Kein letzter Akt - Andrea Gerecke - E-Book

Kein letzter Akt E-Book

Andrea Gerecke

4,9

  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Eine insgeheim von Insolvenz gezeichnete Theatergruppe mit namhaften Darstellern bespielt in diesem Jahr die Freilichtbühne unterhalb der Porta Westfalica. Als ein markerschütternder Schrei an jenem milden Sommerabend die Stille durchschneidet, glauben alle Besucher der ausverkauften Premiere an einen starken Einstieg nach der Pause. Doch plötzlich setzt auf der Bühne ein lebhaftes Durcheinander ein und Regisseurin Patricia Petersen erklärt die Aufführung für beendet. Hauptdarsteller Stefan von Sangerhausen, bekannt aus einer Daily Soap im TV, wird leblos im Hinterland des Freilichttheaters gefunden. Er galt als Hochstapler und Heiratsschwindler. Ein Mordmotiv? Die Ermittlungen der Sonderkommission „Bühne“ nehmen Alexander Rosenbaum voll in Anspruch. Da hat ihm der in den Ruhestand versetzte Wolfhard Schmidt, der mit der Hundemafia konfrontiert wird, gerade noch gefehlt.

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Seitenzahl: 352

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Inhalt

Titelseite

Impressum

Über die Autorin

Widmung

Mafia

Schnürboden

Einstand

Insolvenz

Theater, Theater ...

Einsatz

Overdressed

Sonderkommission

Wespennest

Depression

Durchsuchung

Wühltischwelpen

Dienstreise

Nacktfotos

Gewissen

Fundstücke

Arbeitsbeginn

Herausforderung

Krankenhausreif

Danksagung

Andrea Gerecke

Kein letzter Akt

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

© 2016 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Carsten Riethmüller

Der Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com

Porträtfoto: Karin Jakob

eISBN 978-3-8271-9795-5

EPub Produktion durch ANSENSO Publishing

www.ansensopublishing.de

Die Romanreihe spielt direkt am Treffpunkt von Weser- und Wiehengebirge im Nordrhein-Westfälischen. Malerisch liegt das mittelgroße Städtchen an der Weser, die beide Erhebungen teilt oder vereint. Je nachdem, aus welcher Perspektive man das betrachtet. Alle Handlungen und Charaktere sind natürlich frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten ergeben sich also rein zufällig. Regionale Wiedererkennungseffekte sind indes erwünscht …

 

Über die Autorin:

 

Gebürtige Berlinerin mit stetem Koffer in der Stadt. Studierte Diplom-Journalistin und Fachreferentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Kurz vor dem Jahrtausendwechsel Entdeckung der Liebe zum Landleben mit den dortigen kreativen Möglichkeiten. Umzug ins vorletzte Haus an einer Dorfstraße in NRW (Ostwestfalen). Arbeit als freie Autorin und überregionale Journalistin. Literarische Spezialität sind mörderische Geschichten, in denen ganz alltägliche Situationen kippen. Nach den Gutenachtgeschichten für Erwachsene „Gelegentlich tödlich“ folgten „Warum nicht Mord?!“ und „Ruhe unsanft“.

Ab 2011 die Minden-Krimis innerhalb der Weserbergland- bzw. Niemeyer-Krimi-Reihe mit Kommissar Alexander Rosenbaum:

2011 „Mörderischer Feldzug“

2012 „Der Tote im Mittellandkanal“

2013 „Die Mühlen des Todes“

2014 „Tödliche Begegnung im Moor“

2015 „Finales Foul“

Dazu gesellen sich humoristische und satirische Texte, Prosa und Lyrik sowie im Jahr 2015 „Weihnachtsgeschichten aus dem Weserbergland“. Veröffentlichungen in zahlreichen Anthologien, Zeitungen und Zeitschriften. Mitglied der Mörderischen Schwestern und des Syndikats sowie des Leitungsteams der Mindener Lesebühne. Literaturnetzwerkerin und -organisatorin.

Siehe auch: www.autorin-andrea-gerecke.de

Was wär ich

ohne dich,

Freund Publikum?

All mein Empfinden Selbstgespräch,

all meine Freude stumm.

(Johann Wolfgang von Goethe)

Mafia

Alexander zuckte zusammen, als die Tür seines Büros plötzlich aufsprang und geräuschvoll an den Schrank dahinter schlug. Im Rahmen eine große, kräftige Gestalt, die er nicht auf Anhieb erkannte. Dennis Sommer schaute leicht irritiert in dieselbe Richtung.

Bis eben hatten beide Männer noch, ins Gespräch vertieft, konzentriert auf den Bildschirm des Computers geschaut, Alexander von seinem Schreibtischsessel aus und sein jüngerer Kollege stehend daneben.

Die Lampe auf dem Tisch erhellte nur einen engen Bereich. Der Gast stand im Dunkeln.

„Junge, das ist ja so was von finster bei euch! Gibt es mal wieder neue Auflagen von oben? Müsst ihr etwa Strom sparen ...?“

„Wolfhard?“

„Na, wer denn sonst. Moin erst mal allerseits.“

„Bisschen spät für einen guten Morgen“, entgegnete Alexander, blickte auf die Zeitangabe am Bildschirm, die ihm kurz nach 21 Uhr vermeldete, und kniff die Lippen zusammen. Das wollte er eigentlich gar nicht gesagt haben.

Aber so langsam keimte doch Freude in ihm auf. Er erhob sich, umrundete den Schreibtisch und breitete seine Arme aus.

„Womit hab ich das verdient, dass du mich beehrst, lieber Wolfhard?“

Alexander musterte seinen ehemaligen Mitarbeiter nun doch gründlich von oben bis unten. Der trug ein wirklich schickes blau kariertes Hemd und modische Jeans.

„Sag mal, bist du das tatsächlich oder ist es dein jüngerer Bruder?“

Wolfhard setzte ein breites Grinsen auf.

„Klar doch, ich bin’s. Allerdings nicht mehr ganz so schwergewichtig wie bei unserer letzten Begegnung ... Beziehungsweise hat sich der Speck in Muckis umgewandelt, dank tatkräftiger Unterstützung!“

„Warte mal, das war ... das war: bei deiner Verabschiedung! So lange ist das schon her?! Ich kann es gar nicht glauben!“

Es klang ein wenig traurig und Alexander schüttelte fast bedächtig den Kopf.

„Na, an mir hat es nicht gelegen“, entgegnete Wolfhard mit leicht vorwurfsvollem Unterton. „Du hast ja am Telefon immer Termine vorgeschoben, als ich verschiedentlich Treffen vorschlug. Manchmal hatte ich fast den Eindruck, dass du dich verleugnen lässt, wenn ich gar nicht zu dir durchdringen konnte!“

Dann winkte er mit einer Hand ab.

„Aber das ist Schnee von gestern. Willst du mich nicht mal vorstellen?“

Wolfhard schaute zu Dennis, der ihn schon die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen hatte, scheinbar unbeteiligt danebenstand, aber nervös die Finger rieb.

„Sorry, ich bin so was von unhöflich. Also. Das hier ist Dennis Sommer, dein Nachfolger“, sagte Alex und wies auf den jungen Kollegen, der gemessen an Wolfhard äußerst schmächtig wirkte. Außerdem war er nur knapp über eins siebzig groß, wenn er die Schuhe mit den dicken Sohlen trug, was heute nicht der Fall war.

„Und das hier“, fügte Alexander an, indem er Wolfhard mit einem Arm umschlang und ihn an sich drückte, „ist mein alter Kampfgefährte Wolfhard Schmidt, der sich unlängst in den berühmt-berüchtigten Unruhezustand verabschiedet hat.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen“, erwiderte Dennis betont höflich. „Alexander hat schon viel von Ihnen erzählt. Sie müssen ein super Gespann gewesen sein.“

Auf Wolfhards Gesicht, das von deutlicher Frische gezeichnet war, legte sich statt der kurz aufgekeimten Skepsis nun ein Lächeln.

„Hat er das? Na, das freut mich aber sehr zu hören.“

„Ich lass euch am besten allein“, schlug Dennis vor. „Ihr habt bestimmt eine Menge zu bereden. Und das hier kann eigentlich auch bis morgen warten, glaube ich ...“

Er wies auf einen Stapel Akten, die auf Alexanders Schreibtisch lagen.

„Stimmt“, entgegnete Alex, „unseren Bericht liest heute sowieso niemand mehr. Ich habe gar nicht gemerkt, wie spät es schon geworden ist. Dann mach dich mal auf die Socken, Dennis. Schönen Feierabend wünsche ich dir noch und beste Grüße an deine Frau.“

Er unterbrach kurz und legte dann nach.

„Sei morgen pünktlich um acht im Büro. Du weißt ja, unsere Lagebesprechung!“

Dennis nickte Wolfhard noch grüßend zum Abschied zu, verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. Feierabend, was für ein Feierabend?, dachte er mit einem Stoßseufzer, als er die Hände tief in den Hosentaschen vergrub und über den Flur lief.

Alexander hatte sich inzwischen wieder hinter seinen Schreibtisch gesetzt, Wolfhard auf einen Stuhl davor, den er sich zurechtgerückt hatte.

„Wie immer der übliche Überstundenmarathon?“, erkundigte sich Wolfhard und Besorgnis lag in seiner Stimme. „Du machst den Eindruck, als ob du dringend Erholung gebrauchen könntest ...“

Dass sein einstiger Vorgesetzter käsig und grau aussah, wollte er ihm nicht so direkt sagen, außerdem würde er ja wohl gelegentlich selbst in den Spiegel schauen, meinte er bei sich.

Alex zuckte mit den Schultern und rekelte sich im Anschluss ausgiebig, während er dazu heftig gähnte.

„Sorry.“ Er hielt sich die Hand vor den Mund. „Du weißt ja, wie das ist. Das klassische Dilemma. Kann man nichts machen. Aber sag mal, wie kommt es, dass du so fit und durchtrainiert aussiehst? Das hast du die ganze Dienstzeit über, wo ich mit dir zu tun hatte, nicht gepackt. Ich kann mich eher noch an die eine oder andere Speckfalte erinnern und dein Japsen, wenn wir mal gemeinsam Sport gemacht haben. Hat dich deine Rita daheim auf Diät gesetzt ...?“

„Dein Charme ist mal wieder unschlagbar.“

„Kennst mich ja. Bin eben wie gewohnt direkt.“

„Die typische Berliner Masche“, knurrte Wolfhard versöhnlich. „Und im Grunde hat sie mir richtig gefehlt. In meinem häuslichen Umfeld gibt es das leider gar nicht. Und wenn ich es mal versuche, dann stoße ich immer auf Granit. Die sind alle so bierernst. Überhaupt keinen Humor, die Ostwestfalen ...“

„Wollen wir nicht noch irgendwo auf ein Bierchen hin, natürlich alkoholfrei. Ich nehme mal an, du bist mit dem Auto hier?“

„Ja, schon, aber nicht allein“, druckste Wolfhard.

„Wieso? Sitzt etwa deine Rita unten mutterseelenallein im Auto? Seid ihr unzertrennlich geworden?“, lachte Alex.

Jetzt stimmte Wolfhard ein.

„Nein, nicht Rita, aber Gonzo.“

„Wer ist das denn?“, wollte Alexander wissen und witzelte: „Habt ihr noch Nachwuchs auf eure alten Tage bekommen? Jetzt, wo ihr doch endlich genügend Zeit dafür hättet ...“

„Junge, Junge, du machst es einem aber nicht einfach, gelassen zu bleiben“, zog Wolfhard die Stirn kraus. „Gonzo ist ein Airedale Terrier, sieben Monate alt, und er hält uns auf Trab. Ist der Garant dafür, dass ich jetzt so eine gute Figur abgebe. Wir konnten uns seine Anschaffung erst jetzt, nach Beendigung meiner Dienstzeit, leisten. So ein Vierbeiner ist nämlich ein Rudeltier und akzeptiert das Alleinsein nur vorübergehend.“

„Aha, daher weht der Wind. Deshalb siehst du so fitnessstudiomäßig aus. Das nämlich hätte ich dir auch im Rentnerdasein nicht zugetraut, dass du dir inmitten lauter Sportbesessener einen abstrampelst. So im schicken Label-Outfit. Aber ein Hund ist ja super: spürt Verschüttete auf, ortet Sprengstoff und Drogen, führt Blinde, warnt Diabetiker vor Unterzuckerung!“

Spontan waren Alex allerlei praktische Vorzüge eingefallen. Dann fuhr er fort: „Hast du ein Bild von ihm dabei?“

Die Bemerkung, dass er mehr auf Katzen als auf Hunde stand, weil ihm Letztere zu unterwürfig vorkamen und er mehr den selbstständigen Willen seines Katers Albert schätzte, verkniff sich Alexander.

„Selbstverständlich!“, zückte Wolfhard sein Smartphone und hatte mit wenigen Fingerwischern ein passendes Foto rausgesucht und auf Bildschirmgröße optimiert. Der Hund schaute neugierig mit großen, dunklen Augen in die Kamera, seine Ohren hingen angewinkelt herunter, das relativ kurze Haar kräuselte sich in satten Braun- und Schwarztönen. Er saß in seinem Korb auf einer roten Decke, auf der mit schwarzer Schrift „World Champion“ stand.

„Hier“, hielt Wolfhard das Gerät über den Tisch.

„Wusstest du übrigens, dass am 10. Oktober alljährlich der Welthundetag begangen wird?“

„Oh, ist der aber hübsch“, kommentierte Alexander spontan und ehrlichen Herzens. Was den Welthundetag anging, so dachte er nur daran, dass auch mal ein solcher internationaler Tag für Menschen und deren Schutz angebracht wäre, aber vielleicht gab es den ja sogar schon ...

„Sollte ich jemals in meinem Leben auf den Hund kommen wollen, dann würde ich genau so einen auch nehmen wollen. Waren die nicht irgendwann mal sogar als Polizeihunde im Einsatz?“

„Exakt! Sind in Großbritannien allerdings einst für die Fischotterjagd gezüchtet worden und nun muss ich immer aufpassen, wenn ich mit ihm an der Bastau spazieren gehe. Nicht, dass meine Rita demnächst eine Pelzstola bekommt! Wobei das schon ein sehr außergewöhnliches Weihnachtsgeschenk wäre. Ha, ha ...“

Wolfhard bog sich vor Lachen und Alexander ließ sich anstecken.

„Mensch, du hast mir so gefehlt“, sagte Alex wehmütig.

Dass Dennis in der Nachfolge Wolfhard das Wasser nicht reichen konnte, verschwieg er, obwohl er gern darüber geredet hätte. Aber vielleicht doch nicht an diesem Ort und auch nicht zu Wolfhard. Man wusste ja nie, bei wem der sich nun wiederum mal verplapperte, zumal er doch einen großen Bekanntenkreis hatte. Außerdem war der Junge erst seit relativ kurzer Zeit in der Dienststelle. Möglicherweise sollte er ihm noch eine Chance zum Eingewöhnen geben.

„Du mir aber auch. Um noch einmal an die Fischotter anzuknüpfen“, fuhr Wolfhard fort, „so abwegig ist das gar nicht. Der elegante Wassermarder galt zwar jahrzehntelang bei uns in NRW als ausgestorben, aber vor einiger Zeit fanden sich erste Spuren im Münsterland. Hat natürlich für Aufregung bei Säugetierforschern und Naturschützern gesorgt. Inzwischen gibt es sogar bei uns im Kreis Minden-Lübbecke Nachweise von dem sogenannten Rückkehrer ...“

Alexander weitete die Augen, biss sich aber auf die Lippen, um sich einen Kommentar zu verkneifen. Ihm fiel nur was ein, von wegen Wolfhard könne ja Futter sparen, wenn sich sein Hund bei den Ottern allein versorgen würde, aber es schien ihm doch zu ironisch und nicht angemessen. Immerhin freute sich sein Exkollege deutlich. Dann setzte Alex beim eigentlichen Thema wieder an.

„Und weshalb hat es dich ausgerechnet heute hierher verschlagen?“

„Wegen der Hundemafia!“

„Weswegen?“

Alexanders Stimme schwang sich eine Oktave höher.

„Brauchst gar nicht nachzufragen. Du hast schon richtig verstanden.“

„Meinst du das ernst?“

„Ja, vollkommen! Weil ich im Zusammenhang mit der Anschaffung unseres kleinen Rackers – natürlich über einen seriösen Züchter aus Bielefeld, der uns von den Nachbarn empfohlen worden war – auf ganz katastrophale Zustände gestoßen bin. Ich habe auch schon in der Richtung ein Stück weit ermittelt, allerlei Beweismaterial zusammengetragen und würde jetzt dringend deine kompetente Unterstützung benötigen, weil ich allein in dieser Sache nicht weiterkomme. Es ist wie verhext.“

„Hm.“

Das klang eher nach Ablehnung.

„Was, hm? Ja? Kann ich auf dich bauen?“

„Du weißt schon, dass du hier bei der Kripo bist und es geht ja wohl nicht um einen ermordeten Hund ...?“

Alexander setzte ein schelmisches Lächeln auf. Er wollte seinen ehemaligen Kollegen auch nicht vor den Kopf stoßen.

„Spaß beiseite, Alex. Das ist eine ungeheuerliche Angelegenheit, du wirst mir zustimmen müssen, wenn ich dir die Details berichte ...“

Wolfhard blickte jetzt regelrecht unwirsch.

„Über die wir sicher mal bei passender Gelegenheit reden können“, lenkte Alexander ein und schlug im selben Atemzug vor: „Ich hätte jetzt direktemang Zeit, weil die Mädchen in guten Händen sind. Heike hat sie heute von der Schule abgeholt und gleich im Anschluss was mit ihnen unternommen ...“

„Aha! Unsere Lieblingskollegin von der Spusi.“

„Nichts aha! Die Mädchen mögen sie eben sehr gern. Außerdem sind wir lediglich Freunde, gute Freunde! Nach wie vor!“

„Das ist aber schade“, murmelte Wolfhard.

„Was meinst du?“

„Ach, nichts. Bei mir klappt es heute nicht, wegen Gonzo. Bislang habe ich noch keinen Gaststättenbesuch mit ihm getestet. Das steht uns demnächst als Training bevor. Aber schau doch mal in deinen Terminkalender, wann du mich dazwischenschieben kannst! Möglichst zeitnah, wenn ich bitten darf. Die Sache eilt schließlich! Es geht um Leben und Tod!“

„Bin schon dabei“, sagte Alexander, schaute auf seinen Computerbildschirm und ging mit suchendem Blick die folgenden Tage im Kalender durch. „Nächsten Montag, 19 Uhr. Könntest mich von der Dienststelle abholen, wenn dir das auch passt“, schlug Alex vor.

„Prima Idee. So machen wir das. Trag das bitte sofort ein, damit sich nicht wieder was dazwischendrängelt. Und jetzt fahr mal deine Technik runter und komm mit zu meinem Auto, dann kann ich dir unseren Familienzuwachs wenigstens kurz vorstellen.“

Wolfhard fügte mit einem abschätzenden Blick auf Alexanders Garderobe noch an: „Musst nur mit deinen Sachen aufpassen. Er ist halt etwas stürmisch bei Fremden, eine Frage des Alters!“

Mit wenigen Tastenschlägen hatte sich Alexander aus dem Computersystem verabschiedet.

„Mach mal das Oberlicht an“, forderte er Wolfhard auf, der schon aufgestanden war und sofort zum Schalter griff. Im selben Augenblick ging die Schreibtischlampe aus, die Alex deaktiviert hatte. Er erhob sich, sorgte am Ausgang wieder für Dunkelheit, beide Männer verließen den Raum und Alex verschloss die Tür hinter ihnen.

„Sag mal“, fing Alexander jetzt an, „ich wollte dich das vorhin nicht im Beisein von Dennis fragen. Wie bist du eigentlich um diese Zeit ins Haus und bis vor meine Tür gekommen? Du hast doch gar keine Berechtigung mehr?“

Wolfhard zwinkerte ihm im Gehen zu.

„Habe gerade mit dem Auto eine Biege gedreht und irgendwie will das immer wieder an meinem alten Arbeitsort vorbei, kann ich mir überhaupt nicht erklären. Irgendwas mit magischer Anziehungskraft ... Als ich dann ganz langsam fuhr, habe ich erstens deinen Wagen ganz vorn auf dem Parkplatz stehen sehen. Das schien mir ein deutlicher Fingerzeig und ich wollte es zweitens einfach mal probieren. Dann habe ich mein Auto ebenfalls abgestellt und du glaubst nicht, wer an der Schleuse Dienst hatte ...“

„Na, wer?“

„Heidemarie! Meine gute, alte Lieblingskollegin!“

„Von denen hattest du aber mehrere, wenn ich mich recht erinnere.“

„Genau. An so etwas arbeitet man beharrlich über viele Jahre hinweg! Jedenfalls haben Heidemarie und ich kurz geplaudert, über Gott und die Welt. Ich habe mich nebenher mal nach dir erkundigt und sie meinte, du würdest eben wie gehabt Überstunden schieben, inklusive dem Neuen. Noch bevor ich aber meine Frage loswerden konnte, stand schon Dagmar hinter mir und hielt mir die Augen zu. Ich solle mal raten, hat sie gemeint ...“

„Bei deiner gepriesenen Menschenkenntnis hast du natürlich sofort die Stimme herausgehört.“

„Ja, auf Anhieb. Mir kann da keiner was vormachen. Jedenfalls hielt Dagmar es auch für einen tollen Jux, dich einfach mal so unangemeldet zu überraschen.“

„Ist gelungen, die Überraschung“, antwortete Alex.

Wolfhard lief jetzt forschen, dynamischen Schrittes und außerordentlich aufrecht, Alexander mit leicht heruntergezogenen Schultern. Er sah blass aus, die Grübelfalten auf der Stirn hatten sich in den zurückliegenden Jahren tief eingegraben.

Schnürboden

Exakt zum Einsatz ließen die beiden Bühnentechniker die Rosenblätter aus den Körben von einer Etage des Schnürbodens in nicht allzu großer Höhe auf die Sängerin herabrieseln. Ein Windhauch trieb ein paar von ihnen bis in die erste Zuschauerreihe. Eine elegant gekleidete Dame beugte sich nach vorn, ergriff fast behutsam einige der kleinen, samtroten Blättchen vom Fußboden und hielt sie direkt unter ihre Nase, deren Flügel leicht vibrierten. Ja, es waren echte Blüten, die entblättert worden waren und nun ihren zarten Duft verteilten.

Das Stück war eine Hommage an Hildegard Knef und eben hatte die Sängerin mit ihrer rauchigen, tiefen Stimme mit dem Lied „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ angesetzt. Perfektes Timing. Knut Winzer, lang und schlaksig, und Bert Kaldeweit, ziemlich klein und gedrungen, von den Kollegen auch gern hinter vorgehaltener Hand Dick und Doof genannt, nickten sich zufrieden zu und zogen sich still und leise zurück.

„Wenn du mich fragst, dann finde ich aber die Neuinterpretation aus dem Jahr 1992 mit der Rockband Extrabreit viel, viel besser ...“, sagte Knut, dessen blaue Latzhose an ihm schlotterte, und schnaubte sich geräuschvoll die Nase in ein großes, grün kariertes Stofftaschentuch, nachdem er die Tür zum Technikraum hinter ihnen ins Schloss gezogen hatte. Dann betrachtete er ausführlich das Schleimergebnis in dem schon geflickten Stoffquadrat. Bis eben noch hatte er die Tropfen, die ihm an der Nase hingen, mit dem Ärmel seiner Jacke aufgefangen, um keinen Lärm zu verursachen.

Bert schaute ihn leicht angeekelt an.

„Dich fragt aber keiner.“

„Bist du heute mit dem linken Fuß aufgestanden?“, wollte Knut wissen.

„Nee, aber wenn ich mir jetzt so vorstelle, dass das hier abläuft wie jedes Mal, dann könnte ich kotzen.“

„Was meinst du? Das Stück? Ist doch ganz nett und es füllt die Zuschauerreihen, spült Geld in die Theaterkasse, also ist unser Job und somit unser Einkommen gesichert. Was willst du denn mehr?“

Bert schüttelte den Kopf.

„Ich meine diesen Frauenversteher Stefan von Sangerhausen. Hast du nicht bemerkt, wie er unsere Hilde während der Proben mal wieder um den Finger gewickelt hat? Ich verwette einen ganzen Monatslohn, dass er sie heute nach der Premiere rumkriegt ...“

„Wenn dann mal einer noch dazu in der Lage ist. Das wird doch wieder in einer Riesenpremierenfeier enden. So, wie das Publikum bis jetzt schon getobt hat“, meinte Knut überzeugt.

„Ja, aber wenn nicht heute, dann spätestens morgen oder übermorgen. Die Frau ist ja fällig wie eine reife Frucht. Hast du das nicht mitbekommen?“

„Dass du für so was Augen hast?! Gibt doch für uns genug zu beachten bei all den technischen Raffinessen, die sie mal wieder im Stück unterbringen mussten.“

Bert seufzte.

„Tja, damit beweist aufs Neue einer seinen Einfallsreichtum. Wie wir das alles auf die Reihe kriegen, das interessiert niemanden. Da kannst du wie ein Affe auf den Gittern rumspringen, natürlich still und leise, damit die Zuschauer es nicht bemerken. Außerdem dankt uns sowieso niemand unseren Einsatz wirklich. Dabei könnten sie einpacken ohne uns, ohne richtige Beleuchtung, fein abgestimmten Ton und das passende Bühnenbild für jede Szene ... Mein Geschmack ist so ein gigantischer Aufwand allerdings nicht. Hätte die Frau eine ausreichend gute Stimme, wären doch die herabrieselnden Rosenblätter überhaupt nicht nötig gewesen. Zumindest hat für die Dinger eine Etage auf halber Höhe ausgereicht und sie waren nicht so schwer wie manch anderes Zeug, was wir stemmen müssen.“

Manchmal wünschte sich Bert, dass der eiserne Vorhang, der den Zuschauerraum vom Bühnenhaus trennte, einfach runtergesaust kam und einen erschlug. So gewissermaßen als Zeichen. Sollte wohl in der Geschichte dieses außergewöhnlichen Brandschutzelementes, das 1889 verpflichtend an allen deutschen Theatereinrichtungen eingeführt wurde, geschehen sein. Obwohl die feste Regel galt, dass man nichts, aber auch gar nichts unter der Fallschneise des Vorhangs stehenlassen durfte. Denn wenn die Notsituation eintrat, würde alles plattgemacht, was sich dort befand. Man müsste nur das durchdringende Warnsignal während des Herunterlassens ausschalten ...

„Ich finde schon, dass sie prima singt. Dir fehlt einfach die Romantik“, stellte nun Knut fest.

„Deshalb bin ich ja auch Techniker geworden“, beendete Bert das Gespräch, griff sich von einer weißen Untertasse ein Mettbrötchen mit einer dicken Schicht kleingeschnittener Zwiebeln darauf, biss hinein und schlug die Tageszeitung auf. Dann blickte er seitlich auf die große Wanduhr, deren großer Zeiger gerade mit leichtem Ticken eine Minute vorangerückt war. Sie hatten noch Zeit bis zu ihrem nächsten Einsatz.

„Also, gilt die Wette?“, bohrte Knut und fingerte mit seiner Zigarettenschachtel herum, wohl wissend, dass er hier drin nicht rauchen durfte und dafür vor die Tür musste, aber Tuchfühlung wollte er wenigstens schon mal aufgenommen haben.

„Lass uns mal eine Kiste Berliner Pilsner als Preis ansetzen. Einen Monatslohn willst du ja sicher nicht opfern?! Und ich sowieso nicht!“

Jetzt kicherte er.

Bert ließ die Zeitung sinken und ergriff die knochige Hand von Knut.

„Dann schlag ich mal ein, wo du so hartnäckig bist. Bis übermorgen hat er sie flachgelegt! Da kannste einen drauf lassen!“

Knut grinste und schüttelte dabei siegessicher den Kopf. Diese Frau war doch eine echte Dame von Welt und hatte so einen überhaupt nicht nötig. Aber im Grunde war es ihm auch egal, ob er gewann oder verlor. Die Wette war wichtig und die Kiste Bier, die sie hinterher gemeinsam in aller Freundschaft leeren würden.

Natürlich forderte das Publikum bei stehenden Ovationen, Begeisterungspfiffen und Getrampel am Ende des Stückes seine Zugaben ein. Und das Lied von den Rosen, die es da regnen sollte, war ebenfalls dabei. Im Chor sangen fast alle Zuschauer lautstark mit, mehr oder weniger in der Tonlage nicht ganz exakt, aber im Text sicher:

„... mir sollten sämtliche Wunder begegnen. Die Welt sollte sich umgestalten und ihre Sorgen für sich behalten ...“

Stefan von Sangerhausen hielt die Hand der Hauptdarstellerin Evelyn Engels und strich ihr mit dem Daumen behutsam und vielsagend über den Handrücken, während sich die Gruppe der Akteure wieder und wieder in ordentlicher Reihung und einheitlichem Auf und Ab vor dem Publikum verneigte. Evelyn zwinkerte ihm zwischendurch kaum merklich, aber durchaus zustimmend, zu. Und Stefan platzierte ein eindeutiges Leuchten in den Blick seiner stahlblauen Augen, die einen nicht mehr losließen, sobald sie in Aktion waren. Er wusste um ihre Wirkung und setzte sie stets gekonnt ein.

Als der letzte Vorhang gefallen war, schauten sich beide einen Moment länger an, als es passend gewesen wäre.

„Bis gleich dann in der Theaterklause“, sagte Stefan unverfänglich, um Neutralität bemüht, aber mit einem hoffnungsfrohen Unterton.

Evelyn legte ein schelmisches Lächeln auf. Das Make-up hatte im Laufe des Abends etwas gelitten und markierte die Krähenfüße um die Augen. Sie war erschöpft, jedoch glücklich ob des neuerlichen Erfolgs und die Endorphine taten ein Übriges. Das würde bestimmt gute Kritiken geben, das müsste es einfach, und wenn nicht, dann würde es sie auch kaltlassen. Sie las keinerlei Zeitung, dafür hatte sie überhaupt keine Nerven, man trug ihr die ausgewählten Informationen lediglich zu.

Als Stefan in seine Garderobe ging, malte er sich den Ablauf des weiteren Abends aus. Die gesamte Probenzeit über hatte er hartnäckig an diesem Fall gearbeitet, nicht mit Komplimenten gegeizt und während der Premiere nun all seine Kraft in diese Aufführung gelegt, um die Frau endgültig davon zu überzeugen, welch gute Wahl er war. Sie würde ihn nicht von der Bettkante schubsen, davon war er inzwischen felsenfest überzeugt. Und wenn er sich mal wieder als begnadeter Liebhaber erwies, konnte er im Anschluss sicher ganz langsam zu seinem eigentlichen Thema übergehen.

Er setzte sich vor den Spiegel, schminkte sich fast genüsslich ab und zog deutliche Grimassen. Dabei stellte er sich die nächsten Stunden vor und schnalzte zwischendurch mit der Zunge. Als er fertig war, strahlte er sein Gegenüber an und nickte sich zu. Dann griff er sich noch die Flasche Eau de Toilette und versprühte einen feinen, erregenden Nebel um sich. Wohlig sog er den Duft ein. Der hatte sich schon seit Jahren bewährt und keine konnte ihm widerstehen. Sein Parfüm saß an ihm wie eine zweite Haut. Zuletzt legte er sich seinen roten Schal um den Hals, ein besonderes Markenzeichen, ohne das er nie anzutreffen war, wenner das Haus verließ und sich in der Öffentlichkeit zeigte. Einerseits ein optischer Blickfang, andererseits ein wirksamer Schutz für den Hals, damit auch jeder Erkältungsansatz im Keim erstickt wurde.

Als Stefan zur Tür ging, musterte er sich prüfend in dem großen Standspiegel, der schon bessere Zeiten erlebt hatte und deutliche Spuren des Alterns aufwies, was der Mann aber nicht registrierte. Auf der Spiegelfläche selbst gab es kleine, punktartige Einschlüsse und Kratzer vom Putzen, irgendwann würde er erblinden und dann eines Tages ausrangiert werden. Auch der Goldrahmen hatte schon arg gelitten und gab seinen hölzernen Untergrund an vielen Stellen frei.

Doch, beschloss Stefan jetzt für sich, diese schlanke, hochgewachsene Gestalt in dem schwarzen Rollkragenpullover, tiefblauen Jeans und einem schwarzmelierten Jackett sah gut aus. Dazu dieser aufregend rote Schal! Ich könnte mich glatt in mich selbst verlieben, dachte Stefan und musste unwillkürlich grinsen. Nur wer sich selbst liebt, kann eine wirkliche, überzeugende Ausstrahlung haben und andere fesseln – das hatte er irgendwo gelesen und es passte wunderbar.

Natürlich liebte er sich und war mit sich und der Welt zufrieden. Wenn man mal von den Schulden absah, aber die sollte er wohl in absehbarer Zeit in den Griff kriegen, dafür würde er schon mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln sorgen.

Die Garderobentür fiel hinter Stefan ins Schloss und zeitgleich öffnete sich die Tür von schräg gegenüber: das Refugium der Hauptdarstellerin. Ihre beiden Blicke trafen sich. Das Make-up der Schauspielerin saß wieder perfekt und verdeckte die kleinen Unzulänglichkeiten des Alterns.

Evelyn Engels, die das aktuelle Stück auch privat lebte, trug eine weit geschnittene, dunkelblaue, sündhaft teure Marlenehose, dazu im gleichen Farbton eine passende Jacke und eine weiße Satinbluse, die einen Blick auf ihr gut bestücktes, makelloses Dekolleté erlaubte. Ob Schönheitschirurgen daran Anteil hatten, das war Stefan egal. Er wollte die Frau ja nicht heiraten. Und so ein bisschen Schummeln war schon erlaubt, das gestand er den Damen ebenfalls zu. Wobei er lieber auf natürliche Fitness schwor, schon morgens mit gymnastischen Übungen begann und sich überaus gesund ernährte. Dabei hielt er sich auch mit entsprechenden Gesundheitsratgebern auf dem Laufenden.

„Darf ich dich, liebe Evi, in die Theaterklause hinüberbegleiten?“, bot Stefan an und hielt ihr galant den Arm zum Einhaken hin, was sie mit einem dankenden Nicken annahm. Sie legte den Kopf ein wenig nach hinten und schüttelte verführerisch ihre blonden, weichen Locken, dabei spitzte sie nur ein klein wenig, fast wie zum Kuss, die Lippen.

„Du bist und bleibst ein Kavalier alter Schule, mein Lieber“, entgegnete Evelyn und schloss seufzend an: „Das hat man selten heutzutage, jammerschade. Du gehörst einer aussterbenden Spezies an!“

Einvernehmlich und im gleichen, ein wenig zögerlichen Schritt, so als wollten sie diesen schwebendschwingenden Zustand länger auskosten, verließen beide das Theater, vor ihnen schon eine Gruppe von Mitwirkenden, die in lauter Unterhaltung und Gekicher ebenfalls zum Restaurant am Ku’damm strebten.

Die hellen nächtlichen Lichter der Großstadt ließen das Gefunkel der Sterne nur matt, wie hinter einem Dunstschleier abgedimmt, erscheinen. Auf der Straße herrschte noch recht viel Betrieb. Ein gut gefüllter Doppelstockbus fuhr an ihnen vorbei.

In der Theaterklause wusste es Stefan – trotz des außerordentlich großen Gewühls – so einzurichten, dass er direkt neben Evelyn zu sitzen kam. Und sie hatte es offensichtlich auch gar nicht anders gewollt.

An den Wänden hingen signierte Porträtfotos allerlei Schauspieler von Rang und Namen aus unterschiedlichsten Zeiten. Ein paar der älteren SchwarzWeiß-Aufnahmen waren sogar schon etwas vergilbt. Platz bekam hier nur, wer vorher reserviert hatte, und auch das stand nicht jedem Unbekannten zu. Gelächter erklang, Stimmengewirr hing in der Luft, die Kellner hatten alle Hände voll zu tun. Eine Flasche Rotwein nach der anderen wurde serviert und geleert wieder abgeräumt, da und dort ein Bier, meist kombiniert mit einem Korn. Wer rauchte, der traf sich gelegentlich vor der Tür. Der Intendant, ein rundlicher Mittfünfziger mit Nickelbrille und zufriedenem Gesichtsausdruck, bestellte schließlich Champagner für alle.

Währenddessen schmiegte Stefan unter dem Tisch sein Knie an das von Evelyn. Sie wich nicht aus, sondern hielt dem begehrlichen Druck stand. Zwischendurch ließ der Mann seine Hand auf ihren Oberschenkel wandern und strich zärtlich darüber, fast als wäre es zufällig, ohne zu aufdringlich zu werden, obwohl ihm das vielleicht nicht einmal verwehrt worden wäre. Aber ihm war klar, dass diese Art von Frau Geduld brauchte und wenn, dann formvollendet erobert sein wollte. Und hatte er so lange Zurückhaltung geübt, dann wollte er es jetzt nicht durch ungestümes Auftreten verderben.

Zu vorgerückter Stunde und nach mehreren Schoppen Wein schien sie ihm in der besten Lage, sein Vorhaben voranzutreiben.

„Liebste Evi, wenn du magst, dann bringe ich dich auch nach Hause. Du willst dich ja sicher nicht allein auf den Weg machen in dieser Stadt voller krimineller Energie. Nicht, dass dir ein Bösewicht noch was antut ...“, flüsterte er ihr ins Ohr und berührte es fast mit seinen heißen Lippen.

Und als habe sie nur auf diese Einladung gewartet, entgegnete Evelyn mit schon etwas schwerer Zunge: „Danke, mein Lieber, das ist eine gute Idee. Morgen, ach, was sag ich, heute haben wir die nächste Aufführung. Da wollen wir alle fit sein, um den Zuschauern ein ebensolches Vergnügen zu bereiten wie den heutigen Besuchern. Jeder von uns braucht seinen Schönheitsschlaf!“

Bei diesen nur direkt zu ihm gesprochenen Worten erhob sie sich würdevoll und Stefan tat es ihr gleich. Keiner schien den gemeinsamen Weggang der beiden zu bemerken. Bis auf die beiden Techniker, die an einem der Nachbartische gesessen und die ganze Zeit über Evelyn und Stefan bemüht unauffällig beobachtet hatten. Bert blickte in deutlicher Gewinnerstimmung auf Knut und der zuckte nur nachgiebig die Schultern.

„Was soll’s, eine Kiste Bier ist nun auch nicht die Welt. Das werde ich wohl finanziell gerade noch stemmen können“, brabbelte Knut mehr zu sich als zu seinem Kollegen und nahm noch einen großen Schluck aus seinem Glas.

Einstand

Als Dennis durch das Kommissariat lief, das schon ziemlich verlassen war, verfiel er ins Grübeln. Fast alle waren bereits daheim, bis auf die, die eben noch laut Plan Dienst schoben. Aber er, er hätte doch ebenfalls längst Feierabend gehabt. Da war es ja in seiner Zeit bei der Schutzpolizei fast noch übersichtlicher gewesen. Vor allem konnte er gelegentlich seine Überstunden mal abbauen.

Und das also war dieser sagenumwobene Wolfhard, von dem Alex immer geschwärmt hatte, aber nicht nur er, auch die anderen Kollegen. So als ob sie ihm ein schlechtes Gewissen einreden wollten, als ob er nicht an ihn heranreichen könne. Einfach nur ein alter Mann. Das hatte er doch sofort gesehen ... Trotz der Fitness, die dieser Wolfhard deutlich sichtbar an den Tag legte, trotz der schicken Klamotten und trotz des immer noch vollen Haares. Wenn ich Rentner wäre und 24 Stunden am Tag totschlagen müsste, dann würde ich auch ausschließlich all das machen, was mir guttut, fuhr es Dennis böse durch den Kopf. Wenn ich mal überhaupt so alt werde und in den Genuss einer Pension komme, sprang ein weiterer Gedanke hinterher.

Dennis verließ das Kommissariat, lief an den Dienstwagen vorbei über den Parkplatz, holte den Autoschlüssel aus seiner Tasche und drückte auf den Türöffner. Ein kurzer Piepton erklang und die Beleuchtung blinkte zeitweilig auf. Seinen tiefblauen BMW hatte er am Morgen noch ziemlich als einer der Ersten auf dem fast leeren Areal abstellen können. Inzwischen befand er sich schon wieder einigermaßen allein. Nur eine Handvoll Fahrzeuge wartete noch auf Abholung oder blieb sowieso bis zum nächsten Tag stehen.

Dennis öffnete die Fahrertür und ließ sich schwerfällig in den Sitz fallen. Dann startete er den Wagen, wobei die Musik schlagartig lautstark ertönte. Er änderte nichts daran, setzte das Fahrzeug rasch in Bewegung und fuhr vom Betriebsgelände, Richtung Todtenhausen, zum Haus seiner Schwiegereltern. Jessica würde sich bestimmt schon hingelegt haben.

„Verdammt, ich wollte sie doch noch anrufen“, fluchte Dennis in die Musikklänge.

Gegen siebzehn Uhr hatte es mal kurzzeitig so ausgesehen, als ob er pünktlich in den Feierabend käme. Aber dann war Alexander aufgetaucht, hatte ihn zu sich beordert, noch dies und jenes gewollt und er hatte nicht ablehnen können. Wie sollte er auch. Er war erst seit einem Vierteljahr bei der Kripo in der Kreispolizeibehörde Minden-Lübbecke.

Das Telefonat mit seiner hochschwangeren Frau war ihm einfach weggerutscht. Vielleicht hätte ich mir eine Notiz machen sollen, dachte Dennis: Jessi anrufen! Na, so weit kommt es noch! Ich bin doch noch nicht senil, wie dieser Opa von vorhin, verwarf er den Gedanken gleich wieder, während er von der Marienstraße auf die Bremer Straße wechselte. Mit Sicherheit würde sie ihm keine Vorwürfe machen, sondern ihre ganz besondere Waffe einsetzen: das Schweigen. Sie konnte das tagelang durchhalten. Und es verletzte sehr viel mehr als alles andere.

Nachdem er in die Todtenhauser Dorfstraße eingebogen war, fuhr er kurz rechts ran, ließ den Motor weiter laufen und stellte die Warnblinkanlage an. Dann setzte er die Ellbogen auf die Oberschenkel und stützte den Kopf auf beide Hände. Sein flusiges, aschblondes Haar ließ an einigen Stellen schon verstärkt den Blick auf die Kopfhaut frei. Ein Radikalschnitt wäre eine Option gewesen, aber dazu konnte er sich einfach nicht durchringen.

„Scheiße, so eine verdammte Scheiße. Wieso habe ich mich in das alles hineinmanövriert?“

Seine Stimme klang hohl, während die Sängerin im Rundfunk ein anrührendes Liebeslied dahinhauchte, sich in den hohen Tönen aber vertat, wie er fand, denn es schmerzte in seinen Ohren. Er schlug sich mit dem Handballen der Rechten an die Stirn, sodass es nun dort wehtat und er das Gesicht verzog. Tief durchatmen, du bist jetzt ganz ruhig, beschwor ihn seine innere Stimme. Er holte intensiv geräuschvoll Luft und lehnte sich im Sitz nach hinten, den Kopf an die Stütze gedrückt, und schloss die Augen.

Dann sah er sich bei seinen Eltern, die in Lübbecke wohnten, wo er auch die Ausbildung bei der Volksbank absolviert hatte, weil die Mutter mit dem dortigen Chef mal zur Schule gegangen war. Da klappte es natürlich auf Anhieb mit der Bewerbung auf die Lehrstelle. Er schnitt mit dem besten Ergebnis von allen ab und brauchte nicht einmal die volle Zeit, sondern konnte verkürzen. Wie hatte seine Mutter gestrahlt und der Vater ihm anerkennend auf die Schulter geklopft.

Und er, was machte er daraus? Die Karriere bei der Bank schien ihm plötzlich nicht gut genug, zu langweilig, zu eintönig. Er wollte was anderes, weniger mit Geld, mehr mit Menschen zu tun haben.

Dann fiel ihm plötzlich die Werbung der Polizei ins Auge, unter dem Motto „Wir suchen dich!“. Das war es, fast wie ein Signal. Die Aufnahmetests absolvierte er allesamt mit Bravour, was die anfänglichen Bedenken seiner Eltern zerstreute. Sein Filialleiter bei der Bank unterstützte ihn sogar und gab ihm frei.

„Junge, wir wollen dir nicht im Weg stehen. Wenn du meinst, das ist das Richtige für dich, dann tu es! Schließlich soll man seinen Traum leben, wenn das irgendwie machbar ist. Nichts ist schlimmer, als wenn man sich in seinem Job unwohl fühlt. Und wenn mal alles schiefgeht, dann kannst du immer wieder zu uns zurückkommen.“

So die Worte seines Chefs, der dabei sogar ein wenig, wie es schien, hintersinnig gelächelt hatte. Er hatte sie noch im Ohr, diese Bemerkung. Aber ein Zurück kam ja überhaupt nicht infrage. Er würde sich damit bis auf die Knochen blamieren. Nur mal eben so mit dem Gedanken spielen, das tat indes gut, gestand sich Dennis ein.

Vor einem Jahr hatte er seinen Dreißigsten gefeiert, da war er noch Single gewesen und musste mit großem Brimborium fegen. Seine Freunde hatten das alles organisiert und die hübsche Jessica, die er aus der Banklehre kannte, war dabei gewesen. Sie hatten zu dem Zeitpunkt ein lockeres Verhältnis miteinander, sodass sie ihn nicht mehr freiküssen durfte, denn das war nur echten Jungfrauen vorbehalten. Dafür gewann er seine kleine Cousine Hanne, die sich leicht mit einer Tafel Vollmilchschokolade – mit ganzen Nüssen selbstverständlich – bestechen ließ. Bei dieser Erinnerung legte sich ihm ein Lächeln ins Gesicht.

Dass aus der Beziehung mit Jessi dann mehr wurde, geschah zu dem Zeitpunkt, als sie schwanger wurde. Dennis hatte sofort das dunkelgelockte Engelchen Hanne vor Augen und keinen weiteren Augenblick nachgedacht, als Jessica ihm das freudige Ereignis mitteilte, sondern war auf die Knie gesunken und hatte um ihre Hand angehalten.

Kurz vor seiner Versetzung nach Minden hatten sie geheiratet, damit auch alles in geordnete Bahnen kam und das Kind einen korrekten Namen erhielt, wie die Eltern von beiden, ausnahmsweise einhellig, betont hatten. Und er war natürlich in das Haus seiner Schwiegereltern gezogen, das verstand sich von selbst und bedurfte gar keiner Diskussion. Eine eigene Bleibe wäre ja auch viel zu teuer geworden für das junge Paar: Weder er noch sie hatten bis zu diesem Tag irgendwelche Rücklagen angespart. Außerdem würden sie das Anwesen ohnehin einmal erben.

Rückblickend betrachtet, gestand er sich ein, dass die sieben Jahre Berufserfahrung im Wachdienst eigentlich die besten gewesen waren. Vom Kommissar war er, zeitweilig bei der Verkehrspolizei in Bielefeld, zum Oberkommissar befördert worden. Und nicht etwa, weil er dran war, sondern weil er sich überall mit besonderen Leistungen hervortat. Sein Engagement und seine Umsicht waren geschätzt.

Alles lief prima, bis zu jenem Tag, als es einen Wechsel in der Führungsebene gab und ihm eine Frau vorgesetzt wurde. Nicht, dass er etwas gegen Frauen hätte oder deren Können nicht schätzen würde. Aber wenn schon in Leitungspositionen, dann doch bitte nicht direkt über ihm.

Das konnte nicht gut gehen.

Er hatte sich regelrecht in seine Abneigung gegen sie hineingesteigert, sich nur noch darauf besonnen und irgendwann die ersten Flüchtigkeitsfehler gemacht. Es schien ihr direkt Freude zu bereiten, ihm das unter die Nase zu reiben. Schließlich war ihr seine Abneigung durchaus aufgefallen. Er machte ja auch gar keinen Hehl daraus.

„Hatten Sie nicht ohnehin die Absicht, sich örtlich zu verändern?“, hatte seine Chefin ihn irgendwann unter vier Augen gefragt und dabei die Mundwinkel abschätzig heruntergezogen. „Ich hätte da was für Sie. In Minden suchen sie Verstärkung bei der Kripo. Ein neues Aufgabenfeld, in dem Sie sich mal so richtig beweisen und weiter qualifizieren könnten.“

Es hatten ihm die Worte gefehlt, als sie noch meinte: „Darf ich Ihr Schweigen als Zustimmung auslegen? Ich schreibe Ihnen auch eine vernünftige Beurteilung ...“

Das war es, sie hatte ihn loswerden wollen. Und er, Dennis Sommer, war nicht einmal in der Lage, sich dagegen zu wehren.

„Außerdem wohnen Sie doch mit Ihrer Gattin in der Ecke und Sie erwarten bald Familienzuwachs, wenn ich recht informiert bin. Insofern sieht alles einfach perfekt organisiert aus! Da denkt bestimmt niemand, dass ich Sie strafversetze ...“

Sie hatte sich zurückgelehnt, die Arme kurz verschränkt, ihn noch einmal von oben nach unten abfällig musternd angeschaut und sich dann, ohne weiteren Kommentar oder gar einen Abschiedsgruß, ihrem Computer zugewandt. Wortlos war er gegangen, hatte die Tür noch zuschlagen wollen, es aber nicht geschafft, dazu hatte ihm die Kraft gefehlt. Er war regelrecht hinausgeschlichen.

Sein erster Tag in der neuen Behörde war dementsprechend der pure Stress. Daheim hatte er Jessica nur mit blumigen Worten die positiven Umstände der Versetzung geschildert, dass die im Grunde lediglich seinen vielen Interventionen in dieser Hinsicht zu verdanken sei, und sie hatte sich vorbehaltlos gefreut. Schließlich würde er dann in der Nähe mehr Zeit für sie haben, hatte sie überzeugt gemeint. Die tägliche Pendelei über die bekanntermaßen gefährliche A2 würde entfallen und ihr blieben die Sorgen um sein Wohlergehen erspart ...

Morgens hatte er geduscht, sich die besten Sachen aus dem Schrank geholt. Sportlich, aber auch für einen öffentlichen Auftritt geeignet, um einen besonders guten ersten Eindruck zu hinterlassen. Doch bis zum Frühstück, das Jessica bereitete, war er bereits total durchgeschwitzt. Ihr zu erklären, dass er noch einmal duschen wolle, schien ihm zu kompliziert. So hatte er einfach eine Ungeschicklichkeit vorgetäuscht und sich den Becher mit heißem Tee über die Brust gekippt, ehrlichen Herzens aufgestöhnt, war dann fluchend aufgesprungen und noch einmal im Bad verschwunden. Aber auch den nächsten Kleidungsstücken erging es nicht viel besser, obwohl er viel von dem herben Deo-Spray benutzt hatte, das angeblich 24 Stunden lang durchhalten sollte.

„Ich denke, du freust dich auf die neue Arbeit“, hatte Jessica noch gemeint und ihn argwöhnisch betrachtet. „Gibt es da was, was du mir erzählen solltest?“

Er hatte nur den Kopf geschüttelt und was von „Aufregung am ersten Tag“ und „wie ein Kind vor dem Schulanfang“ gewitzelt und dabei ihren dicken Bauch gestreichelt. Das hatte sie beruhigt. Sie hatten sich noch in den Armen gelegen und geküsst.

Jener erste Tag hatte sich ihm in die Erinnerung eingemeißelt. Vor allem der Moment, als einer der Kollegen meinte, er würde seine ehemalige Chefin bestens kennen, das sei eine Cousine von ihm. Da war sein Herz in die Hose gerutscht und ihm hatten die Hände gezittert. Ab dem Moment wusste Dennis, dass es nur eine Frage der Zeit war, wann die Kollegen über sein Vorleben Bescheid wüssten und es ihm bei der nächsten Gelegenheit unter die Nase reiben würden. Spätestens dann, wenn irgendetwas schieflief, was er zu verantworten hatte. Aber das versuchte er inmitten der ganzen Aufregung zu verdrängen. Gehörte doch der erste Tag, so wie es der Regelfall war, mindestens zur Hälfte der üblichen Verwaltung. Da konnte eigentlich nichts oder doch ganz viel schiefgehen.

Als Neuankömmling wurde er mit den Vordrucken für allen möglichen Kram traktiert – Familienkasse, Alarmkartei, Zahlstelle, Personalstelle. Außerdem alles rund um die Logistik, also Waffe und Ausrüstung. Ebenso IT mit den Vorlagen für den Zugang zu den Systemen, Dienstausweis, Kripomarke ... Es schien kein Ende zu nehmen.

Die Begrüßung durch Kriminaloberrat Reinhold Riechmann, den Leiter der Dienststelle, war da fast schon eine Atempause gewesen. Der hatte ihm jovial die Hand gedrückt, ihn willkommen geheißen und auch gar nicht weiter darauf reagiert, als Dennis den angebotenen Kaffee ausschlug. Wahrscheinlich war die Offerte sowieso nicht ernst gemeint ...

Dennis setzte den Blinker und begab sich wieder auf die Fahrbahn. An der Graßhoffstraße bog er rechts ab und war bei der nächsten Querstraße auch schon am Haus seiner angeheirateten Familie eingetroffen.

Im Obergeschoss brannte in ihrem Schlafzimmer Licht. Jessica war also offensichtlich noch wach und hatte vielleicht auf ihn gewartet, so hoffte er. Jetzt, wo