissen für Mücken.

Diese Spielarten der Ganzkörper-Revision von Müttern sind keine Peanuts. Serena Williams ist ihretwegen an der Qualifikation für die French Open gescheitert, Beyoncé konnte deshalb nicht beim Kultfestival Coachella auftreten – insgesamt können die Folgen sehr, sehr lange andauern. Manchmal für immer. In einer wissenschaftlichen Arbeit wurde der körperliche Wandel durch Mutterschaft fast karikaturartig fies beschrieben, »erhöhter Bauchumfang bei vermindertem Oberschenkelumfang« hieß es da.13 Als wären wir alle per Mamamorphose von sexy Mädels zu schwabbeligen, schlampigen Mom bods geworden. Obendrein stellt sich gerade heraus, dass an dem alten Sprichwort »Jedes Kind kostet die Mutter einen Zahn« tatsächlich etwas dran sein könnte14 – im Vergleich zu kinderlosen Frauen ihrer Altersgruppe haben Mütter ein erhöhtes Risiko für Zahnausfall, sei es nun wegen ihrer geplünderten Kalziumspeicher oder einfach nur wegen all der Zahnarzttermine, die sie in letzter Sekunde absagen mussten. Ältere Mütter leiden eher an Gangstörungen. Immerhin gibt es für Mamas, die gestillt haben, auch etwas Positives zu vermelden: Sie haben ein geringeres Schlaganfallrisiko.

Und diese einschneidenden Veränderungen sind noch gar nichts im Vergleich zu dem, was so alles in den Gehirnen von Müttern passiert.

Die gute Nachricht zuerst: Die zahnlosen Mütterchen, von denen gerade die Rede war, können sich möglicherweise erstaunlich gut gegen Alzheimer zur Wehr setzen.15 Eine kürzlich durchgeführte Studie mit 14 000 Frauen deutet jedenfalls darauf hin, dass das Risiko, an Demenz zu erkranken, bei Müttern mit drei und mehr Kindern zwölf Prozent geringer ist.

Kommen wir zu den weniger guten Nachrichten für die Mamagehirne: Zahlreiche rätselhafte bis gefährliche psychische Probleme können unsereins heimsuchen, insbesondere während der Übergangsphase in den Muttermodus. So etwa der Babyblues. Für über die Hälfte der Betroffenen ist er kein großes Thema, aber bei etwa zwanzig Prozent entwickelt er sich zu einer waschechten postpartalen Depression.16 Die Wissenschaft hat bisher nicht ergründen können, warum das so ist. Zudem sind nicht nur Wöchnerinnen betroffen; noch Jahre später haben Mütter ein erhöhtes Depressionsrisiko. Gut möglich, dass schwangerschaftsbedingte körperliche Prozesse der lang gesuchte Grund dafür sind, dass Mütter überproportional häufig an psychischen Störungen leiden. So ist für sie beispielsweise die Gefahr, an einer bipolaren Störung zu erkranken, im ersten Monat nach der Geburt 23-mal höher als im Rest ihres Lebens.17

Das alles sind ziemlich deutliche Anzeichen dafür, dass die Veränderungen in unseren Köpfen genauso extrem ausfallen wie die eher unliebsamen Veränderungen unseres äußeren Erscheinungsbilds. Während der Geburt dürfen Mamas Neuronen sich mit coolen Hormonen und Botenstoffen bedröhnen, wodurch ein paar ihrer Gene ein- oder ausgeschaltet werden. All das löst im Gehirn Wandel und Wachstum aus. Innerhalb von gerade mal ein paar Monaten werden unsere grauen Zellen einer radikalen Modernisierung unterzogen, die jede Realityshow über den Einsatz von Renovierungsprofis in Altbauwohnungen in den Schatten stellt. Die Folge: Plötzlich ändert sich unser Blick auf die Welt. Unsere Wahrnehmung eigentlich banaler Dinge – die Farbe Rot, der Geruch eines winzigen Hemdchens, das Gesicht einer fremden Person – ändert sich auf ziemlich seltsame Weise. Auf einmal ist ein Kinderlächeln für uns das A und O. Unsere ursprüngliche Bedürfnisskala wird vollkommen neu justiert.

Der wichtigste Wandel, den das Muttersein mit sich bringt, hat also nichts damit zu tun, wie wir aussehen. Sondern wie wir sehen.

Entführt, gehackt, umprogrammiert, umfunktioniert oder sonst wie mit einer neuen Identität versehen – es ist kein Zufall, dass dieser Grundgedanke filmische Dystopien über Frauen prägt, von Die Frauen von Stepford bis The Handmaid’s Tale.

Bei dem einen oder anderen Glas »Schwarzwein« (für meine Töchter das Gegenteil von Weißwein) habe ich nächtelang am Küchentisch darüber nachgedacht, wie es ist, »eine neue Dame« zu werden – so haben die Kids mich getauft, nachdem ich mich mal darüber beschwert hatte, als »alte Dame« bezeichnet zu werden. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass das Ganze eigentlich recht erfrischend ist.

Seit ich beim Arzt zum ersten Mal den Herzschlag eines anderen Wesens in mir hörte, verfalle ich in eine Art Mamarausch, wenn ich an die sechs leuchtenden Augen meiner Kinder denke oder mir nach einer unseligen Rutschbahnfahrt meiner Tochter das Röntgenbild ihres Sprungbeins anschaue. Diese Menschlein sind in meinem Bauch gewachsen. Ein denkbar seltsamer Gedanke; da scheint es fast normaler, mir vorzustellen, wie ich mich selbst zur Welt bringe.

Was eigentlich eine ziemlich treffende Vorstellung von dem ist, was Mütter im Grunde tun. Die Veränderungen, die durch das Muttersein ausgelöst werden, sind so einzigartig und extrem, dass Forschende inzwischen sogar Begriffe auf uns anwenden, mit denen sie früher ausschließlich unsere stärksten Konkurrenten im Wettbewerb um wissenschaftliche Erforschung ehrten: unsere Babys. Denn tatsächlich sind Mütter das genaue Gegenteil von »langweilig und durchschaubar«. Wir stehen nicht für Sackgassen, sondern für Neuanfänge. In Psychologenjargon übersetzt: Mütter befinden sich »in kontinuierlicher Entwicklung«.

Ist »Mutterinstinkt« das richtige Wort, um die besondere Form von Verstand und Gefühl zu bezeichnen, die durch diese gefühlte Wiedergeburt von Müttern durch ihre Kinder entsteht? Heutzutage ist Instinct ein Herrenparfum von Giorgio Armani, kein wissenschaftliches Schlagwort. Forschende glauben nicht an Instinkte, so was tun nur Jedi-Ritter.

Vor hundert Jahren und sogar noch bis vor Kurzem ließen die New York Times und andere Zeitungen sich über »typisch weibliche« Fehltritte und Missetaten aus, wie beispielsweise über den bedauerlichen Modegeschmack von Hula-Tänzerinnen, über »alte Vetteln«, die Müttern ihre Babys stehlen (= »frustrierter« Mutterinstinkt) und Mütter, die Mann und Kinder im Stich lassen (= skandalöses Fehlen selbigen Instinkts).18 Das war auch die Zeit, in der Mütter in einem Atemzug ihre Babys und ihre besten Zuchtsauen zu einschlägigen Wettbewerben von Jahrmarkt-Leistungsschauen anmeldeten und das Radio einschalteten, wenn das amerikanische Landwirtschaftsministerium seine beliebte Rezeptsendung für Farmersfrauen ausstrahlte.

Und trotzdem mag ich das I-Wort. Und viele Wissenschaftler*innen stören sich letztlich nicht daran, vor allem weil es ein »Kann-ich-mir-was-drunter-vorstellen«-Begriff ist, mit dem Frauen sich noch immer identifizieren können und ihn entsprechend verwenden. (Mal ganz abgesehen davon, dass ich wahrscheinlich nicht von »Frauen« spräche, wenn es nach dem Sprachgeschmack der Forscher ginge, sondern von »maternalem Substrat mit Reproduktionspotenzial«.) Außerdem bereitet es mir eine gewisse Genugtuung, neueste Forschungsergebnisse mit dem Hype zu verknüpfen, den die amerikanische Schauspielerin und Autorin Mindy Kaling online über ihren neu erwachten »Wahnsinnsmutterinstinkt« verbreitet – denn Frauen wissen nun mal eindeutig, wovon sie reden.19 Mutterinstinkte sind real und mächtig, ein komplexes Gefühls- und Handlungsgeflecht, das mehr oder weniger auf einen Schlag die Wahrnehmung von und den Umgang mit Babys bestimmt.

Gleichzeitig ist »Instinkt« auch ein ziemlich bedeutungsschwangerer Begriff, wenn ich das mal so sagen darf. Deshalb hier ein kurzer Überblick über alles, was ich damit nicht meine. Kinderlose Frauen verwenden oft die Formulierung, sie hätten keinen Mutterinstinkt, als Chiffre dafür, dass sie keine Kinder wollen. In diesem Buch will ich aber (eigentlich) nicht erklären, warum manche Frauen Mutterschaft gar nicht erst planen oder anstreben und ob das nun gut ist oder schlecht. (Obwohl: So etwas hätte mir ziemlich ähnlichgesehen. Vor ein paar Jahren wollte ich mir mit dem Kinderkriegen eigentlich noch Zeit lassen und ließ mich dann nur auf diese abenteuerliche Mutter-Nummer ein, weil mein Mann nicht länger warten wollte). Die bewusste Entscheidung für oder gegen eigene Kinder ist zwar ein interessantes Thema, basiert aber letztlich auf einer Fehleinschätzung, denn diese Entscheidungsfreiheit hat einzig und allein der Homo sapiens, und das noch gar nicht so lange. Weibliche Säugetiere »wollen« ganz allgemein keinen Nachwuchs. Sie wollen Sex. Nachwuchs ist nur die logische Folge. Darüber hinaus kann man sich bei diesem Thema nicht immer darauf verlassen, dass Mütter hier die Wahrheit sagen. Einer im letzten Jahr veröffentliche Studie zufolge sind viele Menschenmamas so dermaßen von Babyliebe überwältigt,20 dass sie zufällige Schwangerschaften im Nachhinein auch schon mal als gewollt darstellen.

Deshalb interessiere ich mich wesentlich mehr dafür, wie weibliche Wesen – Menschen wie Tiere – sich mit dem Beginn der Schwangerschaft verändern. Denn genau an diesem Punkt nimmt die Entstehung der zukünftigen Mutter ihren Lauf, die neue Mamamentalität entfaltet sich, und der bisherige Masterplan für die Zukunft, wenn es jemals einen gab, fliegt aus dem Fenster wie ein Kaugummi auf der Fahrt zum Schwimmunterricht.

Die andere »instinktive« Fehleinschätzung, die ich vom Tisch haben will, ist der Glaube, Menschenmütter wüssten auf magische Weise von Anfang an, wie Muttersein funktioniert. Dazu später viel mehr, hier vorab nur eines: Wir wissen es nicht. Wenn ich von Mutterinstinkten spreche, meine ich einen veränderten Bewusstseinszustand, ein neues Repertoire an Sinneswahrnehmungen, Gefühlen und Impulsen – und nicht etwa eine Art inneres Handbuch für die perfekte Mutter.

Was ich hingegen wirklich faszinierend finde, sind zwei große Fragen, die dieses neue, mysteriöse Mutterrepertoire aufwirft. Erstens: Wie und warum sind Mütter anders als andere Menschen – und gleichzeitig allen möglichen Säugetiermüttern so ähnlich? Quer durch die gesamte Säugetierfamilie, von Hamster- über Wallaby- bis Menschenmama existieren erstaunliche, weit zurückreichende Parallelen. Und obwohl diese Ähnlichkeit zwischen uns und unseren pelztragenden Cousinen manchmal verwirrend ist, ist sie letztlich ein Segen, denn Wissenschaftler*innen dürfen uns zwar nicht sezieren, wohl aber unsere tierischen Verwandten. So haben Studien an Schafen und Mäusen vieles von dem zutage gefördert, was wir heute über unsereins wissen.

Zweitens: Wenn wir unseren Säugetiercousinen so ähneln – warum unterscheiden Menschenmütter sich dann so enorm voneinander? Genau wie die Geschehnisse im Geburtskanal nehmen nämlich auch Mamastorys gelegentlich eine überraschende Wendung. Da reicht bereits ein Blick auf einschlägige Bezeichnungen: In Japan schwingen megaengagierte »Monstermütter« das Zepter, die »Rabenmütter« in Deutschland haben nur die eigene Karriere im Blick. Es gibt »späte« Mütter (um einen französischen Euphemismus zu verwenden) und »alleinerziehende« Mütter. Australische »Murfers«, eine Kombination aus Mutter und Surferin, stehen lieber auf dem Brett als an der Wiege.21 Und in den USA rangeln unterschiedlichste Mamaspezies um die vorderen Plätze: Vollzeitmütter, Homeoffice-Mütter, Office-Mütter, Freilauf- oder Helikoptermütter, Fläschchen- oder Brustbefürworterinnen, Mitschläferinnen und Schreien-Lasserinnen, Lego- oder Playmobil-Fans.

Einige Wissenschaftler sind inzwischen der Überzeugung, das Geheimnis unserer Unterschiedlichkeit liege im spezifischen Genom jeder Mutter verborgen. Was sich allerdings erst belegen ließe, wenn wir Glückskeks-mäßig einfach unser Innerstes aufbrechen und mal reinschauen könnten. Unabhängig davon hängt der Wandel vom Frau- zum Muttersein, wie wir noch sehen werden, von zahllosen, teilweise kuriosen Lebensumständen ab, etwa davon, ob frau schon mal Babysitterin war, Oboenunterricht hatte oder zu viel Fast Food gegessen hat. Und auch davon, wer sie geliebt hat.

Für die lästige Angewohnheit, uns von oben herab die Welt zu erklären, haben Männer zur Strafe ein eigenes Wort bekommen: Mansplaining. Ich für meinen Teil möchte hier nicht MOMsplaining betreiben, sondern mit Ihnen zusammen herausfinden, was Mütter voneinander trennt und was sie verbindet. Ich möchte mit eigenen Augen die Kräfte beobachten (ob nun unter dem Mikroskop oder in einem Affenfreigehege), die auf uns alle einwirken. Ich will wissen, wer und was genau dahintersteckt, wenn wir das Kind schaukeln.

Nun ist Mamabiologie ja vielleicht einfach nicht Ihr Ding. Vielleicht teilen Sie ja die Meinung der »Keine-Kinder-der-Umwelt-zuliebe«-Mittzwanzigerin, die ich neulich im Radio hörte. Sie war sich sicher, alles übers Muttersein zu wissen, weil jemand aus ihrem Basketballteam mal ein Kind bekommen hatte. Vielleicht finden Sie es auch einfach nicht so interessant, dass die Mutterinstinkte nicht nur das Rohmaterial für Paarbindungen und ganz allgemein für die soziale Interaktion von Säugetieren liefern, sondern wahrscheinlich auch ganz verschiedene typisch menschliche Phänomene befeuern, etwa Frauenfreundschaften, Religiosität, Rechtshändigkeit, Altruismus, weibliche Homosexualität, Sprache, Musik, Zwangsstörungen und Heimtierhaltung. Darüber hinaus sind sie womöglich eine der Ursachen dafür, dass das schwache Geschlecht die Männer um Längen schlägt, wenn es darum geht, schlimme Krisen wie Hungersnöte und Epidemien zu überstehen. Und ja: Das gilt sogar für Covid-19 und sonstige Seuchen. (Danke, liebe Ur-Ur-Ur-Uroma!)

Abgesehen davon gibt es auch eine Menge ganz praktischer, sogar machiavellistischer Gründe dafür, die Fakten zu ergründen, die das Muttersein bestimmen. Täglich kommen weltweit zehntausende neuer Mütter hinzu.22 Die meisten davon in Entwicklungsländern wie dem mamareichen Simbabwe, wo einige Kreißsäle und Entbindungsstationen immer noch die Anzahl der Schmerzensschreie als Rechnungsgrundlage verwenden. Die Geburtenraten in der westlichen Welt legen zwar die Vermutung nahe, dass Muttersein nicht mehr in Mode ist, aber in Wirklichkeit liegen wir immer noch voll im Trend.23 Wir bekommen weniger Kinder, wir lassen uns mehr Zeit damit, und dennoch gibt es mehr amerikanische Mütter als vor zehn Jahren: Mit Mitte vierzig haben 86 Prozent der Frauen das Gefühl erlebt, wie es ist, »sich selbst zur Welt zu bringen«. Sogar unter den Millennials sind inzwischen jährlich eine Million Mamas.24

All das macht Mütter nicht nur zu einer Natur-, sondern auch zu einer Wirtschaftsmacht. Mit siebzig Prozent bilden wir den Löwenanteil des amerikanischen Arbeitsmarkts.25 Die meisten von uns arbeiten Vollzeit, in vierzig Prozent aller Familien sind wir die Hauptverdienerinnen. Und offenbar sind wir ziemlich gut in dem, was wir da tun, weshalb der Finanzriese Goldman Sachs sogar versucht, frischgebackene Mütter im Team mithilfe transatlantischer Muttermilchtransporte bei der Stange zu halten. Auch der britische Geheimdienst MI6 bemüht sich aktiv darum, Mamaspione anzuwerben – allerdings leider nicht wegen ihres Sex-Appeals, sondern wegen ihrer »emotionalen Intelligenz«.

Marketingfirmen sind eifrig bemüht, unsere Denke zu entschlüsseln,26 um uns zielgerichtet alles Mögliche anzudrehen, »From bras to booze«, wie der Titel eines Seminars lautete. Neuesten Studienergebnissen zufolge klicken Mütter sich schon ab fünf Uhr morgens durch diverse Verbraucherapps und treffen Kaufentscheidungen fünfzehn Prozent schneller als andere Leute.27 (»Nicht vergessen: Mutterschaft ist Schufterei«,28 mahnte ein Consultant und riet Unternehmen, gestresste Mütter mit »leicht verdaulicher Information« zu ködern.) Microsoft-Nerds haben sogar einen Algorithmus entwickelt, der Neumütter online identifizieren kann, indem er linguistische Spitzfindigkeiten wie den veränderten Gebrauch unpersönlicher Personalpronomen analysiert.29

Und nicht zuletzt sind wir auch eine entscheidende Wählerinnengruppe,30 denn bei vergangenen Abstimmungen war die weibliche Wahlbeteiligung generell höher als die männliche. Der versteckte Wandel, den das Muttersein mit sich bringt, verändert offenbar manchmal auch unsere politischen Einstellungen – und zwar nicht nur, was die naheliegende Unterstützung dezidiert mütterfreundlicher Politik betrifft. Der mysteriöse Wandel kann auch ganz andere Folgen haben, etwa eine potenziell »positivere Einstellung zum Militär«. Doch derartige Meinungswechsel sind nicht weltweit vergleichbar. Es gibt komplexe Wechselwirkungen zwischen Müttern und den politischen Systemen, in denen sie leben; entsprechend können die Mutterinstinkte für ganz verschiedene politische Strömungen eingespannt werden. Unabhängig davon haben in den USA knapp zwei Dutzend weibliche Abgeordnete minderjährige Kinder, die zu Hause auf sie warten.31 Will sagen: Ein wachsender Anteil unserer Politikerinnen steht selbst knietief in Windeln und weiß daher, was Sache ist.

Die Aussicht, globale Mompower zu einer politischen Kraft zu bündeln, um Müttern weltweit das Leben zu erleichtern, ist ziemlich verlockend. Trotzdem ist es mir bei Weitem wichtiger, herauszufinden, wie jede Einzelne von uns aus den Erkenntnissen der neuen Mütterforschung einen Nutzen ziehen könnte.

Angesichts der immer weiter verbreiteten Ansicht, dass Mutterschaft eine Wahlmöglichkeit ist, ein Lebensweg unter vielen, fragen sich immer mehr Frauen, ob sie mit einem Mamadasein wohl glücklich wären. In den USA ist der Rekordanteil älterer und gut ausgebildeter Mütter ein Indiz dafür, dass viele von uns viele Jahre lang im Nichtmuttermodus glücklich und zufrieden waren. So gesehen ist es wahrscheinlich kein Wunder, dass heutzutage die Schwangerschaftsdepressionsrate werdender Mütter fünfzig Prozent höher ist als noch eine Generation zuvor.32 Ich selbst sage geradeheraus, dass ich noch nie so unglücklich war wie seit meinem Einstieg ins Mutterleben, aber auch noch nie so glücklich.

Die Frage »Werde ich als Mutter glücklich sein?« lässt sich aus wissenschaftlicher Sicht eigentlich nicht beantworten. Gleichwohl enthüllen biologische und anthropologische Studien allmählich die Kräfte, die das Pendel zum Schwingen bringen. Wir sind unzähligen Mächten ausgeliefert, von mikroskopisch klein bis riesengroß, von dem Zeug, das in unseren Zellen vor sich geht, über die Vorurteile ganzer Kulturkreise bis hin zu Krankheiten, die uns aus dem Nichts befallen und uns und unsere lieben Kleinen monatelang von der Außenwelt abschneiden. Es gibt keinen Standardweg durchs Mutterdasein, und in jeder Frau steckt das Potenzial, sich in viele verschiedene Mütter zu verwandeln. Auch ich bin schon viele Mütter gewesen, und die Mütterforschung hat mir geholfen, zu verstehen, wie und warum es zu diesen besten und schlechtesten Versionen meiner selbst kommen konnte.

Genau darin besteht das Paradoxon und das Wunder der Mutterinstinkte. Sie sind gleichzeitig starr und hochflexibel, mächtig und schwach, uralt und ganz modern, allgemeingültig und einzigartig. Wie ich bei meiner sterbenden Freundin gesehen habe, die ihre letzten Tage mit der Kontrolle des Cupcake-Konsums ihrer Tochter und der Zusammenstellung einer schicken Garderobe für ihre nächsten Schuljahre verbrachte, kann noch nicht einmal der Tod die Mutterinstinkte besiegen. Und doch können sie unter bestimmten Umständen geschwächt oder sogar ausgelöscht werden.

Da ist es gut zu wissen, dass sie auch wieder aufgebaut und genährt werden können. Sich intensiv mit diesen Aspekten befassende Forschende gehen davon aus, dass die Entwicklung neuartiger, wirksamerer Medikamente für uns nur noch eine Frage der Zeit ist und dass bei Schwangerschaftsuntersuchungen eines Tages Gehirnscanner ebenso standardmäßig eingesetzt werden wie Blutdruckmesser. Unabhängig davon existieren zahllose nichtmedizinische Möglichkeiten, die Regierungen, Gemeinden, Familienmitglieder und Freund*innen nutzen können, um uns das Muttersein zu erleichtern.

Aber brauchen wir überhaupt Hilfe? Immerhin ist die weibliche Ausgabe des Homo sapiens schon seit zweihunderttausend Jahren im Mamabusiness. Auf gewisse Weise sind heutige Mütter besser ausgerüstet als je zuvor. Wir selbst können entscheiden, wann wir schwanger werden und welche Geburtsmethode verwendet werden soll. Wenn’s ganze dicke kommt (beziehungsweise eben nicht), können wir sogar auf eine fremde Gebärmutter zurückgreifen. Wir können kabellos Milch abpumpen und bei genügend sportlichem Ehrgeiz sogar Halbmarathon laufen. Früher wurden Schwangere unter dem Vorwand, sich schonen zu müssen, aus der Öffentlichkeit verbannt – heute können sie schlicht machen, was sie wollen: Nachrichten aus Kriegsgebieten senden, um Olympisches Gold kämpfen, Alpengipfel besteigen, Premierministerin werden oder Vorstandsvorsitzende.

Doch trotz unserer selbstfahrenden Kinderwagen und trendigen Babymonitore mit eingebauter Audiofunktion (damit wir unseren Kleinen jederzeit ein Schlaflied singen können, auch wenn wir gerade am anderen Ende der Welt sind), haben wir längst nicht immer das Sagen. Genau genommen sind wir auch nicht mehr die, die wir mal waren. Dabei ändern wir im Laufe unseres Übergangs in den Muttermodus nicht etwa unsere Einstellungen – sie werden schlicht und einfach geändert.

Diese Formulierung erfüllt mich mit Unbehagen, schließlich befinden wir uns im Zeitalter des Individualismus mit all seinen Möglichkeiten, die eigene Persönlichkeit nach Herzenslust auszuleben. Und doch ist die grundlegende Erkenntnis, dass zahlreiche Aspekte des Mutterseins unser Handeln ungefragt und ungebeten verändern und einschränken, der erste Schritt in Richtung einer neuen Selbstbestimmung.

Eine Studie der Princeton University lässt vermuten,33 dass die allgegenwärtige Müttermisere größtenteils schlicht auf die Diskrepanz zwischen weiblichen Klischeevorstellungen in Sachen Mutterschaft und der nackten Realität zurückzuführen ist, insbesondere im Ausbildungsbereich und am Arbeitsplatz. Sich also weiterhin vorzugaukeln, wir wären immer noch dieselben – anders ausgedrückt: wir wären so wie alle anderen – und hätten auch nur ansatzweise ein Recht auf das letzte Wort zum Thema, ist extrem kontraproduktiv und sogar gefährlich.

Kann sein, dass einige von uns sich vor diesen unbequemen Wahrheiten am liebsten verkriechen würden, ganz so wie Nashornvogelmamas, die sich und ihre Küken (mithilfe ihrer eigenen Exkremente) in der ersten Zeit in Baumlöchern einkapseln und nur gelegentlich herausschauen, um vom Nashornvogelpapa eine reife Feige entgegenzunehmen.

Was mich betrifft, schaue ich den Tatsachen lieber ins Auge, auch auf die Gefahr hin, dass es ab und an tränt. Sogar wenn mein armes Mutterhirn deswegen am Ende aussieht wie eine Portion Rührei oder Pulled Pork, wie ich insgeheim befürchte. Und wenn schon: Die fundamentale Veränderung meines psychischen wie physischen Schwerpunkts zu begreifen ist für mich der beste Weg nach vorn.

Neulich schrieb eine meiner Töchter mir mit rotem Filzstift aufs Bein, was ich für sie bin. Das macht sie öfters, aber diesmal stand ich über sie gebeugt – und entdeckte etwas ganz Neues: Andersherum gelesen wird aus MOM … WOW.

Kapitel 1Mutterinstinkte zwischen Dichtung und Wahrheit

Was durch die Schwangerschaft so alles passiert – und was nicht

»Mama.« Die hartnäckige Tiefschläferin neben mir zeigt keinerlei Reaktion. Schlaftrunken dämmert mir, dass sie ihr Hörgerät herausgenommen hat. Egal. Eigentlich habe ich meine 71-jährige Mutter ja sowieso nur in diesen Schlafraum auf der Rückseite eines windumtosten Schafzuchthofs mitten in Connecticut mitgeschleift, um ein bisschen moralische Unterstützung zu bekommen.

Mom und ich halten heute Abend Wache in dem riesigen windschiefen Stall neben dem Hof, wo wir uns das Lager teilen. Wir beaufsichtigen vierzehn hochträchtige Mutterschafe; einige werden wahrscheinlich noch in dieser eisigen Märznacht ablammen. Alle zwei Stunden sollen wir nach ihnen schauen. Natürlich bin ich beim ersten Weckerklingeln meines Handys aus dem Schlaf hochgeschreckt. Zu Hause habe ich schließlich drei Kinder, die noch immer zu den unmöglichsten Zeiten aufwachen. Einsätze in finsterer Nacht sind mir also wohlvertraut. Meine Mutter ist zwar inzwischen etwas aus der Übung, trotzdem sind wir innerhalb kurzer Zeit bereit.

Die meisten der übernächtigten Freiwilligen kommen hierher in der Hoffnung, früher oder später neugeborene Lämmer mit zartrosa Näschen und knubbligen Knien im Arm halten zu können, doch ich bin wegen der Schafmütter hier. Schafstudien sind nämlich äußerst aufschlussreich für Wissenschaftler*innen, die sich für die Auslöser mütterlicher Verhaltensmuster interessieren, und damit für die ersten Momente des Mutterseins. Schafe sind Herdentiere, deren Nachwuchs schon kurz nach der Geburt von einer riesigen unübersichtlichen Menge Hunderter Tiere verschluckt wird. Entsprechend rasant verläuft die Mutter-Kind-Bindung:34 Dreißig Prozent der Mutterschafe können ihre Lämmer schon gleich nach der Geburt in der Gruppe identifizieren, alle anderen ziehen innerhalb von vier Stunden nach.

Draußen ist es so kalt, dass die Sterne glänzen wie Tränen.

Es knirscht unter unseren Füßen, als meine Mutter und ich über das verschneite Gras laufen. Wir betreten den stockfinsteren Stall und werden von Wärme und strengem Schafsgeruch eingehüllt. Im Geiste gehe ich noch mal die Notfallmaßnahmen durch, die wir anwenden sollen (die nervenaufreibendste erfordert, Lämmer ohne Lebenszeichen kreisförmig über unseren Köpfen zu schwingen), falls es bei einer Geburt zu Komplikationen kommen sollte und die Verwalterin es nicht rechtzeitig hierherschafft. Man hat uns eine laminierte Broschüre gezeigt, in der die ganzen beängstigenden Knäuelformen abgebildet sind, die die Beinchen von Schafzwillingen und -drillingen unter der Geburt so bilden können. Und einer der Gründe, warum ich bisher nicht gerade gut geschlafen habe, ist die Tatsache, dass das Lady 56 genannte Schaf, das letztes Jahr fünf Lämmer geboren hat, jeden Augenblick niederkommen kann.

Ich atme tief ein und schalte das Licht an.

Nichts. Die Mutterschafe haben sich nicht auf wundersame Weise in Mamas transformiert. Stattdessen malmen sie gleichmütig Heu wie eine Clique kaugummibegeisterter Teenager. »Futtern die wirklich die ganze Nacht?«, flüstert meine Mutter mit einem Unterton von Neid in der Stimme (ich habe nur einen Müsliriegel für sie dabei). Die Schafe sind riesig und sanftmütig; gleichwohl streifen sie mit ihren enormen Bäuchen manchmal ein anderes Muttertier. »Sie haben keine Ahnung, wie enorm rund sie sind«, hatte uns ein Mitarbeiter der Farm gewarnt – eine Einschätzung, die Frauen im letzten Schwangerschaftsdrittel sicherlich nachvollziehen können.

Wir kontrollieren die Schafe auf typische Anzeichen für eine bevorstehende Geburt: hervortretende Augen, gereckte Hälse, geschürzte Lippen. Ich untersuche wollige Hinterteile auf der Suche nach Fruchtblasensäcken (»sieht aus wie eine Wasserbombe, die hinten raushängt«, hatte man uns gesagt) und Schleimpfropfen (»wie ein Rotzhaufen«). Zuvorkommend hebt Lady 56 den Schwanz, als ich vorbeikomme, und heraus fällt ein niedliches Häufchen schokorosinenartiger Köttel. Sie seufzt, dann rülpst sie. Heute Nacht werden die Lämmer nicht mehr kommen, meiner braven Nachtwache zum Trotz.

Doch als ich ein paar Wochen später wieder dort bin, ist der Stall eine völlig andere Welt. Eins nach dem anderen, oder drei nach drei anderen, je nachdem, kamen die Lämmer zur Welt, und jetzt springen sie im Stall herum wie Popcorn in einem heißen Topf.

Und ihre Mütter sind völlig andere Wesen.

Nicht nur, dass sie im Vergleich zum letzten Mal, als sie an schlimmer Blähsucht zu leiden schienen, nun fast lachhaft dünn aussehen. Auch ihr Verhalten hat sich radikal verändert. Ich lasse mich auf einem Heuballen mitten im Getümmel nieder, um ein Euter in Augenschein zu nehmen, und achte nicht auf die schnuckeligen Neuankömmlinge, die an meinen Ellenbögen und an meinem Notizbuch knabbern.

Mit dem schwesterlichen Seit-an-Seit-Mampfen ist es aus und vorbei. Die frischgebackenen Schafmamas sind regelrecht griesgrämig und lieber für sich allein, was für ein Herdentier sehr ungewöhnlich ist. Zwei Mütter raufen sich um einen Platz an der Krippe, sie rammen einander mit den Köpfen, wie das sonst nur Schafböcke tun. »Sie sind permanent in höchster Alarmbereitschaft«, erklärt Laura Mulligan, die Verwalterin von Hickories, wie die Farm heißt. »›Wer berührt mich da? Wo ist mein Kleines? Wo ist mein anderes Kleines?‹, ist alles, was sie interessiert. Die Lämmer suchen sich irgendwo Milch, egal, bei wem. Ihre Mütter müssen sich darum kümmern, dass alles passt.« Das tun sie, indem sie auf der Suche nach ihren Kleinen komische Laute ausstoßen – eine Art tiefes Blöken, auch »Muttergrummeln« genannt, das nur Schafe von sich geben, die gerade abgelammt haben.

Schaf Nummer 512 durfte mit ihrem Nachwuchs gerade erst aus ihrem »Loch«, genauer gesagt aus ihrer Ablammbucht, in der sie mit warmem Melassewasser wieder aufgepäppelt worden ist. Sie ist eins der wenigen schwarzen Schafe in der Herde, aber ihre zwei Lämmer sind schneeweiß wie alle anderen und verschwinden sofort in der Menge wie zwei Flocken im Schneesturm. Es scheint unmöglich, festzustellen, welches Lamm zu welcher Mutter gehört. Eine Millisekunde lang durchzuckt Panik die Herde, und in einer Art Schaf-Memory finden Große und Kleine wieder zueinander. Auch die schwarze Schafmama spürt unter den ganzen gleich aussehenden Lämmern ihre eigenen Schnuckelchen wieder auf, wie sie im roten Licht einer Heizlampe dösen.

Hofbesitzerin Dina Brewster kann sich an diesem Schauspiel nicht sattsehen. Sie ist selbst gerade erst Mutter geworden, und ein buntes Durcheinander aus Baby- und Ablammausrüstung ist überall verstreut. (Einen Moment lang halte ich ein im Stall hängendes Bocksprunggeschirr für eine Babytrage.) Oft fragt sie sich, was die Tiere wohl denken.

»Was da passiert, ist ein Riesenrätsel – aber es stecken bestimmt jede Menge Hormone dahinter«, sagt sie, den Blick von einer Galerie aus auf das Gedränge unter ihr gerichtet. »Ich frage mich immer, wie sie das machen. Und woher sie das alles überhaupt wissen?!«

Auf der Suche nach den Ursachen für die schlagartige Transformation von Schafen in Mütter nehmen einige Forscher den Geruchssinn der Tiere ins Visier. Denn zumindest für Schafe ist die Nase ein Hauptauslöser für Mutterverhalten. In einer Versuchsanordnung wurden Lämmer in durchsichtige, luftdichte Boxen verfrachtet, durch die die Mutterschafe sie zwar sehen, aber nicht riechen konnten.35 Die Mamas verloren schnell das Interesse. Waren die Lämmer hingegen in blickdichten, aber luftdurchlässigen Boxen aus Metallgewebe versteckt, verhielten sich die Mütter weiterhin mamamäßig.

Schafmütter speichern den spezifischen Geruch ihrer Kleinen sofort nach der Geburt und können »Schwindlerlämmer« sofort erschnüffeln:36 2011 gab ein Forscherteam in einem Experiment sein Bestes, um Mutterschafen fremde neugeborene Lämmer unterzuschieben, die dafür eigens in clever konzipierte Jäckchen gesteckt wurden. Diese waren mit einem künstlich hergestellten Geruch imprägniert, der demjenigen des echten Nachwuchses fast völlig entsprach, aber eben nicht komplett identisch mit dem Original war, das aus über hundert flüchtigen organischen Verbindungen besteht. Die Mütter ließen sich nicht täuschen. Sie kennen den spezifischen Geruch ihrer Kleinen bis aufs letzte Molekül.

Ist so ein Power-Riecher auch ein Markenzeichen für mensch­liche Mutterliebe? Bis zu einem gewissen Grad schon: So beglückten kanadische Forschende frischgebackene Mütter mit Mini-Eisbechern von Häagen-Dazs.37 Darin befanden sich jedoch (gemeinerweise) weder Cookies & Cream noch Salted Caramel, sondern mit diversen Gerüchen imprägnierte Wattebällchen, darunter auch spezifische Babydüfte. Und siehe da: Den Müttern gelang es häufig, das Bouquet ihres Nachwuchses zu erschnüffeln.

Und doch bietet diese verblüffend gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit – die übrigens bei Schafen wesentlich besser erforscht ist als bei Menschen – nur einen winzigen Einblick in den Komplettumbau, den Neumütter durchleben. Was mit ihnen passiert, ist nichts weniger als ein Gezeitenwechsel. Eine tektonische Verschiebung. Eine finale Gesetzesänderung. Ein elftes Gebot. Ein System-Upgrade, ein neues Leitbild, ein unsanftes Erwachen. Unser Drehbuch wird komplett umgeschrieben, unsere Karten werden neu gemischt.

Wir sehen Schwangerschaft und Geburt immer als Prozess, der sich von unten nach oben vollzieht, weil er mit dem Wachstum in unserem Bauch beginnt (und leider auch oft genug mit dem Wachstum unserer Hinterteile). Doch unsere Mutterwerdung vollzieht sich in Wirklichkeit von oben nach unten, denn die Schwangerschafts- und Geburtshormone, die zunächst von der siegreichen Plazenta (dazu später mehr) und dann von unserem eigenen System gesteuert werden, verändern nicht nur unseren Körper, sondern auch unsere Gehirnstruktur.

Ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, ob ich wirklich so genau wissen will, was im Laufe dreier Schwangerschaften alles mit meinem Gehirn passiert ist. Allein der Gedanke daran löst ein diffuses Schamgefühl in mir aus – so ähnlich wie meine Tupperdosensammlung, in der kaum noch ein Deckel passt oder nicht von der Mikrowelle in Mitleidenschaft gezogen wurde. Besonders seit Kurzem bin ich ziemlich durch den Wind.

Und trotzdem: Als eine von zwei Töchtern einer Mutter, die mich vierzig Jahre nach meiner Geburt bereitwillig in winterliche Schafställe begleitet, und als Mutter einer Tochter, die tagesaktuell »das erste Mädchen auf dem Mars« sein, aber auch 22 Kinder bekommen möchte, habe ich jede Menge Fragen zu der Reise ins Unbekannte, auf die Frauen ohne ihr Wissen geschickt werden. Gibt es ihn wirklich, den Mutterinstinkt – oder besser gesagt: die Mutterinstinkte, im allerweitesten Sinne des Wortes? Kann man sie offiziell feststellen und messen? Haben alle Mütter sie? Haben nur Mütter sie? Ist dieses neue Mutter-Selbst eine endgültige Sache?

Genau wie die Hofbesitzerin damals im Stall frage ich mich:

Wie machen wir das? Und woher wissen wir das alles überhaupt?

Fangen wir am besten mit einer klaren Erkenntnis an: Der Begriff »Mutterinstinkt« legt zwar nahe, dass Menschenmütter wie durch ein Wunder wissen, was sie tun. Aber das ist ein Trugschluss. »Diese Art Mutterinstinkt«, sagt Dr. Jodi Pawluski, Neurowissenschaftlerin an der Université de Rennes 1 mit Forschungsschwerpunkt Mutterverhalten, gibt es beim Menschen nicht. »Frauen müssen mütterliches Fürsorgeverhalten erst lernen.«

Das klingt wie Musik in meinen Ohren. Ich für meinen Teil habe nämlich schon lange die Hoffnung aufgegeben, irgendwann die innere Supermama in mir zu entdecken.

Bereits zu Beginn meiner ersten Schwangerschaft, vor fast zehn Jahren, keimte in mir der Verdacht, nicht den blassesten Schimmer vom Mutterwerden und Muttersein zu haben. Meine Babysitterjobs in Highschool-Tagen hatte ich nur noch vage (und nicht unbedingt freudig) in Erinnerung, und seitdem hatte ich insgesamt bestenfalls ein paar Stündchen in der Gesellschaft von Krabbelkindern verbracht. Die Behauptung, sie zu vermissen, wäre recht weit hergeholt gewesen. Mein Mann und ich, damals beide in den Zwanzigern, lebten in Washington, D. C., und erfreuten uns eines ziemlich coolen Lebens. Als Journalisten reisten wir rund um den Globus, und wenn wir mal nicht unterwegs waren, pflegten wir unseren Ruf als Stammkunden des hipsten Balkanrestaurants in unserer Gegend oder drehten auf den örtlichen Laufstrecken im Zeitlupentempo unsere Runden. Dass wir so viele Wochenenden für Hochzeiten von Freunden verplanen mussten, war so ziemlich das Einzige, was mich damals ernsthaft störte.

Aber nun war Schluss mit lustig. Ein blinder Passagier wartete in mir auf das Go. Bald würde ich Mutter sein, obwohl ich mir das kaum je ernsthaft vorgestellt hatte. Was mütterliches Fachwissen betraf, herrschte in meinem Kopf bedrohliche Leere. Ich hatte das Gefühl, irgendwelche Vorbereitungen treffen zu müssen – aber welche? Eines Tages während meines zweiten Schwangerschaftsdrittels schlenderte ich zum nahe gelegenen Einkaufszentrum. Doch anstatt zielsicher eine Babydecke oder so zu kaufen, suchte ich eine halbe Ewigkeit nach einem Morgenmantel mit passenden Pantöffelchen – ein Ensemble, das ich nie zuvor gewollt, geschweige denn besessen hatte, das mir aber die perfekte Kleidung für den wehenfördernden Marsch durch die Gänge der Entbindungsstation zu sein schien. Schon sah ich mich mit anderen ähnlich gut gekleideten Damen im trauten Trott, den wir nur gelegentlich unterbrachen, um bei einer Kontraktion (möglichst) elegant zusammenzuzucken.

Als ewige Streberin musste ich natürlich auch einen Geburtsvorbereitungskurs nach Lamaze buchen. Damals wusste zwar niemand so genau, ob diese Methode nicht schon längst von anderen, trendigeren Techniken abgelöst worden war. Aber es passte nicht zu meinem Selbstbild, irgendwelchen Modetrends hinterherzulaufen; außerdem hatte meine Mutter diesen Kurs dreißig Jahre zuvor spielend hinter sich gebracht, und das mit Erfolg, schließlich hatten ihr Atemübungen à la »… und jetzt die Kerze auspusten« den Durchbruch zum Mutterglück gebahnt.

Die Lamaze-Lehrerin hatte sorgfältig frisiertes graues Haar und erstaunlich ausladende Hüften. Dank dieser Hüften, so erzählte sie uns zu Kursbeginn, hatte sie ihr erstes und einziges Kind innerhalb von gerade mal zehn Minuten herausquetschen können und daher gar keine Zeit gehabt, die ganzen Lamaze-Weisheiten, die sie uns beibringen wollte, selbst anzuwenden.

Eine meterlange Strichliste ausgeblasener Kerzen später schloss ich den Lamaze-Kurs mit nur einer einzigen denkwürdigen Erkenntnis ab, und die gewann ich gleich zu Anfang. Da bekamen alle zukünftigen Mamas nämlich ein ungewöhnlich großes, rundes Namensschild aus Bastelpapier verpasst. Und irgendwann verriet die Kursleiterin uns, dass diese Bagel-großen Kreise genau zehn Zentimeter Durchmesser hatten – exakt die Größe eines völlig geöffneten Muttermunds. Andere durchaus nützliche Fakten habe ich vergessen, aber dieses eine Bild ist mir im Gedächtnis geblieben.

Zehn Jahre und drei Kinder später bin ich nicht wesentlich klüger, sondern vielmehr eine Art schlachterprobte Hausmutter, deren Altersweisheit und persönliche Sammlung heißer Tipps in Sachen Geburt und Kindererziehung beängstigend mickrig ist. Ich habe nie herausbekommen, wie die Schlafphasen von Säuglingen verlaufen und wann welcher Backenzahn kommt. Ich habe Experten zu Rate ziehen müssen, von deren Existenz ich keine Ahnung hatte, um meinen Kindern Richtig-Schlafen (Schlafcoach), Richtig-Essen (Ernährungscoach) und Fahrradfahren (ein bemitleidenswerter Mitarbeiter des Fahrradladens) beizubringen. Einmal bin ich mit meiner Tochter zum Arzt gegangen, bloß weil sie einen Splitter im Zeh hatte. Jahrelang trug ich die Visitenkarte eines professionellen Läusebekämpfungsunternehmens mit mir herum.

Und immer, wenn ich glaube, endlich mal einen cleveren Elternkniff parat zu haben, oder auch nur einen Hauch von dem verspüre, was »mütterliche Intuition« sein könnte, werde ich schnell eines Besseren belehrt. Neulich zum Beispiel musste ich mein Baby während einer Familienwanderung plötzlich stillen – und fand mich oben ohne (Sport-BHs sind in dieser Lage einfach zu lästig) inmitten eines fernglasbewehrten Rentnertrupps in Tarnkleidung wieder. (»Genau hier legen die Grasmücken auf ihrem Zug einen Halt ein, und Sie stehen da mittendrin!«, rügte einer der Vogelfans mich verächtlich.) Und dann das Wochenende, als ich mich nicht weiter um die Magen-Darm-Grippe eines meiner Kinder scherte, um endlich zu einem lang geplanten Familienausflug aufbrechen zu können. Eine Entscheidung, die unseren Ferienaufenthalt nicht nur um ausufernden Brechreiz bereicherte, sondern auch um die Suche nach einer verlegten Geldbörse, den Diebstahl unserer Autoschlüssel und letztlich auch unserer treuen Familienkutsche. (Das Auto bekamen wir zurück, nachdem der Dieb sich ein wildes Verfolgungsrennen mit der Polizei geliefert und die Vorderfront des Wagens zu Schrott gefahren hatte. »Ist das Ihr Kinderwagen?«, fragte der Polizist, der unsere Sachen aus dem Wrack fischte. »Gehören Ihnen auch die Schlagringe?«)

Mein Mann und ich haben sogar einen Code für solche typischen Schneeballeffekte bei innerfamiliären Desastern erfunden: KKK – Kinderkatastrophenkaskade.

Gott sei Dank stehe ich mit dieser Ahnungslosigkeit nicht allein da. Die natürliche Inkompetenz von Menschenmüttern wurde bereits in x Studien nachgewiesen. Die amtlichen Richtlinien für gesunde Kinderernährung sind uns unbekannt. Wir haben nicht die geringste Ahnung, was zu tun ist, wenn ein Kind Fieber hat oder zu ersticken droht oder wie man einen Säugling richtig schlafen legt. Einer Schlagzeile zufolge ist »Töpfchentraining ein Rätsel von akademischem Ausmaß«38 – für die Mütter. (Und tatsächlich hat sich das Durchschnittsalter, in dem Kinder trocken werden, seit den Fünfzigerjahren von zwei auf drei Jahre erhöht, und noch ist kein Ende abzusehen.39 Unsere mageren Muttertalente scheinen noch weiter zu verkümmern.) Kein Wunder, dass ebenso betuchte wie besorgte Hipstermamas Schlange stehen, um gemeinsam mit ihren Sprösslingen Mitglied in Gruppen wie Loom zu werden.40 Das ist eine Art Country Club für Babys, der, etwa in Los Angeles, »wertfreie Hilfestellung im Umgang mit den unüberschaubaren Normen zeitgemäßer Kinderfürsorge« anbietet. Und auch kein Wunder, dass unsereins Übersetzungs-Apps wie ChatterBaby herunterlädt, die angeblich entschlüsseln können, warum bloß der oder die liebe Kleine jetzt schon wieder schreit.

Als ich zum ersten Mal von Snoo hörte, einer brandneuen Hightech-Wiege, die für schlappe 1300 Dollar mit allen nur denkbaren Raffinessen ausgestattet ist (Mikrofone, Lautsprecher, WLAN, iPhone-Steuerung), um Babys vollautomatisch wieder in den Schlaf zu wiegen, wenn sie krähen oder schreien – da habe ich schallend gelacht.

Ein paar Monate später habe ich so ein Teil bestellt. (Gott sei Dank nur auf Mietbasis, ich habe nämlich nie richtig herausgefunden, wie es funktioniert. Die Maschine war eindeutig klüger als ich.)

Nicht alle Menschenmütter sind derart ahnungslos. Aber unsere Kompetenz hinkt der von umtriebigen Schafmüttern auf vielfältige Weise hinterher. Das Verhalten anderer Säugetiermütter ist zwar nie komplett vorhersehbar, aber insgesamt gesehen können sie wesentlich mehr von dem vorweisen, was Wissenschaftler »Instinktverhalten« nennen – angeborene, automatisch auftretende Verhaltensmuster, die ihnen helfen, ihren Mutterjob zu erledigen.

Unmittelbar nach der Geburt funktioniert eine Rattenmutter wie auf Autopilot: Sie frisst die Plazenta, versammelt alle Neugeborenen, säubert und trägt sie, säugt sie, wacht über sie und leckt eifrig ihren Anogenitalbereich. Und das ist auch schon alles, was sie zu tun hat.

Kaninchenmütter legen das wahrscheinlich heftigste und spezifischste Verhalten an den Tag. Genau einen Tag vor der Geburt rupfen sie sich wie wild Haare aus dem Schenkelfell und kleiden damit ihr Nest aus. Wenn sie im Rahmen von Tests rasiert und so an diesem Automatismus gehindert werden, kommt ihr gesamtes mütterliches Instinktverhalten aus dem Tritt, und ihre Jungen werden wahrscheinlich sterben.

Möglicherweise haben auch Menschenmütter ein bisschen was von diesem »Nestbautrieb«.41 Die Ergebnisse schriftlicher Befragungen lassen jedenfalls vermuten, dass bei Schwangeren die Wahrscheinlichkeit, ihr Zuhause »zwanghaft umzugestalten und zu reinigen« in dem Maße zunimmt, in dem die Geburt näher rückt. (»Haargummis sortieren!« stand auf einer To-do-Liste, die ich während einer meiner Schwangerschaften unbedingt abarbeiten wollte.) Doch wenn man werdenden Menschenmüttern ihren Meister Proper wegnimmt, werden sie sich trotzdem weiter um ihren Nachwuchs kümmern.

Die Forschung ist seit Langem auf der Suche nach dem spezifischen »Instinktverhalten« beziehungsweise einem klar identifizierbaren Verhaltensmuster, das beim weiblichen Homo sapiens durch die Mutterschaft automatisch ausgelöst wird. Ein heißer Kandidat ist Motherese, auch »Mutterisch« oder »Baby Talk« genannt, also die hohe Stimmlage und affektiert klingende Ausdrucksweise, die Mütter verwenden, wenn sie mit Babys sprechen. Sie ist nachgewiesenermaßen von Amerika bis Japan verbreitet, und selbst taube Mütter passen die Gebärdensprache offenbar instinktiv auf vergleichbare Weise an. Einschlägige Expertinnen und Experten können sofort heraushören, ob da gerade eine Mutter spricht42 – und zwar nicht nur an den bescheuerten Dingen, die wir so von uns geben, während wir unter wissenschaftlicher Beobachtung stehen (»Nein, Katzikatz können wir jetz nich aufessen« steht in einem Protokoll vermerkt), sondern am Timbre unserer Stimme. Einige Wissenschaftler*innen sind sogar felsenfest davon überzeugt, dass das archetypische Mutter-Kind-Duett die Basis für die Entwicklung der menschlichen Sprache überhaupt ist, und möglichweise auch der Musik.

Dennoch ist Motherese kein so speziesweit verbreiteter Automatismus wie das Fellrupfen der Kaninchenmütter und das Muttergrummeln von Schafen. In einigen Kulturkreisen sprechen die Mütter fast nie mit ihren Säuglingen und schauen sie in der Regel noch nicht einmal richtig an. (In Papua-Neuguinea etwa verschwinden Babys fast zwei Jahre lang in einer Art tief hängendem Rucksack, dessen Träger über die Stirn der Mutter gespannt sind.) Auch Wiegenlieder sind längst nicht überall verbreitet:43 Eine Studie brachte an den Tag, dass vierzig Prozent der Mütter, deren Kinder in einer Säuglings-Intensivstation lagen, nicht auf die Idee kamen, ihren Kleinen ein Ständchen zu singen.

Sogar das namensgebende Säugetierverhalten fällt je nach Spezies völlig verschieden aus. Während Rattenmütter auf die Stunde genau 21 Tage säugen, ist bei Menschenmüttern von gar nicht bis fünf Jahre lang so ziemlich alles möglich. Und wenn Stillen wirklich so eine völlig natürliche, instinktive, tief in uns verwurzelte Angelegenheit ist – warum brauchen wir dann einen 400-Seiten-Klassiker wie Das Handbuch für die stillende Mutter? (Ich für meinen Teil habe selbstverständlich eine Stillberaterin konsultiert.)

Der erstaunlichste der unter Menschenmüttern fast universell verbreiteten Verhaltensreflexe ist die Tatsache, dass Mütter ihre Kinder automatisch auf dem linken Arm halten. Unter den rechtshändigen Müttern tun das über achtzig Prozent44 – und unter den linkshändigen sind es bemerkenswerterweise fast genauso viele. Die meisten Statuen der Jungfrau Maria zeigen sie mit Jesus im linken Arm, also da, wo auch ganz gewöhnliche Menschenkinder landen. Obwohl ich stark rechtshändig bin, schaffe ich es irgendwie nicht, ein Baby im rechten Arm zu halten. Es fühlt sich einfach falsch an. Dieses Phänomen ist zwar in den ersten drei Monaten besonders ausgeprägt, aber obwohl sie inzwischen in der Schule sind, kämpfen meine Kinder vor dem Fernseher oder beim Vorlesen nach wie vor erbittert um den Platz zu meiner Linken.

So, wie es aussieht, sind linksgerichtete Mütter auch im Tierreich weit verbreitet. Kürzlich erst haben Wissenschaftler*innen eine Liste aller Tiermütter mit Linksneigung veröffentlicht45 – ein kunterbuntes Spektrum von indischen Flughunden bis hin zu Walrossen, die ihre Kleinen gern backbord haben, wenn sie kopfüber schlafen beziehungsweise durchs Wasser gleiten.

Diese weltweit existierende Vorliebe ist wahrscheinlich auf den asymmetrischen Aufbau des Säugetiergehirns zurückzuführen. Das Baby auf dem linken Arm zu halten und aus dieser Perspektive wahrzunehmen erleichtert die Informationsübermittlung an die rechte Hemisphäre des mütterlichen Gehirns, die für die Emotionen zuständig ist. Gleichzeitig ist der Blick des Kindes so auf die ausdrucksstärkere linke Gesichtshälfte der Mutter gerichtet. Als Forschende sich die Fotos in Familienalben genauer anschauten, stellten sie fest, dass »depressivere und weniger empathische Mütter« ihre Säuglinge vorzugsweise auf dem rechten Arm trugen.46 Der italienische Entwicklungspsychologe Gianluca Malatesta, einer der Experten auf diesem Gebiet, machte mich darauf aufmerksam, dass auch die depressionsanfällige Prinzessin Diana ihre Kinder bevorzugt auf dem rechten Arm trug. (Es kann natürlich auch sein, dass so ein Prinzessinnenleben, in dem frau nie auch nur den kleinsten Finger krumm machen muss, nicht unbedingt die beste Voraussetzung für Schlepptätigkeiten aller Art ist, Babys eingeschlossen.) Einer hochinteressanten Studie zufolge können rechtsarmig getragene Babys in ihrem späteren Leben Mimik schlechter deuten.47 Und selbst kleine Mädchen halten ihre Puppen im linken Arm – wobei ich das nicht aus eigener Erfahrung bestätigen kann, weil ich nie mit Puppen gespielt habe.

Es kann allerdings sein, dass die Linksvorliebe zumindest beim Menschen keine reine Müttersache ist.

Im Rahmen einer kürzlich durchgeführten, herzerwärmenden Studie sollten 98 englische Kindergartenkinder ein Kissen halten, was sie auch brav taten, ohne einen Arm zu bevorzugen.48 Dann zeichnete das wissenschaftliche Team Strichmännchengesichter auf die Kissen – und auf einmal nahmen viele der fünfjährigen Mädchen (aus naheliegenden Gründen war keine einzige Mutter dabei) und Jungen die Kissen in den linken Arm. Bei erwachsenen Männern tritt die Baby-links-kuscheln-Vorliebe zwar nicht so deutlich zutage, ist aber offenbar durchaus vorhanden (wobei: Mein eigener Mann ist entschiedener Rechtsträger).

Womit wir beim nächsten Problem hinsichtlich der korrekten Definition der menschlichen Mutterinstinkte angekommen wären.

Die meisten nachwuchslosen Säugetiere, etwa Rattenmännchen und -weibchen, ignorieren Junge oder – noch schlimmer – fressen sie auf. Ein Charakteristikum des Menschen hingegen ist die sogenannte alloparentale Fürsorge, sprich die Bereitschaft, auch andere als nur die eigenen Kinder zu versorgen. Wir sind extrem gemeinschaftsverbundene Wesen mit umfassenden, vielfältig ausgeprägten Fürsorgekompetenzen, und Babys haben in den Herzen von Männern und Frauen und auch in ihren Gehirnstrukturen einen festen Platz.

Einiges von dem, was wir für »Mutterinstinkte« halten, ist also bei allen Menschen zu finden. Ein Säugling ist einer der stärksten Reizauslöser überhaupt, und zwar unabhängig vom biologischen Geschlecht und dem Vorhandensein eigenen Nachwuchses. Wenn wir Babys anschauen oder gar in den Arm nehmen, steigt unsere Körpertemperatur. Unser Gehirn verarbeitet Babygesichter in der Regel anders als Erwachsenengesichter, es werden mehr Gehirnregionen aktiv. Im Rahmen einer 2012 in Italien durchgeführten Studie betrachteten kinderlose Erwachsene Fotos von ihnen unbekannten Erwachsenen und Säuglingen sowie Tieren, während mithilfe funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) ihre Gehirnaktivität aufgezeichnet wurde.49 Ergebnis: Babygesichter aktivierten ganz spezielle Bereiche der grauen Substanz. »Diese speziesspezifische Reaktion«, so der Abschlussbericht, »reicht über die Grenzen der biologischen Beziehung zwischen Erwachsenen und Säuglingen hinaus.«

Dasselbe gilt für ethnische Zugehörigkeiten.50 Erwachsene reagieren zwar unterschiedlich auf Fotos von Erwachsenen einer als fremd empfundenen biogeografischen Herkunft, aber beim Anblick von Säuglingsfotos ist dieser Faktor offenbar irrelevant, wie ein japanisch-italienisches Experiment zeigte. Bei Babys machen unsere Gehirne keine Umstände: Sie sind in alle vernarrt.