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Darihns plötzliche, kühle Abwendung schmerzt Tahira. Sein Entschluss scheint festzustehen. Sie muss gemeinsam mit Jan, ihrer Mutter und ihrer Schwester zur Erde zurückkehren. Falls Mahrla tatsächlich ein Krieg mit Palela und Kavala bevorsteht, ist es sicherlich das Vernünftigste und zudem der beste Schutz für die traumatisierte Lesaja. Aber Mahrla, die Laokheni und Darihn hinter sich zu lassen tut weh. Tahira kommt es vor, als würde ein tiefes Loch in ihre Brust gerissen werden. Immerhin ist da noch Jan, der einen Teil dieser Leere füllen kann. Aber reicht das? Wird Tahira jemals nach Mahrla zurückkehren, ihren Vater und Darihn wiedersehen können?
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Seitenzahl: 434
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Für die Jans und Darilms in unserem Leben, die uns auf einem Teil unseres Weges begleiten, beide zu ihrer Zeit; Selbst, wenn wir irgendwann loslassen müssen, weil wir nur mit einem bis zum Ende gehen können.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
6 Monate später
'Glaube mir, du wirst ohne mich zurechtkommen und glücklich sein', hallen Darihns Worte noch Minuten später in meinem Kopf nach. Der Laokheni ist längst weitergelaufen, ohne mich noch eines weiteren Blickes zu würdigen. Ich dagegen stehe immer noch wie versteinert an genau derselben Stelle, an der er mich wenige Momente zuvor zurückgelassen hat. Ich habe das Gefühl, dass mein Herz genau an diesem Ort in tausend kleine Scherben zersprungen ist und mir fehlt die Kraft, auch nur zwei Teile davon wieder zusammenzusetzen. Als Jan mich erreicht und behutsam seine Hand auf meine Schulter legt, bewegen sich meine Füße ohne mein Zutun über den metaphorischen Scherbenhaufen am Boden hinweg. Ich spüre nichts, und die besorgte Stimme meines Freundes dringt nicht zu mir durch. Ich muss erst selbst verarbeiten, was gerade geschehen ist, bevor ich Jannik davon erzählen kann. Und vor allem will ich nicht, dass sich auch noch meine Schwester um mich sorgt, die in diesem Moment zu uns aufschließt. Also laufe ich schweigend weiter, wobei ich das Stirnrunzeln in meinem Rücken beinahe spüren kann. Lesaja hat während ihrer Gefangenschaft in Palela genug durchgemacht, ich will sie jetzt zuerst in Sicherheit wissen, bevor sie sich meinetwegen den Kopf zerbricht. Darihn will uns bestimmt auch in Sicherheit wissen, deshalb schickt er uns fort, zurück nach Hause. Der Gedanke sollte mich beruhigen, ein positives Gefühl hinterlassen. Tut er nicht. Das Einzige, was er hinterlässt, ist ein großes schwarzes Loch in meiner Brust. Ich glaube so etwas fühlt man immer dann, wenn der Schmerz zu groß wird, sodass die Seele entscheidet, ihn besser durch Leere zu ersetzen. Ich weiß, die Vorstellung, mit meiner Familie und Jannik auf die Erde zurückzukehren, sollte mich womöglich sogar freuen. Keine Gefahren mehr. Aber im Gegenzug auch kein Mahrla mehr. Keine magische Welt, die mich in jedem Moment spüren lässt, dass ich lebe, die mir zeigt, wer ich bin. Keine Laokheni mehr, kein Darihn. Ich schlucke. Der junge Krieger klang zu entschlossen, als dass ich mir vorstellen könnte, ihn noch einmal umzustimmen. Aber auf welchen Zeitraum war seine Aussage bezogen? Einige Tage? Ein Jahr? Würden wir uns überhaupt jemals wiedersehen? Natürlich muss sich das Loch in meiner Brust in diesem Moment doch mit Trauer füllen und einige Tränen laufen mir über die Wangen. Ich merke kaum, wie eine zarte Hand nach meiner greift. Lesaja, stelle ich mit einem Blick zur Seite fest. Meine Schwester ist bloß ein Jahr älter als ich, doch selbst jetzt, da sie eigentlich diejenige ist, die meinen Trost so dringend benötigt, kümmert sie sich um mich. Wie früher. Ich blicke zu Jan. Wenn wir zurück auf der Erde sind, wird wirklich wieder alles wie früher. Und zugleich wird nie mehr etwas so sein, wie es war. Dazu haben wir alle zu viele Erfahrungen gesammelt. Ich wünschte, ich könnte es wenigstens bereuen, dass es nie mehr wie früher sein wird. Aber ich kann es nicht. Mahrla, diese Reise, diese Welt sind das Beste, was mir jemals passiert ist. Ich habe nicht nur zu mir gefunden, sondern auch meine Familie zurückbekommen. Und auch, wenn er mich nun fortschickt, könnte ich keine einzige Sekunde mit Darihn jemals bereuen oder gar rückgängig machen wollen.
Erst nach einigen weiteren Metern traue ich mich, meiner Schwester einen Blick zuzuwerfen. In ihren Augen liegt so viel Wärme, dass ich ihren Trost schließlich doch an mich heranlasse und ihre Hand fester greife. So laufen wir die nächste Zeit weiter, dem Laokheni hinterher, der zugleich so nah und doch so distanziert ist. Jannik bildet wenige Meter hinter uns den Abschluss der Gruppe und ich bin froh, dass er sich nicht einmischt. Er ist zwar einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben, jedoch befürchte ich, ihn ein wenig für die Situation verantwortlich zu machen. Seine Gefühle für mich, wie stark und ernsthaft sie auch sein mögen, haben alles so viel komplizierter gemacht. Ich seufze. Wie es wohl weitergehen wird, wenn wir wieder unter uns sind, ohne den Prinzen? Kurz kommt mir der Kuss mit Jan in Palela wieder in den Sinn, doch ich schüttle den Gedanken genauso schnell ab, wie er aufgetaucht ist. Auch wenn Darihn sich von mir entfernt, kann ich doch nicht leugnen, dass ich in ihn verliebt bin, nicht in meinen besten Freund.
Ich bin froh, als meine Schwester mir am Wegesrand ein paar bunte Vögel zeigt und so meine Aufmerksamkeit verlagert. Ich finde es schön, beim Anblick der kleinen Tiere eine solche Freude über ihr Gesicht huschen zu sehen. Der altmahrlaische Name Lesaja bedeutet nämlich ,Tochter des Waldes' und beschreibt ihre magische Gabe. Meine Fähigkeit des Träumens kann zwar auch sehr hilfreich sein, bringt mich jedoch oft genug an meine Grenzen: Alles, was mir erscheint, kann die Zukunft zeigen, muss es aber nicht. Viel zu oft lasse ich mich bei der Interpretation von meinen Ängsten leiten. Es laufen immer so viele Ereignisse zusammen, dass die Zukunft eigentlich stets beweglich bleibt.
Erst als wir Darihn erreichen, bemerke ich, dass dieser unter einer großen Baumgruppe stehen geblieben ist. „Wir können hier rasten. Ich muss noch ein Schreiben an Perkoll verfassen."
Mit dieser knappen Aussage verschwindet der schöne junge Mann im Dickicht und lässt uns drei allein zurück. Es schmerzt, wie unnahbar er gerade wirkt, aber vielleicht ist es besser für uns alle, wenn ich ihn erst einmal in Ruhe lasse.
„Was ist los?“, will schließlich Jan wissen, der seine Neugier wohl doch nicht mehr unterdrücken kann. „Habt ihr euch gestritten oder so?"
Vorsichtig schüttle ich den Kopf, doch für eine Erklärung fehlt mir die Kraft.
„Also einfühlsam warst du ja noch nie“, erwidert meine Schwester spöttisch an meiner statt, doch ihre Aussage ist von einem schwachen Lachen begleitet. Ich weiß, dass die beiden bloß so tun, als könnten sie sich nicht ausstehen, weil sie ihre Ähnlichkeit nicht einsehen wollen. Fast bringt mich ihre altbekannte Neckerei zum Lächeln.
Nach einiger Zeit kehrt Darihn mit einem Brief zurück, den er meiner Schwester hinhält. „Ruft bitte einen Botenvogel“, fordert er uns mit neutralem Ton auf, bevor er wieder aus unserem Blickfeld verschwindet, um etwas Essbares zu besorgen.
„Das kann ja noch ein langer Weg werden“, lautet janniks einziger Kommentar, der die angespannte Stimmung jedoch ziemlich passend widerspiegelt. Dabei erscheint mir die Strecke nach Belasado plötzlich viel zu kurz: Es dürfte ohne Zwischenfälle nicht mehr allzu lange dauern, bis wir die Hauptstadt Mahrlas erreichen, wo wir mit unseren Eltern und Darihns verletztem Onkel Zusammentreffen. Perkoll war bei den Aufständen der Karoper, der feindlichen Laokheni, verwundet worden, weshalb momentan allein mein Vater Silas das Sagen in Mahrla hat, bis der rechtmäßige Thronfolger heimgekehrt ist. Und wenn wir mit Darihn zurück sind, wird dieser mich, Lesaja, Jannik, meine Mutter Lora und meine Tante Susanna zurück auf die Erde schicken, damit wir nicht in einen bevorstehenden Krieg verwickelt werden. Und so edel seine Beweggründe auch sein mögen, wünschte ich doch, er würde sich nicht bloß an sein Versprechen halten mich zu beschützen, sondern auch daran, immer bei mir zu sein. Natürlich will ich selbst, dass meine Familie in Sicherheit gebracht wird, aber ob es richtig ist, dass auch ich zurückkehre? Zurück in mein altes Leben – ohne Krieg und ohne Darihn. Alles hat zwei Seiten. Wir haben in Mahrla schon so viel zusammen durchgemacht, wieso sollten wir uns gerade jetzt trennen? Wird dieser Krieg tatsächlich so zerstörerisch werden wie vermutet? Kann er noch schlimmer werden als das, was ich bisher hier erlebt habe? Im Endeffekt haben wir den Konflikt selbst verursacht: Hätte Darihn uns nicht in Schutz genommen, wäre nie das Gesetz von Adra gebrochen worden, welches gewöhnlichen Menschen keinen Wert zuschreibt. Wären wir nie nach Adra gereist, hätte Palon meine Schwester nicht als Sklavin gefangen gehalten und missbraucht. Er hätte nie diesen Handel vorgeschlagen, dass er Lesaja bloß freilässt, wenn Darihn die palelanische Meeresprinzessin Selima heiratet. Dadurch, dass wir ihn täuschten und flüchteten, ist dem grausamen König unter Wasser erst die Idee eines Bündnisses gekommen: Statt des mahrlaischen Prinzen wird Selima nun einen bösartigen Shezesah, einen Pürsten Kavalas, heiraten. Dann werden Palela und Kavala gemeinsam das alte Gesetz verteidigen, welches schon längst überholt sein sollte. Bisher ist Mahrla das einzige Land Adras, welches nach Frieden strebt, doch selbst dessen Bewohner sind zwiegespalten. Wenn das Land keinen starken König bekommt, der die Bürger vereint und in Gerechtigkeit regiert, ist der Krieg verloren, bevor er überhaupt begonnen hat. Ich weiß, dass Darihn ein solcher König sein könnte, der dieses grausame Schicksal verhindern kann, aber ich hin mir nicht sicher, ob er das selbst weiß. Ich hoffe bloß, dass er die richtigen Entscheidungen trifft, selbst wenn ich in seinen künftigen Plänen nicht mehr vorkommen sollte.
Ich lese den anderen beiden den Brief vor, den der Laokheni verfasst hat, da ich die Einzige bin, die während ihres Aufenthaltes in Adra Mahrlaisch zu lesen und sprechen gelernt hat. „Makaro Silas, es beunruhigt mich zu hören, in welcher Verfassung sich mein Onkel befindet. Gleichzeitig freut es mich von Susannas Fürsorge Perkoll gegenüber zu erfahren. Ich bin sicher, er ist in den besten Händen, und zuversichtlich, dass noch auf Besserung zu hoffen ist. Ein wenig Ruhe wird sicher Wunder wirken.
Wir kommen unterdessen gut voran, sind höchstens noch zwei Tagesmärsche von Belasado entfernt. Bisher gab es einen Zwischenfall, einen Übergriff durch eine kleine Gruppe Karoper, den wir alle jedoch weitgehend unversehrt überstanden haben. Auf deine Empfehlung hin nehmen wir die nördlichste Route und hoffen, dass die Karoper im Süden ausfindig gemacht werden. Wir haben aus diesem Grund auch vor, bei unserer Ankunft die Hintereingänge zur Stadt zu nutzen, diesmal sollte der Weg sicher sein.“
Kurz schießt mir eine Erinnerung durch den Kopf, wie wir zuletzt diese Gänge nutzten: Die Karoper hatten uns am Ausgang aufgelauert und Raffa, einen jungen Krieger, umgebracht, da sie ihn mit Darihn verwechselten. Ich schüttle den Gedanken ab und lese weiter.
„Es ist schön zu hören, dass die Aufstände unter den Bürgern weniger geworden sind – ich weiß, ihr habt die Hoffnung, ich könnte durch meine Rückkehr auch noch die letzten Unruhen beseitigen, aber seid mir nicht böse, wenn ich euch nicht allzu viel Hoffnung machen kann. Ich bin mir sicher, Ihr seid einer der besten Thronhalter, den sich die Laokheni nur wünschen können. Viel mehr kann ich sicherlich auch nicht ausrichten, obwohl ich natürlich mein Bestes zur Unterstützung tun werde, wenn ich zurück bin.“
Ich unterbreche kurz meinen Vortrag, weil sich eine leichte Wut in meinem Körper breit macht, die ich gerne wieder unter Kontrolle hätte. Soll das etwa heißen, Darihn möchte sich nicht zum König krönen lassen? Will er etwa tatsächlich seiner Berufung entkommen und weiterhin den mutigen Krieger im Hintergrund spielen, wobei er den Ruhm und das Sagen im Endeffekt jemand viel Unfähigerem überlässt? Ich schüttle meine gereizten Gedanken ab, bevor ich mich fasse, um weiter zu übersetzen: „Da du ebenfalls über Visionen bezüglich einer Hochzeit zwischen Selima und einem Shezesah berichtet hast, sollten wir uns definitiv auf einen Krieg vorbereiten – dass es sich um den Fürsten des Nordens handeln könnte, macht die Angelegenheit erst recht nicht besser. Unser erster Ansatz sollte es jedoch sein, eine Verhandlung über eine Gesetzeserneuerung ins Leben zu rufen, auch wenn es nicht sehr wahrscheinlich ist, dass Kavala oder Palela sich mit einer friedlichen Lösung zufriedengeben werden. Die Schlangen sind von Natur aus durchtrieben und böse, und Palon wird es sich nicht nehmen lassen, seine Tochter zu rächen. Es tut mir leid, dass ich einer Heirat mit ihr nicht zugestimmt und somit mein Volk in Gefahr gebracht habe, aber ich hätte eine solche Verbindung nicht mit meinem Gewissen in Einklang bringen können. Hätte ich seinen Handel angenommen, würde ganz Adra nicht in solcher Gefahr schweben und eure Töchter hätten ebenfalls die Freiheit erlangt. Vielleicht sollte euch gerade dieses Beispiel zu denken geben, ob ich tatsächlich der geeignete Laokheni bin, um ein ganzes Königreich zu regieren. Vermutlich wäre jemand anderes besser geeignet, der es in allen Situationen schafft, Kopf über Herz zu stellen. Ich hoffe, Ihr verzeiht mir meine zweifelnden Worte, die vermutlich aus der belastenden Gesamtsituation herrühren.
Ihr seid ein treuer Freund und mit gutem Gewissen traue ich Euch weiterhin Mahrla und seine Bürger an. Bis zu unserer baldigen Rückkehr, Paro Darihn."
Was ist bloß los mit ihm? Ich weiß, er hat mir noch vor wenigen Stunden mein Herz gebrochen, aber er kann das alles trotzdem nicht ernst meinen. Darihn ist der stärkste und mutigste Mann, den ich kenne. Ich habe ihn so selbstbewusst kennengelernt, ich verstehe nicht, wieso er gerade in dieser wichtigen Sache so stark an sich zweifelt. Auch Jan und Laja schauen etwas missmutig drein, äußern jedoch keinen Kommentar. Stattdessen verschwimmt Lesajas Blick für wenige Momente und kurz darauf landet ein kleines weißes Vögelchen auf ihrer Hand, welches sogleich losflattert, nachdem wir das Schreiben an seinem Füßchen befestigt haben. Wieder einmal finde ich es erstaunlich, wie meine Schwester allein über ihre Gedanken mit dem kleinen Botenvogel kommunizieren kann, so wie sie den ganzen Wald und seine Bewohner versteht.
Kurze Zeit später kehrt Darihn mit ein paar Pflanzen und Knollen zurück, die er zusammen mit meiner Schwester über einem kleinen Feuer zubereitet. Immer wieder versuche ich, einen Blick des Laokheni zu erhaschen, doch der tut, als sei er komplett auf das Kochen konzentriert und würdigt mich keines Blickes. Ich bin hin- und hergerissen, ob ich lieber heulen oder ihn anschreien sollte, entscheide mich schließlich aber dafür, mich ein Stück von der Gruppe zu entfernen. Ich halte es einfach nicht aus, wie Darihn sich momentan mir gegenüber benimmt. Da ich mir der Gefahr in den Wäldern jedoch bewusst bin, lasse ich mich nur zwei Hecken weiter, geradeso aus dem Blickfeld der anderen, auf einem weichen, bemoosten Stein nieder. Es dauert nicht lange bis es hinter mir raschelt, doch ich beschließe, dem Krieger nicht die Genugtuung zu geben, mich nach ihm umzudrehen, als hätte ich bloß auf ihn gewartet. Er ist derjenige, der mich verletzt, also kann er sich auch ruhig ein wenig mehr bemühen als sonst. Als der Junge sich langsam neben mich auf den Stein sinken lässt, drehe ich schließlich doch den Kopf – und bin überrascht, Jan zu sehen. „Was machst du denn hier?“
Meine Frage klingt enttäuschter als beabsichtigt und mein Freund zuckt unter meiner Stimme leicht zusammen.
„Tut mir leid“, füge ich schnell etwas sanfter hinzu. „Das war nicht so gemeint.“
„Schon gut“, gibt Jannik mit einem Seufzen zurück. „Ich bin ja irgendwie schuld an der ganzen Situation.“
„Wie meinst du das?“ Fragend sehe ich in die tiefblauen Augen meines Freundes, die nervöser wirken als gewöhnlich.
,Beherrsch dich, Tahira, egal was er zu sagen hat', beruhige ich mich selbst – ich bin heute wirklich viel zu leicht reizbar.
„Naja, ich habe heute Morgen mit Darihn gesprochen."
Ich sehe ihn weiterhin mit skeptischem Blick an und warte auf eine Erklärung.
„Ich habe mich bei ihm entschuldigt, wegen des Kusses und weil ich mich nicht von dir fernhalten wollte.“
„Aber das war doch nett von dir", meine ich zögerlich, immer noch nicht ganz verstehend, worauf mein Freund hinaus möchte.
„Es war auch ehrlich gemeint", fügt Jan erklärend hinzu. „Nicht, weil ich es bereue oder weil es nicht schön war, sondern weil ich ihm Unrecht getan habe. Er hat leider anders reagiert als erwartet.“
„Ich bereue den Kuss auch nicht.“ Ich weiß nicht, aus welchem Teil meines Unterbewusstseins der Satz entsprungen ist, aber nachdem er einmal ausgesprochen ist, kann ich ihn nicht mehr zurücknehmen. Ich sollte nun wohl besser schweigen und Jannik weiter zuhören, in dessen Blick sich etwas wandelt, bevor er weiterspricht.
„Er meinte, dass unser Kuss vielleicht etwas Gutes hatte, dass ihm dadurch einiges klar geworden sei. Er sagte, dass er dich liebt, ihm aber bewusst ist, dass du nicht nur für ihn, sondern auch für mich Gefühle hast. Und dass ich gut auf dich aufpassen soll. Ich wusste da noch nicht, was er meint, und du hast mir ja auch noch nicht gesagt, was vorgefallen ist, aber ich kann es mir mittlerweile denken. Er will, dass wir zurückreisen, stimmt's?“
Ich nicke bloß, weiß nicht, was ich sagen soll. Es ist nicht Jans Schuld, dass der Prinz mich fortschickt, sondern meine eigene.
„Glaub mir, Tara, ich wollte nicht, dass so etwas passiert. Ich wollte wirklich, dass du glücklich wirst. Ich habe ihm auch gesagt, dass du für mich nicht so empfindest wie für ihn.“
Überrascht sehe ich meinen Freund an, der so hilflos wirkt in dem Versuch, sich zu rechtfertigen. Dabei bewundere ich ihn eigentlich für seine Worte. Ich weiß, dass ich mehr für ihn bin als nur eine Freundin und trotzdem hat er bloß an mein Glück gedacht, wollte mich einem anderen überlassen in der Hoffnung, dass es das ist, was mir guttut.
„Danke.“
„Wofür?“, fragt Jannik überrascht und ich muss einfach über seinen verdutzten Blick lächeln.
„Dafür, dass du der beste Freund bist, den man sich nur wünschen kann. Ich habe dich sehr lieb.“
Wenn mich nicht alles täuscht, wird Jans Blick tatsächlich ein wenig verlegen, bevor er mich in seine großen starken Arme schließt. Seine vertraute Wärme lässt mich für einen Moment alles Schreckliche vergessen, ich genieße bloß die Nähe dieses treuen Jungen, welche mir in meinem Leben schon so oft in schwierigen Zeiten Halt gegeben hat.
Als ich ein Knacken höre, löse ich mich von meinem Freund, sehe jedoch bloß noch ein grünliches Gewand im Dickicht verschwinden. Darihn muss uns beobachtet haben, wie lange, weiß ich nicht. Aber ich bin mir sicher, dass er viel zu viel hineininterpretiert, egal, wieviel er mitbekommen hat. Ich seufze. Ich wünschte, ich könnte nochmal mit ihm reden, aber der Laokheni ist stur, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Ich hoffe trotzdem, dass ich bald die Gelegenheit für ein Gespräch bekomme. Wir sollten auf keinen Fall in der momentanen Stimmung auseinandergehen.
,Aber vielleicht würdest du leichter über ihn hinwegkommen, wenn ihr euch in dieser Distanz trennt', flüstert mir eine unwillkommene Stimme in meinem Kopf zu. ,So oder so, du wirst nie über ihn hinwegkommen', folgt eine zweite leisere, die trotzdem alles zu übertönen scheint.
Das Essen verläuft weitgehend schweigend, wobei immerhin meine Schwester etwas fitter wirkt als noch vor wenigen Tagen. Der Abstand zu Palela scheint ihr erst mal gut zu tun, wobei ich mir jedoch fast sicher bin, dass sie ziemlich viel unverarbeiteten Schmerz mit sich herumträgt. Ich bin froh, wenn ich mal ein wenig Zeit mit ihr allein habe. Auf der einen Seite fürchte ich mich zwar davor, was sie von ihren Erlebnissen zu berichten hat, aber auf der anderen Seite weiß ich, wie erniedrigend Belästigung sein kann und möchte sie unbedingt trösten. Ich erinnere mich noch zu genau daran, wie der kräftige Karoper mich auf unserer Reise zu den östlichen Lagern angesehen und gegen meinen Willen angefasst hat. Und das, obwohl gar nicht allzu viel passiert ist, weil ich noch rechtzeitig Hilfe bekam. Wie viele belastende Gedanken muss dann erst meine Schwester mit sich herumtragen, die sowohl die Berührungen der palelanischen Soldaten als auch die von Palon selbst über sich ergehen lassen musste, um zu überleben.
„Wir werden hier übernachten“, reißt Darihn mich aus meinen Gedanken. Ich hatte kaum mitbekommen, dass es um uns herum bereits erheblich dunkler geworden ist, vermutlich, weil ich momentan gar nicht daran denken möchte, wie schnell die Zeit verrinnt. Jede Stunde, jede Minute scheint mich ein wenig mehr von Mahrla und dem hübschen, momentan so kühlen Krieger zu entfernen.
Der Prinz verschwindet nach dem Essen sofort wieder aus der Gruppe und ich verschwende diesmal keine Zeit, ihm zu folgen. Bald wird der Lao, der kleine Sichelmond, neben dem großen vollen Miro am Himmel stehen, unter dessen Licht sich alle Laokheni in Katzen verwandeln – ich sollte ihn also möglichst vorher zum Reden bringen. Ich bin überrascht, den jungen Krieger auf dem gleichen Stein vorzufinden, an dem ich wenige Zeit vorher mit Jan zusammensaß.
„Hast du auf mich gewartet?“, frage ich so neutral wie möglich, schaffe es jedoch nicht, einen kleinen Hoffnungsschimmer in meiner Stimme zu unterdrücken. Statt einer Antwort rückt Darihn ein kleines Stück zur Seite und obwohl ich vielleicht einfach umkehren und mir seine Stimmung nicht antun sollte, kann ich doch nicht anders, als mich neben ihn zu setzen. Ich bin ein wenig eingeengt und der schöne Laokheni sitzt so nahe bei mir, dass ich die Wärme seines Körpers spüren kann. Es ist nicht so, dass wir uns noch nie angefasst hätten, aber nun, da er innerlich so weit entfernt scheint, klopft mein Herz bei seiner physischen Nähe doch einige Takte zu schnell.
„Was willst du, Tahira?“ Seine Frage ist einfach und kurz, doch die Abweisung ist klar herauszuhören. Er war noch nie so zu mir. Fast lasse ich zu, dass mir Tränen in die Augen steigen, bei der Erinnerung daran, wie zärtlich und liebevoll er nur wenige Tage zuvor noch mit mir sprach. Als wäre ich das Einzige für ihn, das Wichtigste auf dieser Welt. Die traurige Erkenntnis huscht wie ein schwarzer Schatten über mein Gesicht: Ich habe wirklich geglaubt, dass es die Wahrheit ist. Dass er mich nie ersetzen oder verlassen würde. Dass er mich tatsächlich genau so sehr liebt wie ich ihn. Vielleicht hätte ich niemals mein Herz für diesen komplizierten und sogleich so anziehenden Jungen öffnen dürfen. Dann hätte er nie die Macht bekommen mich zu verletzen und vielleicht wäre ich sogar mit Jan glücklich geworden. Ich schüttle den Gedanken ah, als ich merke, dass Darihn immer noch auf eine Antwort wartet.
„Ich wollte mit dir über deine Entscheidung reden“, sage ich mit so selbstbewusster Stimme wie möglich.
„Da gibt es nichts zu reden“, erwidert der Prinz augenblicklich. „Es ist das Beste für alle.“
Ich erschrecke über die Schroffheit seiner Stimme, will aber noch nicht nachgeben. „Es verletzt mich, wie du mich behandelst, als wäre die ganze letzte Zeit bloß eine Lüge gewesen. Weißt du, wir haben so viel miteinander erlebt, wieso glaubst du, dass du mich ausgerechnet jetzt schützen musst? Hast du noch nicht bemerkt, dass wir zusammen stärker sind?“
Kurz sehe ich etwas in Darihns goldenen Augen aufblitzen, was mir Hoffnung gibt, doch als er antwortet, sind diese wieder so leer wie zuvor. Er schaut mich nicht mehr an und in diesem Moment wird mir klar, wie abhängig ich eigentlich von ihm bin: Es fühlt sich an, als würde etwas tief in mir zusammenbrechen, etwas, dass ich lange Zeit so gut geschützt habe und jetzt durch einen einzigen Menschen so einfach zerstört werden kann. Ich würde so viel für einen kleinen Funken Aufmerksamkeit von diesem Mann geben, für einen einzigen liebevollen Blick.
„Es war keine Lüge, Tahira, aber vielleicht war es Einbildung. Du weißt doch gar nicht, ob wir überhaupt zusammenpassen – das Einzige, was uns aneinanderbindet, sind schwierige Erlebnisse, die hätten jeden zusammengeschweißt. Du solltest an deine Familie denken und sie schützen, sie und Jannik brauchen dich. Ich komme sehr gut allein klar und will jetzt keine Ablenkung vom Wesentlichen."
Wow, das sitzt. Ich weiß nicht wie, aber ohne mein Zutun tragen mich meine Füße wieder über den Waldboden davon – keine Ahnung wohin, bloß so weit weg wie möglich. Ich weiß nicht, ob ich gerade Herr über meinen Körper bin oder ob ich von einer unsichtbaren Macht gesteuert werde, es fühlt sich auf jeden Fall so an, als sei ich Zuschauer der ganzen Szene. Ein hilfloser Betrachter eines Films, der die Handlung weder kontrollieren noch stoppen kann. Dummerweise kann ich noch nicht einmal den Fernseher abschalten, da es sich leider um die Realität handelt, also laufe ich. So weit weg, bis ich nichts mehr sehen kann. Bis mich niemand mehr sehen kann. Bis niemand mehr meine Tränen sehen oder mein sowieso fast lautloses Schluchzen hören kann. Bis die Umgebung zu diesem schrecklichen Einsamkeitsgefühl in meiner Brust passt. Er hat mich nie wirklich geliebt – ich habe es mir nur eingebildet.
Meine Gedanken drehen sich in einem endlos wirkenden Kreis, sind nicht zu sortieren. Ich sitze auf feuchtem Boden, spüre jedoch kaum die Kälte, die von unten immer tiefer in meinen Körper dringt, bis auf die Knochen. Die Dauerschleife meiner Gedanken wird nur sehr langsam von einem dunklen, alles einnehmenden Schwarz abgelöst, welches mir weder Frieden noch Ruhe schenkt. Stattdessen scheint es sogar immer lauter in meinem Kopf zu werden, Geräusche, die ich ewig nicht mehr gehört habe, vermischen sich mit wild durcheinander redenden Stimmen. Als ich die Augen aufschlage habe ich im ersten Moment keinerlei Orientierung, weiß nicht, wo ich mich befinde oder wie ich hierhergekommen bin. Ich liege auf einer ungemütlichen Bank aus geflochtenem Metall inmitten einer Menschenmenge – alle laufen durcheinander, niemand scheint Kenntnis von mir zu nehmen oder mich auch nur im Geringsten zu beachten, dabei könnte ich gerade so gut jemanden gebrauchen.
„Kann mir jemand helfen?", frage ich vorsichtig, und dann, als mir niemand antwortet, etwas lauter. Ich erschrecke kurz, als sich eine Hand von hinten auf meine Schulter legt, stelle jedoch mit Erleichterung fest, dass es sich um Jannik handelt. „Was tust du hier?", frage ich überrascht, aber glücklich darüber, vertraute Gesellschaft zu haben. Jan lacht auf, bevor er antwortet.
„Du scheinst tief geschlafen zu haben – hast du denn tatsächlich vergessen, wo wir sind?“
Ich sehe meinen Freund verwirrt an, doch der meint seine Frage scheinbar rhetorisch und wird von irgendetwas in der Menge abgelenkt.
„Komm schon, der Bus ist da“, meint er belustigt und reicht mir seine Hand, um mir aufzuhelfen. „Du willst doch nicht etwa unseren ersten gemeinsamen Urlaub verpassen.“
Wenn möglich fühle ich mich noch etwas verwirrter. Gemeinsamer Urlaub? Nachdem ich aufgestanden bin, drückt Jan mir plötzlich einen Kuss auf den Mund und ich bin so überrascht, dass ich ganz stillhalte. Ich will etwas sagen, doch er kommt mir zuvor.
„Ich bin so froh, dass wir die Vergangenheit endlich hinter uns gelassen haben und zusammen glücklich sein können.“
Ich spüre, wie es in meinem Kopf arbeitet, zwar viel zu langsam, aber immerhin verstehe ich, was vor sich geht. Ich bin mit Jannik zusammen. Ich befinde mich in der Zukunft. Auf der Erde, nicht in Mahrla. Jan wirkt ziemlich glücklich. Und ich? Ich weiß es nicht. Ich weiß bloß, dass ich einen Kloß im Hals habe als ich aufwache und mein Blick auf sommergrüne Baumkronen fällt, die von der aufgehenden Sonne angestrahlt werden. Werde ich tatsächlich all das hier hinter mir lassen können? Erst jetzt spüre ich das seltsame Kribbeln, das meinen ganzen Körper zu ergreifen scheint. Als ich an mir hinabsehe, verschwindet ein bräunliches Fell von meinem Körper und ich blinzle zweimal, um die Illusion abzuschütteln. Das kann nicht sein. Mein Blick bleibt einige Meter entfernt an einem weiteren Funkeln zwischen den Bäumen hängen und ich kann den schwarzen Kater bloß noch erahnen, als Darihn aus den Hecken hervortritt. Sein Blick wirkt erbost und fast fürchte ich mich vor ihm, als er mit lauter Stimme zu reden ansetzt.
„Wie kommst du einfach dazu, dich von der Gruppe zu entfernen? Das ist gefährlich und wir haben keine Zeit für sowas. Benimm dich bitte wie eine Erwachsene. Ich habe die halbe Nacht nach dir gesucht – also tu so etwas nie wieder!“
Obwohl der Laokheni in erzürntem Befehlston spricht, bricht seine Stimme am Ende ein wenig. Ob er sich Sorgen um mich gemacht hat? Nein, das kann nicht sein, beschließe ich traurig, als er sich ohne ein weiteres Wort umdreht und erwartet, dass ich ihm folge. So wie ich es immer getan habe. Und scheinbar immer noch tue.
Darihn läuft so schnell voran zu unserem Rastplatz, dass ich fast rennen muss, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Auch wenn der Krieger sehr wütend wirkt, bin ich doch froh, dass er mich gefunden hat – mir war gar nicht bewusst gewesen, wie weit ich mich von der Gruppe entfernt habe. Gestern Abend war es mir egal gewesen, ich hatte nur meinen Schmerz gefühlt und mich diesem egoistischen Trieb hingegeben. Ich hätte mich allein auf dem Rückweg sicher verlaufen und den anderen jede Menge Schwierigkeiten und Sorgen bereitet. Zumindest Jan und meiner Schwester, füge ich im Geiste traurig hinzu. Die beiden werfen mir auch gleich nach meiner Rückkehr einen besorgten Blick zu und kurz bereue ich meinen nächtlichen Ausflug. Ihr Mitleid sorgt bloß dafür, dass ich mich noch erbärmlicher fühle. Ich meine, welches gewöhnliche Mädchen kann wirklich glauben, dass ein so gutaussehender, mutiger und selbstbewusster Prinz für immer in sie verliebt sein, sie lieben würde? So absurd mir meine Überzeugungen nun im Nachhinein auch erscheinen, beschließe ich doch, sämtliche Selbstzweifel loszulassen – das macht es nicht besser. Ich versuche mich stattdessen auf den Wald und die Stille um uns herum zu konzentrieren, nehme im Geiste schon einmal Abschied von dieser wundersamen Welt und ihren Bewohnern. Immerhin habe ich noch meine Erinnerungen und egal was kommt, diese Momente kann mir niemand mehr nehmen, sie werden ewig bleiben.
Die Zeit bis zum Mittag, unserer ersten Rast des Tages, vergeht erstaunlich schnell, doch jetzt, als wir uns bei einer kleinen Baumgruppe niederlassen, werden meine positiven Gedanken wieder von der aktuellen Situation überlagert. Zum Glück machen sich die Jungs auf den Weg, um etwas Essbares zu suchen, sodass ich ein wenig Zeit allein mit meiner Schwester habe.
„Wie geht es dir?“, fragt Lesaja zögerlich und legt dabei ihren Arm um meine Schultern, so wie sie es früher oft getan hat, um mich zu trösten. Das letzte Mal scheint mir eine Ewigkeit her zu sein, dabei ist es jetzt gerade etwas mehr als ein Jahr. Ich hatte mich einsam gefühlt, weil Jan aufgrund einer neuen Liebschaft keine Zeit mehr für mich gehabt hatte, und andere richtige Freunde hatte ich nie wirklich. Wenige Tage später war meine Schwester verschwunden – ich hatte sie für tot gehalten, genau wie meine Eltern, aber es konnte ja niemand ahnen, dass sich meine Familie in einer geheimen Parallelwelt aufhält. Außer natürlich meine Tante Susanna, die mir diese Info bewusst vorenthielt. Deswegen kann ich ihr jedoch schon langer nicht mehr böse sein – sie wollte bloß das Richtige tun und mich schützen.
Laja betrachtet mich immer noch mit diesem sanften Blick aus ihren grünen Augen, welche wohl unsere größte Gemeinsamkeit darstellen, doch ich weiß, dass sie keine Antwort erwartet. Da wird mir wieder bewusst, wie sehr ich sie tatsächlich das letzte Jahr über vermisst habe.
„Wie geht es dir?", gebe ich ihre Frage zurück. Vielleicht kann Lesaja sich nun endlich ein paar Dinge von der Seele reden, bis die Jungs zurückkommen. Ich sehe die Unsicherheit, die die Sanftheit in ihren Augen überdeckt und ich kann mir nur grob vorstellen, wie schwer es sein muss, ihren Zustand und ihre Erlebnisse in Worte zu fassen.
„Ich habe Angst, Tara“, sagt sie schließlich leise und ich bemühe mich um einen aufmunternden Blick, nehme ihre Hand.
„Du bist nicht mehr in Palela, Laja. Wir werden bald wieder in Sicherheit sein – weder Palon noch seine Soldaten können dir jemals wieder etwas antun.“
Leider hat meine Aussage nicht die gewünschte Wirkung und meine Schwester schüttelt vorsichtig den Kopf, ihr Blick ist zu Boden gerichtet. Habe ich etwas Falsches gesagt?
„Das meine ich nicht“, erklärt Lesaja zögerlich. „Natürlich habe ich auch Angst, dass sich so etwas wiederholen könnte, dass ich Palon wieder begegne oder einfach diese widerlichen Erinnerungen immer wieder in meinem Kopf ablaufen, ohne dass ich sie stoppen kann. Aber ich habe etwas anderes gemeint.“
Ich habe keine Ahnung, worauf meine Schwester hinauswill, aber es scheint ihr ziemlich unangenehm zu sein, also warte ich ab, bis sie die richtigen Worte findet. In ihren Augen schimmern Tränen und sie beißt sich angespannt auf die Unterlippe, bevor sie zu einer Erklärung ansetzt.
„Ich habe meine Periode nicht bekommen.“
Ich weiß, ich sollte etwas antworten, aber in meinem Kopf arbeitet es zu angeregt, als dass ich eine passende Antwort finden könnte. Lesaja würde mir diese Info sicher nicht geben, wenn es sich um eine belanglose Unregelmäßigkeit handeln würde. Könnte sie tatsächlich schwanger sein? Von einem der Palelaner? Von Palon?
Bis ich meine Gedanken sortiert habe, hat meine Schwester ihre Tränen bereits weggeblinzelt. Ich weiß wirklich nicht, was dieses arme Mädchen noch alles mitmachen soll. Hätte es denn nicht gereicht, dass sie misshandelt wurde?
Immer noch unfähig etwas zu sagen, nehme ich Laja fest in den Arm. „Es wird alles gut werden“, flüstere ich so zuversichtlich wie möglich. „Es ist nichts sicher bisher. Wir müssen abwarten und egal was passiert, ich bin bei dir.“
Ich bin froh, dass Lesaja meine Umarmung erwidert, dass sie mich nicht wegstößt, weil mir keine passenderen Worte einfallen. Meine Schwester ist der stärkste Mensch, den ich kenne. Wenn jemand alles schaffen kann, dann sie. Und immerhin hat unser heimischer Planet auch ein paar Vorteile: Wenn wir auf der Erde sind, kann Lesaja einen Test machen und im Falle einer Schwangerschaft überlegen, wie sie damit umgehen will. Falls es bis dahin nicht schon zu spät ist.
Wir lösen uns erst wieder aus unserer Umarmung als es hinter uns laut knackt und ich blicke direkt in die verwirrten blauen Augen meines Freundes. Neben ihm fliegt ein bunter Vogel aufgescheucht davon. Jannik wundert sich scheinbar, was nun wieder los ist, aber man muss auch dazu sagen, dass er einer der neugierigsten Menschen ist, die ich kenne. Trotzdem bin ich mir sicher, dass meine Schwester ihre Theorie erst mal für sich behalten möchte und ich werde sicherlich nichts von unserem Gespräch ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis weitergeben. Mein Freund lässt uns zum Glück in Ruhe und Darihn ignoriert ja sowieso das meiste momentan.
Nach einem kurzen Imbiss brechen wir dann auch schon wieder auf. Ich bemerke, dass der bunte Vogel, den mein Freund vorhin aufgeschreckt hat, zurückgekehrt ist. Fast wirkt es so, als würde er uns folgen. Vorsichtig stupse ich meine Schwester an, um sie auf das Tier aufmerksam zu machen.
„Hast du den Vogel hinter uns bemerkt?“, flüstere ich vorsichtig, gerade so, als könnte er uns hören.
Überrascht schüttelt Laja den Kopf, und dreht sich kurz unauffällig zurück, um zu sehen, wovon ich rede.
„Seltsamerweise kann ich nicht mit ihm kommunizieren“, murmelt meine Schwester genauso leise und verwundert zurück. „Vielleicht kommt er nicht aus den Wäldern.“
Merkwürdig. Ich weiß, ich komme mir selbst ein wenig paranoid vor, dass ich mir Sorgen über einen Vogel mache, aber ich erinnere mich nur allzu gut daran, wie wir auf dem Weg zu den östlichen Lagern von feindlichen Tieren ausspioniert wurden. Die Magie Mahrlas ist zwar auf der einen Seite ein Segen, auf der anderen bietet sie so viele Möglichkeiten, dass man auch damit rechnen muss, dass sie zum Bösen eingesetzt wird. Als ich mich noch einmal umdrehe, ist der wundersame Vogel jedoch verschwunden und ich rede mir ein, dass ich mal wieder übertreibe. Nicht mehr lange, dann sind wir hinter den sicheren Stadtmauern Belasados. Noch als ich mir diesen Gedanken beruhigend einreden will, bleibt Darihn abrupt stehen.
„Was ist los?“, fragt meine Schwester und sieht sich hektisch nach allen Seiten um, doch auch ich kann keine Karoper oder andere Gefahren entdecken.
„Ich dachte, da wären Geräusche“, murmelt Darihn leise und skeptisch sehe ich den jungen Mann an – ich habe es noch nie erlebt, dass er sich in seiner Wahrnehmung getäuscht hätte.
„Kommt weiter“, meint der Laokheni mit autoritärer Stimme und uns bleibt nichts übrig, als ihm zu folgen. Trotzdem macht mich die Situation misstrauisch: Erst der Vogel, dann die Verunsicherung des Prinzen. Ich weiß nicht genau was, aber irgendetwas liegt in der Luft – wir sollten besser Augen und Ohren offenhalten. Der Krieger scheint auch etwas nervöser zu sein als noch zuvor, denn er beschleunigt sein Schritttempo. Nicht nur ich, sondern vor allem auch Lesaja hat einige Mühe zu folgen. Ich bin ein wenig sauer auf Darihn, dass er meiner Schwester, die nach ihrer langen Gefangenschaft noch nicht wieder ganz sicher auf den Beinen ist, einen solchen Gewaltmarsch zumutet, aber wir haben wohl keine andere Wahl. Dieses Abmühen ist immer noch besser als in die Hände der Feinde zu geraten.
Den ganzen Nachmittag über rechne ich fest mit einem Übergriff, doch es bleibt erstaunlich ruhig, fast schon unheimlich ruhig. Hin und wieder bemerke ich, wie sich Lajas Blick trübt. Sie scheint durch die Situation ebenfalls verunsichert zu sein und nimmt deshalb im Geiste Kontakt zu anderen Waldbewohnern auf, die uns warnen könnten, sollte sich Gefahr nähern. Vorausgesetzt natürlich, diese stellen nicht selbst die Gefahr da, denke ich sarkastisch.
Plötzlich bleibt Lesaja abrupt stehen und verwirrt sehe ich sie an. „Was ist los? Wurdest du gewarnt?“
Meine Schwester schüttelt den Kopf, bevor sie unsicher weiterläuft. „Ich dachte, die Stimme eines Vogels würde mir bekannt vorkommen, aber das kann ja gar nicht sein. Ich bin in meiner Zeit in Adra bisher ausschließlich Palelanern begegnet.“
Ich weiß, dass meine Schwester momentan noch ein wenig labil ist, es ist nicht ausgeschlossen, dass sie sich von Zeit zu Zeit mal etwas einbildet, was nicht real ist, doch trotzdem bleiben ihre Worte in meinem Kopf hängen. Wo könnte sie schon einmal die Stimme dieses Vogels gehört haben? Ist es vielleicht die eines Laokheni mit Wandlungsfähigkeit? Nein, das macht keinen Sinn. In Palela halten sich bestimmt keine Katzenmenschen auf, sodass Laja auch keine ihrer Stimmen wiedererkennen könnte.
Bis zum Abend marschieren wir noch ein gutes Stück und jeder scheint in seine eigenen Gedanken versunken zu sein.
„Ich gehe jagen“, meint Darihn, bevor wir auch nur einen Moment zur Ruhe gekommen sind. Ich frage mich, wo der Krieger diese endlose Energie hernimmt, aber vielleicht beruht sie einfach auf der Motivation, sich möglichst von mir fernzuhalten, aus welchem Grund auch immer. Das einzig Positive ist: Der Liebeskummer schlägt auf den Magen, was angesichts der Tatsache, dass wir sowieso zu wenig essen, einen kleinen Vorteil bringt.
Der Prinz ist schneller zurück als erwartet, Jannik hat gerade erst ein Feuer angezündet. Wir lagern heute etwas abseits des Waldes in einer halboffenen Steinhöhle, sodass der Feuerschein relativ gut verdeckt sein müsste. Falls die Karoper überhaupt vorhaben zuzuschlagen – es wirkt gerade eher so, als würden sie einen viel ausgereifteren Plan aushecken, immerhin hatten sie genug Möglichkeiten, uns anzugreifen. Aber Morgen werden wir sowieso die weiße Stadt erreichen und erst einmal sicher sein. Und wenn wir dann durch die Waldtunnel zurückgetaucht und wieder in unserem irdischen Zuhause sind, wird uns kein Bewohner Adras mehr etwas anhaben können. Dann sind wir wirklich sicher. Und einsam, füge ich im Geiste traurig hinzu, schüttle den Gedanken aber schnell ab: Auch ohne Darihns Liebe bin ich nicht einsam Ich habe Jan und meine Familie zurück – das ist mehr als ich mir je hätte erträumen können.
Mit der Dämmerung ist es erheblich kühler geworden, weshalb ich froh bin, mal wieder etwas Warmes zu mir nehmen zu können, ganz abgesehen natürlich von unserem gemütlichen Feuer. Wäre die Stimmung in der Gruppe etwas besser, würde die Situation wohl eine wunderschöne Atmosphäre schaffen.
„Geht schlafen, damit ihr morgen ausgeruht seid“, unterbricht Darihn meine Fantasie, bevor er sich mal wieder aus dem Staub macht. Es ist nicht ungewöhnlich, dass er nachts als Katze umherschleicht oder in den Bäumen übernachtet, aber es dauert sicher noch einige Zeit, bis der Lao aufgeht – früher haben wir diese Zeit gemeinsam verbracht. Unwillkürlich schießen mir ein paar Bilder durch den Kopf: Darihn im Mondschein, seine sanfte, raue Stimme, seine Lippen auf meinen, sein neckendes Grinsen, sein golden funkelnder Blick. ,I lavoa ti‘, hat er gesagt – ich liebe dich. Ich habe nie genug von ihm bekommen können. Ob wir jemals wieder solche Momente miteinander teilen werden? Wahrscheinlich nicht.
„Komm, Tara“, ruft Jan mich zu sich und meiner Schwester – ich hatte gar nicht bemerkt, dass die beiden es sich bereits auf dem weichen Moosboden neben dem Feuer gemütlich gemacht haben. „Du brauchst deinen Schlaf.“
Er hat recht, alles, was ich gerade brauche, ist Schlaf, keine Gedanken an Darihn, keine unnötige Hoffnung oder Trauer. Nur Schlaf und Kraft, um weiterzumachen.
Leider ist die Nacht jedoch nicht so erholsam wie erhofft – das mittlerweile bekannte Funkeln ergreift meinen Körper und in meinen Träumen wandle ich als braungetigerte Katze umher. Es fühlt sich seltsam an, ungewohnt, aber irgendwie auch cool. Ich teste meine neuen Fähigkeiten: Ich schleiche über vertrocknete Blätter, die eigentlich laut rascheln müssten, identifiziere kleine Tiere im Dickicht, klettere leichtfüßig Bäume nach oben, springe elegant über Äste. Als vor mir in der Baumkrone zwei goldene Augen aufleuchten, stoppe ich mitten in der Bewegung. Der majestätische, schwarze Kater sieht mich unentwegt an, doch ich will jetzt nicht zu ihm. Ich will nicht an ihn denken, ich will nicht, dass mich meine Sehnsucht nach Darihn sogar bis in meine Träume verfolgt. Also kehre ich um, springe über einen umgekippten Stamm, laufe schneller als ich es je konnte, ziehe mich an der Rinde nach oben in einen hohen Baum und schlafe im Schutze seiner dichten Krone friedlich ein.
Als ich die Augen aufschlage, befinde ich mich nicht mehr in einigen Metern Höhe, sondern auf dem moosigen Waldboden, auf welchem ich am Abend zuvor eingeschlafen bin. Ich könnte noch viel länger schlafen, aber die Sonne fällt genau in mein Gesicht und hält mich somit davon ab, wieder einzunicken. Als ich mich strecke, fühlen sich meine Muskeln seltsam steif an und es zieht an ungewohnten Stellen. Seltsam – habe ich vielleicht in einer komischen Position geschlafen?
„Wo warst du?“, unterbricht Jannik mein kraftloses Erwachen und ich sehe meinen Freund verwirrt an. Zum einen, weil er im Vergleich zu mir etwas zu munter wirkt, zum anderen, weil ich seine Frage nicht verstehe. Wo soll ich denn bitte gewesen sein? Ich ignoriere seine Frage und will stattdessen wissen, wo Darihn und Lesaja sind.
„Frühstück holen", meint Jan knapp und sieht mich mit diesem erwartungsvollen Ausdruck im Gesicht an. Hat er vielleicht etwas von meinem Traum mitbekommen und bezieht sich darauf?
„Ich weiß nicht, was du meinst", stöhne ich genervt, als er sich immer noch nicht abwendet.
„Du kannst mir nicht erzählen, dass du nichts von deinem nächtlichen Ausflug mitbekommen hast“, gibt mein Freund genervt zurück. „Du warst bestimmt mehrere Stunden verschwunden. Ich bin aufgewacht und du warst nicht da, das kannst du nicht abstreiten. Ich will nur wissen, wieso du nicht geschlafen hast und wo du warst.“
Wieso war ich nicht da?
Als Jan fertig geredet hat, beginnt es in meinem Kopf angestrengt zu arbeiten, doch ich kann mir seine Beobachtung nicht wirklich erklären. Dass ich als Katze durch die Wälder gestreift bin, war sicher nur ein Traum. Sonst wäre ich wohl kaum am gleichen Ort aufgewacht, an dem ich eingeschlafen bin. Es muss ein Traum gewesen sein – zum einen befinde ich mich definitiv nicht in der hohen Baumkrone, in welche ich vor Darihn geflüchtet bin, zum anderen bin ich nur eine halbe Laokhena, ich kann also gar keine Katzengestalt annehmen. Falls mein Traum aber doch Realität gewesen sein sollte, muss der Laokheni es mitbekommen haben. Vielleicht hat mich Darihn zurück zum Rastplatz gebracht? Kurz habe ich ein Bild von seinen starken Armen im Kopf, wie sie mich behutsam anheben, fest umschlossen halten und schließlich wieder behutsam ablegen. Wie er mir eine Strähne aus dem Gesicht streicht, während er mit seiner männlichen Stimme zärtlich „Schlaf gut, Pala" flüstert. Schnell vertreibe ich den Gedanken wieder. Selbst wenn mein nächtlicher Traum Realität war, kann es sich bei dieser Vorstellung nur um einen irrealen Wunschtraum handeln.
„Warst du bei ihm?", fragt Jannik jetzt ohne Umschweife, doch ich habe keine Möglichkeit zu antworten, denn in diesem Moment kehren Darihn und Lesaja mit einigen Früchten und Wurzeln zurück. Außerdem habe ich ja selbst keine wirkliche Antwort auf seine Fragen. Ich spüre, dass er wieder eifersüchtig ist, doch mit einem Blick zum Prinzen hake ich das als unbegründet ab: Darihn sieht mich nicht einmal an, geschweige denn, dass er etwas zu mir sagt. Ich glaube kaum, dass er sich wirklich so sanft um mich gekümmert haben soll und selbst, wenn ich die liebevollen Passagen aus meiner vermeintlichen Erinnerung streiche, erscheint es mir noch unrealistisch. Außerdem würde ich es bestimmt mitbekommen, wenn ich mich in eine andere Spezies verwandle. Oder?
Ich würde den Laokheni trotzdem gerne fragen, nur um sicher zu gehen, doch der wirkt so unnahbar, dass ich mir peinlich vorkomme, nicht selbst zu wissen, was letzte Nacht passiert ist. Dass ich fort war, kann ich wohl kaum abstreiten, es sei denn Jan halluziniert jetzt ebenfalls. Ich glaube, es wäre mir lieber, der Prinz würde mich anschreien, anstatt zu schweigen, aber vielleicht hat er ja gar nichts mitbekommen. Lesaja hat schließlich auch nichts bemerkt. Seit unserem Gespräch am Vortag hat sie sowieso kaum geredet und als Darihn wortlos weiterläuft, tut sie es ihm in geringem Abstand gleich. Ich seufze, bevor ich mich gemeinsam mit Jannik aufraffe, der immer noch eine beleidigte Schnute zieht – bestimmt denkt er, ich hätte Geheimnisse vor ihm, dabei wüsste ich doch selbst gerne mehr.
Es dauert nur wenige Stunden bis mir die Umgebung etwas vertrauter vorkommt, doch die Erkenntnis, dass es nicht mehr lange dauern kann, bis wir ankommen, ist mit gemischten Gefühlen verbunden. Ich freue mich, wenn meine Schwester und wir anderen endlich wieder in Sicherheit sind. Ich freue mich, meine Eltern, Perkoll und Susanna wieder zu sehen. Und ich fürchte mich davor, loszulassen, Mahrla und Darihn.
Unabhängig davon wundere ich mich bei jedem Stück, das wir sicher vorankommen, mehr, dass wir noch nicht überfallen wurden oder ähnliches. Entweder die Karoper wurden tatsächlich schon größtenteils vertrieben und eingesperrt oder aber unsere Route ist sehr glücklich gewählt. Was auch immer es ist, ich sollte mich wohl eher über das reibungslose Vorankommen freuen, anstatt mir Sorgen zu machen – das tue ich sowieso zu oft. Der Gedanke klingt noch nach als wir wenige Zeit später die weiße Stadt in einiger Distanz ausmachen können. Sie ist in einen hohen Berg eingehauen und funkelt majestätisch in der Mittagssonne. Wie geplant nähern wir uns an der Bergrückseite, um die versteckten Hintereingänge zu nutzen – schon von einiger Entfernung mache ich die Holztür in dem marmornen Stein aus, die kaum zu ihrer Umgebung zu passen scheint und zudem unangenehme Erinnerungen in mir weckt. Ich sehe vor meinem geistigen Auge noch einmal die Szene, wie der junge Krieger Raffa von einem karopischen Schwert durchbohrt wird, weil unsere Feinde ihn für Darihn halten. Ich hatte so nahe bei ihm gestanden und das Blut aus seiner Wunde fließen sehen – ich bin erleichtert, dass dieses auf dem hellen Boden mittlerweile wenigstens nicht mehr sichtbar ist. Ob es jemand weggewischt hat?
Das laute Rumpeln der Tür, als Jan diese aufstößt, lässt mich vor Schreck zusammenfahren. Mein Freund lacht kurz auf, doch ich werfe ihm bloß einen bösen Blick zu – die Situation ist ja wohl ziemlich ernst. Als wir nach drinnen treten, schlägt uns kühle, trockene Luft entgegen und augenblicklich läuft mir eine Gänsehaut über den Körper – zum einen aufgrund unseres letzten Besuches, zum anderen, weil ich mich an die sonnenwarme Waldluft gewöhnt habe. Auch Laja guckt nicht begeistert drein und die kann kaum etwas von der Geschichte dieser Gänge wissen. Aber das Wirrwarr aus möglichen Wegen an sich ist schon einschüchternd genug – ich bin froh, dass Darihn die Orientierung hat und vorausgeht. Und noch glücklicher bin ich darüber, dass am Eingang an der Wand eine Fackel hängt, die Jan abnimmt und anzündet – ganz ohne Licht wäre der Weg wohl kaum zu finden, wobei zumindest drei von uns immerhin mit Katzenaugen ausgestattet sind.
Wir winden uns nacheinander die Gänge und Stufen nach oben, wobei der Fackelschein gespenstische Schatten an die Steinmauern wirft. Nach einer guten Strecke wird die Luft plötzlich ziemlich klamm, ich bemerke Pfützen am Boden und feuchtes Moos an den Wänden. Wie das Wasser wohl nach hier drinnen gekommen ist? Ein kleines Rohr, aus dem es in einem gleichbleibenden Rhythmus tropft, lugt an einer Stelle aus der Wand und beantwortet meine Frage: Das Wasserleitungssystem unter Belasado muss wohl irgendeinen Defekt haben.
„Die Rohre und das Wasser sind Absicht“, erklärt Darihn plötzlich in die Stille hinein und unwillkürlich zucke ich beim Klang seiner Stimme zusammen. Er hat lange nichts gesagt und dann muss er ausgerechnet jetzt auch noch meine Gedanken beantworten, mich an diese Verbindung zwischen uns erinnern, die von Anfang an da war. Auch wenn es nur um Abflussrohre geht. Ich weiß nicht, ob ich etwas sagen soll, aber zum Glück bleibt mir das erspart, weil Jannik im nächsten Moment neugierig nachfragt, weshalb das so sei.
„Für den Fall, dass Laokheni hier eingeschlossen werden oder sich verstecken müssen, wird zumindest die Wasserversorgung sichergestellt. Es gibt auch einige kleine Kammern unter der weißen Stadt, die mit unverderblichen Lebensmitteln für den Notfall gefüllt sind.“
Ob diese Einrichtungen jemals genutzt werden mussten? Vermutlich schon, sonst würden sie wohl kaum existieren. Bei dem Gedanken, hier unten eingesperrt zu sein, läuft mir erneut ein Schauer über den Körper und schnell konzentriere ich mich wieder auf den Weg und unser Ziel, so schnell wie möglich wieder ins Freie zu gelangen. Als es auf einmal neben mir knackt und dann laut raschelt, springe ich erschrocken ein Stück zurück und ausgerechnet an Jan, der durch den Schrecken die Fackel fallen lässt – welche natürlich mitten in einer Pfütze landen muss. Im letzten Lichtschein sehe ich ein rattenähnliches Tier vorbeihuschen und höre Lesaja ein schwaches „oh nein“ piepsen. Das hat gerade noch gefehlt. Wieso kann ich nicht besser aufpassen? Ich bin erleichtert, dass Darihn keinen gehässigen Kommentar fallen lässt, aber das ist vermutlich auch nicht nötig, um mich zu strafen – dafür reicht unser weiterer, unbeleuchteter Weg aus.
„Tut mir wirklich leid“, flüstere ich beschämt, bevor wir weiterlaufen, und richte mich damit vor allem an Jannik, der in dieser Schwärze am schlechtesten sieht. Mein Freund murmelt leise ein „schon gut“, bevor er in der nun völligen Finsternis seine Hand in meine schiebt, um mich nicht zu verlieren. Meine Augen gewöhnen sich zum Glück nach einigen Sekunden wenigstens etwas an die Dunkelheit und ich führe meinen Freund so gut ich kann vorwärts, hinter den anderen her. Lesaja wundert sich noch eine Zeit lang über die Tatsache, dass sie wieder etwas erkennen kann, aber sie hat ihre Katzenaugen schließlich auch noch nie ausprobiert – ich nehme sowieso an, dass unsere sämtlichen laokhenischen Fähigkeiten bloß in Adra wirken, nicht jedoch auf der Erde.
Ohne Licht kommt mir der Weg noch viel länger vor und es ist ein seltsames Gefühl, dass Jannik komplett von mir und meiner Führung abhängig zu sein scheint. Es erinnert mich daran, wie wir uns früher als Kinder mit verbundenen Augen durch den Wald geführt haben – es war als Spaß gemeint, doch häufig ist es eher in einen Vertrauenstest ausgeartet, wenn wir uns rückwärts fallenließen oder kleine Hügel nach unten sprangen in dem festen Glauben, der andere würde uns auffangen. Ich bin froh, dass wir diese tiefe Basis zwischen uns haben, ganz unabhängig von der momentanen Situation. Normal vertraue ich keinem Menschen auf Anhieb, mein Vertrauen in Jan ist über viele Jahre gewachsen. Darihn war eine Ausnahme – vielleicht hätte ich mich auch bei ihm besser an mein gewöhnliches Misstrauensmuster gehalten. Aber jetzt ist es zu spät. Ich drücke fest Janniks Hand und bin einen Moment unglaublich froh, mir über unsere tiefe Verbundenheit sicher zu sein. Egal was passiert, ich weiß, dass wir immer füreinander da sein werden.