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Oliver Peetz Katzenpolka. Katzenwalzer. Katzentango.
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Seitenzahl: 199
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Für Gitte
Vorwort
Kapitel 1: Die Rückkehr - Teil 1
Kapitel 2: Der Befund
Kapitel 3: Die Rückkehr - Teil 2
Kapitel 4: Das Paket
Kapitel 5: Die Rückkehr - Teil 3
Kapitel 6: Der Entschluss
Kapitel 7: Die Rückkehr - Teil 4
Kapitel 8: Der Inhalt
Kapitel 9: Die Rückkehr - Teil 5
Kapitel 10: Der Brief
Kapitel 11: Die Rückkehr - Teil 6
Kapitel 12: Die Erinnerungen
Kapitel 13: Die Rückkehr - Teil 7
Kapitel 14: Die Entscheidung
Ihr da draußen, die ihr da seid. Ja, ihr. Ihr alle. Glaubt ihr denn nur das, was ihr seht? Und nicht das, was dennoch wahr sein könnte? Habt ihr Verstand? … Denn wer Verstand hat, der bedenke, hier ist Wahrheit!
Wo Gutes herrscht, da findet sich immer auch das Böse. Und die Wege des Herrn sind sehr wohl gleichermaßen unergründlich wie die dunkle Seite, das Böse. Warum also sollte es abwegig sein, dass das Böse in Gestalt eines menschlichen Wesens erscheint?
Die Wahrheit ist es und nichts als die Wahrheit, dass ich, Jasper Purwind, in jener Nacht ─ die alles veränderte, die mich veränderte ─, tatsächlich von bösen Mächten aus meinem sicher geglaubten Bett gezerrt und an die Decke gehängt worden bin. In unserem Kinderzimmer. Kopfüber, während meine Geschwister nichtsahnend schliefen und Mutter erst gar nicht im Haus war.
Verurteilt mich für mein Handeln und mein Wesen, für meine Seele und das Leid, welches ich anderen zugefügt habe. Aber bezichtigt mich nicht der Lüge. Niemals! Denn hier ist die Wahrheit, die alleinige. So trug es sich zu, als mich das Böse ergriff.
J.W.P.
Der Lebensweg des Mörders Jasper Wladimir Purwind hatte sich, im Polen der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts, mit dem von Jurek Dabrowski, genannt Juri, gekreuzt. Jenem jungen Mann, der als Elektronikstudent eine Kleinkamera erfunden hatte, die er am Hals seiner Katze befestigte, um herauszufinden, wohin sich sein Haustier draußen in der Natur bewegte.
Am Monitor hatte Juri gespannt die Wege der Katze verfolgt, bis sie eines Tages durch Zufall in den Keller des Hauses kletterte, in dem der Serienmörder Purwind lebte und Leichen versteckte. Durch dieses Ereignis war es schließlich zur schicksalhaften Begegnung der beiden Männer gekommen, in deren Verlauf der langjährig gesuchte Mörder durch einen entscheidenden Hinweis Juris zur Strecke gebracht werden konnte.
Die Vernehmungen des Jasper Purwind erfolgten damals in einem Hochsicherheitsgefängnis in Warschau durch den renommierten Kriminalpsychologen Dr. Raimond Saller. Dieser sollte nach der Festnahme Purwinds ein psychologisches Gutachten für die Justizbehörden erstellen. Zu den Machtspielen zwischen dem Psychologen und dem Gefangenen während der unzähligen Sitzungen hatte gehört, dass Jasper Purwind jegliches Mitschreiben oder Aufzeichnen der Schilderungen seiner Taten verbot, sondern Dr. Saller zum »Lauschen« aufforderte.
Nachdem Purwind in einem Schreiben mitgeteilt hatte, dass er keinen Groll gegen Juri hegte ─ obwohl dieser ihn an die Behörden ausgeliefert hatte ─, wählte er in seiner Zelle den Freitod.
Es war nackte Angst! Sie war von grausamer, erdrückender Wahrheit.
Juri wurde von ihr gepackt, und er spürte, wie sie kalt in ihm emporkroch. Diese Angst war eine riesige Würgeschlange, eine Anakonda. Schwer und übermächtig, mit einem muskulösen Leib, der sich um seinen Körper wand, immer enger zudrückte und ihn langsam erstickte.
Mit jedem Atemzug schnürte die Furcht ihn mehr ein. Er wollte aufstehen, wollte weg, aber er konnte nicht. Er fühlte sich, als wäre er gerade in einem Sarg erwacht, um festzustellen, dass man ihn versehentlich lebendig begraben hatte.
Juris Herz raste, überschlug sich fast. Kalter Schweiß setzte sich in Sekundenschnelle auf seiner Stirn ab, begann Tropfen zu bilden und seitlich an seinen Schläfen über die Wangen hinabzulaufen.
Er war zurück. Kein Zweifel. Über zwanzig Jahre später. Über zwanzig Jahre, nachdem er ihm die letzte Ehre erwiesen und ihn zu Grabe getragen hatte. Gemeinsam mit dem Priester.
Jasper Wladimir Purwind war wieder da! Hier in Juris Wohnzimmer. Nachts. Im Dunkeln.
Panik durchzog seinen Körper, biss sich in seinem Kopf fest, hinderte ihn, sich zu bewegen, zu entkommen. Diese verstörende Angst hatte über die ganzen Jahre hinweg tief in seinem Inneren gebrodelt, sie war unterschwellig immer dagewesen. Allgegenwärtig hatte sie in den Tiefen seines Unterbewusstseins rumort und wurde nun an die Oberfläche geschleudert. Wie bei einem Vulkanausbruch, außer dass keine Lava und keine heiße Asche ausgespien wurden, sondern nacktes Entsetzen.
Das kalte Grauen, das er jetzt verspürte, hatte die gleiche Intensität wie damals. Vor so langer Zeit, als ihm bewusstgeworden war, wer ihm da in seiner Wohnung gegenübersaß. Im weit entfernten Polen. Seiner alten Heimat.
Kein Herr Nowak, wie er sich damals genannt hatte. Nein!
Es war der psychopatische, kranke Serienmörder Jasper Purwind gewesen. Das Böse selbst.
Plötzlich, wie aus heiterem Himmel, war er jetzt hier bei Juri zu Hause, in seinen vier Wänden, in Kalifornien.
Ihm wurde übel, sein Magen drehte sich, und er zitterte, als Jasper zu sprechen begann. Kein Zweifel. Er erkannte diese Stimme sofort wieder.
Er sah die finsteren Augen vor sich, sah das selbstgefällige, kalte Grinsen.
Juris Gedanken überschlugen sich, und dass die Angst ihm die Luft zum Atmen nahm, erzeugte zusätzliche Panik. Es gab kein Entkommen.
Er krallte die Finger in die Lehnen seines Sessels, dachte an Flucht, an Verteidigung und an seinen Revolver, der in seinem Nachtschrank lag. Jetzt war er der Gefangene, unfähig sich zu rühren, sich diesem Szenario zu entziehen. Er musste zuhören, was Jasper zu sagen hatte.
»… Also lauschen Sie ...«
Juri widersetzte sich nicht. Er blieb wie gelähmt in seinem Sessel sitzen und lauschte.
»… Von der Kleinen aus der Nachbarschaft wollte ich ja noch erzählen. Wie hieß die noch gleich? Ich komme nicht drauf. Aber ich erinnere mich noch, dass sie im Sommer, als ich sie zum ersten Mal sah, eine rote Frotteehose trug. Es war eigentlich keine Hose, eher ein Schlüpfer, eine Unterhose. Weil es ja heiß war in diesem Sommer. Ich bekam so eine merkwürdige Explosion im Kopf, da flog Konfetti und Glitzer hinter meinen Augen.
Sie stand also im roten Frottee vor der großen Gärtnerei, an der ich nach der Schule immer vorbeikam.
Da waren solche Wassersprinkler eingeschaltet, um die ganzen Pflanzen zu wässern. Sie stand darunter, ließ sich nassregnen und drehte sich dabei im Kreis. Sie hatte ihren Kopf in den Nacken gelegt und die Arme ausgebreitet. Ich wusste nicht, woran es lag, aber ich blieb am Zaun stehen und war fasziniert. Ja, das könnte man sagen. Fasziniert.
Irgendwann bemerkte sie mich, hörte auf, sich unter dem Wasser zu drehen und sah zu mir herüber. In ihrem roten Frotteeschlüpfer und dem weißen Shirt, das blonde Haar hing ihr nass auf die Schultern herab. Die Sonne brannte vom Himmel, es war Ende Juli, Hochsommer und bestimmt vierzig Grad draußen. Es war um die Mittagszeit, und da ich bewegungslos in der Sonne stand, wurde es ganz furchtbar heiß. Vor allem auf meinem Kopf und auch in meinem Kopf.
Wir standen uns eine ganze Weile nur so gegenüber. Ich sah zu ihr und sie zu mir. Ich wusste nicht, was sie dachte oder was ich dachte. Ich wusste nur, dass sie mich in ihren Bann zog und dass mir heiß war. So heiß, dass ich schon anfing, an etwas zu trinken zu denken, an Limonade. Aber ich konzentrierte mich schnell und richtete meine Gedanken wieder auf das Mädchen.
Irgendwann entschloss sich die Kleine mir zuzuwinken, obwohl sie mich doch gar nicht kannte. Sie lächelte beim Winken, und mein Herz wäre vor Freude fast explodiert. Das war so ein ungewöhnliches, so ein tolles Gefühl. Das Mädchen ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Gar nicht mehr.
Danach drehte sie sich weiter im Kreis, und ich, ich stand da und starrte sie weiter an, als hätte ich einen Geist gesehen. Oder einen Engel. Ja, eher einen Engel. Schon wegen der blonden Haare. Dann spürte ich die Hitze wieder auf meinem Kopf und auch das Verlangen nach Limonade.
Mein Mund war völlig ausgetrocknet, und alles in mir fühlte sich taub an.
Ich machte mich auf den Weg nach Hause. Unterwegs vermischten sich meine Gedanken und Bilder im Kopf ganz seltsam miteinander. Erst sah ich das Mädchen vor mir, dann etwas zu trinken. Danach wieder die Kleine, wie sie mir ein Getränk reichte. Dann drehte sie sich erneut unter dem Wassersprinkler, aber es kam kein Wasser heraus, sondern Limonade. Daraufhin wurde das Mädchen zu Limonade, und ich stand unter dem Sprinkler. Das war schon sehr komisch.
Auf einmal befand ich mich bei uns zu Hause vor der Tür, ohne dass ich etwas vom Weg mitbekommen hatte.
Ich lief nach hinten in die Waschküche, um Wasser zu trinken. Aus der Leitung.
Dort gab es einen Wasseranschluss, der aus der Wand kam. Kein richtiger Hahn. Eher so ein Stutzen mit einem Rad zum Öffnen und Schließen. Den drehte ich auf, beugte mich darunter und trank. Trank sehr viel. Ich hatte solch einen Durst, und wir hatten sowieso nie etwas anderes zu trinken im Haus. Außer Mutters Wodka, aber der wäre mir sicherlich nicht bekommen, ich war erst zwölf Jahre alt.
Anschließend ging ich in mein Zimmer, legte mich auf mein Bett und dachte nur an dieses Mädchen von der Gärtnerei. Ich stellte mir vor, wie wir beide gemeinsam von hier weggehen würden. Weg von alldem, was mich wütend machte.
In meiner Fantasie lebten wir zusammen, irgendwo draußen im Wald. Ich würde ein kleines Haus aus Holz bauen, aus Ästen und Baumstämmen. Dann ginge ich jagen, während sie zu Hause auf mich wartete und für uns zwei kochte. Wir würden uns lieben und glücklich sein. Niemand würde uns stören, so ganz allein da draußen.
Und ich stellte mir vor, dass sie Angst hätte im Wald, nachts. Aber ich würde sie beschützen und in den Arm nehmen. Dann sähe sie mich mit diesen großen, wunderschönen Augen an und würde spüren, dass ihr bei mir nichts passieren könnte. Ich war zwölf, aber ich hätte sie beschützt. Oh ja, das hätte ich!
Jedenfalls ging ich von dem Tag an immer an der Gärtnerei vorbei und hoffte, das Mädchen wiederzusehen, aber sie war eine ganze Weile nicht da. Oft kletterte ich an der Rückseite des Gärtnereigeländes auf den Zaun, in der Hoffnung, sie von weiter oben zu entdecken.
Irgendwann sah ich einen Mann auf dem Grundstück herumlaufen. Er hatte grüne Gummistiefel an und einen verwaschenen, blauen Arbeitsanzug. Einen Overall. Die Hosenbeine waren so weit hochgekrempelt, dass man über den Stiefeln die nackten Beine sehen konnte. Das sah total dämlich aus, und ich dachte: ›Wenn dir schon so warm ist, warum läufst du dann in Gummistiefeln rum?‹ Da verlor ich schon den Respekt vor ihm, obwohl er erwachsen war. Er war ein Blödmann, das war mir sofort klar.
Ich blieb dicht am Zaun stehen und beobachtete ihn eine Weile. Er arbeitete scheinbar für die Gärtnerei, denn er schleppte schwere Kübel hin und her und buddelte mit einer Schaufel Pflanzen aus. Ich fragte mich, ob er den Wassersprinkler auch für Abkühlungen nutzte. So wie die Kleine. Dann entdeckte er mich, dieser alberne Blaumann, und starrte die ganze Zeit zu mir herüber. Ich hatte vor, mich nach dem Mädchen zu erkundigen, aber ich wollte meine Frage nicht laut rufen, damit nicht auch noch jemand anderes es mitbekam. Also musste ich zu ihm. Da ich dort auf der Rückseite des Grundstücks nirgendwo eine Pforte oder einen Eingang sah, machte ich mich daran, am Zaun hochzuklettern …«
Juri saß nur da, wie versteinert, konnte nicht zuordnen, was sich gerade abspielte. Er nickte leicht, schüttelte sich. Ein Reflex. Ein Schaudern. Jasper sprach weiter.
»… Das gefiel dem Kerl wohl nicht, denn er machte sofort einen Schritt in meine Richtung. Ich sah ihm ins Gesicht und erkannte, dass er wütend war. Ich fragte mich warum und spürte gleichzeitig, wie die Wut in mir selbst hochstieg. Richtig große Wut. Ich bekam wieder so einen Krampf im Kinn, und ich fing an, mit den Zähnen zu knirschen. Ich wollte ihn doch nur fragen, wo ich das Mädchen mit der roten Frotteehose finden könnte.
Aber er war wieder stehengeblieben, fing an, mit den Armen zu fuchteln und komische Geräusche von sich zu geben. Was für ein Idiot!
Jetzt fühlte ich mich von dem Mann verarscht. Warum kam er nicht zu mir an den Zaun, damit ich mit ihm sprechen konnte? Ich war so wütend, während ich am Zaun hochkletterte, dass mir schon schlecht wurde.
Als ich mich an den Holzlatten festhielt, dachte ich: ›Wenn ich jetzt eines von diesen Hölzern abbekäme, dann würde ich es ihm mit voller Wucht in die Fresse schlagen. Diesem bescheuerten Idioten, mit seinen bescheuerten Gummistiefeln!‹
Ich krallte meine Hände richtig ins Holz und zog an den Latten, aber sie waren zu fest angenagelt. Anstatt ein Brett in die Finger zu bekommen, bekam ich einen Holzsplitter in den Finger. Aber nicht einfach nur so in die Haut. Nein!
Das kleine Drecksding von Splitter bohrte sich komplett unter den Nagel meines Zeigefingers. Bevor der Schmerz richtig loslegte, fing der Blaumann an, auf mich zuzulaufen. Ich saß jetzt oben auf dem Zaun und kochte vor Wut, weil er sich ja vorher nicht zu mir hatte herüberbequemen wollen.
Der stechende Schmerz im Finger machte mich zusätzlich rasend, sodass ich innerlich explodierte. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich an den Hals des Mannes springen und ihm die Kehle rausbeißen. Das hätte meinen Schmerz sofort gelindert. Ganz sicher.
Der Kerl war augenblicklich bei mir, packte mich am Arm und riss mich fast vom Zaun.
Er schüttelte mich und hörte nicht auf, an meinem Arm zu ziehen. Ich starrte ihn an, vergaß das Mädchen völlig und auch, warum ich eigentlich hier war. Ich brüllte ihn an: ›Ich schlag dir mit einer Holzlatte den Schädel ein, bis deine Augen rauskommen, du bescheuerter Idiot. Ich beiß dir die Kehle aus deinem fetten Hals und fresse sie auf. Und außerdem hab ich einen Splitter im Finger. Das tut verdammt weh!‹
Er musste meine Wut gesehen haben. In meinen schwarzen Augen. In meinem Gesicht.
Er wurde kreidebleich, ließ meinen Arm los und stand nur da, mit offenem Mund.
Ich hing noch halb auf dem Zaun, sodass ich mit ihm auf gleicher Höhe war und ihn weiterhin anstarren konnte.
Meine Wut ließ überhaupt nicht nach, meine Zähne taten weh, und mein Zeigefinger schmerzte, aber ich hielt durch, bis er wegsah und gehen wollte. Er drehte sich um und wollte einfach gehen!
Ich war aber noch nicht fertig mit ihm. Meine Wut war noch da, und das signalisierte ich ihm auch ganz deutlich.
Er wandte sich wieder zu mir um mit seinem fetten Hals, und dann hätten Sie sein Gesicht sehen sollen.
Er hatte Angst! Ich konnte sie sehen und riechen.
Er war völlig irritiert, weil er wohl dachte, er hätte die Situation im Griff und wäre mir überlegen. Aber er hatte gar nichts im Griff. Nicht seine Angst. Nicht sein Gesicht. Nicht die Situation. Gar nichts!
Er hatte nur Schiss. Die Hosen gestrichen voll. Ich spürte mein Herz schlagen. Heftig. Auch unter dem Fingernagel.
Er stand da, mit offenem Mund und bekam vor Entsetzen keinen Ton heraus.
Plötzlich war da wieder dieses herrliche Gefühl. Das gleiche Gefühl, welches ich verspürt hatte, als ich die Nächte draußen verbrachte. Im Wald. Und ich dort erkannte, dass die Tiere vor mir Angst hatten und nicht ich vor ihnen. Dieses Gefühl von Erhabenheit. Von Macht. Es berauschte mich, und die Wut ließ nach.
Ich ließ den Mann dort stehen, stieg vom Zaun herunter und ging nach Hause. Unterwegs besah ich mir meinen Zeigefinger. Der Splitter reichte über die gesamte Länge des Nagels und zeichnete sich dunkel im Nagelbett ab. Etwas Blut tropfte unter dem Fingernagel hervor.
Ich steckte ihn mir in den Mund und begann den Nagel vorsichtig mit den Zähnen abzukauen. So lange und so weit, bis ich den Holzsplitter mit der Zunge spürte. Dann nahm ich das kleine Stück zwischen die Zähne und zog es mit einem Ruck heraus. Ich spuckte den Splitter aus, und die Sache war erledigt. Nur mein Herz spürte ich noch eine Weile unter dem Nagel schlagen.
Auf einmal fiel mir wieder ein, warum ich überhaupt dort gewesen war, bei dieser Gärtnerei. Wegen des Mädchens!
Mir war schon klar, dass es etwas Großes, etwas Bedeutendes auf sich hatte mit dieser Kleinen, aber das musste jetzt erst einmal warten und nach hinten geschoben werden in meinem Kopf. Denn ich war ja noch nicht fertig mit diesem Mann. Ich rätselte auch, ob er vielleicht der Besitzer der Gärtnerei war und nicht bloß ein Arbeiter.
Später stellte sich heraus, dass es der Vater des Mädchens war. Das wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Aber es hätte auch nichts geändert.
Mein Entschluss stand schon längst fest. Denn wenn erst einmal jemand diesen Zorn in mir ausgelöst hatte, stand derjenige auf meiner Liste, unwiderruflich.
Ich musste dann ständig an diese Person denken. Ob nun in der Schule oder zu Hause oder sonst wo. Sie ging mir nicht mehr aus dem Kopf. In so einem Fall wurden die Dämonen wach, unten in meinem Keller, und ich ließ sie heraus.
So hatte ich in den nächsten Tagen immer wieder diesen Typen vor Augen. Das machte mich wütend. Ich lag auf meinem Bett und konnte nicht ungestört an das Mädchen denken.
Immer wenn ich mir ausmalen wollte, wie wir zwei zusammenleben würden, kam mir das Gesicht von dem Kerl mit dem fetten Hals dazwischen. Da reichte es mir!
Mutter war nicht da oder sie schlief, weil sie wieder voll war. Wie auch immer.
Ich ging in die Küche, machte die Schubladen auf und suchte nach etwas Geeignetem. Zu dem Zeitpunkt wusste ich schon, dass ich kein Messer nehmen würde. Ich wusste nicht warum. Vielleicht, weil ein Messer meiner Wut nicht gerecht wurde.
In den Schubladen war keine Ordnung. In den Fächern lag alles durcheinander, Löffel, Gabeln, Messer, kleine leere Flaschen aus weißem Glas, schmutzige Lappen und Küchentücher. Alles, was man in der Küche so brauchte. Außerdem jede Menge Briefe und Umschläge.
Einige Umschläge waren noch verschlossen und lagen da schon sehr lange. Das konnte ich am Poststempel erkennen.
Ich sah mir ein paar von den geöffneten Briefen an. Es stand fast immer das Gleiche darin, dass irgendwas bezahlt werden müsste, dass es die letzte Mahnung wäre, wieder und wieder ging es ums Bezahlen … und wenn die Rechnung nicht beglichen würde … und so weiter.
Ich wunderte mich, dass wir scheinbar so viel bezahlen mussten. Da stand nicht ein einziges Mal ›Sie müssen nichts bezahlen‹ oder ›Wir werden Ihnen etwas auszahlen‹.
Oder auch nichts davon, dass mal jemand anderer löhnen sollte. Nur wir?
Na ja, ich war zwölf Jahre alt. Das Gesicht vom Gummistiefel-Mann stieg wieder vor mir auf, ich legte die Post zurück und suchte weiter nach etwas Passendem. Und fand es.
Ich wusste damals nicht, wofür man so einen Holzhammer verwendete. Ein rechteckiger, auf einem Stiel aufgesetzter Holzklotz, die untere sowie die obere Seitenfläche mit unterschiedlich geformtem Metall beschlagen.
Heute weiß ich, wofür man so einen Holzhammer benutzt.
Man klopft Fleisch damit. War dann ja auch irgendwie passend ...«
Juri sah erneut Jaspers Grinsen vor sich. Seine dunklen Augen. Das gleiche Grinsen und der gleiche Blick wie damals, als er ihm bei einer Tasse Tee gegenübergesessen hatte.
Er musste schlucken, und ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er daran zurückdachte. Er schloss seine Augen, nur kurz, öffnete sie wieder und hörte weiter zu.
»… Ich nahm mir den Hammer und steckte ihn in eine Tüte. In eine Plastiktüte. Ich wickelte ihn so darin ein, dass ich ihn am Stiel greifen konnte, man aber nicht erkannte, was ich da bei mir trug.
Anschließend fuhr ich mit dem Rad zu der Gärtnerei. Die war gar nicht so weit von unserem Zuhause entfernt und mit dem Rad in etwa zwei Minuten zu erreichen. Unterwegs sah ich mich unauffällig um, aber die Personen, die mir begegneten, nahmen so gut wie keine Notiz von mir.
Oder würden Sie einem zwölfjährigen Jungen auf einem Fahrrad Beachtung schenken, wenn er an Ihnen vorbeiradelt? Oder sich an ihn erinnern, wenn man Sie Tage später nach etwas Auffälligem oder Verdächtigem befragt?
Es müsste so gegen vier, halb fünf Uhr gewesen sein, als ich bei der Gärtnerei ankam. Ich wurde langsamer und fuhr an dem Gelände vorbei. Ich sah nur aus den Augenwinkeln zu dem Grundstück und dem dahinterliegenden Gebäude hinüber. Damit ich nicht auffiel. Beim ersten Mal war niemand zu sehen. Also drehte ich ein paar Runden und fuhr immer mal wieder an der Gärtnerei vorbei. In aller Ruhe. Ich hatte keine Eile. Ich war mir sicher, dass es an diesem Tag passieren würde, und das gab mir ein beruhigendes Gefühl. Es wartete ja ohnehin niemand und nichts anderes auf mich.
Irgendwann, ich hatte keine Ahnung, wie lange ich schon umhergeradelt war, sah ich den Blödmann aus der Eingangstür des Hauses kommen. Nur ganz kurz. Im Vorbeifahren. Das Gebäude der Gärtnerei
lag etwas zurückgesetzt und war von dichten Bäumen umgeben. Von der Straße führte ein langer Schotterweg auf das Grundstück, und man hatte im Vorbeifahren nur einen sehr kurzen Blick auf die Vorderseite des Hauses. Ich bremste mein Rad, drehte auf der Straße um, schaute noch mal kurz, ob mich jemand beobachtete und bog dann in den Schotterweg ein. Da war er! Der Idiot stand mit dem Rücken zu mir am Ende des Weges an einem Auto. Es schien, als würde er etwas in den Kofferraum laden oder etwas herausnehmen, er beugte sich jedenfalls tief hinein.
Ich spürte diesen unbändigen Zorn wieder in mir aufkommen. Nichts oder niemand hätte mich jetzt aufhalten können.
In dem Moment, als ich in die Einfahrt fuhr, gab der Schotter unter den Reifen meines Rades einen riesigen Lärm ab. Es knisterte und rappelte so laut, dass ich heftig erschrak. Ich befürchtete, der Mann würde das hören, sich zu mir umdrehen und mich somit entdecken. Aber nichts dergleichen passierte. Er hing nach wie vor kopfüber in seinem Auto und bemerkte mich nicht.
Noch zehn Meter.
Er war immer noch am Kofferraum beschäftigt. Ich fuhr langsam weiter. Der verdammte Schotter war nicht gerade auf meiner Seite, aber ich ließ den Kerl jetzt nicht mehr aus den Augen. Wenn er sich jetzt umdrehen würde, dann wäre es auch egal.
Drei Meter. Ich war fast da.
Er bekam einfach nicht mit, dass ich auf ihn zufuhr.
Ein kurzer Blick zum Haus. Nichts.
Ich war bei ihm.
Einen Meter hinter ihm, auf dem Weg.
Ich legte mein Fahrrad ganz langsam auf die Seite und beobachtete ihn gleichzeitig. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, dabei waren es höchstens nur ein paar Sekunden. Zeit war für mich relativ in solch einer Situation, kurz bevor ich jemanden tötete. Ich hatte dann keinen Sinn für Zeit. Kein Empfinden für Minuten oder Sekunden. Ich hielt den Hammer in meiner erhobenen Hand. Eingewickelt in diese Plastiktüte. Ich ging noch einen kleinen, leisen Schritt näher an den Mann heran und tickte ihm von hinten auf die Schulter.
Er erschrak sich so sehr, dass er beim Herumdrehen mit dem Kopf unter die Heckklappe knallte. Da musste ich fast laut loslachen. Aber nur fast, denn als ich ihm ins Gesicht sah, war meine Wut sofort wieder da.
Er war viel zu überrascht und auch zu langsam, als dass er dem Schlag hätte ausweichen können.
Ich schlug ihm den Hammer mit voller Wucht ins Gesicht. Bamm! Was für ein Gefühl. Da war sofort irgendetwas zerschmettert. Wahrscheinlich die Nase. Er fiel dann ganz unglücklich halb in den Kofferraum des Autos. Also unglücklich für ihn. Für mich war es Glück. Er war noch bei Bewusstsein und ich noch nicht fertig mit ihm.
In dieser Position hatte er keine Chance. Der Idiot versuchte zwar, sich aus dieser blöden Haltung zu befreien und aus dem Kofferraum herauszukommen, aber er schaffte es nicht. Wahrscheinlich hätte er es nicht mal geschafft, wenn ich nicht weiter auf ihn eingeprügelt hätte.