Katzenpolka - Oliver Peetz - E-Book

Katzenpolka E-Book

Oliver Peetz

4,9

Beschreibung

Katzenpolka“ spielt im Polen der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Es handelt von einem psychisch gestörten Serienmörder und einem Elektrotechnikstudenten. Die Lebens- und Leidenswege beider treffen durch die innovative Erfindung des Studenten, einer mobilen Kleinkamera am Halse seiner Katze, aufeinander. Während der Gefangenschaft berichtet der Serienmörder einem Psychologen seine Lebensgeschichte, von seinen Taten, über die schicksalhafte Begegnung mit dem von Ängsten geplagten Studenten Jurek, bis hin zu seiner gewollten Verhaftung, welche Jurek zu verantworten hat. Das Buch lebt von der einfachen, aber extrem grausam-selbstverständlichen, psychotischen Art des Serienmörders Jasper Purwind und dem naiven Studenten Jurek Dabrowski.

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Seitenzahl: 244

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Der Autor

Geboren 1966 in Oldenburg, wuchs Oliver Peetz als zweites von fünf Kindern in ärmlichen und zerrütteten Familienverhältnissen auf. Nach einer mäßigen Schul- und Berufsausbildung vergingen zwanzig rastlose Jahre, in denen der Autor alle Höhen und Tiefen des Lebens durchlaufen hat. Während dieser Zeit „schlief“ sein schriftstellerisches Talent. Erst mit der Heirat seiner jetzigen Frau Sandra im Jahre 2013 kam für den leidenschaftlichen Sportler die Wende, sodass er sich heute seiner Passion, dem Schreiben widmen kann.

Dieses Buch widme ich meiner Frau Sandra

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 Das Böse kam nachts

Kapitel 2 Die Katze der alten Dame

Kapitel 3 Wiegenlied

Kapitel 4 Erste Außenaufnahmen

Kapitel 5 Babylon wird fallen

Kapitel 6 Auf ein Neues

Kapitel 7 Mutter’s Blut

Kapitel 8 Unerwarteter Besuch

Kapitel 9 Opfergang

Kapitel 10 Zugriff

Kapitel 11 Leben und Tod

Kapitel 12 Psychologisches Gutachten

Kapitel 13 Erlöse uns von dem Bösen

Kapitel 1

Das Böse kam nachts

„Tief unten in meinem Keller leben ganz schreckliche Kreaturen. Bösartige Ungeheuer, die ich füttern muss, damit sie ruhig bleiben. Dort unten. Aber wehe, wenn sie losgelassen, dann passieren schreckliche Dinge!“

J.W.P.

„Na dann will ich Ihnen mal von mir erzählen. Erzählen, wie alles angefangen hat. Damals.

Zwei tiefgreifende Emotionen haben dabei eine entscheidende Rolle gespielt. Wut und Angst. Wobei die Angst irgendwann verschwand, indem ich sie umgewandelt habe, in Wut. Und das kam damals so…

Ich war etwa sechs Jahre alt, oder Sieben. Nicht viel älter. Eher sechs. Mein ich. Wie auch immer.

Irgendwann in der Nacht, ich bin der Meinung, ich hätt schon eine ganze Weile geschlafen, wurde ich wach.

Ich wurde wach und spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Ich mein, irgendetwas war anders als sonst. Irgendetwas oder irgendjemand war da, in unserem Zimmer. Es war einfach da. Ich spürte es, fühlte es, roch es. Und ich hatte Angst. Unvorstellbare Angst. Diese Angst schnürte mir die Kehle zu, hinderte mich zu atmen, zu denken. Ich spürte, dass es nichts Gutes war, sondern etwas Böses. Etwas, das Unheil bringen würde.

Das Böse war in jeder Ecke unseres Kinderzimmers. Im Schrank, unter den Betten, in den Gardinen. Es war da!

Ein intensiveres Gefühl habe ich bis dahin nicht gehabt. Das schwör ich.

Wir teilten uns ein Zimmer. Meine jüngere Schwester, mein kleiner Bruder und ich. Die beiden schliefen. Sie bemerkten nichts. Sie schliefen auch weiter, als etwas nach mir Griff. Unter meiner Decke nach mir griff! Es packte mich an einem meiner Fußgelenke, zog mir die Decke weg, packte mich auch am anderen Fußgelenk und dann zog es mich aus dem Bett. An meinen Füssen aus dem Bett! Mein Kopf schlug hart auf den Fußboden und ich hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Ich erstickte fast wegen dieser Angst! Können sie das verstehen? Jemand schleifte mich quer durch unser Zimmer. Ich schrie, aber kein Ton verließ meinen Mund. Verzweifelt versuchte ich, mich irgendwo festzuhalten. Ich konnte nichts oder niemanden sehen. Ich spürte nur diesen eisigen Griff um meine Gelenke, während ich weiter durch das Zimmer gezogen wurde. Auf die andere Seite. Es zog mich die Wand hoch, bis unter die Decke. Ich hing so da, verstehen sie? Kopfüber an der Decke unseres Zimmers. Unter der Decke! Ich sah die Möbel, den Tisch, die Tür, unsere Betten, meine Geschwister, schlafend! Warum wurden sie nicht wach? Ich hab um Hilfe geschrien! HILFE! Ich schrie und schrie und ich weiß nicht, wie lange ich schrie und kopfüber dort hing. Mein Urin lief mir durch den Schlafanzug bis zum Hals und tropfte an meinem Kinn zu Boden und es schmeckte salzig, und ich schrie und hatte Angst, Todesangst! Ich war sechs!

Ich weiß nicht, wie lange ich dort hing, aber als ich morgens wach wurde, lag ich mit nassem Schlafanzug in meinem Bett, und die Angst war weg.

Von da an verlief alles anders. Alles. Alles in mir. Nichts war mehr so wie vorher. Ich meine, ich war nicht mehr so wie vorher.

Und als Erste bemerkten das meine Geschwister.

Ich war doch noch ein Kind! Aber ich träumte das doch nicht. Ich schwöre es ihnen, genauso erlebte ich das damals. Ich hing dort unter der Decke, schreiend, nachts. Und das war kein Traum, das Böse hatte mich. Es hat von mir Besitz ergriffen. Und wie sollte ich das verarbeiten? Wem erzählen? Wie soll man als Kind mit so einer Nacht umgehen? Mit diesem Ereignis!

Ich sage es Ihnen: Gar nicht! Das geht nicht, das kann man nicht. Übrig geblieben aus jener Nacht sind zwei Gefühle von denen ich sprach: Angst und Wut. Aber nicht so einfache Angst, die man empfindet, wenn man beispielsweise von der Polizei im Auto angehalten wird oder wenn man nachts aufs Klo muss, nachdem man abends einen Horrorfilm gesehen hat. Nicht so eine billige Angst. Ich rede von richtiger Angst. Angst, die man nicht beschreiben kann. Angst, die so tiefgreifend ist, dass das Herz anfängt, unregelmäßig zu schlagen, und man keine Luft mehr bekommt und aufpassen muss, dass man nicht wieder in die Hose macht.

Ich war sechs!

Und dazu mischt sich dann diese Wut. Einfach so. Die ist genauso wie diese Angst. Also, so intensiv. Man spürt dieses Dröhnen im Kopf, spürt das Herz in den Augen schlagen. Man muss die Fäuste ballen und die Zähne fangen an zu knirschen, weil sie aufeinander mahlen. Man verliert die Kontrolle und man vergisst alles um sich herum. Es wird so warm und wild im Kopf und man muss sie loswerden, diese Wut. Einfach irgendwie loswerden…!

Aber zurück zu meinen Geschwistern. Ich wurde also am nächsten Morgen wach. In meinem Bett. Nass. Nassgeschwitzt auch. Und am Zittern. Und mein Kopf schmerzte sehr. Hinten. Es dauerte eine Weile, bis ich mich bewegen konnte. Ich drehte meinen Kopf und sah vom Bett aus zuerst zu der Stelle an der Decke, an der ich die Nacht zuvor kopfüber hing. Es gab nichts, was darauf hinwies, also, dass ich dort hing. Was auch?

Dann sah ich hinunter auf den Fußboden. Aber selbst dort war nicht zu erkennen, dass ich über die Erde gezogen wurde. Vielleicht hätten die wenigen Spielsachen einen Hinweis geben können. Spielsachen, die gestern noch verstreut im Zimmer lagen und an denen man vielleicht hätte sehen können, dass jemand, also ich, da durch gezogen wurde. An den Füßen. Durch unser Zimmer. Wenn mein jüngerer Bruder nicht gewesen wäre. Jetzt sah ich ihn. Spielend und gut gelaunt auf der Erde in seinem albernen Schlafanzug mit den albernen Bärchen drauf. Er saß da und spielte mit den wenigen Spielsachen, die jetzt keinen Hinweis mehr geben konnten. Und das machte mich wütend. Richtig wütend! Die Angst war jetzt weg. Die Wut war jetzt da.

Ich stieg aus meinem Bett auf und spürte nur dieses Rauschen im Kopf, und wie ich meine Zähne nicht mehr kontrollieren konnte und sich meine Fäuste ballten, als ich auf ihn zuging. Er saß da, in der Hocke, und bemerkte mich, wie ich auf ihn zukam. Drehte sich zu mir um, grinste sein süßes Grinsen und dann traf ihn meine Faust mit voller Wucht in sein Gesicht. Dieser erste Schlag hatte voll gesessen. Er flog förmlich in die Ecke und das Blut spritzte mir so heftig ins Gesicht, dass ich auf dem linken Auge nichts mehr sehen konnte. Die nächsten Schläge trafen trotzdem genau und ich weiß nicht mehr, wie oft ich zugeschlagen hab. Aber was ich weiß: Er gab keinen einzigen Ton von sich, während der ganzen Zeit nicht, als ich auf ihn einschlug.

Irgendwann ließ diese Wut nach, und ich hörte dann auch auf. Seine Nase war gebrochen und die Schneidezähne waren unten und oben raus. Also alle. Er war ja erst vier. Meine Schwester wurde jetzt wach und schrie sofort hysterisch los, weil sie ja sah, was passiert war, und mein kleiner Bruder sah schlimm aus. Und ich hockte ja noch auf ihm. Sie lief weinend und schreiend aus dem Kinderzimmer. In Panik.

An viel mehr kann ich mich kaum erinnern, was diesen Morgen angeht…oder die Nacht. Aber sie war da, diese seltsame Mischung aus tiefer Angst und unbändiger Wut. Vor diesem Bösen, Dunklen, mächtigen Etwas, welches von mir Besitz ergriff – in jener Nacht.

Es hat alles in mir verändert. Hat mein altes, kleines Ich gefressen und was grausames Böses wieder ausgespuckt. Ich war nicht mehr der kleine süße Jasper, ich war das Böse selbst. Und meine Schwester sollte das auch noch zu spüren bekommen. bald schon.“

Dr. Saller hörte aufmerksam zu. Er saß Jasper Purwind gegenüber und »lauschte«. So wie dieser es verlangte.

Es war das erste Gespräch, seit der Festnahme von Jasper Purwind, aber solche Ausführungen ließen auch einen routinierten Kriminalpsychologen wie Dr. Saller nicht kalt. Er fühlte sich bei diesen Äußerungen unbehaglich, fast ängstlich. Man hatte den Arzt mit diesem Fall kurz nach Purwinds Festnahme vor vier Wochen beauftragt. Er war Facharzt für Psychiatrie und Neurologie und arbeitete seit 1981 als Sachverständiger an verschiedenen europäischen Gerichtshöfen.

Dieser Fall brachte ihn nach Warschau. Ins Staatsgefängnis Mokotow. In die Abteilung für Schwerstverbrecher mit psychischen Störungen. In diesem Gefängnis saßen dreiundvierzig Schwerverbrecher mit Psychosen ein. Und Jasper Purwind war der schlimmste von ihnen. Das Staatsgefängnis von Warschau war berüchtigt. Die Anlage wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebaut und diente verschiedenen Regimen als Gefängnis für politische Gefangene sowie als Hinrichtungsstätte.

Der Unterschied zu einem herkömmlichen Gefängnis war das Sicherheitsniveau, mit denen eine solche Strafvollzugsanstalt geführt wurde.

Und dieses galt im besonderen Maße für Personen der dritten Kategorie. Zur Kategorie 1 gehörte das gesamte Wach- und Dienstpersonal, was sich ständigen Kontrollen und regelmäßigen Eignungstests unterziehen musste. Kategorie 2 waren die Gefangenen selbst. Von Sexualstraftätern, Mördern bis hin zu den Patienten der psychiatrischen Abteilung. Und Kategorie 3 waren alle Personen von außerhalb. Besucher, Polizeibeamte, Anwälte oder Ärzte und Psychiater wie Doktor Saller.

Man wusste um die Gefahren durch Personen, die von »draußen« kamen. Wenn es einen gelungenen Ausbruch aus einem Gefängnis gab, ganz gleich welcher Sicherheitsstufe oder mit welchen Standards, dann waren ausnahmslos Personen von außerhalb daran beteiligt. Eben Dritte. Deshalb verliefen Kontrollen so streng und dauerten seine Zeit. Aber so waren nun mal die Gesetze und auch Doktor Saller musste sich diesen Gesetzen hier unterwerfen.

Die Sicherheitsstandards im Warschauer Staatsgefängnis beinhalteten permanente Videoüberwachung während der Treffen mit einem Gefangenen durch das Anstaltspersonal. Kein längerer Körperkontakt zu den Patienten, wie etwa das Umarmen, um mögliche Gefahren für die Ärzte oder das Austauschen von Waren oder Gegenständen zu verhindern. Ferner wurden beide Parteien, sowohl Ärzte als auch Patienten, vor jeder Sitzung einer intensiven Leibesvisitation unterzogen. Doktor Saller kannte diese Prozedur und er hatte sich im Laufe der Jahre daran gewöhnt, es gab sie überall. Aber hier im Gefängnis wurden sie durch das rohe Verhalten der Wärter noch unterstrichen. Oft waren die Kontrollen von Willkür begleitet und dauerten unnötig lange. Doktor Saller war der Ansicht, man würde ihm kostbare Zeit mit den übertriebenen Vorkehrungen rauben, die er besser in den jeweiligen Sitzungen nutzen könne. Denn die Zeit der Besuche in den Gefängnissen war auch für ihn durch interne Regelungen begrenzt.

Aber Doktor Saller war gut in dem, was er tat, und seine Fähigkeiten waren aus spektakulären Kriminalfällen bekannt. Niemand sonst war in der Kriminalpsychologie so gefragt wie Saller. Ein brillanter Arzt mit besonderem Können und einem Gespür für die Seele von Mördern, wie Jasper Purwind. Saller sagte einmal: Um die Psyche eines Mörders auch nur annähernd zu begreifen, muss man seine eigenen, dunklen Tendenzen erkennen, die in jedem von uns schlummern. Er konnte sich in die Psyche seiner Patienten hinein versetzen. Er verstand sie besser als die meisten, wie er selbst behauptete.

Man musste erst einmal die Abneigung gegenüber diesen grausigen Perversionen ablegen, um Erkenntnisse zu erlangen. Subtil, analytisch, distanziert, aber er verstand es, dass sie ihm oft den Schlüssel zur Tür gaben, die hinab führte. Hinab in die grausamen Tiefen menschlichen Daseins.

Jasper Purwind war so ein weiterer »Fall«. Ihm wurden derzeit vierundzwanzig Mordfälle zugeschrieben, an neunundzwanzig anderen Mordfällen, zu denen es Parallelen oder besondere Ähnlichkeiten gab, wurde derzeit mit Hochdruck ermittelt.

Der Druck durch die Medien und die Öffentlichkeit war enorm. Mordserien dieser Größenordnung waren sehr selten und im ganzen Land war die Festnahme Purwinds das erste Thema. Alle warteten mit Spannung auf die Gerichtsverhandlung, um mitzuerleben, wie man dieses »Tier« endlich verurteilen würde. Diese Bezeichnung entstand durch die Presse und kippte so in die Öffentlichkeit und wurde mit großer Zustimmung der Bevölkerung aufgenommen. Alles sprach nur noch vom »Tier«, wenn es um den mutmaßlichen Serienmörder Jasper Purwind ging.

Und so saß Doktor Saller ihm, diesem »Tier« nun in einem kargen Besprechungszimmer der Haftanstalt gegenüber und hörte sich seine Ausführungen an.

Den ersten Eindruck über Purwind beschreibt der Arzt später so: Ein Patient mit einer außergewöhnlichen Aura. Ich bemerkte sofort seine ausgeprägte Ausstrahlung. Magisch, animalisch, bisweilen beängstigend. Aber diese Ausstrahlung war im Grundsatz nicht von negativer Natur. Es war eher eine Mischung aus Faszination und Abneigung. Aber er zog mich in seinen Bann und bei seinen Äußerungen bekam ich nicht selten eine Gänsehaut. Und obwohl er seine Ausführungen über sein Leben und seine Taten recht einfach formulierte, war er von überdurchschnittlicher Intelligenz. Und das spürte man ebenfalls, wenn man sich mit diesem Menschen in einem Raum befand. Seine Augen verfolgten jede meiner Bewegungen, als ich ihm das erste Mal begegnete.

Er begrüßte mich freundlich, als ich das Besprechungszimmer der Haftanstalt betrat. Er stand von seinem Stuhl auf, kam auf mich zu und streckte mir seine Hand zur Begrüßung entgegen. Sein Blick musterte mich und er grinste, als wir uns die Hände reichten. Ich stellte mich vor, aber ich hatte das untrügerische Gefühl, er wusste längst, wer ihm da gegenüber stand.

Nachdem wir uns gesetzt hatten, holte ich, wie gewohnt, meine durch die zuständige Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellten Unterlagen über Jasper aus meiner Aktentasche hervor, als er plötzlich zu lachen begann. Leise, aber für mich hörbar.

Ungewöhnliche Verhaltensweisen waren mir natürlich nicht fremd, sie gehörten zu meinem Beruf. Aber als ich zu ihm aufsah, stockte mir der Atem. Er lachte leise, aber sein Gesicht war wie versteinert. Eine Mimik unvorstellbarer Ernsthaftigkeit. Das war mir neu und mir schauderte. Zwei Gegensätze prallten aufeinander. Wie konnte ein Mensch lachen und dabei aussehen, als wäre er voller Wut?

Aber ich zeigte mich unbeirrt und fragte Purwind mit ruhiger Stimme, was es zu lachen gab und ob er mich teilhaben lassen möchte?

So versuchte ich beiden Verhaltensauffälligkeiten entgegen zu steuern.

Purwind antwortete sofort. ›Wenn sie etwas von mir hören wollen, Doktor‹, und hierbei zog er das »Doktor« in die Länge, ›Doktoor, dann packen Sie ihre Akten wieder weg, lehnen sich zurück und lauschen meinen Worten. Und nur dann, wenn sie aufmerksam lauschen, werde ich von mir erzählen.‹ Er war so überzeugend, so voller Energie in seiner ersten Äußerung, wie ich es selten vorher bei anderen Patienten bemerkt habe. Wenn überhaupt.

›Sie müssen wissen, Doktoor… ich gehöre nicht zu den grauen Mäusen, bin nicht der zurückhaltende unauffällige Nachbar, ich gehöre zum Mittelpunkt! Von hier aus Handel ich, von hier aus rede ich. Lauschen Sie meinen Worten, dann erzähle ich Ihnen alles. Alles zu seiner Zeit. Aber bitte keine Notizen. Denn Babylon wird fallen.‹«

Aufmerksam hörte Dr. Saller Jasper zu, während er seine Unterlagen wieder zurück in die Tasche gleiten ließ.

„Also gut, die Unterlagen wieder weg und nur zuhören. Bitte.“

Und so fing das erste Gespräch zwischen dem Psychologen Raimond Saller und Jasper Purwind an. Weitere sollten folgen, bei denen Saller, ohne schriftliche Notizen zu machen, den Monologen von Purwind »lauschte«. So wie dieser es verlangte.

Kapitel 2

Die Katze der alten Dame

Juri hörte das kratzende Geräusch an der Tür nicht gleich. Vielmehr kam es schleichend, aus der Ferne. Erst leise, weit weg, dann kam es ganz allmählich immer näher, wurde immer lauter. Er konnte es nicht zuordnen.

Er stand im Wald, es war fast dunkel und eisig kalt. Es war Winter, Schnee fiel und der Wind wehte so heftig, dass Juri die Flocken ins Gesicht peitschten. Er stand bis zu den Knien im kalten Schnee. Seine Zehen schienen abzufrieren, während er weinend versuchte, den Namen seines Vaters in die gefrorene Rinde einer der unzähligen, riesigen Tannen zu ritzen. Er kniff die Augen zusammen, konnte kaum etwas erkennen, der Wind und der Schneefall wurden immer stärker und die Tränen gefroren auf seinen Wangen. Blut lief an seinen schmerzenden Fingern herab. Seine Handflächen waren aufgescheuert und die raue kalte Feile, an der der Holzgriff fehlte, bohrte sich bei dem Versuch, den Buchstaben »D« in die Rinde zu schaben, immer tiefer und tiefer in die Innenseiten seiner Hände.

„Warum habe ich keine Handschuhe an!“, schrie er in die kalte Leere des Waldes.

Du hast es doch bald geschafft, beruhigte ihn seine eigene innere Stimme. Bald geschafft… »GORD«. Nur noch das »O« und das »N«, dann bin ich fertig. Bald geschafft! Wenn meine Füße nicht so schmerzen würden.

Er sah an sich runter und mein Gott, er war Barfuß! Barfuß?

„Was geschieht hier?“

In dem tiefen Schnee konnte er seine Füße nicht sehen, aber er spürte den gefrorenen, eisigen Boden. Und die Schmerzen, die sich an seinen Beinen hoch zogen, wurden immer unerträglicher.

Mach weiter, Juri, hörte er die sanfte, ruhige Stimme. Mach weiter, du hast es doch bald geschafft. Bring Vaters Namen in den Baum, oder willst du hier draußen in der Einsamkeit erfrieren?

Juri weinte bitterlich, aber er war entschlossen, das hier zu Ende zu bringen.

Er sah hoch und setzte die Feile erneut an, um die beiden letzten Buchstaben ins Holz zu ritzen. Die Feile bohrte sich gleichsam in die Rinde wie in seine Hände und das kratzende Geräusch wurde lauter. Er war verwirrt, setze erneut an und wieder hörte er von weither, dieses seltsame, kratzende Geräusch. Und plötzlich verschwand der Baum im Nebel und auch die Feile wurde immer blasser. Das kratzende Geräusch rückte in den Vordergrund, wurde immer intensiver. Die Bewegungen seiner Hände wirkten auf einmal schwammig. Die Feile verschwand jetzt gänzlich. Und auch der Wald verschwand in milchigen Nebelschwaden. Was geschieht hier? Der Boden dreht sich! Da war es wieder, das kratzende Geräusch. Das laute Kratzen, Juri… das ist ganz wichtig! Nur das Kratzen. Darum geht es… um nichts anderes!

Mit einem Schlag wurde Juri wach. Er riss die Augen auf, war in seiner Wohnung.

„Ein Traum, herrje. Nur ein Traum.“

Sein Herz schlug heftig. Er lag auf seinem Sofa.

„Nur ein Traum, ich bin eingeschlafen.“ Durchatmen. Das kratzende Geräusch aus seinem Traum war dennoch da. Noch immer.

Er stemmte sich vom Sofa auf, schaute über die Lehne und jetzt erkannte er den Zusammenhang zwischen dem seltsamen Traum und dem Geräusch. Es war »Ecktor«, sein Kater, der draußen auf dem Balkon saß und mit der Pfote an der Tür kratzte.

„Ecktor, Dickerchen.“ Juri stand auf, ging zur Tür und ließ seinen Kater rein.

„Ecktor mein kleiner Freund, komm, komm schnell rein. Was für ein Wetter draußen.“

Draußen schneite es. Es war erst November, aber dieses Jahr kam der Winter schon sehr früh.

Der Kater sprang mit einem Satz durch die geöffnete Balkontür und verlor dabei Schnee, der sich in seinem Fell gesammelt hatte. Er schüttelte sich und lief in die Küche. Hier war sein Fressplatz und instinktiv wusste das Tier, dass es jetzt etwas zu fressen gab.

Juri liebte diesen Kater. Er hatte ihn adoptiert. Eher zufällig. Von der alten Dame über ihm. Dort gehörte das Tier ursprünglich hin und hieß auch nicht Ecktor, sondern Ecktorius. Aber Ecktor hörte sich zweifelsohne besser an und war auch leichter zu sprechen, und als er den Kater zu sich nahm, taufte er ihn kurzerhand um. Dem Kater machte das nichts aus, denn es kam auf die Tonart an, mit der man eine Katze ruft.

Ecktor war jetzt seit fast einem Jahr bei Juri, er kannte den Kater und er kannte die alte Dame. Sie trafen sich, kurz nachdem Juri in die Wohnung unter ihr zog. Juri begegnete der alten Dame im Hausflur. Er kam von der Uni und die Frau saß schnaubend auf den Treppenstufen, die weiter nach oben führten. Zwei große, schäbige, mit Zeitungen gefüllte Stofftaschen standen vor ihr und sie machte einen erschöpften, fast verzweifelten Eindruck.

Die alte Dame hatte ihre Hände in den Schoß gelegt, massierte die scheinbar schmerzenden Knöchel, die von Arthritis ganz verknöchert waren, und redete leise vor sich hin. Sie bemerkte Juri nicht, obwohl er sicher war, sie würde in seine Richtung sehen.

Na gut, dachte er, es ist recht dunkel im Hausflur und ihre Augen sind vielleicht nicht mehr die Besten.

Dann ging er vorsichtig ein paar Schritte näher an die alte Frau heran. Er wollte sie nicht erschrecken, aber sie bemerkte ihn auch noch nicht, als er schon fast vor ihr stand. Juri neigte den Kopf ein wenig nach unten, um sie besser sehen zu können. Sie reagierte noch immer nicht auf ihn.

Erst als er fragte, ob er ihr irgendwie behilflich sein könnte, schaute sie zu ihm.

„Das ist schön, dass du da bist, ich muss die Taschen in meine Wohnung bekommen, aber sie sind schwer und ich glaube, ich schaffe es nicht allein.“

Sie versuchte, sich von den Treppenstufen zu erheben, schaffte es kaum allein und Juri griff der alten Dame beherzt unter den Arm, um ihr hoch zu helfen. Sie schnaubte erneut, und als Juri ihr ins Gesicht sah, bemerkte er, dass sie tatsächlich nicht gut sehen konnte. Ihre Augen waren durchgehend gräulich und glasig, fast schon weiß, und man konnte kaum den Übergang zur Iris, der eigentlichen Augenfarbe, erkennen. Das hohe Alter hatte ihr die Sehkraft genommen, sie wirkte schwach und gebrechlich und Juri konnte die Knochen ihres Armes durch die Kleidung spüren. Der Geruch, der von ihr ausging, störte ihn nicht besonders.

„Warten Sie, ich helfe ihnen nach oben und anschließend bringe ich ihnen die beiden Taschen.“

„Du bist ein guter Junge, ich danke dir.“

Zittrig bemühte sich die Frau, Juri nicht allzu sehr zur Last zu fallen, aber sie schaffte kaum mehr eine Stufe ohne seine Hilfe.

Vor ihrer Wohnung angekommen, ging Juri zurück nach unten und holte die Taschen.

Wie hat sie die überhaupt so weit tragen können? Sie waren mehr als schwer und selbst er hatte Schwierigkeiten damit.

Als er wieder oben ankam, versuchte die Frau gerade verzweifelt, ihre Tür aufzuschließen, aber auch das gelang nicht. Und jetzt fragte sich Juri allen Ernstes, wie die Dame ihr Leben, ihren Alltag bewältigte. Sie war nicht in der Lage, den Schlüssel ins Schloss zu bekommen und jetzt übernahm Juri das gesamte Handeln, denn sie tat ihm leid und es machte ihn traurig, die alte Dame so hilflos zu sehen.

Er fragte höflich nach dem Schlüssel und sie gab ihn Juri. Er öffnete die Tür und jetzt traf ihn fast der Schlag. Überall lagen Mülltüten, alte Konservendosen, Lappen, Kleidung, vergilbtes Zeitungspapier; man konnte kaum laufen, alles war voller Unrat.

Und auf einmal, inmitten des ganzen Chaos, entdeckte er eine Katze. Sie wirkte abgemagert, hungrig, kroch langsam zwischen zwei blauen Plastiktüten hervor und maunzte Juri an, krabbelte über den ganzen Müll hinweg zu ihm, um sich dann um seine Beine zu winden. Es hatte den Anschein, sie wolle den Besuch begrüßen, den die Dame mit in die Wohnung gebracht hat.

Juri ging noch einmal zurück auf den Flur, um die beiden Taschen zu holen, und als er einen flüchtigen Blick auf den Inhalt warf, stellte er fest, dass sie beide bis zum Rand mit alten Zeitungen gefüllt waren. Er war irritiert, denn er vermutete Lebensmittel darin.

Dachte, die Frau käme vom Einkaufen zurück. Seltsam, was will die alte Frau mit den ganzen Zeitungen hier oben?

Aber es hatte ihn nicht zu interessieren und… alte Menschen sind manchmal eigenartig. Er stellte die Taschen direkt hinter die Tür in den Flur.

Die Katze kam erneut auf ihn zu, aber er konnte sich nicht zu sehr auf sie konzentrieren. Er versuchte, so gut es ging, der Dame in das Wohnzimmer zu helfen, ohne selbst zu stürzen, denn sie stand immer noch wartend im Flur.

Und trotz mangelnder Sehkraft schien sie genau zu wissen, wo was lag, denn als Juri sie ins Wohnzimmer begleitete, sagte sie ständig: „Vorsicht hier, Vorsicht hier.“ Er setzte sie in den einzigen Sessel, der in dem muffigen, dunklen Wohnzimmer stand. Und dann hörte er die Katze erneut.

„Ja wo ist denn der Dicke, wo ist er denn?“, kam von der alten Dame mit krächzender Stimme. Suchend bewegte sie ihren Kopf von links nach rechts, aber sie konnte ihn nicht sehen, obwohl er direkt vor ihr saß. Juri zerriss es bei dem Anblick der alten Frau und der Katze fast das Herz. Mit großen Augen und voller Erwartung hockte sich das Tier vor die Frau und wieder rief sie:

„Wo ist denn mein Katerchen?“ Juri tat der Frau den Gefallen und fragte, ob er dem Tier vielleicht etwas Futter geben solle.

„Ja bitte, das wäre nett von dir. Wie heißt du, mein Junge?“

„Ich heiße Jurek, ich wohne unter ihnen, hier im Haus.“

„Dann wohne ich über dir“, sagte sie und fing an zu kichern.

„Futter ist in der Küche, gleich hier.“

Juri versuchte durch den Flur zu gelangen, ohne auf irgendwelche Reste von Müll zu treten. Überall bot sich das gleiche Bild. Und in der Küche war es besonders schlimm. Es häufte sich dreckiges Geschirr und auf dem alten Holztisch klebten Essensreste.

Als er sich genauer umsah, stellte er fest, dass weder ein Kühlschrank noch sonst irgendein Aufbewahrungsmöbel in der winzigen Küche stand. Die paar Lebensmittel, die es gab, lagen offen in einem Regal, welches die besten Tage hinter sich hatte. Auch hier, in der Küche, war alles völlig verdreckt. Seine Schuh blieben bei jedem Schritt auf dem Linoleumboden kleben und er fragte sich, wie man so leben konnte.

Die Antwort bekam er, nachdem er der Katze etwas von dem Trockenfutter gegeben hatte und zurück ins Wohnzimmer zu der Frau ging. Das Tierfutter war zwar nicht mehr haltbar, aber scheinbar immer noch essbar, denn der Kater machte sich gleich darüber her.

„Ich lebe seit hundert Jahren alleine hier, Junge. Ich habe damals ganz früh geheiratet, und als die Nazis kamen und unser Land überfallen haben, da musste mein Mann los und wir hatten nicht mal Zeit, uns richtig zu verabschieden. Meine große Liebe… er ist bis heute nicht wieder gekommen. Ich warte schon so viele Jahre. Wenn er nicht zu mir kommt, dann geh ich zu ihm, irgendwann. Für Kinder war’s zu früh und jetzt sitze ich hier allein und schaff das alles nicht mehr. Ich bin alt und müde vom ewigen Warten, weil ich nicht weiß, wie lange ich denn noch warten muss.

Für Gott mag das ja nur ein kurzer Augenblick sein, für mich ist es eine Ewigkeit. Aber ich hab ja noch den Ecktorius, meinen Kater…“

Und jetzt fing die alte Dame an zu weinen und Juri nahm ihre Hand. Er spürte die Knöchel und Adern unter der dünnen Haut und in diesem Moment war der ganze Dreck und der Gestank der Wohnung nicht mehr da. Er empfand tiefes Mitgefühl und wusste, dass er ihr helfen wollte. Und, hat sie gerade »Ecktorius« gesagt?

Die alte Frau zitterte und dann sah sie ihn an mit diesen traurigen, fast blinden Augen und sagte zu ihm: „Du bist auch alleine, mein Junge, habe ich Recht?“

Juri schüttelte den Kopf in der ersten Reaktion, wollte antworten, ihr sagen, dass er liebevolle Eltern hat, aber er ließ es, und je länger er über ihre Frage nachdachte, desto mehr kam er zu der Einsicht, dass sie tatsächlich Recht hatte. Sie wirkte senil, aber sie wusste genau, wovon sie sprach. Er war einsam! Ein ständiger Außenseiter, ohne eine Freundin und ohne richtige Freunde. Er war allein in seiner Welt. Denn Eltern sind weit weg, wenn man erst einmal ausgezogen ist und lernen muss, auf eigenen Beinen zu stehen, sein eigenes Leben zu führen.

Und dann kam der Kater zurück ins Wohnzimmer und sprang auf den Schoß der Dame und sie hörte auf zu weinen, weil sie Trost fand bei dem Tier, und Juri hielt ihre Hand und schwieg.

Er blieb noch eine Weile bei ihr, hörte sich ihre Geschichten von früher an und bat ihr seine Hilfe bei der Reinigung ihrer Wohnung an. Die Frau wirkte jetzt ein wenig verwirrt, aber Juri ließ sie wissen, dass es notwendig sei.

Und so verbrachte er die kommenden Nachmittage damit, die Wohnung der Frau zu säubern, frische Luft in die Räume der kleinen Wohnung zu lassen. Und ein paar Lebensmittelvorräte besorgte er auch für die alte Dame, die die ganze Zeit über in ihrem Sessel saß und nichts tat, außer von früher zu reden.

Und während der ganzen Aufräumarbeiten gewöhnte sich der Kater mit dem eigenartigen Namen langsam an den Neuen, der hier nun für Ordnung sorgte und ihm frisches Futter und warme Milch bereitstellte.

Fünf Nachmittage verbrachte er mit Aufräumen, dann war die Wohnung wieder in einem annehmbaren und sauberen Zustand.

In dieser Zeit klärte sich auch die Sache mit den Zeitungen. Die alte Dame benutzte das Papier zum Heizen der Wohnung. Hier oben in der kleinen Wohnung unter dem Dach gab es keine Heizung. Nur einen alten Holzofen, der in der Ecke des Wohn- und Schlafraumes stand. Da sie aber weder Holz noch Kohle zum Heizen hatte, ging sie ab und an nach unten in den Hinterhof und sammelte die alten Zeitungen aus den Abfallcontainern.

„Manchmal findet man auch etwas anderes Brauchbares, außer Zeitungen“, berichtete die alte Dame, während Juri die Wohnung auf Vordermann brachte.