Katzenwalzer - Oliver Peetz - E-Book

Katzenwalzer E-Book

Oliver Peetz

4,9

Beschreibung

Katzenwalzer erzählt die beklemmende Geschichte des jungen Johnny Braun, der durch eine naive Handlung in Kindertagen die harmonische Familienidylle zerstört. Die Familie zerbricht und Johnny flüchtet in eine Welt, in der die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschwimmen. Durch einen folgenschweren Unfall kommt es zur Katastrophe...

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Seitenzahl: 211

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Der Autor

Geboren 1966 in Oldenburg, wuchs Oliver Peetz als Zweites von fünf Kindern in ärmlichen und zerrütteten Familienverhältnissen auf. Nach einer mäßigen Schul- und Berufsausbildung vergingen zwanzig rastlose Jahre, in denen der Autor alle Höhen und Tiefen des Lebens durchlaufen hat. Während dieser Zeit „schlief“ sein schriftstellerisches Talent. Erst mit der Heirat seiner Frau Sandra im Jahre 2013 kam für den leidenschaftlichen Sportler die Wende, sodass er sich heute seiner Passion, dem Schreiben widmen kann.

Für meinen Bruder Kris

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1: Sandmännchen

Kapitel 2: Bruderherz, Elternschmerz

Kapitel 3: Leb' wohl, Kindheit

Kapitel 4: Katzen im Schrank

Kapitel 5: Im Wald sind die Räuber!

Kapitel 6: Tage ohne Vater

Kapitel 7: Der Fall 316/ KM

Kapitel 8: Eindringlinge

Kapitel 9: Der Fall 316/ KM - 2. Versuch

Kapitel 10: Pokerfreunde

Kapital 11: Leben kommt, Leben geht

Kapitel 12: Der Tag danach

Kapitel 13: Das Leben geht weiter

Kapitel 14: Alles wird gut

Kapitel 15: Gemeinsamer Entschluss

Kapitel 16: Ein letzter Gruß

Kapitel 17: Ich geh' Heim

Vorwort

Was wären wir ohne Glauben?

Was ist, wenn am Ende nichts mehr bleibt?

Alles Irdische vergeht und ist für niemanden unendlich.

Eines Tages werden wir sterben. Jeder von uns!

Was aber, wenn das Ende naht, wir die Augen für immer schließen, der Vorhang fällt und es ist nichts mehr da?

Nur Dunkelheit. Leere. Nichts.

Und sind es nicht grade diejenigen ohne Glauben unter uns, die sich am meisten wünschen, dass„danach“ noch etwas kommt? Dass es nicht dasfinale Ende ist, sondern dass es auf der „anderenSeite“ irgendwie weitergeht.

Es geht weiter.

Wenn wir glauben.

Und nur dann.

Ich glaube!

Johnny Braun, während seines Gefängnisaufenthaltes.

Kapitel 1

Sandmännchen

Die Schreie sind noch immer da. In meinem Kopf.

Schreie. Schmerzen.

Es sind die meinen.

Ich hab‘ Angst. Ich ersticke.

Bitte nicht. Nicht heute Nacht.

Ich sterbe. Mein Körper. Mein Geist. Meine Seele.

Vater!

»Guten Tag. Ich bin Doktor Wildberg. Schön, dass Sie heute hier sind.«

»Hallo, ich … ich bin Johnny. Johnny Braun.«

»Hallo, Herr Braun. Bitte. Erzählen Sie mir von sich. Sie sind zu mir gekommen. Vermutlich brauchen Sie meine Hilfe. Also werde ich versuchen, Ihnen zu helfen. Erzählen Sie mir etwas über sich.«

»Ja, gut. Ich werde es versuchen. Ich … ich habe meine Familie verloren. Vor langer Zeit schon. Es ist alles sehr schwer für mich. Ich schlafe oft schlecht, und ich träume immer wieder den gleichen Traum … von meinem Bruder. Kris.«

»Und was ist das für ein Traum.«

»Also, das klingt wohl alles sehr merkwürdig, aber Sie wissen ja nicht was passiert ist. Und ich weiß nicht genau, wie und wo ich anfangen will. Soll ich jetzt mein ganzes Leben erzählen?«

»Eines nach dem anderen. Ganz langsam. Beginnen Sie ruhig mit diesem Traum.«

»Er … also mein Bruder… Kristian und ich, wir halten uns an den Händen und tanzen, und ich höre eine Melodie. Einen Walzer. Dabei mag ich eigentlich solche Musik nicht. Aber sie ist ja da, im Traum. Diese Melodie ... wird intensiver, lauter.

Wir stehen in einem Wald, und wir drehen uns im Kreis … immer schneller. Und irgendwann da verändert sich alles. Die Musik, die Umgebung, er. Also mein Bruder. Als würde er sich verwandeln. Und ich erkenne ihn nicht mehr richtig, auch weil wir uns so schnell drehen, und er wird irgendwie eins mit der Katze. Ich meine, ich kann es nicht unterscheiden, ob es mein Bruder ist oder die Katze. Alles verschwimmt, verblasst.«

»Diese Katze von der Sie da sprechen, was ist das für eine Katze?«

»Sie gehörte Kris. Sie war etwas Besonderes. Aber sie ist auch tot. Ich bin alleine. Übrig geblieben, sozusagen.«

»Möchten Sie darüber sprechen? Möchten Sie mir mitteilen, warum Sie meinen, dass Sie übrig geblieben sind?«

»Ich denke, ich bin bestraft worden für das, was ich getan habe. Ich war lange weg.«

»Was meinen Sie mit „lange weg“?«

»Einstein hat mal gesagt, die Zeit ist relativ. Als Kind kommen einem zehn Tage vor, wie eine Ewigkeit, wenn man zum Beispiel auf Weihnachten wartet oder auf den Beginn der Sommerferien.

Je älter man wird, desto schneller vergeht die Zeit, da sind zehn Tage nichts. Die vergehen wie im Flug.

Aber im Gefängnis ist es egal, ob man jung oder alt ist. Die Zeit vergeht überhaupt nicht, und zehn Jahre sind eine Ewigkeit. Da hat man ein ganz anderes Empfinden. Sind nun die zehn Tage für das wartende Kind eine Ewigkeit oder zehn Jahre im Gefängnis, wenn man die Tage bis zur Entlassung zählt?«

»Sie waren also zehn Jahre im Gefängnis?«

»Sonntags gab es da immer einen Gottesdienst, den ich besucht habe. Meistens. Der Pastor dort hat mir erklärt, dass es eine schwere Sünde ist, jemanden zu töten. Und dass nur Gott einem vergeben kann. Aber wie soll ich wissen, ob Gott mir vergeben hat? Das werde ich erst am jüngsten Tage erfahren, hat der Pastor gesagt. Wenn wir im Angesicht des Herrn erwachen. Dann werden wir alle die Gnade, oder die Strafe Gottes erfahren.

Ich bin sehr gläubig … wieder. Es gab aber auch eine Zeit, da habe ich an nichts mehr geglaubt und die ganze Welt einfach nur verflucht. Aber jetzt glaube ich wieder … das hat bei mir schon früh angefangen mit meinem Glauben an Gott. Einfach so.

Ich meine, wir sind keine besonders gläubige Familie gewesen. Ganz im Gegenteil. Wir waren auch nicht oft in der Kirche, und den Namen meines Bruders schreibt man auch mit „K“ und nicht mit “Ch“. Weil der Name mit „Ch“ für etwas Christliches steht. So zumindest die Aussage meines Vaters. Und das wollte er nicht. Unter gar keinen Umständen. Da meine Mutter aber unbedingt diesen Namen wollte, haben sie sich auf Kristian mit „K“ geeinigt. Irgendwie verrückt, oder?

Ich habe für mich gedacht, dass alles was passiert einen Grund haben muss und nichts aus Zufall geschieht. Und ich wollte schon oft zu meinem Bruder und zu meiner Mutter. Aber ich würde ja niemals die Gnade Gottes erfahren, wenn ich meinem Leben selbst ein Ende bereiten würde. Dann würde ich wahrscheinlich meinen Vater wiedersehen.«

Jetzt lächelte Johnny kurz. Es war ein verlegenes, ängstliches Lächeln. Nicht das Lächeln eines Erwachsenen. Es war das Lächeln eines Kindes, das etwas Falsches gesagt hatte und diesen Fehler anschließend erkannte.

Er saß da, mit gesengtem Kopf und spielte nervös an der Kordel seines Kapuzenpullovers.

Der Psychologe bemerkte sein zurückhaltendes, fast beschämtes Verhalten. Seine Unsicherheit beim

Sprechen und seine Scheu mit ihm Augenkontakt zu halten.

Und die leise Tonlage mit der Johnny sprach, unterstrich noch seine schüchterne, kindliche Art.

Der Arzt musste sich anstrengen, um Johnnys Worte zu verstehen, denn er sprach kaum hörbar, fast verängstigt.

»Ich fühle mich dafür verantwortlich, dass sie nicht mehr da sind, und ich habe Angst. Dieser Traum … jede Nacht wieder, und ich weiß nicht, was Gott von mir erwartet. Ist das seine Art mich für das Geschehene zu bestrafen?«

Johnny sah den Psychologen an, und die tiefe Traurigkeit, die von ihm ausging, erfüllte den Raum. Er hatte Tränen in den Augen, und sein Blick war flehend. Er brauchte Hilfe. Er bettelte um die Hilfe des Psychologen.

Es hätte den Arzt nicht gewundert, würde er ihm jetzt seine Hand entgegenstrecken und einfach sagen: Hilfe. Bitte, helfen Sie mir.

»Sie müssen mir erzählen was passiert ist. Würden Sie mir diesen Gefallen tun? Damit wir Zwei einen Weg finden, Johnny? Ich darf Sie doch Johnny nennen, darf ich?«

»Ja. Die im Gefängnis haben gesagt, dass ich es ohne Hilfe nicht schaffen würde, aber die Ärzte da drinnen haben gar nicht zugehört. Die konnten mir nicht helfen … zehn Jahre.«

»Ok, gut. Johnny, ich werde dir jetzt ein Blatt Papier und einen Stift geben, und ich möchte dich bitten aufzuschreiben was dir einfällt. Ganz spontan. Nicht darüber nachdenken. Moment. Hier bitte. Schreibe auf, was dir jetzt gerade einfällt.«

Johnny nahm den Stift in die Hand und fing an zu schreiben. Der Psychologe beobachtete seinen neuen Patienten dabei und machte sich währenddessen Notizen.

Nachdem Johnny die Zeilen auf das Papier geschrieben hatte, sah er den Psychologen fragend an.

»Gibst du mir bitte das Blatt zurück?«

Johnny reichte dem Arzt mit zitteriger Hand das Papier, auf dem geschrieben stand, was ihm als allererstes eingefallen war.

Kinder, liebe Kinder, es hat mir Spaß gemacht.

Nun schnell ins Bett und schlaft recht schön,

dann darf auch ich zur Ruhe geh‘ n.

Ich wünsch‘ euch gute Nacht.

»Das ist ein Lied. Ein Erkennungslied, wenn man so will. Aus einer Kindersendung. Kennen Sie die Sendung mit dem Sandmännchen?«

Der Psychologe musterte Johnny aufmerksam bevor er antwortete.

»Ja, natürlich. Wer kennt es nicht? Eine Vorabend-Sendung. Das habe ich als Kind oft gesehen. Läuft diese Sendung heute noch?«

»Ich weiß es nicht. Schon möglich. Ich durfte diese Sendung als Kind immer sehen ...«

Johnnys Blick ging ins Leere. Erinnerungen holten ihn ein. Man konnte spüren, wie er zurückfiel in die Zeit, als er noch ein Kind war.

In seinem Schlafanzug, mit einem Glas Milch und einem Sandwich, voller naiver Erwartungen auf dem Sofa seines Elternhauses sitzend und gespannt auf den Beginn der Sandmännchen-Sendung wartend. Unbekümmert und mit leuchtenden Augen. In einer Zeit, als die Welt noch in Ordnung war. Vor fast dreißig Jahren.

Und dann fing er leise an zu reden.

»Damit hat alles angefangen. Mit dem Sandmännchen. Ich war doch noch ein Kind, ich konnte nicht wissen, dass es ihm schadet. Dass es falsch ist! Wie auch? ...

... Ich bin fünf Jahre alt. Und er ist erst ein halbes Jahr alt.

Er, das ist mein Bruder Kristian. Und er weint. Er weint nicht nur, er schreit. Und hustet. Und jammert.

Es ist Sommer. Draußen ist es warm. Mama hat ihn im Kinderwagen nach draußen in den Garten hinter unserem kleinen Haus geschoben, in dem ich mit Papa, Mama und meinem Bruder lebe.

Mama hat gesagt: ›Dein kleiner Bruder ist müde, Johnny. Ich schiebe ihn nach draußen an die frische Luft, und du passt ein bisschen auf ihn auf, denn du bist ja schon groß.‹

Ich habe eine so tolle Mama. Welches Vertrauen sie in mich steckt, indem sie mir die Aufsicht über meinen kleinen Bruder Kristian anvertraut. Ich bin fünf Jahre alt. Danke Mama, für dieses Vertrauen. Ich werde dich nicht enttäuschen, denn mit fünf Jahren sollte man die Aufsicht über ein sechs Monate altes Baby doch praktisch im Schlaf beherrschen.

Ich werde ihn schon beschützen. Gegen Bienenstiche verteidigen, sollte sich zufällig eines dieser kleinen Biester in seine Nähe wagen, angelockt von dem süßen Geruch, der nach dem Mittagsbrei noch immer seinem kleinen Mund entwich.

Klar, gar kein Problem. Und sollte ihm zu warm werden, wir haben Hochsommer, dann sehe ich das ja sofort an seiner Gesichtsfarbe. Ich schlage die Decke zurück und schiebe ihn noch weiter in den Schatten. An einen kühleren Ort. An die Längsseite des Hauses, weil dort immer ein leichter Windzug geht. Sicher, so etwas weiß man doch als Fünfjähriger. Das dürfte doch wohl kein Problem sein.

Und ich lasse mich bei diesem schönen Wetter auch nicht von irgendwelchen Dingen, wie vorbeifliegenden Geräuschen ablenken. Ich gehe auch nicht rüber zur Sandkiste, wo all die tollen Spielsachen liegen und der helle Sand nur darauf wartet, von mir in Formen gefüllt zu werden, um sie anschließend wie kleine Törtchen auf dem Holz-Rand der Sandkiste aufzureihen. Nein, das werde ich nicht, Mama. Verlass dich auf mich. Geh du nur wieder ins Haus, und beschäftige dich mit den alltäglichen Dingen, bis Papa von der Arbeit nach Hause kommt.

Und jetzt schreit mein kleiner Bruder, und ich weiß plötzlich doch nicht, was ich machen soll.

Ist er müde? Er ist müde. Er kann nur müde sein. Was sollte er sonst haben? Ich weiß es nicht. Ich bin fünf!

Jetzt kommt mir ein Gedanke. Was habe ich im Fernsehen gesehen? Was macht das Sandmännchen, wenn die Kinder müde sind? Natürlich!

Also laufe ich los zur Sandkiste, schnappe mir die kleine rote Schaufel und steche einmal ordentlich in den hellen, weichen Sand. Wie mein Bruder schreit! Er ist so müde, und ich habe die Verantwortung. Mama? Wo ist Mama? Ich darf und will sie nicht enttäuschen, die liebe Mama. Ich bin schon groß, hat sie gesagt. Das habe ich verstanden.

Und jetzt laufe ich mit der kleinen roten Schaufel, den Griff in beiden Händen, zurück zu meinem Bruder. Balance halten! Der Sand. Nicht zu viel Sand verlieren. Hier kommt das Sandmännchen. Und ich streue dir Sand in die Augen, damit du schlafen kannst, mein kleiner Bruder. Ich bin schon groß, ich habe die Situation im Griff. Ich weiß, was zu tun ist. Mama wird stolz sein, wenn Kristian selig schläft.

Und da bin ich wieder. Zurück vom Sand holen. Zurück mit der Lösung des Problems. Ich kann ihn kaum sehen im Kinderwagen. Zu hoch. Ich bin zu klein. Aber Mama hat gesagt, ich bin schon groß. Und dumm bin ich nicht. Also genau horchen, von wo das Geschrei kommt. Aha, von da. Also muss sich da sein Gesicht befinden.

Und los. Schaufel hoch und … jawoll, Treffer! Lauschen … Er weint noch immer. Eher mehr noch, oder? Doch nicht richtig getroffen?

Also nochmal loslaufen und neuen Sand holen!

Ich laufe so schnell ich kann, denn ich höre wie mein kleiner Bruder immer lauter weint und schreit.

Und wieder eine Schaufel voll mit Sand. Ich komme. Das Sandmännchen. Schlaf' Brüderchen, schlaf'.

Und diesmal treffe ich besser, denn jetzt ist er still. Diesmal hatte ich auch mehr Sand auf der Schaufel und beim Laufen besser auf das Gleichgewicht geachtet.

Und lauschen! … Jetzt hustet er. Hat er sich erkältet? Das hört sich nicht gut an. Wo ist denn bloß Mama? Jetzt schreit er wieder.

Ich muss nochmal los zum Sand holen. Warum ist die Sandkiste denn so weit weg? Das sind mindestens eintausend Meter. Aber ich bin ja nicht dumm, und noch während ich erneut zur Sandkiste laufe, kommt mir eine richtig gute Idee. Der Eimer! Warum mache ich nicht den Eimer voll mit Sand und kippe ihn in den Kinderwagen? Das Sandmännchen hatte in der letzten Sendung doch auch einen Eimer, oder? Ist auch egal. Ich nehme jetzt den Eimer.

Kristian ist so müde, und seine Schreie hören nicht auf. Während ich wieder zurück zum Kinderwagen laufe, habe ich große Mühe mit dem schweren Eimer, aber ich bin schon groß. Meine Arme schmerzen, aber ich bin schon groß.

Als ich den Versuch unternehme, den schweren Eimer über den Rand des Wagens zu heben, um diese Ladung Sand nun genau ins Gesicht meines schreienden Bruders zu bekommen, werden meine Arme immer schwächer. Aber es klappt. Gleichgewicht halten und … rein damit.

Lauschen! Das hat geklappt. Nichts zu hören. Schläft er jetzt? Er schläft, denn es ist kein Schreien mehr zu hören. Mama wird stolz auf mich sein.

Und die Idee mit dem Sandmännchen? Na gut, so gesehen bin ich nicht selbst darauf gekommen. Aber ich bin froh, dass ich diese Sendung Abend für Abend sehen darf, sonst hätte ich in dieser Situation vielleicht doch nicht gewusst, was zu tun ist. Aber das spielt jetzt keine Rolle. Wichtig ist, dass ich den Anforderungen meiner Mama gerecht geworden bin und Kristian friedlich schläft. Ich bin zufrieden.

Noch einmal lauschen … Nichts. Alles bestens.

Dann gehe ich jetzt rüber in die Sandkiste, denn eben habe ich gemerkt, dass ich doch gerne darin sitzen und im Sand spielen möchte. Und es ist so schönes Wetter.

Ich grabe in dem warmen, feinen Sand, und je tiefer ich buddele, umso kühler und dunkler wird der Sand.

Die Welt ist so faszinierend und voller Geheimnisse. Es gibt so viel zu entdecken und … nicht allzu sehr ablenken lassen, nochmal hinübersehen zu Kristian, lauschen … Nichts! Er schläft ganz friedlich.

Als ich noch einmal zu dem Kinderwagen schaue, bemerke ich, wie ein Mann unser Haus verlässt. Es ist nicht Papa. Papa hat dunklere Haare, und dieser Mann hat helles Haar, und er geht ganz anders als Papa. Und er geht auch viel schneller als Papa. Und nun sehe ich, dass meine Hände ganz dunkel und schmutzig sind vom Graben, und das gefällt mir. Also grabe ich weiter und habe den fremden Mann schon vergessen.

Als ich erneut hochsehe, kann ich Mama erkennen. Sie sieht komisch aus, denn ihr Haar ist ganz wild und zauselig, und sonst hat sie es immer hochgebunden. Sie geht zum Kinderwagen. Das ist gut. Dann wird sie sich bestimmt gleich bei mir bedanken, dass ich den Kristian so schnell ruhig gestellt habe. Dass ich die Idee vom Sandmännchen habe, werde ich ihr nicht verraten.

Was ist jetzt? Schreit Mama jetzt? Ist sie plötzlich auch müde? Ich verstehe das nicht. Jetzt nimmt sie Kristian aus dem Kinderwagen, und er schläft noch immer, obwohl Mama mit ihm redet. Nein, sie redet nicht. Sie schreit und schlägt ihm ins Gesicht. War er böse? So kenne ich Mama gar nicht, und jetzt schreit sie noch mehr. Sie sieht sich um und weint und schreit, und ruft immer wieder dieses eine Wort, welches man rufen soll, wenn man von einem Fremden mit ins Auto genommen wird. Das hat Papa mir schon erklärt. Wird denn jetzt jemand von einem Fremden mitgenommen?

Ich fange auch an zu weinen, weil ich das nicht verstehe und Angst habe.

Kristian bekommt von alldem nichts mit. Er liegt in Mamas Armen und schläft tief und fest, während sie mit ihm auf die Straße läuft. Jetzt kann ich sie beide nicht mehr sehen, und das gefällt mir überhaupt nicht, denn nun fühle ich mich alleine gelassen. Ich bin nie alleine. Entweder ist Papa da oder die Mama oder beide. Und Kristian. Jetzt rennt sie mit ihm weg, und Papa ist auch noch nicht wieder zurück, und ich habe Angst.

Ich stehe auf und laufe in die Richtung, in der ich Mama gerade noch gesehen habe. Zur Straße. Aber hier ist sie nicht. Hier ist niemand. Ich habe Angst, und jetzt weine ich genauso wie mein Bruder vorhin, bevor er endlich eingeschlafen war.

Erwachsene verhalten sich oft so komisch und seltsam.

Ich rufe nach ihr, das ist jetzt das Beste, was ich machen kann. Aber ich kann nicht so gut sehen, weil die blöden Tränen in meinen Augen mir die Sicht nehmen.

Und dass man nicht auf die Straße laufen darf, ohne sich vorher davon zu überzeugen, dass kein Auto kommt oder ein großer Lastkraftwagen ─ der einen fünfjährigen Jungen überrollen könnte und weiterfahren, weil er den kleinen Körper nicht einmal bemerken würde ─ das weiß ich nicht. Ich bin Fünf, und ich möchte jetzt zu meiner Mama.

Ich habe dieses Gefühl, welches man Angst nennt, und es wird schlimmer. Und deswegen muss ich immer mehr weinen, und ich höre die Hupe gar nicht, als ich auf die Straße laufe. Aber das ist jetzt auch nicht wichtig, denn ich will nur, dass Mama wiederkommt. Bitte. Bitte!

Aber Mama kam nicht. Mama war zu einem Fremden ins Auto gestiegen. Zusammen mit meinem Bruder. Und dieser Fremde hatte dann beide ins Krankenhaus gefahren.« …

Als die Notärzte den kleinen Jungen auf die Trage der Notaufnahme legten und verzweifelt versuchten ihn wiederzubeleben, war er bereits seit einer Dreiviertelstunde klinisch tot. Somit waren Teile seines Gehirns über diesen Zeitraum ohne Sauerstoffversorgung, sodass irreparable Schäden zu erwarten waren. Doch sie holten ihn zurück. Vier Mal! Drei Mal war er ihnen wieder entglitten und der Monitor, der die lebenswichtigen Funktionen grafisch darstellte, zeigte die Nulllinie.

Kein Schlag. Kein Herz.

Erst bei dem vierten Versuch ihn wiederzubeleben, blieb er hier.

Der heftige Stromstoß aus dem Defibrillator ließ den kleinen Körper krampfen und in die Höhe schnellen. Aber die Ärzte schafften es. Der Junge schaffte es. Gemeinsam. Sie holten ihn zurück in diese Welt und stabilisierten ihn.

…»Meine Mutter war auf dem sterilen Krankenhausflur zusammengebrochen, als die Ärzte Kristian in den Not-OP schoben. Sie blieb ohnmächtig auf dem kalten Linoleumboden liegen, und es dauerte fast zwanzig Minuten, bis sich jemand um sie kümmerte.

Warum das so lange gedauert hatte, wusste niemand. Wahrscheinlich gab es zu dem Zeitpunkt, als die Ärzte um das Leben meines kleinen Bruders kämpften, nicht genug Personal in dem Krankenhaus. Ich weiß es nicht.

Auf der Baustelle rief der Vorarbeiter meinen Vater in den Baucontainer.

›Komm schnell ans Telefon, es ist was passiert.‹

Als Vater das hörte, sprang er vom Gerüst, um schneller am Telefon zu sein, denn der Gesichtsausdruck seines Vorarbeiters verriet ihm, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Dabei brach Vater sich das linke Sprunggelenk. Er hörte das Geräusch der brechenden Knochen, aber er ignorierte es. Mein Vater war ein harter Hund. In jeder Hinsicht. Und nach dieser schlimmen Sache mit meinem Bruder, sollte ich das noch zu spüren bekommen. An Leib und Seele.

›Ich muss ins Krankenhaus … mein Junge … ich weiß nicht, was da ist … was da passiert ist … ich muss ins Krankenhaus.‹

Mein Vater wurde kreidebleich, man konnte ihn kaum von der weißen Blechwand des Baucontainers unterscheiden.

Zu dem Zeitpunkt, als mein Vater im Krankenhaus humpelnd auf meine völlig fertige Mutter traf, irrte ich weinend und angstgeschüttelt durch die Straßen.

Heute frage ich mich, was damals mit den Menschen, denen ich auf der Straße begegnete, los war. Ich meine, ich war Fünf, habe geweint und gezittert, und mit Sicherheit waren mir in der Zeit, in der ich orientierungslos durch die Gegend irrte, mehrere Personen begegnet. Aber niemand hatte sich um mich gekümmert. Auch nicht der Fahrer des Wagens, der damals hupte, als ich ihm vor das Auto lief. Er fuhr einfach weiter.

Irgendwer hatte letztendlich die Polizei verständigt. Zwei freundliche Beamte sammelten mich dann ein und brachten mich nach ein paar Recherchen zu meiner Tante. Ich glaube, die letzten Personen, die mich in meiner Kindheit gut behandelt hatten, waren diese beiden Polizeibeamten.

Ich saß weinend auf dem blauen Veloursofa meiner Tante und wartete darauf, dass mich eine vertraute Person abholen und trösten würde.

Meine Mama oder mein Vater. Um mich dann in den Arm zu nehmen, mir über das Haar zu streichen und mir sanft zu sagen, dass nun alles wieder in Ordnung sei.

Dann kam mein Vater. Als ich ihn sah, konnte ich das erste Mal wieder richtig atmen, so erleichtert war ich. Bis dahin hatte ich nur gejapst und geweint, und der Rotz lief mir aus der Nase und legte sich salzig über meine Lippen.

Ich hatte einfach große Angst, aber jetzt war ich froh, endlich wieder in Sicherheit zu sein. Dachte ich.

Das erste, das ich von meinem Vater bekam war eine Ohrfeige. Er hatte „nur“ mit der flachen Hand zugeschlagen, als ich auf ihn zu gerannt war. Der Schlag hatte mich komplett aus der Richtung geworfen, und ich erinnere mich noch genau an das klatschende Geräusch von diesem übermächtigen Schlag.

Mein Trommelfell riss in tausend Teile, und der stechende Schmerz zog sich durch meinen ganzen Körper. Ich landete in der anderen Ecke des Wohnzimmers, in der ich dann liegen blieb. Überall grelle Blitze. Und jetzt sah ich, wie meine Tante auf meinen Vater zuging, um ihn von mir wegzuziehen.

Sie redete mit ihm, oder besser gesagt, sie schrie ihn an, aber ich konnte nichts hören. Ich war taub, eine Sirene schrillte direkt zwischen meinen Stirnlappen, und ich war kurz davor ohnmächtig zu werden. Überall waren diese hellen, flackernden Lichter, und meine Umgebung wurde in ein unwirkliches Farbenspiel getaucht. Gelb war die vorherrschende Farbe.

Was doch mit so einem kleinen Gehirn passiert, wenn es abrupt in Extrembewegung versetzt wird.

Keine andere Farbe wurde mehr von meinem geschlagenen Gehirn aufgenommen. Nur Gelb. Alle anderen Farben wurden einfach geschluckt. Weggefiltert. Mein Vater, meine Tante, die Möbel. Alles war in Gelb getaucht und ich wusste nicht mehr, wer ich war.

Ich war fünf Jahre alt, und die Ohrfeige hätte ausgereicht, um einen Schwergewichtsboxer auf die Bretter zu schicken.

Und meine Tante? Meine Tante war viel zu zierlich, um meinen Vater davon abzuhalten, weiter auf mich loszugehen. Er brachte nur seinen linken Arm mit einem Ruck in Bewegung und meine Tante landete auf dem blauen Veloursofa, auf dem ich bis eben gesessen hatte. Auf dem ich weinend darauf gewartet hatte, dass Papa mich endlich abholen würde, um mit mir nach Hause zu fahren. Aber es kam ja anders.

Er hob mich mit einer Leichtigkeit hoch, bis ich mit ihm auf Augenhöhe war, und dann schüttelte er mich durch und schrie auf mich ein. Aber ich war gar nicht mehr da. Die Schmerzen in meinem Kopf lähmten mich. Ich stand unter Schock und konnte ohnehin nicht begreifen, was geschah.

Ich sehe heute noch das wutverzerrte Gesicht meines Vaters vor mir und die schwarzen Augen, die nur Zorn versprühten. Sein Atem roch nach Alkohol, als ich in seinen riesigen Händen gefangen vor ihm hing und er lautlos auf mich einschrie.

An viel mehr kann ich mich nicht erinnern. Wahrscheinlich wurde ich zu diesem Zeitpunkt ohnmächtig.

Meine nächsten Erinnerungen spielen ein paar Tage später. Ich saß wieder auf dem Sofa meiner Tante, während Mama und Papa im Krankenhaus bei Kristian waren.



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