Kein Mensch braucht Führung - Susanne Klein - E-Book

Kein Mensch braucht Führung E-Book

Susanne Klein

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Beschreibung

Unsere Arbeitswelt befindet sich inmitten eines andauernden strukturellen Wandels. Veränderung ist der neue Status quo. Unternehmen sind herausgefordert, in immer schnelleren Zyklen althergebrachte organisationale Strukturen, Prozesse, Prinzipien und Glaubenssätze zu hinterfragen und durch neue Lösungen zu ersetzen. Agil sein, adaptiv und verantwortlich handeln sind heute gefragt – wenn Unternehmen im Wettbewerb bestehen wollen, müssen nicht zuletzt die immer noch stark verbreiteten Führungsprinzipien des Industriezeitalters abgelöst werden. Denn der neuen Realität der Transformation sind die alten streng hierarchischen Führungsmodelle nicht gewachsen. Eine straffe Organisation, konsequente Arbeitsteilung und ein Fokus auf Effizienz bringen Unternehmen ihren Kunden nicht mehr näher. Und es gelingt auf Basis von Methoden wie Delegation, Mitarbeitergespräche und klassischen Meetings nur noch unzureichend, Menschen durch eine hohe Komplexität zu navigieren oder als attraktives Unternehmen wahrgenommen zu werden. In ihrem Buch zeigt die Autorin Susanne Klein auf, dass die alte Führungsmaxime anweisen und kontrollieren, längst ausgedient hat. Um in neuen oder sich ständig neu organisierenden Märkten zu bestehen, braucht es einen Paradigmenwechsel: Experten, die sich selbst führen, und Teams, die flexibel und in immer neuer Konstellation an Aufgaben arbeiten. Experten verantworten selbst ihre Ergebnisse und sie suchen sich ihre Aufgaben: Wo kann ich einen Beitrag leisten? Was kann ich mit voranbringen? Wie kann ich meine Zeit effektiv einsetzen? Eigeninitiative und Verantwortlichkeit sind das Gebot der Stunde. Dazu brauchen wir neue Ideen und Ansätze und vor allem experimentierfreudige Unternehmensleitungen, die nicht zuletzt ihren eigenen Status hinterfragen. Und dafür brauchen wir Unternehmenscoachs, die dafür sorgen, dass sich der Einzelne gut entwickelt und das Team optimal zusammenarbeiten kann. Die neue Führung heißt Selbstführung. Wie das gelingen kann, erläutert Susanne Klein in Überlegungen und 20 Alternativen – von lebendigen Zielen und Sinnfindung über Leitsätze und maximale Transparenz bis hin zu fluiden Communitys, Minimalismus und Attraktivität.

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Susanne Klein

Kein Menschbraucht Führung

Mehr Erfolg durchSelbstverantwortung

Externe Links wurden bis zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches geprüft. Auf etwaige Änderungen zu einem späteren Zeitpunkt hat der Verlag keinen Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die weibliche Form? Die männliche Form? Welche soll man wählen, wenn man beide meint? Dieses Buch meint immer beide. Was Julia erlebt, kann auch Paul erleben. Die Gedanken und Gefühle von Paul könnten auch Julias sein. Bitte, werter Leser, werte Leserin, denken Sie einfach das Nicht-Erwähnte mit. Vielen Dank.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN Buchausgabe: 978-3-86936-903-7

ISBN epub: 978-3-95623-836-9

Lektorat: Susanne von Ahn, Hasloh

Umschlaggestaltung: Martin Zech Design, Bremen | www.martinzech.de

Autorinnenfoto: Ditmar Kerkhoff

Satz und Layout: Das Herstellungsbüro, Hamburg | www.buch-herstellungsbuero.de

© 2019 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Das E-book basiert auf dem 2019 erschienenen Buchtitel “Kein Mensch braucht Führung” von Susanne Klein, ©2019 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

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Inhalt

Prolog: Führung – wozu?

Teil 1: Überlegungen

Technologie führt

Selbstführung als Basisprinzip

Führung folgt der Kompetenz – Geschäftsführung mit Experten

Merkste was? Der Unternehmenscoach als Teambegleiter

Teil 2: Alternativen

1Wenn du nicht die Probleme deines Kunden löst, tut es ein anderer – nah am Kunden statt nah am Chef

2Daten für alle – einfacher Zugang statt elitärer Räume

3Weil sie kontrollieren, müssen sie kontrollieren – Prinzipien statt Anweisungen

4Führung folgt der Kompetenz – Handeln statt Reden

5Lebendige Ziele – Augenhöhe statt Zielvorgaben

6Warum soll ich das tun? – Sinn statt Durchsteuern

7Aufgaben finden – Pull statt Delegation

8Entscheidung folgt der Kompetenz – Subsidiarität statt Flaschenhals

9Fluide Communitys – flexible und aufgabenbezogene Teams statt fester Strukturen

10Small ist beautiful – im Duo statt zu siebt und ganz viele Pausen

11Man braucht keine Meetings, um miteinander zu reden – Gelegenheiten statt Jour fixe

12Permanent in Kontakt miteinander – Selbsterkenntnis statt Mitarbeitergespräche

13Nutzen, was da ist – Ressourcenorientierung statt Ressourcenanforderungen

14Mutig sein – »Fuckup-Nights« statt Schaulaufen

15Interessant machen – Nudge statt Ermahnungen

16Immer up to date – Individualisierung statt Weiterbildung für alle

17Attraktivität – Anziehen statt Anwerben

18Unschärfe – Ambiguitätstoleranz statt Richtig und Falsch

19Minimalismus – innere Zufriedenheit statt äußerer Status

20Zurück zur Natur – Lebensräume statt Arbeitszellen

Epilog: Mutig sein und passend umsetzen

Anhang

Danke

Quellen, Inspiration und Empfehlungen

Die Autorin

Register

»I can’t understand why people are frightened of new ideas.I’m frightened of the old ones.«

JOHN CAGE

Prolog: Führung – wozu?

Wir stehen auf, wenn der Wecker klingelt, oder sogar vorher, duschen und trocknen uns ab. Wir frühstücken, ziehen uns passend an, binden die Schuhe zu, fahren wohin auch immer, um genau das zu tun, was wir für richtig halten. Wir können einkaufen, uns versorgen und unsere Rechnungen bezahlen. Wir können die Wohnung ordentlich halten und regelmäßig den Kühlschrank füllen. Schon als Schülerinnen und Schüler haben wir Geld verdient und später unsere Ausbildungen zum Teil selbst finanziert. Wir machen unsere Steuererklärungen, schließen Verträge ab und strukturieren unser Leben. Wir haben viele Pläne und sorgen dafür, dass wir sie umsetzen können. Wir verabreden uns mit anderen, um Ziele zu erreichen, die wir uns selbst gesetzt haben. Wir managen Vereine, bauen Häuser, unterstützen in der Gemeinde und gehen auf Weltreise. Wir zeugen Kinder, geben ihnen ein Zuhause und sorgen dafür, dass sie zu selbstständigen und verantwortungsbewussten Menschen heranwachsen. Das alles können wir, ohne dass uns jemand führt.

Und wenn wir dann einen Arbeitsvertrag unterschrieben haben, gibt es plötzlich jemanden in unserem Leben, der uns sagt, welche Ziele wir haben und was wir zu tun und was wir zu unterlassen haben. Dieser jemand will wissen, wo wir sind, was wir tun und warum wir es genau so und nicht anders machen. Es gibt plötzlich jemanden, der vieles besser weiß, aber nicht alles. Der Dienstreisen genehmigt und unserem Urlaubswunsch zustimmen muss. Jemanden, der uns beurteilt. Auch dann, wenn er unsere Arbeitsleistung weder beobachten noch einschätzen kann.

Für viele gut ausgebildete Menschen ist der Eintritt in ein Unternehmen ein Schock. Vorbei die Zeit der Selbstbestimmtheit, der Eigenorganisation und der vollumfänglichen Übernahme von Verantwortung. Kompetenzen darin, sich Ziele zu setzen, strukturiert zu arbeiten und Ergebnisse zu erzielen, sind nun nicht mehr gefragt. Es gilt das zu tun, was verlangt wird, sich einzufügen in eine Gruppe und sich der Arbeitsweise des Teams anzupassen. Wir lernen Prozesse zu bedienen, Kommunikationswege einzuhalten und zu dokumentieren. Wir können einen Teil unserer Kompetenz einbringen und den Rest nutzen wir besser in unserer Freizeit. Und so kommt es, dass Unternehmen zwar hohe Kompetenz einkaufen, nach einer oft nur kurzen Einarbeitungszeit davon jedoch nicht mehr so sehr viel zu bemerken ist. Der neue Mitarbeiter hat sich angepasst und orientiert sich an dem, was die Führungskraft von ihm erwartet. Engagement, Ideenreichtum und Leistungsbereitschaft gehen zurück.

Tatsächlich stammt die Vorstellung, dass Menschen Lenkung und Überwachung benötigen, damit sie Leistung zeigen, aus den ersten Hochkulturen. Da jede Hochkultur ihre Sklaven hatte, wurden zu jeder Zeit Menschen dazu gezwungen, eine Arbeit zu tun, die sie nicht tun wollten, und damit ein Leben zu leben, das sie sich nicht ausgesucht hatten. Diese Situation hat Aufseher nötig gemacht, die diese Menschen überwachten, damit die anderen sich das Leben genehmigen konnten, das sie sich wünschten. Heutige Hochkulturen basieren zum Teil immer noch auf Sklaven, oft nicht mehr im eigenen Land.

Später, im Mittelalter, entstand das Bild, dass Menschen sich am liebsten dem sinnlichen Vergnügen hingeben und ihren Launen folgen. Die Vorstellung war, dass Menschen nur dann arbeiten, wenn sie müssen. Dass Arbeit Freude machen kann, einer Berufung gleichkommt und zufriedenstellt, lag nicht im Bereich der Vorstellung. Deswegen wurden Führungskräfte eingesetzt, die dafür zu sorgen hatten, dass andere arbeiten.

Und auf diesen vielen Führungskräften sitzen wir heute noch. Zwischen Geschäftsführung und Mitarbeiter existieren manchmal fünf oder mehr Ebenen, die berechtigterweise eine Beschäftigung suchen. Sie schauen genau, was ihre Mitarbeiter machen, und orientieren sich an der nächsthöheren Führungskraft, denn der Weg nach oben führt an ihr vorbei. Es gibt also kein wichtigeres Ziel, als sich mit dieser Person gut zu stellen und ihre Wünsche zu erfüllen. Und da sich Dinge oft verselbstständigen, ist der direkte Chef für viele Menschen wichtiger als der Kunde. Und auch der Chef erwartet, dass Mitarbeiter sofort verfügbar sind, wenn er ruft. Andere Termine können schließlich warten. Denn Loyalität ist das höchste Gut. Wichtiger noch als der Zweck des Unternehmens.

Nicht nur, dass interne Prozesse durch die vielen Führungsebenen extrem verlangsamt werden, Führungskräfte haben auch einen Anspruch an Macht, möchten sich durch Kontrolle selbst spüren und brauchen das Gefühl, dass ohne sie nichts richtig funktioniert. So zerschießen sie durch kurzfristige Termine die Planung anderer, machen sich wichtig, indem sie auch sehr gut durchdachte Konzepte neu schreiben, oder treffen Entscheidungen und setzen Maßnahmen auf, die zwar eine Situation nicht lösen, aber ihnen das gute Gefühl vermitteln: »Ich habe etwas gemacht.« Schließlich sind sie Führungskraft, und das muss sich im Alltag auch erleben lassen. Also bauen sie ihr Wirken so auf, dass sie selbst eine wichtige Rolle spielen. Am besten die Hauptrolle. Die Folge davon ist, dass Unternehmen nicht konsequent an Kundenzufriedenheit und damit am unternehmerischen Erfolg arbeiten und ganz nebenbei auch nicht das erhalten, was sie mit ihren Mitarbeitern per Arbeitsvertrag vereinbart haben.

Das Mobile bewegen

Macht ist das Wohlgefühl, von dem viele Menschen nicht genug bekommen können. Dinge beeinflussen zu können macht Freude und gibt das Gefühl von Wichtigkeit und Kompetenz. Das gefällt schon den ganz Kleinen. Sie jauchzen, wenn es ihnen gelungen ist, das Mobile über dem Wickeltisch in Schwung zu bringen. Und innerlich jauchzen sie dann mit 40 Jahren noch, wenn es ihnen gelingt, Mitarbeiter in die Richtung zu bewegen, die ihnen gefällt. Manchmal ganz unabhängig davon, ob die Richtung für das Unternehmen sinnvoll ist. Sie tun es einfach, weil sie es können. Und weil es so viel Spaß macht.

»Und Paul? Wie lange brauchen Sie für diese Aufgabe?«

Paul schaut seinem Chef in die Augen. Er weiß, dass jetzt das Stretching beginnt. Pauls Chef liebt Stretching. Er glaubt, es tut Mitarbeitern gut, sich immer wieder richtig anzustrengen. Paul mag dieses Spiel nicht. Aber was bleibt ihm übrig. Beide Seiten wissen, dass man gute drei Tage für diese Aufgabe braucht. Paul versucht es trotzdem: »Vier Tage.«

Pauls Chef schaut ihn an. Etwas zu lange, als dass sich Paul noch wohlfühlt. »Paul, Sie erstaunen mich. Sie wissen genau wie ich, dass jeder von uns diese Aufgabe solide und konzentriert in zwei Tagen erledigen kann. Sie werden mich doch nicht enttäuschen.«

Bei aller Ausbildung und Aufgeklärtheit der Führungspersonen setzen manchmal Mechanismen ein, die sich Menschen gegenseitig besser ersparen würden. Dann wird versucht, viel herauszuholen, auch wenn es nicht gebraucht wird; es wird Druck ausgeübt und kontrolliert. Und oft wird sehr, sehr viel geredet. So lange, bis dem Mitarbeiter der Spaß vergeht und er sich anpasst oder einen anderen Arbeitsplatz sucht, bei dem er hofft, wieder in seiner Kompetenz und eigenverantwortlich arbeiten zu können – genau so, wie er es jahrelang gelernt hat, bevor er den Arbeitsvertrag unterschrieben hat.

Paul empfindet dieses grundlose Stretching als respektlos. Für ihn bedeutet das, an zwei Abenden auf das Abendessen mit seiner Frau und seinen Kindern verzichten zu müssen und zwei Mal die Nacht halbieren zu müssen. Und für was? Um seinem Chef das Gefühl zu geben, dass er eine effiziente Führungskraft ist und immer das Maximale aus seinen Mitarbeitern herauslockt. Nur bald, so beschließt Paul, wird er nichts mehr aus ihm herauslocken. Er wird sich wegbewerben.

Klassische Führungsinstrumente wie Ziele setzen, kontrollieren, Mitarbeiterbeurteilungsgespräche führen, delegieren und, nicht zu vergessen, die vielen Methoden, die dazu genutzt werden, um Mitarbeiter zu motivieren, unterstützen nicht unbedingt eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe, bei der jeder Beschäftigte seine Kompetenzen gerne und vollumfänglich einbringt. Diese Instrumente manifestieren vielmehr den Unterschied zwischen Führungskraft und Mitarbeiter und machen deutlich, wer wem etwas zu sagen hat. Sie manifestieren die Hierarchie. Und damit Macht.

Gibt es im Unternehmen die Chance, das eigene Mobile zu bewegen, dann setzen sich Menschen selbst Ziele und tun das, was sie für sich und gemeinsam mit anderen für sinnvoll halten. Genauso wie sie zu Hause den Balkon bepflanzen oder den Garten pflegen. Wie sie zum Sport gehen, Konzertkarten buchen oder eine Ausstellung genießen. Wie sie in Cafés sitzen, mit Freunden plaudern und die Eltern besuchen, Familienevents planen und Reisen buchen. Für all das brauchen Menschen weder auferlegte Ziele, Kontrolle noch Beurteilungsgespräche, Delegation oder gar Motivation. Wir tun das einfach deswegen, weil wir es gerne tun und weil wir es für sinnvoll halten. Wir führen uns selbst.

Ich kann mir selbst die Schuhe zubinden

Nicht nur für Mitarbeiter ist geführt zu werden nicht mehr interessant. Auch haben immer weniger junge Menschen Lust dazu, eine Führungskarriere anzustreben. Zum einen lehnen sie die klassischen Führungsinstrumente ab und zum anderen haben sie keine Lust dazu, für andere Menschen Service zu leisten – wie Barack Obama moderne Führung einmal beschrieb. Dafür möchten viele junge Menschen ihre Energie nicht mehr einsetzen. Sie haben Sorge, als Führungskraft – zwischen Governance und Compliance eingequetscht – keinen sinnvollen Beitrag zum unternehmerischen Erfolg liefern zu können. So bevorzugen sie den Expertenstatus und hoffen, in Ruhe arbeiten zu können. Weniger als 30 Prozent der Generation Y ziehen noch eine Führungskarriere in Erwägung. Und Generation Z schaut ihre Gesprächspartner verständnislos an und fragt: »Führung? Wozu? Ich kann mir selbst die Schuhe zubinden.«

Und das macht sich ganz konkret in Unternehmen bemerkbar.

Jens hat sich beispielsweise genau überlegt, wen er anspricht, die frei gewordene Bereichsleitung zu übernehmen. Drei Abteilungsleiter kommen dafür infrage und er hat sich die Auswahl nicht leicht gemacht. Als er mit Anton spricht, hat er Mühe, seine Contenance zu wahren: »Was soll das heißen, du willst nicht? Aber das ist eine echte Chance für dich, ganz nach oben zu kommen!« Anton zeigt sich wenig beeindruckt. »Weißt du«, beginnt er vorsichtig, »ich bin nicht sicher, ob uns eine weitere Führungsperson auf dieser Ebene voranbringt. Ich kann dir gerne alles liefern, was du brauchst, aber gemeinsam mit meinen beiden Kollegen. Und unsere Teams werden wir ohnehin zu Autonomen Teams entwickeln. Damit sind wir Führungskräfte auch ein Teil der Mannschaft und nicht mehr in der Leitungsfunktion. Aber als deine Ansprechpartner stehen wir natürlich jederzeit gerne zur Verfügung.« Anton hat Jens eine Brücke gebaut. Darübergehen muss er selbst. Im Moment muss Jens erst einmal in Ruhe durchatmen.

Junge Menschen erwarten, dass sich jeder um sich selbst kümmert. Das haben sie von Kindesbeinen an gelernt. Warum sollten sie damit aufhören? Kompetenz und Selbstbewusstsein sind Erziehungsideale im Kindergarten, in der Schule und zu Hause. Die starke Individualisierung in unserer Gesellschaft macht es notwendig, aus der Vielzahl der Angebote das für sich Richtige wählen zu können, sich um seine Qualifizierung zu kümmern, um wettbewerbsfähig zu sein und selbstbestimmt zu handeln. Und deswegen braucht es diesen Führungsservice auch zunehmend nicht mehr. Wenn man Abiturienten und Hochschulabsolventen befragt, zeigt sich, dass die jungen Menschen Führung für völlig überflüssig halten: »Können wir selbst.« Sie brauchen keine Person, die ihnen sagt, was sie zu tun und zu lassen haben.

Machen lassen

Kluge Köpfe brauchen maximale Freiheit, sonst wandern sie ab. Menschen machen zu lassen erhöht nicht nur die Geschwindigkeit, es sorgt auch dafür, dass sie gerne zur Arbeit kommen, leistungsbereit sind und gut mit Kollegen zusammenarbeiten. Das wirkt sich aus. Auch die neuen Universitäten haben das verstanden. Überfüllte Hörsäle, Prüfungen und Auflagen werden ersetzt durch interessante Projekte für Studenten, die sich selbst ihre Ziele setzen und eigenverantwortlich darauf achten, dass sie den anvisierten Lernfortschritt auch nachweisen können. Zum Beispiel an der Berliner Code University (https://code.berlin/de). Was cool anmutet, ist vor allem tough. Studenten tragen die volle Verantwortung für ihren Lernerfolg. Es gibt niemanden, der sie erinnert oder eine Leistung einfordert. Sie gestalten ihren Plan selbst und holen sich die interessanten Projekte ab. Ein Lieferservice existiert nicht. Nach der Verschulung der Hochschulen im Bologna-System zeigen sich nun neue Tendenzen.

Absolventen dieser Hochschulen kann man nicht in eine Hierarchie zwängen und ihre Freiheiten beschneiden. Sie sind kaum in traditionelle Strukturen resozialisierbar. Sie würden weder einen Chef respektieren, der ihnen sagt, was sie zu tun haben, noch würden sie sich motivieren lassen. Sie sind ihr eigener Herr, stellen gerne ihre Denk- und Arbeitsleistung zur Verfügung – vorausgesetzt, sie können sich im entsprechenden Projekt autonom einbringen und etwas lernen.

Junge Menschen wollen interessante und sinnvolle Aufgaben, die sie fordern und weiterbringen. Karriere ist keine attraktive Perspektive mehr. Die Vorstellung davon, sich um die Leistung anderer Menschen kümmern zu müssen, Gespräche führen zu müssen, zu beurteilen, mutet eher uninteressant an. Der Fokus junger Menschen liegt auf der persönlichen Kompetenzentwicklung, auf Flexibilität, Spontanität, darauf, gemeinsam etwas zu entwickeln, auf Eigenverantwortung und Spaß. Sie suchen Selbstführung. Weil sie es können.

Auch wenn viel beklagt wird, dass die Individualisierung dem Teamgeist entgegensteht, gibt es einen starken Trend bei jungen Menschen, sich zugehörig fühlen zu wollen, und ein starkes Bedürfnis nach Fairness. Vielleicht ist es in diesem Sinne relevant, unser Konzept von Teamarbeit zu überdenken. Ein neues Miteinander, auf einer ganz anderen Basis, mit neuen Anforderungen und Erwartungen kann die bisherige Teamarbeit ablösen. Ideen dazu haben bereits agile Methoden für selbst organisierte Teams zur Verfügung gestellt. Zum Beispiel Scrum, Kanban oder auch Design Thinking.

Funktionsfähige Teams

Ein interessantes Unternehmen, das sich sozial engagiert und das Ökosystem schützt, ist ein attraktiver Arbeitgeber, zu dem man sich gerne zugehörig fühlt. Und da vielen Menschen schon bewusst ist und auch wissenschaftliche Teams es immer wieder beweisen, dass große Ideen und Leistungen kein Einzelverdienst sind, kommt funktionsfähigen Teams eine noch bedeutendere Rolle zu. Zeitvergessen, gemeinsam, durch die Zusammenführung unterschiedlicher Kompetenzen etwas zu entwickeln, das es zuvor noch nicht gab – das macht richtig Spaß.

Junge Menschen wissen, dass sie nicht dafür geboren sind, Anweisungen zu folgen oder Stress zu haben. Das sah ein paar Jahre zuvor noch ganz anders aus. Die junge Generation kann oft besser entspannen als ihre Eltern und läuft auch nicht in die Burnout-Falle. Sie haben an ihren Eltern erleben können, dass 16-Stunden-Tage nicht vor Kündigung schützen, dass Familien trotz wöchentlicher Familienkonferenz nicht stabil bleiben und dass Karriereversprechen auch bei hohem Engagement nicht eingelöst werden. Deswegen überlegen sie sich genau, wofür sie ihre Lebensenergie einsetzen möchten. Junge Menschen investieren gerne Zeit und Energie, wenn sie die Möglichkeit sehen, im Rahmen ihrer Werte zu herausragenden Leistungen zu gelangen. Und das besonders gern in einem starken, funktionsfähigen Team mit vielen anerkannten Experten und einem guten Austausch. So wichtig, wie früher eine Führungsperson war, so wichtig sind heute die Teamkollegen und Kunden.

Eine straffe Organisation, konsequente Arbeitsteilung und ein Fokus auf Effizienz bringen Unternehmen ihren Kunden nicht mehr näher. Es gelingt auf Basis dieser Methoden nur noch unzureichend, Menschen durch eine hohe Komplexität zu navigieren. Wir brauchen neue Ideen und Ansätze und vor allem experimentierfreudige Unternehmensleitungen.

Es reicht, wenn jeder sich selbst führt

In den letzten Jahren intensiviert sich die Diskussion um neue Formen der Führung. Zumal es schon aus den Fünfzigerjahren Untersuchungen gibt, die nahelegen, dass man den unternehmerischen Erfolg mehr auf Glück als auf eine leistungsstarke Führung zurückführen kann. Aber diese Studien werden erst in letzter Zeit zitiert.

Zum Beispiel von dem amerikanischen Psychologen und Nobelpreisträger Daniel Kahneman. Den Effekt von Führung schätzt er auf Basis dieser Studien nur knapp über zufällig ein. Das sind etwas mehr als 50 Prozent. Nehmen wir einmal an, ein Unternehmen habe leistungsstarke Führungskräfte und ein anderes leistungsschwache, dann wäre die Verteilung von Erfolg, wenn Glück eine größere Rolle spielt, bei 1:1. Zufällig eben. Tatsächlich liegt sie bei 3:2. Leistungsstarke Führungskräfte führen Unternehmen zu 60 Prozent in den Erfolg, genau 10 Prozent mehr als andere.

Das ist schon was. Darüber kann man sich freuen. Aber würde man bei dem Ansehen, das Führungskräfte genießen, nicht mehr erwarten dürfen?

Die Wirkung von Führung, folgert Kahneman, wird überschätzt. Das Konzept Führung beruht auf der Annahme, dass die Ereignisse des Marktes vorausgesehen werden können. Laufen die Dinge in einem Unternehmen erfolgreich, schreibt man den Führungskräften Weitsicht, Reflexionsfähigkeit und Flexibilität zu. Lassen bei gleichem Verhalten die Ergebnisse zu wünschen übrig, würde man diese Zuschreibung nicht vornehmen. Die Ursache ist, dass wir an das Konzept der Führung glauben. So wundert sich mancher Aufsichtsrat, dass sich der Vorstand so verändert hat. De facto hat sich der Markt verändert.

Glück ist kein mathematisches Prinzip. Deswegen wird es nicht gerne in die Ursachenanalyse von Erfolg aufgenommen. Regression zum Mittelwert aber ist ein mathematisches Prinzip. Es besagt, dass wir immer auf einen mittleren Wert zusteuern. Regression zum Mittelwert ist so unbeliebt, weil sie zeigt, dass die einzelne Person weniger Einfluss hat als Gesetzmäßigkeiten. Das Prinzip bleibt aber dennoch gültig. Ausreißer nach oben und unten sind normal. Bezugspunkt ist der Mittelwert. Ein erfolgreiches Unternehmen regrediert zum Mittelwert, genau wie sich ein weniger erfolgreiches dorthin entwickelt. Unabhängig davon, was die Führungskräfte genau tun.

Von ökologisch über emotional bis spirituell gibt es reichlich verschiedene Führungsansätze und durch Ideen wie New Work, Beta Codex, Spiral Dynamics oder Augenhöhe sind weltweit ganze Bewegungen entstanden, die mit neuen Wegen der Führung experimentieren. Allen gemeinsam ist die Idee, dass Mitarbeiter ihre Kompetenzen nutzen dürfen, an der Arbeitsplatzgestaltung aktiv beteiligt werden und die Führungskraft kein Ansager mehr ist. Auch wenn viele Unternehmen noch nicht an ihren Paradigmen drehen, versuchen doch etliche, mit kleinen Hebeln die Kultur zu beeinflussen. Und wenn sie nur die Teams vergrößern, damit es Führungskräften nicht mehr möglich ist, Mikromanagement zu betreiben. So lernen sie zwangsläufig zu vertrauen.

Konsequent weitergedacht kann man neben einer Unternehmensleitung auf weitere Führungskräfte verzichten. Wenn jeder sich selbst führt und aufmerksam auf sein Umfeld blickt, dann müsste es auch ohne Führungskraft gelingen, besondere Erfolge zu erzielen. Vorausgesetzt, alle wissen, wie es geht. Und weil keiner stört, sich einmischt, es besser zu wissen meint oder Ideen durchdrücken will.

Diesen Gedanken möchte ich in diesem Buch darstellen und verfeinern. Denn Führungslosigkeit heißt nicht Chaos oder Willkür. Das befürchten Menschen, die im Führungsparadigma sozialisiert sind und daran glauben. In voller Selbstverantwortung und eingebettet in ein Team arbeiten zu dürfen, kann ein wundervolles Privileg sein, das besondere Leistungen ermöglicht.

Und das ist nicht nur eine Idee, sondern es stehen bereits Organisationen Pate dafür. Start-ups suchen neben interessanten Geschäftsideen auch meist innovative Formen der Organisation und Zusammenarbeit. Nun könnte man sagen, dass ein Start-up im IT-Umfeld prädestiniert ist für neue Arbeitsformen. Schließlich ist beispielsweise Scrum in diesem Umfeld entwickelt worden. Ein traditioneller Konzern kann da nicht mithalten. Aber auch im traditionellen Umfeld außerhalb des Silicon Valleys gelingt es, sich von Führung loszusagen. Sogar in einem Umfeld, in dem es eigentlich keine Alternative zu einer schillernden Leitfigur gibt: in der Welt der Musik.

Das Orpheus Chamber Orchestra (http://orpheusnyc.org/) aus New York hat seit 1972 (!) keinen Dirigenten. Obwohl es für Kammerorchester undenkbar ist, ohne Dirigenten erfolgreich zu sein, besteht das Orchester seit nun 50 Jahren und hat mehrere Awards gewonnen.

Das Orchester versteht sich nicht als führungslos. Jeder führt sich selbst und seine Kontaktpunkte. Voraussetzung ist, dass jede Person sich als Führungspersönlichkeit mit hoher musikalischer Kompetenz und hoher Selbstkompetenz versteht. Das genügt, um erfolgreich miteinander musizieren zu können. Und alle organisatorischen Aufgaben werden untereinander aufgeteilt.

In diesem Geist kann ein neuer Musiker, der zum Orchester hinzustößt, seine Kompetenz und seine Selbstbestimmung behalten. Mit einem hohen Maß an Aufmerksamkeit für seine Instrumentalgruppe und auch für die anderen Musiker gelingt es, etwas großes Gemeinsames zu schaffen. Ein Dirigent? Wozu?

Teil 1

Überlegungen

Technologie führt

Eliza war der erste psychotherapeutische Chatbot. Sie unterhielt sich in den Sechzigerjahren mit ihren Nutzern, fragte sie nach ihrem Befinden und antwortete nach den Regeln der Gesprächspsychotherapie. Da nicht immer ein Psychotherapeut zur Verfügung stand, konnten Patienten die Maschine nutzen, wann immer ihnen nach einem Gespräch zumute war. Und die Patienten fanden das klasse. Ein Gesprächspartner on demand. Einer, der jederzeit geduldig zuhört und immer verfügbar ist. Wunderbar. Und sehr modern. Sie können das einmal ausprobieren. Unter http://www.med-ai.com/models/eliza.html.de können Sie Eliza erreichen.

Eliza war so beliebt, dass aus ärztlicher Sicht von der Maschine eine Gefahr ausging: Die Wissenschaftler beobachteten, dass sich die Patienten emotional an Eliza banden und sich darauf freuten, mit ihr zu sprechen. Eine emotionale Bindung an eine Maschine schien aus ärztlicher Sicht damals unethisch – außer vielleicht an ein Auto – und man stellte Elizas Service ein. Sehr zum Leidwesen der Patienten. Immerhin pflegten auch damals schon Menschen ihr Auto manchmal liebevoller als ihren Partner, bauten kleine Häuser, damit das Auto vor Wind und Wetter geschützt stand, und strichen hingebungsvoll über die Rundungen des Kotflügels. In Car Clinics wird heutzutage das gute Stück repariert. »Car care you can trust« klingt mehr nach einem Kinderkrankenhaus als nach einer Werkstatt.

Damals wusste man noch nicht, dass Menschen etwa 40 Jahre später mit ihrem Smartphone das Bett teilen würden. Es schläft auf der gleichen Matratze, unter der gleichen Decke oder gar auf dem Kopfkissen. Und man wusste auch noch nicht, dass Menschen hässliche hektische Flecken bekommen würden, wenn sie nicht wissen, wo sich ihr Smartphone gerade befindet – meist liegt es auf der Toilette. Viel entspannter reagieren Menschen, wenn sie nicht wissen, wo ihr Partner gerade ist.

Default-Modus-Kommunikation

Heute steuert die Kommunikationstechnologie unseren Alltag. Sie steht im Vordergrund, strukturiert und will bedient werden. Das Smartphone weckt, erinnert an Termine und To-dos, macht auf Wichtiges aufmerksam, gibt Produktempfehlungen, hält Sprachlektionen bereit, konserviert schöne Momente, kommuniziert in die Gruppen und zu wichtigen Personen und transportiert unsere Emotionen. Was mit harmlosen Geburtstagserinnerungen begann, hat sich zu einem vollumfänglichen Assistenzsystem entwickelt.

Erreichbarkeit ist heute die Standardeinstellung – der Default-Modus. Die Antworterwartung liegt im Minutenbereich. Nichterreichbarkeit wird angekündigt: »Ich bin mit Anna im Kino«, wobei es manchen Menschen schon schwerfällt, im Kino das Smartphone wegzustecken. Früher gab es geschützte Orte für die Kommunikation, heute geschützte für Nicht-Kommunikation. Für Ruhe. Offline zu sein heißt quasi, nicht zu existieren, und es fällt schwer, das zu genießen. Fluglinien werben (noch) mit einer Zeit »Überden Wolken und ganz für sich«, es gibt die ersten Handyverbotszonen und es beginnt eine kleine, noch ganz verhaltene Offlinekultur – zum Beispiel in Wellnessbereichen oder exotischen Cafés: »Schließen Sie Ihr Smartphone heute einmal ein.«

Dem sogenannten Multitasking – »Ich spreche zwar mit dir, aber lass dich nicht stören, wenn ich dabei meine Chats durchgehe« – wird eine neue Aufmerksamkeitskultur entgegengesetzt. Ein Phänomen, das immer dann zuschlägt, wenn etwas abhandengekommen ist. Ist die Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt verloren gegangen, wird sie propagiert. Gibt es keine Ruhezonen im Alltag, gehen wir zum Schweigewochenende ins Kloster, wurde die körperliche Aktivität aus dem Alltag verbannt, buchen wir uns im Fitnesscenter ein. Lassen wir uns leicht ablenken, planen wir ein Wochenende Achtsamkeit auf Mallorca. Das, was wir nicht mehr können, wird zum Trend.

Aber der Technik-Trend ist kaum umkehrbar. Immer stärker verweben sich Mensch und Maschine, was dazu führt, dass wir nicht mehr eindeutig erkennen können, wer unser Gegenüber ist. Wir können schwer unterscheiden, ob ein Artikel, ein Wikipedia-Eintrag oder eine Message von einem »Bot« oder von einem Menschen geschrieben ist. Wir wissen im Zweifel auch nicht, ob auf unsere Anfrage bei einer Behörde oder einem Unternehmen tatsächlich ein Mensch geantwortet hat. Wir wissen ferner nicht, wer die Bewertung für einen Arzt oder ein Hotel verfasst hat. Wenn die Antwort tatsächlich auf die gestellte Frage abzielt, sie grammatikalisch richtig und fehlerfrei geschrieben ist, dann ist höchstwahrscheinlich ein Bot am Werk. Und manch einer kommuniziert sogar lieber mit einem Bot als mit einem Menschen, da die Antworten voraussagbarer, logischer und folgerichtiger erscheinen.

Internet that thinks

Es fehlen nur noch geringe Entwicklungen, bis Roboter in der Pflege eingesetzt werden können, und auch in der Psychotherapie sind die Bots geduldiger – falls man einer Maschine solche Fähigkeiten zuschreiben mag –, hören sich ohne Murren lange Erzählungen an und erwarten nicht, dass wir unser Anliegen im WhatsApp-Format formulieren. Entsprechende Apps sind auf dem Vormarsch und werden rasant genutzt, auch wenn Psychotherapeuten immer wieder davor warnen, die Apps als Therapieersatz einzusetzen. Und bald schon wird Schrift an sich überholt sein. Alexa, OK-Google, Siri, Cortana und Co. machen es möglich. Wir sprechen mit unseren Bot-Assistenten genauso wie mit Menschen. Tippen wird überflüssig.

So können wir zukünftig eine kleine Therapiesitzung einwerfen, während wir zum Einkaufen gehen, und sogar noch unsere Chats parallel sortieren. Einmal am Tag ein bisschen Psycho kann ja nicht schaden.

Neue Technologien prägen und verändern Gesellschaften stärker, als politische Systeme es jemals vermochten. Privatsphäre ist heute kaum noch ein Thema. Überprüfbarkeit im Sinne der Sicherheit ist gewünscht. Das Privatleben ist offenbarer als in Häusern ohne Gardinen. Öffentlicher, als es mit einer Volkszählung jemals hätte werden können. Die Trennung zwischen Official Life, Private Life und Secret Life verfließt. Auch wenn der Lebenspartner unser Secret Life nicht kennt, Google und Co. wissen darüber Bescheid. Das Profil, das von uns gezeichnet werden kann, ist genauer als das, welches ein nahestehender Mensch von uns entwerfen könnte. Es braucht nur wenige Likes bei Facebook, um Rückschlüsse zu einer Person, deren Verhaltenspräferenzen und Vorlieben zu ziehen.

Das Internet of things, die alle miteinander kommunizieren, wird sich binnen Kürze in ein Internet that thinks wandeln. Und dann kehren sich die Verhältnisse möglicherweise nach und nach um. Im Moment noch nutzen wir die Maschinen für unseren Komfort. An Smartphone, Apple Watch und Co. sehen wir schon deutlich, wie Maschinen unsere Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen beeinflussen: »Du musst noch Mama anrufen und 2000 Schritte gehen.« Und wenn diese Geräte lernfähig sind und uns immer besser verstehen, ist der Weg nicht mehr weit, dass sie uns lenken: »Heute kein Zucker mehr.«

Der Chef der Zukunft ist eine App

Technologie steuert nicht nur den privaten Alltag, sie hat längst einen festen Platz im Unternehmen. Prozesse rund um den Kunden werden nicht mehr von bedürfnisorientierten, optimalen oder logischen Abläufen geprägt, sondern orientieren sich an den Vorgaben und Möglichkeiten der gewählten Technologie. Was ehemals als Unterstützung gedacht war, übernimmt nach und nach die Führung, da es Möglichkeiten vorgibt. Ohne IT ist eine Produktion, eine Distribution oder eine Dienstleistung undenkbar geworden. Menschen haben sich abhängig gemacht von Technik und integrieren sie selbstverständlich in ihren beruflichen und privaten Alltag. Der Wettbewerbsvorteil eines Unternehmens hängt inzwischen maßgeblich von der gewählten unterstützenden Technologie ab. Unzureichende CRM-Systeme, unlesbare Angebote und fehlende Schnittstellen beispielsweise werfen extrem zurück.

Das Schöne an dieser technischen Revolution ist, dass wir als Menschen so wieder die Arbeiten übernehmen können, die unseren geistigen und emotionalen Fähigkeiten entgegenkommen. Vorbei ist bald die Zeit der Fließbandarbeit, die Zeit des stumpfsinnigen Abarbeitens, die Zeit der immer wiederkehrenden Tätigkeiten. Diese legen wir getrost in die Hände von Bots. Die Entfremdung nimmt ab. Wir können uns wieder genau wie als Jäger und Sammler Tätigkeiten hingeben, die uns voll fordern, Spaß machen und unsere soziale Natur bedienen. Anders als unsere Vorfahren in der Steinzeit, aber nicht mehr schlechter.

Nicht nachvollziehbar ist die Idee, dass die Technologie vor den Toren der Führung haltmacht. Und an manchem Trend kann man schon erkennen, welche Richtung das nehmen wird. Unternehmen experimentieren in ihren Thinktanks und in der Praxis mit der Abschaffung von Personal und Personalentwicklung. Alles, was diese Abteilungen leisten können, so die Annahme, folgt programmierbaren Regeln. Außerdem gibt es Belege, dass Maschinen manches besser können. Zum Beispiel liegen sie treffsicherer, wenn es um die Auswahl von geeigneten Personen für bestimmte Rollen im Unternehmen geht. Ihr Urteil ist weniger von persönlichen Präferenzen getrübt, ergaben die Forschungen von Dan Ariely und seinem Team. Das »Look and Feel« fehlt dann bei der Auswahl – ein Faktor, der Menschen viel Sicherheit geben kann. Und so werden Algorithmen zukünftig die Personalarbeit und die Teile der Führung übernehmen, die heute das Mittelmanagement viel Energie und Zeit kosten: Zeiterfassung, Urlaubsplanung, Übertreten von Regeln, Diskussionen um Ausnahmen, Begründungen für mehr Budget, Ringen um Ziele und Bewertung derselben, Kontrolle und Konsequenz. Alles Themen, die oft nicht nur eine Führungsebene beschäftigen, sondern im Flaschenhalsprinzip nach oben weitergegeben werden. Bots sind da anders drauf: S-Bahn verpasst? Abzug im Zeitkonto. Kollegen sind bereits im Urlaub? Ablehnung des Urlaubsantrags. Dem Kunden eine Flasche Wein zu viel ausgegeben? Abzug vom Budget. Ein Mitarbeiter leistet Minder- oder Überstunden? Anzahl der Mehrstunden überschritten? Kein Problem, automatisch wird die Gehaltszahlung angepasst. Noch mehr gearbeitet? Schade. Mehr Geld gibt es nicht. Ein Mitarbeiter überschreitet Complianceregeln? Automatisch wird ihm eine entsprechende Ermahnung zugestellt, die bei Wiederholung auch zum Ausschluss vom Unternehmen führen kann. Und das alles ganz ohne Diskussion, Emotion und Zeitinvest. Big Data macht es möglich.

Die Gründe für all das interessieren einen Bot nicht. Er handelt nach den programmierten Regeln, lernt im Zweifel dazu und setzt konsequent um. Bald schon interagiert der persönliche Bot mit dem Bot des Unternehmens und klärt für den Besitzer Unannehmlichkeiten.

»Übrigens wollte dir Robby wieder das Flugticket nicht erstatten. Aber das konnte ich klären. Das Geld hat er schon angewiesen.«

Schon heute laufen Menschen auf der Straße herum und sprechen scheinbar mit sich selbst. Was vor 30 Jahren noch ein Fall für die Psychiatrie gewesen wäre, prägt das moderne Stadtbild. In größeren Städten sogar auf eigenen Laufspuren – zwischen Fahrrad- und Fußweg. So werden wir zukünftig auch dann sprechen, wenn wir alleine im Büro oder zu Hause sind. Mit digitalen Systemen werden wir in Zukunft so kommunizieren wie mit einem Menschen. Dank KI können Chatbots bald mehr als reagieren. Sie werden uns beraten, können unsere Launen einschätzen und darauf eingehen, noch ehe wir selbst etwas merken.

»Ich glaube«, sagt unser Robby, »du setzt dich mal einen Moment in den Garten und ich bringe dir einen Café. Das wird dir guttun.«

Bots sind einfach strukturiert, klar und noch berechenbar. Algorithmen sind unbestechlich, unemotional und halten sich in jedem Fall an ihre Programmierung. Sie können gar nicht anders. Der Mensch lernt daraus, sich frühzeitig zu organisieren, die Konsequenzen für sein Handeln zu tragen und sich nicht auf die Güte eines Chefs oder auf sein eigenes Überzeugungsgeschick zu verlassen. So verdient keiner mehr besser, weil er mehr Verhandlungsgeschick hat. Der Chef drückt kein Auge mehr zu, weil die Situation so schwierig war. Und wir erhalten keine Fristverlängerung, weil wir schlecht geplant haben.

Wie einst Lesen, Schreiben und Rechnen entstehen neue Basiskompetenzen, über die jeder verfügen sollte, der in Unternehmen tätig ist und immer wieder mit Algorithmen interagiert. Schwer, sich an dieser Stelle zu entziehen, denn auch als Verbraucher oder auch als Bürger wird Informatik als Basiskompetenz unverzichtbar.

Jedem seinen Bot

Heutige Bots sind extrem lernfähig. Sie passen sich an menschlichen Jargon an, übernehmen Begriffe, verstehen Kontexte. Autonomie und On-demand-Lösungen setzen sich durch. Interaktionen mit Menschen gehen manche junge Leute gerne aus dem Weg. Ein Bankberater? Kann ich das nicht im Internet recherchieren? Ein Verkäufer? Die Infos suche ich mir lieber selbst. Ein Psychotherapeut? Ich glaube, die App reicht mir.

Apps sind Algorithmen für Faule. Direkt verfügbar und leistungsfähig. Der Umweg über einen Browser wird überflüssig. Und zukünftig sind Apps auch per Spracherkennung nutzbar. Schätzungen zufolge arbeiteten bereits 2016 0,6 Prozent aller Erwerbstätigen im Bereich App. Tendenz steigend. Apps sind die Assistenten des Lebens. Wir tragen sie in der Hosentasche, in der Hand oder am Handgelenk. Vielleicht auch bald in der Brille oder im Ohr. Und immer mehr Menschen entwickeln selbst Apps. Unter Dreizehnjährigen gibt es Profis und Unternehmensgründer.

Angenehme Musik, warmes Licht und eine wohltemperierte Badewanne erwarten uns, wenn wir nach Hause kommen. Auch wenn wir Single sind.

»Kannst du mal bitte das Licht etwas heller stellen, ich möchte lesen.« »Ja. Gerne. So oder lieber noch heller?« »Ist okay. Und eine Pizza wäre auch ganz schön.« »Wie immer mit Rucola und Parma-Schinken?«

Die App kennt unsere Vorlieben, kann unsere Stimmungen wahrnehmen und unser Umfeld darauf abstimmen. Das können Menschen zwar auch, wollen es aber nicht immer.

Kurz und knackig

Technologie bestimmt unseren Alltag und unser Verhalten.

Bots arbeiten in vielen Bereichen präziser und weniger fehleranfällig als Menschen.

Administrative Führungsaufgaben können von Bots erledigt werden.

Programmieren wird zu einer Basiskompetenz wie Lesen, Schreiben, Rechnen.

Selbstführung als Basisprinzip

Wäre »Fehler finden bei anderen und sie ihnen aufs Brot schmieren« eine olympische Disziplin, würden die meisten Menschen ganz oben mitspielen. Wir sprudeln vor Ideen, haben jede Menge Tipps für Kollegen, Mitarbeiter, Chefs, Kunden, Partner, Kinder, Eltern und Hund, wenn es darum geht, wie diese sich besser verhalten können. Es gibt eigentlich niemanden, zu dem uns nichts einfiele. Man braucht sich nur fünf Minuten auszutauschen und schon liegt uns ein entsprechender Kommentar auf den Lippen. Meist eine nett gemeinte Empfehlung.

Und dann geht es los. Wir reden – meist zu lange. Wir mischen uns ein – obwohl es uns nichts angeht. Wir reden dem anderen etwas ein – was er nicht möchte. Etwas aus – an dem er hängt. Wir fällen Urteile – obwohl uns keiner darum gebeten hat. Und die Königsklasse: Wir geben supertolle Ratschläge, die alles einfacher und besser machen würden. Scheinbar für den anderen. Im Grunde genommen nur für uns selbst. Kurz: Wir nerven.

Schön, dass wir diesen Drang nach Entwicklung in uns spüren. Schade, dass wir andere quälen, anstatt bei uns selbst zu starten. Genug zu tun gäbe es in jedem Fall. In den Spiegel blicken, Dinge identifizieren, die wir verbessern möchten, und diese anpacken. Das ist der Schlüssel für beruflichen und privaten Erfolg.

Oft ist der eigene Spiegel verzerrt oder nahezu blind. Es ist ganz schwer, einen freien Blick auf sich selbst zu erhaschen. Zu viele Reflektoren haben wir im Laufe der Zeit vor unserem Spiegel des Selbst aufgebaut. Unsere Inszenierung steht. Und diese verteidigen wir mit ganzer Kraft. Wir wollen vor uns selbst in einem guten Licht erscheinen, weichgezeichnet, geschönt, überdurchschnittlich.

Ich aggressiv? Niemals. Unkooperativ? Kann nicht sein. Gar inkompetent? Unmöglich.

Auch wenn wir schon viel erfahren und erreicht haben. Auch wenn wir uns optimal selbst managen und unseren Alltag gestalten können. Auch wenn wir rundum zufrieden mit uns selbst sind: Wir haben alle blinde Flecken, die in der Zusammenarbeit Probleme aufwerfen können. Deswegen hatten es Führungskräfte manchmal nicht ganz leicht mit uns. Und sie haben versucht, uns zu ändern. Auch das war nervig.

Zur Selbstführung gehört, sich jeden Tag etwas weiterzuentwickeln. Jeden Tag zu prüfen, ob das, was man tut, das gewünschte Ergebnis erzielt, oder ob eine andere Art und Weise zielführender sein könnte. Blinde Flecken erschließen sich schwer durch Selbstreflexion. Das ist ihr Wesen. Auch bei aller Aufmerksamkeit bekommen wir eine ganze Menge nicht mit. Deswegen brauchen wir andere Menschen. Ihre Reaktion kann uns die Augen öffnen, wenn wir es zulassen. Denn andere Menschen sind der beste Spiegel für unser Selbst.

Jemand weicht meinem Blick aus. Vielleicht schaue ich ihn zu durchdringend an? Jemand beteiligt sich nicht. Möglicherweise gebe ich ihm keinen Raum? Jemand redet ununterbrochen. Vermutlich fürchtet er meine Fragen? Jemand berichtet nur über Probleme. Betrachtet er meine Einschätzung als zu idealistisch? Jemand sucht Abstand. Komme ich zu nahe?

Jeder Tag bietet unzählige Möglichkeiten, sein eigenes Verhalten zu reflektieren und sich systematisch weiterzuentwickeln. Wenn man das möchte. Setzen wir weniger Energie dafür ein, andere zu ändern, Vorwürfe zu machen oder einen Schuldigen zu finden, haben wir Zeit, um uns selbst zu ergründen. Dann können wir erkennen, dass das Schweigen des Gegenübers nicht unbedingt Zustimmung bedeutet. Auch bedeutet es in den seltensten Fällen, dass unser Redebeitrag genial ist. Oder dass unsere erleuchtete Erscheinung den anderen sprachlos macht.

Eine gewisse Selbstüberschätzung ist psychisch durchaus gesund. Zu viel auf den eigenen Bauchnabel zu schauen und sich kritisch selbst zu reflektieren, kann auch vom Wesentlichen ablenken und uns dazu verführen, uns zu wichtig zu nehmen. Und das entspricht nicht unbedingt der Realität. Gleichzeitig lohnt der Blick auf den eigenen Anteil. Weil dieser oft für uns verborgen bleibt, hilft ein fremder, kompetenter Blick. Für eine gelungene Selbstführung brauchen wir in manchen Lebensphasen oder Situationen Unterstützung.

Aus einer eigenen unreflektierten und emotionalen Sicht heraus beurteilen wir andere oft schlechter, als sie es verdient haben. Wir unterstellen Inkompetenz oder schlichtweg Faulheit und fühlen uns in dem Moment der Unterstellung pudelwohl. Ist der andere abqualifiziert, dann fühlt man sich doch gleich selbst wieder etwas besser. Nahezu aufgerichtet.

Wenn wir so urteilen, haben wir meist nicht das gesamte Licht im Oberstübchen eingeschaltet, das uns zur Verfügung steht. Denn im Schummrigen urteilt es sich deutlich leichter. Das Urteil wird dann zumindest nicht durch Fakten getrübt. Und das ist der Moment, in dem wieder deutlich wird, dass Führung eigentlich das Ziel haben müsste, die Fähigkeit zur Selbstführung zu unterstützen.

Knapp neben der Realität ist auch vorbei

So warten manche Menschen bis heute auf den Prinzen, der auf dem weißen Ross würdevoll heranreitet, oder auf die gute Fee, die Wünsche von den Augen abliest und sie sofort erfüllt. Wir halten an Vorstellungen fest wie Wahnkranke an ihren Stimmen. »Ich arbeite zuverlässig, also müssen alle anderen auch zuverlässig liefern.« Ist das realistisch? Vermutlich nicht. Trotzdem legen viele Menschen diese Vorstellung nicht ab. Pünktlichkeit ist eine Zier, aber nicht für jeden. Ehrlichkeit genauso wenig. Außerdem ist es nicht einmal klug, immer offen und ehrlich auszusprechen, was man denkt. »Und wenn alle nachdenken würden«, wie viele Menschen gebetsmühlenartig erbitten, wären wir vermutlich auch nicht weiter. Denn andere Personen haben genauso nachgedacht wie wir selbst. Sie kommen einfach nur zu einem anderen Ergebnis.

Wir leben in einer Welt von Vorstellungen. Darum denken und planen wir nicht selten an der Realität vorbei. Wir schätzen Zeiten und Abstimmungsprozesse falsch ein. Wir planen auf der Basis von unrealistischen Voraussetzungen und Annahmen und sind enttäuscht, wenn die Dinge nicht so laufen, wie wir uns das vorgestellt haben.

Die eigene Wahrheit hat mit Objektivität nichts zu tun. Und trotzdem halten wir daran fest. Auch wenn wir eigentlich wissen, dass sich Dinge immerzu verändern. Wir leben in unserer eigenen Welt.

Manchmal braucht es einen sanften Schubs von außen, um zu erkennen, dass wir knapp danebenliegen. Nicht alles, was wir denken, trifft zu. Manchmal hilft es, wenn uns jemand aufmerksam macht und uns zu einer guten Selbstführung zurückbringt, indem er uns einfach fragt: »Merkste was?« und uns dann dabei unterstützt, in Optionen zu denken: »Wie magst du damit umgehen? Was kannst du jetzt tun?«

There is no such thing as a free lunch (TINSTAAFL)