Kein Teil von mir ist schlecht - Richard C. Schwartz - E-Book

Kein Teil von mir ist schlecht E-Book

Richard C. Schwartz

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  • Herausgeber: Arbor
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

– Mit einem Vorwort von Alanis Morissette – Die Arbeit mit Persönlichkeitsanteilen hat die Psychologie verändert. Das Modell des inneren Familiensystems von Richard C. Schwartz, bekannt als IFS, hat dazu einen wertvollen Beitrag geleistet. In diesem Buch erfahren Sie, warum IFS in der Therapie und besonders in der Behandlung von Trauma, Suchtproblemen und bei Depressionen so effektiv ist – und wie dieses neue Verständnis unseres Bewusstseins das Potenzial hat, unser Leben radikal zu verändern. Dieses Buch hilft Ihnen, Ihr weises, mitfühlendes Selbst zu entdecken, die Quelle von Heilung und Harmonie. Zudem enthält es präzise Anleitungen, wie Sie Ihre Anteile kennenlernen und mit ihnen in Kontakt treten, wie Sie mit herausfordernden, beschützenden Teilen arbeiten und innere Kritiker und Saboteure zu mächtigen Verbündeten machen. "Unsere Anteile können manchmal störend oder schädlich sein, aber sobald sie entlastet sind, kehren sie zu ihrer wesentlichen Güte zurück. Wenn wir lernen, alle unsere Teile zu lieben, können wir lernen, alle Menschen zu lieben – und das wird zur Heilung der Welt beitragen." Richard C. Schwartz

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Richard C. Schwartz

Kein Teil von mir ist schlecht

Mit dem Modell des inneren Familiensystems Trauma heilen und zur Ganzheit zurückfinden

Mit einem Vorwort von Alanis Morissette

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Bernhard Kleinschmidt

Arbor Verlag

Freiburg im Breisgau

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Einleitung

TEIL 1: INNERE FAMILIENSYSTEME

1 | Wir sind alle multipel veranlagt

Übung: Einen beschützenden Teil kennenlernen

Übung: Eine Teile-Karte zeichnen

2 | Warum Teile mit uns verschmelzen

Übung: Sich von Teilen lösen und in den Körper kommen

Sitzung 1: Sam

3 | Das ändert alles

Übung: Die Dilemma-Meditation

Übung: Mit einem schwierigen beschützenden Teil umgehen

4 | Mehr über Systeme

Übung: Eine tägliche IFS-Meditation

5 | Ein Grundriss unseres inneren Systems

Sitzung 2: Mona

TEIL 2: SELBSTFÜHRUNG

6 | Heilung und Transformation

Übung: Der Pfad

Übung: Zugang zum Selbst durch Lösen von unseren Teilen

7 | Das Selbst in Aktion

Sitzung 3: Ethan und Sarah

8 | Vision und Zweck

Übung: Feueralarm

Übung: Meditation über eine traurige Person

TEIL 3: DAS SELBST IM KÖRPER UND DER WELT

9 | Lebenslektionen und Quälgeister

Übung: Eine Teile-Karte zeichnen (erweiterte Version)

Übung: Mit Auslösern arbeiten

10 | Die Gesetze der inneren Physik

Übung: Fortgeschrittene Arbeit mit beschützenden Teilen

Sitzung 4: Andy

11 | Im Körper sein

Sitzung 5: TJ

Übung: Körpermeditation

Abschließende Gedanken

Danksagung

Zum Autor

Landmarks

Cover

Inhaltsbeginn

Abschluss

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel: No Bad Parts. Healing Trauma & Restoring Wholeness with the Internal Family Systems Model bei Soundstrue, Boulder, CO, USA.

Deutsche Erstausgabe

1. Auflage 2022

Copyright der deutschen Ausgabe © 2022 Arbor Verlag GmbH, Freiburg

Copyright der Originalausgabe © 2021 by Richard C. Schwartz

Copyright Vorwort © Alanis Morissette

This translation published by arrangement with Sounds True and by the agency of Agence Schweiger

Lektorat: Ralf Lay

Umschlaggestaltung: © mediengenossen.de nach einem Entwurf von Lisa Kerans

Satz: mediengenossen.de

Alle Rechte vorbehalten

www.arbor-verlag.de

ISBN 978-3-86781-376-1

Vorwort

Ich erinnere mich gut daran, wie ich das von Dick Schwartz entwickelte Modell der Inneren Familie IFS (The Inner family systems Therapy) praktisch kennenlernte. Inmitten des zweiten Schubs einer Wochenbettdepression war ich nach Asheville in North Carolina geflogen, um mich damit auseinanderzusetzen, weshalb ich chronisch überarbeitet war, mehr tat, als von mir verlangt wurde, und mich allgemein zu sehr strapazierte. Eine solche Lebensweise gilt heute zunehmend als normal und wird sogar propagiert, obwohl sie verheerende Folgen für unseren Körper, unser Gefühlsleben und unsere Beziehungen hat. In Asheville verbrachte ich mehrere Tage bei Bryan Robinson, der einen wichtigen Beitrag zur Behandlung von Arbeitssucht geleistet hat. Ich wollte mit aller Kraft einen Blick auf die Elemente meiner inneren Welt richten, die mich in Erstarrung versetzten, während ich mich zugleich hektisch im immer schneller werdenden Hamsterrad des Lebens abstrampelte.

Während einer tiefen Erkundung meines Zustands sah ich Bryan plötzlich an und fragte: »Was ist das eigentlich, Bryan?«

»Das ist IFS«, antwortete er.

Ich lächelte, weil ich diese Methode so elegant, zutiefst freundlich und umfassend fand. Ich konnte meinen Sitz des Bewusstseins ­wesentlich ­leichter finden, wenn ich einen Dialog mit den vielen unterschiedlichen Teilen in meinem Innern führte, von denen manche sich schon sehr lange nach Aufmerksamkeit sehnten. Bei der IFS-Arbeit fand ich einen Anker, eine Haltung der warmen Neutralität und des neugierigen Beobachtens. Außerdem fand ich Mitgefühl für mich selbst, obwohl ich es bis dahin als beinah unmöglich empfunden hatte, meiner Psyche so etwas zukommen zu lassen.

Solange ich mich erinnern kann, bin ich eine Person mit Teilen. Der komplexe, zerbrechliche und vielfältige Zustand des menschlichen Daseins hat mich schon immer fasziniert. Als ich anfing, mich mit IFS zu beschäftigen, begeisterte mich die Vorstellung, dass ich zu unserer angeborenen Ganzheit zurückkehren konnte, indem ich jedem »Teil« von mir Aufmerksamkeit und Fürsorge zukommen ließ, egal, wie bewundernswert, erschreckend, hartnäckig und manchmal auch schmerzhaft er sich darstellte. Es war ermutigend, dass mein wütender Teil, mein mütterlicher Teil, mein künstlerischer Teil, mein finanziell verantwortungsvoller (oder verantwortungsloser!) Teil und mein freigeistiger Teil mir irgendwie Erkenntnisse vermitteln konnten, wenn ich ihnen nur mein Herz öffnete und sie mit Neugier betrachtete. Jeder Teil – so beängstigend, erhellend oder geheimnisvoll er auch scheinen mochte – konnte mir Weisheit, Trost und Impulse vermitteln.

Mit der Zeit sah ich diese inneren Teile als Boten. Wenn ich mit ihnen in einen Dialog eintrat, brachten sie mir Orientierungshilfen und Einsichten. Dadurch konnte ich das ganze System meiner vielen »Ichs« in meine Persönlichkeit und meinen Alltag integrieren. Sogar mit- und untereinander konnten die Teile kommunizieren, unterstützt von meinem höchsten Selbst. Dadurch ergaben sich Klarheit, Ideen und Antworten auf scheinbar unüberwindlich komplizierte Fragen zu meinem Leben. Diese Antworten kamen schnell und spontan, während ich sprechend, schreibend, mit Bewegungen und durch künstlerische Mittel mit den vielen Teilen in mir kommunizierte, selbst und gerade dann, wenn es jene waren, die mir am meisten Angst machten.

In meiner inneren Welt begegnete ich meinem mörderischen Zorn, meiner Beschämung, ich begegnete Schrecken, Depression, Schmerzen und Sehnsüchten, Demütigungen und Kummer. Neben diesen »dunklen« oder »schlechten« Teilen, die mich scheinbar zur Wiederholung bestimmter Muster und zu schmerzhaften Gewohnheiten verdammen wollten, gab es aber auch »helle« oder »gute« Teile, bei denen es ebenfalls Mut erforderte, wenn ich mich ihnen öffnen wollte. Es waren visionäre, großzügige und intelligente Teile, solche mit Führungsqualitäten und mit Begabungen, Empfindsamkeit und Empathie. Mit manchen Teilen konnte ich leichter kommunizieren als mit anderen, wieder andere kamen mir riskanter oder geradezu bedrohlich vor. Je tiefer ich in die IFS-Arbeit vordrang, desto mehr kamen mir die Worte und Gedanken von Dick Schwartz befreiend wahr vor – dass jeder Teil, so quälend er sich auch verhielt und so verborgen, verwirrend oder schmerzhaft er auch war, die besten Absichten für mich hegte und hilfreiche Botschaften bereithielt. Ausnahmslos schenkte mir jeder einzelne Teil, ob verbannt oder beschützend, zutiefst wohlwollende und weise Einsichten, wenn ich ihn von meinem höchsten Selbst aus betrachtete und wenn ich mir nur die Zeit nahm, mich mit ihm zu beschäftigen.

Während ich immer vertrauter mit IFS wurde, kam ein erfüllendes Gefühl der Spiritualität zum Vorschein. Das war eine seelenvolle Belohnung dafür, dass ich meiner Neugier erlaubt hatte, ganz langsam mein gefesseltes Herz zu öffnen. Ich sah, dass das Selbst, das einen Dialog mit allen Teilen des Egos führte, meine Seele und die Seele an sich war. Durch dieses Gewahrsein ergab sich ein direktes, körperlich empfundenes Gefühl von Gott/Liebe/Geist/Mitgefühl. Mir wurde klar, dass der wahre Dialog dann begann, wenn ich den »Sitz« des Selbst fand. Erkennen würde ich das, wenn ich mir der acht an keine bestimmten Ziele gebundenen Eigenschaften bewusst wurde, die IFS dem Selbst zuschreibt: Kreativität, Mut, Neugier, Verbundenheit, Mitgefühl, Klarheit, Ruhe, Selbstvertrauen. Was mich mein ganzes Leben lang eingeschüchtert hatte – nach innen zu gehen, um Verantwortung für meine Begierden, Zwänge, Auslöser und Reaktionen zu übernehmen und sie zu erforschen –, wurde allmählich zu einer aufregenden Aufgabe. Durch IFS wurde die ganze analytische und Schattenarbeit, die ich bereits geleistet hatte, auf eine völlig neue Ebene der Heilung gehoben.

Ich bin sehr dankbar, dass Dick Schwartz sich weiterhin engagiert, IFS weltweit bekannt zu machen. Zu sehen, wie er mit Menschen arbeitet, ist eine wahrhaft bewegende Erfahrung. Ich glaube, wir brauchen IFS heute mehr denn je, denn wir können damit Freundlichkeit, Weisheit und Kraft gewinnen, wenn wir bereit sind, nach innen zu blicken. Dabei erhält jeder einzelne Teil von uns einen Moment im Licht. Indem wir den Teilen, die es am meisten brauchen, unsere Aufmerksamkeit zuwenden, kommt es zu einer echten Heilung. Und während in uns das Mitgefühl für uns selbst wächst, hat das auch langsam, aber sicher eine Wirkung auf unsere Umgebung. Es unterstützt unser Wachstum und die Entwicklung einer Welt, in der es weniger Uneinigkeit, Streit und sinnloses Leiden gibt. Wir erkennen, dass unsere zugleich empfindliche und strahlende Menschlichkeit uns allen gemeinsam zu eigen ist.

Alanis Morissette

San Francisco, Kalifornien März 2021

Einleitung

Als Psychotherapeut habe ich mit vielen Menschen gearbeitet, die zu mir kamen, nachdem ihr Leben kurz zuvor regelrecht zusammengebrochen war. Alles war bestens gelaufen, bis unvermutet ein Herzinfarkt, eine Scheidung oder der Tod eines Kindes auf den Plan traten. Ohne dieses erschütternde Ereignis wären sie nie auf die Idee gekommen, eine Therapie zu machen, denn sie hatten sich erfolgreich gefühlt.

Nachdem so etwas passiert ist, hat man nicht mehr dasselbe Maß an Antrieb und Entschlossenheit. Frühere Ziele wie ein großes Haus oder Anerkennung durch andere verlieren ihre Bedeutung. Man fühlt sich auf ungewohnte, beängstigende Weise haltlos und verletzlich. Außerdem ergibt sich eine neue Offenheit. Durch die Risse im Schutzpanzer kann etwas Licht dringen.

Ein solches Ereignis mag wie ein Weckruf wirken, wenn ich den Betroffenen helfen kann, die angestrengten, materialistischen und konkurrenz­orientierten Teile, von denen ihr Leben bisher beherrscht wurde, davon abzuhalten, die Dominanz wiederzuerlangen. Dann können diese Menschen erforschen, was sonst noch in ihrem Innern vorhanden ist. Dabei finden sie in der Regel Zugang zu dem, was ich als das Selbst bezeichne. Es ist ein Wesenskern aus Ruhe, Klarheit, Mitgefühl und Verbundenheit. Aus ihm heraus können sie jenen Teilen von sich zuhören, die von dominanteren Teilen in die Verbannung geschickt wurden. Wenn sie feststellen, dass sie einfache Freuden lieben – den Aufenthalt in der Natur, Lesen, kreative Tätigkeiten, ihren Freundeskreis, die Nähe zu Partnerin, Partner oder Kindern, die Unterstützung anderer Menschen –, dann entscheiden sie sich oft, ihr Leben so zu ändern, dass Raum für ihr Selbst und die neu entdeckten Teile in ihnen entsteht.

Es ist kein Zufall, dass solche Menschen und wir alle von angestrengten, materialistischen und konkurrenzorientierten Teilen beherrscht werden. Schließlich ist das genau die Einstellung, die in den meisten Ländern der Erde dominiert, besonders in meiner Heimat, den Vereinigten Staaten. Wenn meine Klientinnen und Klienten im Klammergriff solcher Teile sind, achten sie kaum auf den Schaden, den sie ihrer Gesundheit und ihren Beziehungen zufügen. In ähnlicher Weise nehmen von grenzenlosem Wachstum besessene Länder kaum Rücksicht auf die Wirkung, die ihr Verhalten auf die Mehrheit ihrer Bevölkerung, das Klima und die ganze Erde hat.

Solche blinden Bestrebungen – von einzelnen Menschen oder ganzen Ländern – führen normalerweise zu irgendeiner Art Zusammenbruch. Während ich dies schreibe, befinden wir uns inmitten der Covid-19-Pandemie. Sie hat das Potenzial, der Weckruf zu sein, den wir brauchen, um später nicht Schlimmeres zu erleiden, aber es bleibt abzuwarten, ob die Politik diese schmerzhafte Pause nutzen wird, der Mehrheit der Bevölkerung zuzuhören und zu lernen, mit anderen Ländern zu kooperieren, statt zu konkurrieren. Ob wir uns wohl national und international so ändern können, wie es meinen Klientinnen und Klienten oft gelingt?

Von Natur aus gut

Die nötigen Veränderungen werden wir nicht ohne ein neues Modell des Denkens zustande bringen. Dazu schreibt der Ökologe Daniel ­Christian Wahl:

»Die Menschheit wird erwachsen und braucht eine ›neue Geschichte‹, die kraftvoll und bedeutungsvoll genug ist, eine globale Zusammenarbeit in Bewegung zu setzen und eine kollektive Reaktion auf die parallelen herbeizuführen […] In dem fundamental vernetzten und von gegenseitiger Abhängigkeit geprägten Planetensystem, zu dem wir gehören, sorgen wir dann am besten für uns und uns nahestehende Menschen, indem wir uns mehr um den Nutzen für das Kollektiv (allen Lebens) kümmern. Sinnbildlich ausgedrückt, sitzen wir alle im selben Boot, unserem planetaren Lebenserhaltungssystem, das Buckminster Fuller als ›Raumschiff Erde‹ bezeichnete. Ein Denken im Sinne von ›die anderen gegen uns‹, das die Politik zwischen Nationen, Unternehmen und Menschen allzu lange beherrscht hat, ist zutiefst anachronistisch.«1

Der frühere amerikanische Präsident Jimmy Carter ist derselben Meinung: »Was wir jetzt mehr denn je brauchen, ist eine politische Führung, die uns von der Angst wegsteuert und mehr Vertrauen in das angeborene Wohlwollen und den Erfindungsreichtum der Menschheit fördert.«2 So, wie es momentan steht, können unsere Politiker das allerdings nicht tun, denn die gängige Denkweise hebt die dunklen Aspekte der Menschheit hervor.

Deshalb brauchen wir ein neues Paradigma, welches überzeugend darstellt, dass die Menschheit von Grund auf gut und untrennbar miteinander verflochten ist. Mit einem solchen Verständnis können wir endlich den Schritt von einer ego-, familien- und ethnozentrischen Haltung hin zu einer spezies-, bio- und planetenzentrischen Haltung tun.

Leicht wird diese Veränderung nicht sein, denn allzu viele unserer zentralen Institutionen basieren auf der dunklen Perspektive. Ein Beispiel ist der Neoliberalismus, die ökonomische Philosophie von Milton Friedman. Sie bildet die Basis des ruinösen Kapitalismus, der seit den Tagen von Ronald Reagan und Margaret Thatcher viele Länder beherrscht, darunter die Vereinigten Staaten. Der Neoliberalismus geht von der Annahme aus, dass der Mensch von Grund auf eigennützig ist, weshalb alle in einer Welt, in der nur die Tüchtigsten überleben, für sich selbst sorgen sollen. Die Regierung soll sich zurückhalten, damit die Tüchtigsten uns helfen können, nicht nur zu überleben, sondern auch zu gedeihen. Diese ökonomische Philosophie hat sowohl zu gewaltiger Ungleichheit geführt als auch zu der Vereinzelung und Polarisierung unter den Menschen, die heute so dramatisch sichtbar wird. Daher ist die Zeit reif für einen neuen Blick auf die menschliche Natur, die den Geist der Zusammenarbeit und Fürsorglichkeit freisetzt, der in unserem Herzen wohnt.

Das Versprechen von IFS

Ich weiß, es klingt vollmundig, aber dieses Buch bietet ein belebendes, von praktischen Anwendungsmöglichkeiten begleitetes Paradigma, mit dem die nötigen Veränderungen erreicht werden können. Es ist voller Übungen, die meine radikal positive Ansicht über den menschlichen Geist bestätigen werden. Dadurch können Sie selbst entsprechende Erfahrungen machen (statt mir einfach Glauben zu schenken).

Ich arbeite nun schon fast vier Jahrzehnte an IFS, dem System der Inneren Familie. Es war eine lange, faszinierende und – wie in diesem Buch deutlich werden wird – spirituelle Reise, von der ich Ihnen erzählen will. Sie hat meine Ansichten über mich selbst, über andere, über das Gute im Menschen und darüber, wie viel Wandel möglich ist, entscheidend verändert. Im Lauf der Zeit hat auch IFS sich verändert. Von einer reinen Psychotherapie ist es zu einer Art spiritueller Praxis geworden, auch wenn man sich nicht als spirituell bezeichnen muss, um es zu praktizieren. Im Kern ist IFS ein liebevoller Umgang mit dem Inneren (also mit den eigenen Teilen) und der Außenwelt (den Menschen in unserem Leben), weshalb es in diesem Sinne auch eine Lebenspraxis ist. Es ist etwas, was Sie täglich in jedem Moment tun können – zu jeder beliebigen Zeit, allein oder im Umgang mit anderen.

An diesem Punkt meldet sich womöglich ein Teil von Ihnen, der skeptisch ist. Für die Einleitung eines Buchs waren das schließlich eine Menge Versprechen. Ich bitte daher nur darum, dass Ihr kritischer Teil Ihnen genügend inneren Raum lässt, sich eine Weile mit den hier vorgestellten Ideen zu beschäftigen und dabei auch einige von den Übungen auszuprobieren. Nach meiner Erfahrung ist es schwer, an das Versprechen von IFS zu glauben, bis man sich tatsächlich an die Arbeit macht.

1 Daniel Christian Wahl: »[We Are] a Young Species Growing Up«, Medium, 13.1.2018, medium.com/age-of-­awareness/we-are-a-young-species-growing-up-3072588c5a82.

2 Jimmy Carter: »A Time for Peace: Rejecting Violence to Secure Human Rights«, 18. bis 21.6.2016, Transkript vom 21.6.2016, Rede beim jährlichen Human Rights Defenders Forum des Carter Centers, cartercenter.org/news/editorials_speeches/a-time-for-­peace-06212016.html.

Teil 1

Innere Familiensysteme

1 | Wir sind alle multipel veranlagt

Wir sind allesamt in einem Glaubenssystem aufgewachsen, das als eingleisig bezeichnet werden kann. Es ist die Vorstellung, wir hätten einen einheitlichen Geist, aus dem verschiedene Gedanken, Emotionen, Impulse und Bedürfnisse kämen. An dieses Paradigma glaubte auch ich, bis ich in meiner therapeutischen Praxis auf Menschen stieß, die mich etwas anderes lehrten. Weil die Idee von einem einheitlichen Geist in unserer Kultur allgemein vorausgesetzt wird, zweifeln wir eigentlich nie daran, ob es sich wirklich um die Wahrheit handelt. Deshalb möchte ich Ihnen vorschlagen, einen Blick – einen zweiten Blick – darauf zu werfen, wer Sie wirklich sind. Konkret lade ich Sie ein, das Paradigma der Vielfalt auszuprobieren, von dem IFS ausgeht, und die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass Sie wie alle anderen Menschen eine multiple Persönlichkeit haben. Was eine gute Sache ist.

Natürlich will ich damit nicht sagen, Sie hätten eine multiple Persönlichkeitsstörung (die heute als »dissoziative Persönlichkeitsstörung« bezeichnet wird). Allerdings glaube ich, dass Menschen mit dieser Diagnose sich gar nicht so sehr von allen anderen unterscheiden. Was bei diesen Personen als »Alters« bezeichnet wird, ist dasselbe, was wir in IFS »Teile« nennen, und sie existieren in uns allen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Menschen mit einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung meist furchtbare traumatische Erlebnisse hinter sich haben, durch die ihr Teile-System mehr als üblich auseinandergesprengt wurde. Daher hebt sich jeder Teil deutlicher heraus und ist stärker mit den anderen polarisiert und von ihnen getrennt.

Anders ausgedrückt, werden wir alle mit vielen Unterpersönlichkeiten geboren, die in unserem Innern unablässig interagieren. Das ist genau das, was wir im Allgemeinen als »Denken« bezeichnen, denn die Teile sprechen ständig miteinander und mit uns, zum Beispiel über das, was wir tun müssten, über die beste Vorgehensweise und so weiter. Erinnern Sie sich doch daran, wie Sie einmal vor einer schwierigen Entscheidung standen. Wahrscheinlich haben Sie dann einen Teil sagen hören: »Pack’s an!«, während ein anderer warnte: »Lass bloß die Finger davon!« Weil wir meinen, es würde sich in einem solchen Fall nur darum handeln, dass wir zwiespältige Gedanken haben, achten wir nicht auf die inneren Akteure, die hinter der Debatte stehen. IFS hilft Ihnen dabei, diese Akteure nicht nur wahrzunehmen, sondern auch aktiv die innere Führung zu übernehmen, die Ihr Teile-System braucht.

Vielleicht kommt es Ihnen zuerst unheimlich oder verrückt vor, sich als multiple Persönlichkeit vorzustellen, aber ich hoffe, Sie davon überzeugen zu können, dass dies in Wirklichkeit befreiend wirkt. Beunruhigend klingt es nur, weil eine innere Multiplizität in unserer Kultur pathologisiert worden ist. Wer getrennte autonome Persönlichkeiten besitzt, wird als krank oder beschädigt betrachtet, und die Existenz seiner »Alters« wird schlicht für das Ergebnis von traumatischen Erfahrungen gehalten, für die Zersplitterung eines vorher einheitlichen Geistes. Aus dieser Perspektive ist unser natürlicher Zustand ein einheitlicher Geist, sofern dieser nicht durch ein Trauma in Stücke geschlagen wird wie eine Vase, von der nur noch Scherben übrig sind.

Das herrschende Paradigma hat dazu geführt, dass wir unsere Teile fürchten und sie als pathologisch betrachten. Bei unseren Versuchen, etwas zu kontrollieren, was wir für beunruhigende Gedanken und Emotionen halten, bekämpfen, ignorieren, disziplinieren oder verbergen wir jedoch nur genau jene Impulse, die uns davon abhalten, das zu tun, was wir in unserem Leben tun wollen. Oder wir schämen uns für sie und sind beschämt, weil wir nicht in der Lage sind, sie zu kontrollieren. Anders gesagt, hassen wir alles, was uns in den Weg kommt.

Eine solche Verfahrensweise ergibt durchaus Sinn, aber nur dann, wenn wir unsere inneren Hindernisse lediglich als irrationale Gedanken oder extreme Emotionen sehen, die einem einheitlichen Geist entspringen. Wenn wir zum Beispiel Angst davor haben, einen Vortrag zu halten, können wir versuchen, diese Angst mit Willenskraft zu überspielen oder sie mit rationalen Gedanken zu korrigieren. Hält sie trotzdem an, können wir unsere Kontrollversuche eskalieren lassen, indem wir uns als Feigling kritisieren, uns mit irgendetwas im Übermaß betäuben oder meditieren, um uns darüber zu erheben. Wenn keine dieser Maßnahmen funktioniert, passen wir der Angst unser Leben an. Das heißt, wir meiden Situationen, in denen wir in der Öffentlichkeit sprechen müssen, fühlen uns als Versager und fragen uns, was mit uns eigentlich nicht in Ordnung ist. Zu allem Übel suchen wir schließlich eine therapeutische Praxis auf, wo man uns eine Diagnose für unseren verwirrten einheitlichen Geist ausstellt. Durch diese Diagnose fühlen wir uns mangelhaft, unser Selbstwertgefühl nimmt ab, und unsere Beschämung bringt uns dazu, alle unsere Schwächen zu verbergen und der Welt ein perfektes Image zu präsentieren. Vielleicht ziehen wir uns auch aus allen Beziehungen zurück, weil wir fürchten, die Leute würden hinter unsere Maske blicken und uns dafür verurteilen. Wir identifizieren uns mit unseren Schwächen und nehmen an, dass wir tatsächlich mangelhaft sind. Wir meinen, wenn andere Menschen unser wahres Ich sähen, würden sie davon regelrecht angewidert sein.

»Wenn die Leute mich fragten, ob ich bereit dafür sei, dass sich mein Leben ändern würde, kapierten sie wohl nicht richtig, was das bedeutete. Es ging nicht nur darum, dass Fremde erfahren würden, wer ich war. Es war etwas anderes, was ich immer wieder erlebte. Wenn ich den Leuten in die Augen blickte, meldete sich manchmal eine leise Stimme in meinem Kopf und fragte: ›Wärt ihr auch so begeistert, mich kennenzulernen, wenn ihr wirklich wüsstet, wer ich bin? Wenn ihr alles wüsstet, was ich getan habe? Wenn ihr alle meine Teile sehen könntet?‹«3

Jonathan Van Ness, Experte in der TV-Sendung Queer Eye

Eine kurze Geschichte

Ein solcher Hintergrund aus inneren Polarisierungen entsteht durch die Perspektive, es gäbe einen einheitlichen Geist, verbunden mit wissenschaftlichen und religiösen Theorien darüber, wie primitiv die menschlichen Impulse angeblich sind. Ein vielsagendes Beispiel ist die Theologie des einflussreichen Reformators Johannes Calvin. »Denn unsere Natur«, schreibt dieser, »ist nicht etwa bloß des Guten arm und leer, sondern sie ist fruchtbar und ertragreich im Bösen, sodass sie nie müßig sein kann! […] der ganze Mensch ist von Kopf bis Fuß wie von einer Sintflut derart über und über (mit Sünde) bedeckt, dass kein Teil unberührt ist, und deshalb wird alles, was von ihm kommt, als Sünde gerechnet.«4 Das wird als Doktrin der totalen Verderbtheit bezeichnet und geht davon aus, dass wir nur durch die Gnade Gottes dem Schicksal der ewigen Verdammnis entgehen können. In verschiedenen Versionen hat diese Doktrin jahrhundertelang Protestantismus und Evangelikalismus beeinflusst und eine erhebliche kulturelle Wirkung gehabt. Verwandt damit ist die auch in der katholischen Kirche vorhandene Vorstellung der Erbsünde.

Für diese Denkweise können wir allerdings nicht allein die Religion verantwortlich machen. Generationen von Philosophen und Politikern haben behauptet, gleich unterhalb der zivilisierten Fassade, die wir der Welt präsentierten, würden urtümliche Impulse lauern. Sigmund Freud hat zwar wichtige Einblicke in die Psyche vermittelt, von denen viele mit IFS vereinbar sind, aber seine einflussreiche Triebtheorie ist pessimistisch, was die menschliche Natur angeht. Nach ihr befinden sich unter der Oberfläche der Psyche egoistische, aggressive und nach Vergnügen strebende Instinktkräfte, die unbewusst unser Leben bestimmen. Der niederländische Historiker Rutger Bregman fasst diese grundlegenden Annahmen über die menschliche Natur so zusammen:

»Dass Menschen von Natur aus egoistisch sind, ist ein Lehrsatz, der im Westen seit Jahrhunderten unterrichtet wird. Große Denker wie Thukydides, Augustinus, Machiavelli, Hobbes, Luther, Calvin, Burke, Bentham, Nietzsche, Freud und die amerikanischen Founding Fathers unterstützten die Fassadentheorie der Gesellschaft.«5

Willenskraft und Scham

Die Betonung von Willenskraft und Selbstkontrolle durchdringt die gesamte amerikanische Kultur. Wir meinen, wir sollten in der Lage sein, unseren primitiven, impulsiven und sündigen Geist durch Willenskraft zu zähmen. Zahllose Selbsthilfebücher machen uns weis, es gehe nur darum, unsere Fähigkeit zur Selbstkontrolle zu stärken und mehr Disziplin zu entwickeln. Auch das Konzept der Willenskraft hat historische Wurzeln, vor allem in der viktorianischen Zeit mit ihrem christlichen Appell, man müsse sich gegen unheilvolle Impulse wehren. Die Idee, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und keine Ausflüchte zu machen, ist tief vor allem im amerikanischen Denken verwurzelt.

Traurigerweise ist unsere Begeisterung für Willenskraft von Politikern und Meinungsmachern dazu benutzt worden, ständig größer werdende Einkommensunterschiede zu rechtfertigen. Man erklärt uns, bestimmte Leute seien arm, weil sie zu wenig Selbstkontrolle hätten, während reiche Leute wohlhabend seien, da sie sich besser kontrollieren könnten. Die Forschung vermittelt ein anderes Bild. Zum Beispiel hat man in Studien nachgewiesen, dass Menschen mit niederem Einkommen handlungsfähig und produktiv werden, sobald man ihnen genügend Geld gibt, ihre Grundbedürfnisse zu decken.6 Nicht zuletzt angesichts der wirtschaftlichen Auswirkungen der derzeit grassierenden Pandemie ist es jedoch eine sehr reale Tatsache, dass den meisten von uns jederzeit der Teppich unter den Füßen weggezogen werden kann, und diese Bedrohung hält die mit unserem Überlebensinstinkt verbundenen Teile von uns in Gang.

Wir stellen oft fest, dass Emotionen und Gedanken nur umso stärker werden, je angestrengter wir uns bemühen, sie loszuwerden.

Weil wir das Ethos von der Willenskraft verinnerlicht haben, lernen wir bereits in jungen Jahren, unsere widerspenstigen Teile zu beschämen und zu manipulieren. Wir zwingen sie mit Gewalt, sich zu unterwerfen. Ein bestimmter Teil wird von diesem kulturellen Zwangsregime dazu rekrutiert, unser innerer Feldwebel zu werden, und entwickelt sich oft zu der boshaften kritischen Instanz in uns, die wir liebend gern hassen. Das ist die Stimme, die versucht, uns zu beschämen oder jene Teile von uns loszuwerden, die scheinbar der Beschämung wert sind (weil sie zum Beispiel fiese Gedanken über andere Menschen hervorrufen oder uns an Suchtmittel fesseln).

Wir stellen oft fest, dass Emotionen und Gedanken nur umso stärker werden, je angestrengter wir uns bemühen, sie loszuwerden. Das liegt daran, dass unsere Teile sich – wie Menschen – dagegen wehren, beschämt oder verbannt zu werden. Und wenn es uns doch gelingt, sie mit strenger Selbstdisziplin zu beherrschen, werden wir tyrannisiert von dem starren, kontrollsüchtigen inneren Feldwebel. Anders gesagt, sind wir zwar diszipliniert, haben aber nicht viel Freude dabei. Und weil die verbannten (trunksüchtigen, wütenden, hypersexuellen und so weiter) Teile jede vorübergehende Schwäche dazu nutzen, wieder auszubrechen und die Führung zu übernehmen, müssen wir uns ständig vor Personen und Situationen in Acht nehmen, durch die diese Teile aktiviert werden könnten.

Jonathan Van Ness hat es vergeblich mehrfach mit Drogenentzug versucht. Er berichtet:

»Nachdem ich schon in der Jugend so viel mit Zwölf-Schritte-Programmen zu tun hatte und mitbekam, wie beim Entzug und in der Kirche ständig Abstinenz gepredigt wurde, übernahm ich die Vorstellung, dass es bei der Heilung um alles oder nichts gehen muss. Für mich trifft das aber eigentlich nicht zu. Ich versuchte, mit sexuellem Missbrauch, Drogenmissbrauch und einer posttraumatischen Belastungsstörung fertigzuwerden, und das passte für mich nicht zu der Idee, ich dürfte nie wieder einen einzigen Joint rauchen […] Der Spruch Einmal süchtig, immer süchtig leuchtet mir nicht ein. Ich glaube nicht, dass Sucht eine Krankheit ist, die mit einer lebenslänglichen Strafe belegt werden muss […] Wenn man es ab und zu mal verpatzt oder es nicht schafft, mehrere Monate ohne einen Ausrutscher zustande zu bringen, ist man noch lange nicht geliefert.«7

Es gibt Zwölf-Schritte-Programme, die nicht an den starren Überzeugungen haften, denen Van Ness begegnet ist, und solche Gruppen können einen wunderbaren Rahmen dafür bieten, die eigene Verletzlichkeit zu zeigen und Unterstützung zu bekommen. Außerdem hilft die dort vermittelte Idee, sich einer größeren Macht anzuvertrauen, dem inneren Feldwebel oft dabei, sich zu entspannen oder gar ganz abzutreten. Hingegen funktioniert jede Methode, die unseren inneren Feldwebel noch mehr ­veranlasst, uns durch Beschämung zu Wohlverhalten zu bringen (und uns als Versager dastehen zu lassen, wenn wir das nicht schaffen), in der Inneren Familie nicht besser als in äußeren Familien, in denen die Eltern Beschämungs­taktiken anwenden, um ihre Kinder unter Kontrolle zu halten.

Diese kritischen Bemerkungen zur Willenskraft bedeuten nicht, dass es in IFS keinen Raum für innere Disziplin gäbe. In uns allen gibt es Teile, die sich ähnlich verhalten wie manche Kinder in äußeren Familien – sie wollen etwas, was weder für sie noch für das restliche System gut ist. In IFS weist das Selbst impulsive Teile jedoch entschieden, aber mit Liebe und Geduld in die Schranken, so wie es ideale Eltern tun würden. Außerdem beschämen wir unsere Teile nicht, wenn sie die Führung übernehmen. Stattdessen zeigen wir Interesse an ihnen und nutzen ihre Impulse als Wegweiser, um herauszubekommen, was sie antreibt und geheilt werden muss.

Teile sind keine Hindernisse

Das Paradigma vom einheitlichen Geist kann uns leicht dazu bringen, uns selbst zu fürchten oder zu hassen, weil wir meinen, wir hätten nur einen einzigen Geist (voll primitiver oder sündiger Aspekte), den wir nicht kontrollieren könnten. Während wir das doch verzweifelt versuchen, verheddern wir uns und erzeugen brutale kritische Teile, die uns wegen unseres Versagens angreifen. »Ich habe unheimlich viel Zeit damit verbracht, den kleinen Jack beiseitezuschieben«, schreibt Jonathan Van Ness. »Statt ihn zu unterstützen, habe ich ihn in Stücke gerissen […] Zu lernen, wie man sich mit tröstendem, liebevollem Mitgefühl selbst um sich kümmert […] ist von entscheidender Bedeutung, um sich erfüllt zu fühlen.«8

Da die meisten psychotherapeutischen Verfahren und die meisten spirituellen Traditionen die Vorstellung eines einheitlichen Geistes ­vertreten, verstärken ihre Lösungsversuche ihn oft, indem sie uns suggerieren, wir sollten unsere irrationalen Überzeugungen korrigieren oder wegmeditieren, weil sie aus unserem Geist stammende Hindernisse seien. Zum Beispiel bezeichnen viele Meditationsmethoden alle Gedanken als lästig und das Ego als Hindernis oder Ärgernis, weshalb sie ihre Anhänger anweisen, ihre Gedanken entweder zu ignorieren oder zu transzendieren.

In manchen hinduistischen Richtungen heißt es, das Ego wirke für das Prinzip Maya (Sanskrit für »Illusion, Zauberei«), dessen Ziel es sei, dass wir ständig nach Materiellem und nach hedonistischen Vergnügungen strebten. Wie Satan im Christentum gilt es als Versucher, der uns dazu bringt, uns an die äußere Welt der Illusion zu klammern.

In den buddhistischen Lehren verwendet man den Begriff Affengeist, um zu beschreiben, wie unsere Gedanken im Bewusstsein umherspringen wie ein aufgeregter Affe. In seinem Buch Monkey Mind kommentiert Ralph De La Rosa:

»Ist es da verwunderlich, dass der Monkey Mind weltweit der Feind der Meditierenden ist? Diejenigen, die meditieren, um Ruhe zu finden, empfinden Gedanken oft als ein irritierendes Ärgernis, einen primitiven Unruhestifter, der [sich] durch eine Seitentür hereinschleicht […] In Meditationskreisen hat Buddhas Affen-Metapher bis heute oft einen negativen Touch: Als sei unser denkender Geist eine schmutzige, primitive, niedere Lebensform, die weder Erkenntnisse bietet noch sonst einen Wert für uns hat.«9

De La Rosa gehört zu einer ganzen Reihe neuer Autoren, die sich gegen die in spirituellen Traditionen geläufige Diskreditierung des Egos wenden. In dieselbe Kerbe schlägt der Psychotherapeut Matt Licata, der schreibt:

»Von ›dem Ego‹ spricht man oft, als wäre es eine Art eigenständige Instanz – eine fiese, total unspirituelle, dumme kleine Person in ­unserem Innern –, die gelegentlich Besitz von uns ergreift und uns dazu bringt, zutiefst primitiv zu handeln. Dabei, heißt es, schafft sie ein endloses Durcheinander in unserem Leben und hindert uns daran, auf dem Weg irgendwelche Fortschritte zu machen. Deshalb sollen wir uns furchtbar für sie schämen, und je spiritueller wir sind, desto mehr sollen wir uns bemühen, sie ›loszuwerden‹, zu transzendieren oder einen imaginären spirituellen Krieg damit zu führen. Bei sorgfältiger Betrachtung erkennen wir jedoch, dass es sich bei dem Ego – falls es so etwas überhaupt geben sollte – wahrscheinlich um genau jene Stimmen handelt, die uns anbrüllen, wir sollten das Ego loswerden.«10

Bei der Ansammlung von Aspekten, die in solchen Systemen als Ego bezeichnet wird, handelt es sich eigentlich um beschützende Teile, die einfach versuchen, für uns zu sorgen. Dabei reagieren sie einschränkend auf andere Teile mit Emotionen und Erinnerungen an frühere Verletzungen, die wir im Innern weggeschlossen haben.

Später werden wir uns genauer mit dem beschäftigen, was John ­Welwood in den 1980er-Jahren als Spiritual Bypassing (»spirituelles Vermeiden«) bezeichnet hat. Jeff Brown erforscht dieses Phänomen ausführlich in seinem Film Karmageddon. »Nach meiner Kindheit«, sagt er, »brauchte ich jene Arten von Spiritualität, die mich daran hinderten, den Schmerz an die Oberfläche steigen zu lassen […] Ich verwechselte Selbstvermeidung mit Erleuchtung.«11 Tatsächlich lautet eine zentrale Aussage in der überlieferten Geschichte von Buddhas Erwachen, dass Gedanken und sinnliches Begehren die größten Hindernisse für die Erleuchtung seien. Während der Buddha meditierend unter dem Bodhi-Baum saß, bestürmte ihn eine Reihe von Impulsen und Trieben – Sinnenlust, Begierde, Bedauern, Angst, Unsicherheit und mehr –, und nur indem er alles ignorierte oder sich dagegen wehrte, konnte er die Erleuchtung erlangen.

Davon einmal abgesehen sind die bekannten, aus dem Buddhismus abgeleiteten Achtsamkeitsübungen ein Schritt in die richtige Richtung. Sie ermöglichen es, Gedanken und Emotionen aus einem gewissen Abstand zu betrachten und sie zu akzeptieren, statt sie zu bekämpfen oder zu ignorieren. Aus meiner Sicht ist das ein guter erster Schritt. Allerdings ist Achtsamkeit nicht immer angenehm. Bei Studien mit erfahrenen Meditierenden hat man festgestellt, dass ein beträchtlicher Prozentsatz von ihnen beunruhigende, teils länger andauernde Erfahrungen gemacht hatte. Am häufigsten erwähnt wurden Emotionen wie Angst, Beklemmung, Paranoia, Realitätsverlust und das Wiedererleben traumatischer Erinnerungen.12 Aus der Perspektive von IFS kommt eine mentale Beruhigung durch Achtsamkeit dann zustande, wenn die Teile, die normalerweise unser Leben bestimmen (unsere Egos), sich entspannen. Dadurch können Teile, die wir zu vergraben versucht haben (Verbannte), zum Vorschein kommen. Dabei bringen sie die Emotionen, Überzeugungen und Erinnerungen mit, die sie tragen (wir sprechen von Lasten) und derentwegen sie verbannt wurden. Die meisten Achtsamkeitskonzepte, mit denen ich vertraut bin, gehen hingegen vom Paradigma eines einheitlichen Geistes aus und bewerten solche Episoden als vorübergehendes Auftauchen von beunruhigenden Gedanken und Emotionen statt als das Erscheinen leidender Teile, die gehört und geliebt werden sollten. Warum sollte man auch mit Gedanken und Emotionen sprechen? Die können ja doch nichts erwidern, oder? Tja, wie sich herausgestellt hat, können sie das durchaus. Sie haben uns sogar eine Menge wichtiger Dinge zu erzählen.

Wie ich von unseren Teilen erfuhr

Wie alle anderen hielt ich den menschlichen Geist für einheitlich, als ich mich jahrelang in der Ausbildung zum Familientherapeuten befand (ich habe zu diesem Thema sogar promoviert). In diesem Bereich schenkten wir der Psyche überhaupt keine große Aufmerksamkeit. Wir dachten, die Therapeutinnen und Therapeuten, die in der inneren Welt herumwühlten, würden nur ihre Zeit vergeuden, weil man alles ganz einfach dadurch regeln könne, indem man die äußeren Beziehungen veränderte.

Das einzige Problem bestand darin, dass diese Methode nicht funktionierte. Als ich eine Ergebnisstudie mit Bulimiekranken durchführte, stellte ich erschrocken fest, dass sie weiterhin Ess-Brech-Anfälle hatten, ohne zu erkennen, dass sie geheilt worden waren. Als ich sie nach den Gründen fragte, erzählten sie mir von verschiedenen Teilen in ihnen. Über solche Teile sprachen sie, als besäßen diese eine große Autonomie – als könnten sie die Führung übernehmen und die Betroffenen zu etwas bringen, was sie nicht tun wollten. Zuerst fürchtete ich, es mit einem Ausbruch an multiplen Persönlichkeitsstörungen zu tun zu haben, aber dann lauschte ich in mich hinein und entdeckte verblüfft, dass ich ebenfalls Teile hatte. Einige von ihnen waren sogar ziemlich extrem.

Das weckte meine Neugier. Ich forderte die Betroffenen auf, ihre Teile zu beschreiben, was sie sehr detailliert tun konnten. Nicht nur das, sie schilderten auch, wie diese Teile sich gegenseitig beeinflussten und Beziehungen zueinander hatten. Manche kämpften miteinander, manche verbündeten sich, manche beschützten andere. Mit der Zeit dämmerte es mir, dass ich von einer Art innerem System erfuhr, vergleichbar mit den »äußeren« Familien, die ich in der Therapie behandelte. So entstand die Bezeichnung IFS (Inner Family System) für das System der inneren Familie.

Zum Beispiel erzählte man mir von einem kritischen Teil, der die Betroffenen gnadenlos attackierte, wenn sie einen Fehler machten. Ein solcher Angriff wiederum löste einen Teil aus, der sich total desillusioniert, einsam, leer und wertlos fühlte. Diesen wertlosen Teil zu spüren war so qualvoll, dass der folgende Essanfall beinahe als Rettung empfunden wurde. Er holte die Betroffenen aus ihrem Körper heraus und verwandelte sie in eine gefühllose Essmaschine. Anschließend griff der kritische Teil sie wegen ihres Verhaltens an, was wieder ein Gefühl der Wertlosigkeit auslöste, weshalb sie tagelang in diesem Teufelskreis gefangen waren.

Zuerst versuchte ich, die Betroffenen dazu zu bringen, die entsprechenden Teile auszuschließen oder zu stoppen. Zum Beispiel schlug ich vor, den kritischen Teil zu ignorieren oder mit ihm zu diskutieren. Dieses Vorgehen verschlimmerte die Lage nur, aber mir fiel nichts anderes ein, als die Betroffenen zu ermutigen, dass sie härter kämpften, um siegreich aus ihren inneren Auseinandersetzungen hervorzugehen.

Eine Klientin hatte einen Teil, der sie dazu brachte, sich die Handgelenke zu ritzen. Das konnte ich natürlich nicht zulassen. In einer Sitzung bedrängten meine Klientin und ich den verantwortlichen Teil daher geschlagene zwei Stunden lang, bis er sich bereit erklärte, die Handgelenke nicht mehr zu ritzen. Anschließend war ich zwar erschöpft, aber zufrieden damit, dass wir den Kampf gewonnen hatten.

Als ich vor der nächsten Sitzung die Tür öffnete, stand meine Klientin mit einer großen Schnittwunde im Gesicht vor mir. In diesem Moment brach ich emotional zusammen und sagte spontan: »Ich gebe auf, ich kann dich nicht besiegen.« Worauf auch der Teil sich bewegte und sagte: »Ich will dich eigentlich auch nicht besiegen.« Das war ein Wendepunkt in dieser Therapie, weil ich nicht mehr nach Kontrolle strebte, sondern eine eher neugierige Haltung einnahm: »Warum tust du ihr das an?« Daraufhin erzählte der Teil, er hätte die Klientin aus ihrem Körper herausholen müssen, als sie missbraucht wurde, um ihre Wut zu kontrollieren, die nur zu weiterem Missbrauch geführt hätte. Ich veränderte wieder meine Position und vermittelte dem Teil Anerkennung für die heroische Rolle, die er im Leben der Klientin spielte. Nun brach der Teil in Tränen aus. Bisher hatten ihn alle nur verteufelt und versucht, ihn loszuwerden. Zum ersten Mal hatte er jetzt die Gelegenheit, seine Geschichte zu erzählen.

Ich sagte dem Teil, es würde mir völlig einleuchten, dass er sich früher so hatte verhalten müssen, um der Klientin das Leben zu retten. Aber weshalb musste er sie jetzt immer noch ritzen? Er müsse, sagte er, andere sehr verwundbare Teile von ihr schützen und außerdem die weiterhin vorhandene Wut kontrollieren. Während er darüber sprach, wurde mir klar, dass er nicht in der Gegenwart lebte. Er schien in der Missbrauchssituation eingefroren zu sein und glaubte, die Klientin sei immer noch ein Kind und in großer Gefahr, obwohl das längst nicht mehr der Fall war.

Mir dämmerte, dass unsere Teile nicht das waren, was sie zu sein schienen. Vielleicht waren sie wie Kinder in dysfunktionalen Familien aus ihrem ursprünglich wertvollen Zustand in Rollen gezwungen worden, die manchmal destruktiv wirkten, aber ihrer Meinung nach notwendig waren, um die Person beziehungsweise das System, zu dem sie gehörten, zu beschützen. Daher unterstützte ich meine Klientinnen und Klienten von da an, ihren unbequemen Teilen zuzuhören, statt sie zu bekämpfen. Verblüfft stellte ich fest, dass alle Teile ähnliche Geschichten darüber zu erzählen hatten, wie sie zu irgendeinem Zeitpunkt in der Vergangenheit eine beschützende Rolle übernommen hatten. Oft hassten sie diese Rolle, glaubten jedoch, dass sie nötig war, um die Person zu retten.

Wenn ich solche beschützenden Teile fragte, was sie lieber tun würden, wenn sie ihre Rolle nicht mehr ausüben müssten, wollten sie oft etwas Gegenteiliges tun. Kritische Teile wollten die Person anfeuern oder ihr weisen Rat geben, extrem behütende Teile wollten helfen, Grenzen zu setzen, zornige Teile wollten unterscheiden helfen, wer eine Gefahr darstellte und wer nicht. Offenbar waren Teile nicht nur etwas anderes, als sie zu sein schienen, sie besaßen auch individuelle Eigenschaften und Ressourcen, die sie in das Leben der Betroffenen einbringen konnten. Allerdings war das nicht möglich, solange sie an ihre beschützende Rolle gefesselt waren.

Seither sind mehrere Jahrzehnte vergangen, ich habe mit Tausenden Menschen gearbeitet, und Tausende Therapeutinnen und Therapeuten wenden IFS weltweit an. Angesichts dessen kann ich mit Gewissheit sagen, dass die obigen Aussagen zutreffen. Unsere Teile können ziemlich extrem werden und in unserem Leben viel Schaden anrichten, aber es gibt keinen einzigen Teil, der von Natur aus schlecht oder böse wäre. Selbst jene Teile, die bei Bulimie zu Essattacken und bei Anorexie zum Hungern führen, oder jene, die wollen, dass man sich umbringt oder andere Menschen ermordet – selbst sie sind zugänglich, wenn man sich ihnen mit Achtsamkeit, Respekt, Offenheit und Interesse zuwendet. Dann offenbaren sie uns die geheime Geschichte, wie sie in ihre Rolle hineingezwungen wurden, und sie berichten uns, dass sie in dieser Rolle feststecken, weil sie schreckliche Angst haben, dass sonst etwas Furchtbares passieren würde. Und dass sie gleichsam in der Vergangenheit eingefroren sind, in jenen traumatischen Momenten, als sie ihre Rolle einnehmen mussten.

Mit buddhistischen Begriffen ausgedrückt, hilft IFS uns dabei, zum Bodhisattva unserer Psyche zu werden.

Halten wir hier kurz inne, um die spirituelle Bedeutung dieser Entdeckung zu erkunden. Im Grunde habe ich damals festgestellt, dass Liebe die Antwort in der inneren Welt ist, genau wie in der äußeren Welt. Wenn wir unseren Teilen zuhören, sie annehmen und lieben, können sie heilen und sich verwandeln, so wie das auch Menschen tun können. Mit buddhistischen Begriffen ausgedrückt, hilft IFS uns dabei, zum Bodhisattva unserer Psyche zu werden, indem wir jedes fühlende innere Wesen (jeden Teil) dabei unterstützen, durch Mitgefühl und Liebe erleuchtet zu werden. Aus christlicher Perspektive tun wir durch IFS in unserer inneren Welt das, was Jesus in der äußeren getan hat; wir gehen auf innere Verbannte und Feinde mit Liebe zu, heilen sie und holen sie nach Hause – so wie Jesus es mit den Leprakranken, Armen und Ausgestoßenen getan hat.

Die wichtigste Erkenntnis lautet jedoch, dass unsere Teile nicht das sind, wofür man sie im Allgemeinen gehalten hat. Es sind keine kognitiven Anpassungen oder sündhafte Impulse. Vielmehr sind unsere Teile kostbare, spirituelle Wesen und verdienen es, entsprechend behandelt zu werden.

Ein weiteres Thema, mit dem wir uns in diesem Buch beschäftigen werden, ist die Parallelität von Innen und Außen. So wie wir mit unserer inneren Welt umgehen, gehen wir auch mit der äußeren um. Wenn wir Wertschätzung und Mitgefühl für unsere Teile empfinden, selbst für jene, die wir für feindlich halten, dann können wir uns gegenüber Menschen, die diesen Teilen ähneln, ebenso verhalten. Hassen oder verachten wir unsere Teile hingegen, so treten wir allen Personen, die uns an sie erinnern, auf dieselbe Weise entgegen.

Einige meiner Entdeckungen über Teile

Selbst die destruktivsten Teile haben beschützende Absichten.Teile sind oft in einem Trauma aus der Vergangenheit erstarrt, bei dem ihre extreme Rolle nötig war.Wenn sie darauf vertrauen, ihre Rolle ungefährdet verlassen zu können, sind sie für das System außerordentlich wertvoll.

Lasten

Eine weitere entscheidende Entdeckung, auf die ich gestoßen bin, lautet: Teile tragen extreme Überzeugungen und Emotionen in, an oder um ihren »Körper« herum. Diese sind dafür verantwortlich, wie sie fühlen und handeln.

Die Vorstellung, dass Teile einen eigenen Körper haben, der sich von dem der Person unterscheidet, zu der sie gehören, kommt Ihnen auf den ersten Blick wahrscheinlich merkwürdig oder gar grotesk vor. Deshalb will ich hier betonen, dass ich einfach berichte, was mir im Lauf der Jahre bewusst geworden ist, während ich das innere Territorium ohne Vorurteile hinsichtlich der ontologischen Realität erforschte. Wenn Sie Ihre eigenen Teile nach ihrem Körper fragen, werden Sie voraussichtlich dieselbe Antwort erhalten.