Keine Frage des Geschmacks - Veit Heinichen - E-Book

Keine Frage des Geschmacks E-Book

Veit Heinichen

3,8

Beschreibung

Ein deutscher Filmproduzent wird in Italien bei Triest tot aus der Adria gefischt. Mord? Der Verdacht fällt auf Lele Raccaro, den politisch einflussreichen Geschäftsmann, und seine unehelichen Söhne - vierschrötige Kerle, die sich ihr Taschengeld mit der Erpressung der britischen Politikerin Jeanette McGyver aufbessern wollen. Gemeinsam mit der Journalistin Miriam Natisone begibt sich Kommissar Laurenti auf die Spur der Drahtzieher eines folgenschweren Machtspiels. Veit Heinichen richtet in seinem neuen Kriminalroman den Blick auf Korruption, Manipulation und Ausbeutung und schreibt damit wieder einen packenden Proteo-Laurenti-Krimi.

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Zsolnay eBook

Veit Heinichen

Keine Frage

des Geschmacks

Roman

Paul Zsolnay Verlag

eBook ISBN 978-3-552-05542-1

Alle Rechte vorbehalten

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2011

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

www.veit-heinichen.de

»Winners are losers with a new attitude.«

David Byrne

»Ero meravigliato di esser vivo,

ma stanco di aspettare soccorsi.«

Ennio Flaiano

»The influence of coffee in stimulating

the genital organs is notorious.«

John Harvey Kellogg

Ins Wasser kehrt alles zurück

Den Anblick befremdlich gekleideter Touristen war man seit Goethes Italienreise und dem langen Aufenthalt Lord Byrons und der Shelleys im Land gewohnt. Er entlockte niemandem mehr einen abschätzigen Kommentar, seitdem die fernen, in Nordeuropa lebenden Verwandten während der Sommerferien Heimatbesuche machten. Die billige Massenware aus den Einkaufszentren und Outlet-Villages trieb die Globalisierung des schlechten Geschmacks in Riesenschritten voran.

Harald Bierchen jedoch zog die Blicke all jener Spaziergänger auf sich, die an diesem Spätnachmittag den Rive entlang auf den Molo Audace hinausschlenderten, an dessen Ende ein schwerer bronzefarbener Poller auf einem weißen Zementsockel die Windrichtungen anzeigte. Der hochgewachsene, massige Mann trug schlabbrige Hosen aus hellem Leinen mit vollgestopften Taschen, sein dicker Wanst quoll über den Gürtel, ein Zipfel des kurzärmeligen Hemdes hing heraus und gab den Blick auf den rosafarbenen Bauch frei, dessen Farbton sich in den Streifen der Oberbekleidung wiederholte. Seine Füße steckten in jenen billigen Plastiksandalen, die die afrikanischen Straßenverkäufer für ein paar Euro verkauften. Die leichte Brise wirbelte seine langen dunkelblonden Haarsträhnen auf, die er immer wieder von der Stirn nach hinten strich, damit sie die große kahle Stelle bedeckten. Eine riesige Sonnenbrille nahm fast ein Drittel seines Gesichts ein, das wie sein Körper birnenförmig war. Der schwere Sonnenbrand, der die Kartoffelnase und die fleischigen Wangen zeichnete, schimmerte unter den dicken Schlieren schludrig aufgetragener Sonnencreme hervor. Auf gut zwanzigtausend Euro hätten Kenner die Armbanduhr geschätzt, die in der Sonne aufblitzte, als der Riese die linke Hand an die Stirn legte und aufs Meer hinausschaute. Ein Zweimaster mit gerefften rostroten Segeln tuckerte mit Hilfe des Diesels langsam auf den am Kai winkenden Koloss zu. Die Passanten hielten inne, als das Schiff, an dessen Bug in goldenen Lettern der Name »Greta Garbo« prangte, längsseits kam und eine tiefgebräunte üppige Schönheit im knappen weißen Kleidchen barfuß und mit einem Tau in der Hand an Land sprang, um die Yacht an der Mole zu halten und dem behäbigen Mann an Bord zu helfen. Ihr langes fuchsfarbenes Haar wehte im Wind und lenkte wie ihre Rundungen von dem überschminkten Gesicht mit seinen eher groben Zügen ab. Auf Englisch bat sie ihn nachdrücklich, die Sandalen abzulegen, doch der Riese stapfte über das Deck, als hätte er sie nicht gehört, und ließ sich achtern mit einem zufriedenen Grunzen in einen weißen Sessel fallen. Der Skipper legte sogleich wieder ab, nachdem er den Passagier mit einem flüchtigen Handzeichen begrüßt hatte. Ein junger, muskulöser Mann mit nacktem Oberkörper, großen dunklen Augen und wulstigen Lippen, um dessen Hals eine Kette mit einem pflaumengroßen roten Klunker baumelte.

»Grins nicht, Vittoria, lächle«, sagte er leise. »Der Chef hat ihm ein Abenteuer versprochen, das er nie vergessen soll. Also heiz ihm ordentlich ein. Vergiss nicht, wie viel Geld dir Lele jedes Mal reinschiebt, wenn er sich einsam fühlt. Allein damit machst du schon ein Vermögen.«

»Nur kein Neid, Kleiner. Ein Vergnügen ist das nicht. Mit dir wär’s vielleicht etwas anderes.« Sie warf ihm einen funkensprühenden Blick zu, strich sich mit beiden Händen durchs Haar, richtete dann den Sitz ihres Dekolletés und trug schließlich einen Champagnerkübel und zwei Gläser davon. Der Zweimaster passierte bereits den Deich vor dem Porto Vecchio, als sich der Champagner durch ein vorgetäuschtes Ungeschick über ihrem Dekolleté ergoss. Kaum hatte das Schiff die Hafenzone hinter sich gelassen, schob der Skipper langsam den Gashebel nach vorn, stolz durchschnitt der Bug die Wellen, deren Gischt bis aufs Deck spritzte, wo sie langsam in Schaumblasen zerfiel. In einer Stunde etwa würde er zwischen der Isonzo-Mündung und Grado den Anker werfen, damit Harald Bierchen baden konnte. So wie es der Chef befohlen hatte.

*

»Die Handlung ist schon trivial genug, aber so, wie die das abdrehen, ist es noch banaler. Eine angeblich italienische Kommissarin verliebt sich in einen schneidigen teutonischen Staatsanwalt, und nebenbei werden ein paar Mafiosi eingelocht, weil sie auch nachts dunkle Sonnenbrillen tragen und in aller Öffentlichkeit einem Politiker das Bestechungsgeld zustecken«, schimpfte Livia. »Ganz nebenbei entführen sie aber auch noch seine Frau und lassen sie erst wieder frei, nachdem der Mann den Auftrag für den millionenschweren Ausbau des Hafens der richtigen Firma erteilt hat. Einfach lächerlich. Wozu einen Politiker bestechen, wenn seine Frau schon in den Händen der Bösewichte ist?«

»Vielleicht befürchten sie, dass der Mann froh ist, wenn er seine Gemahlin loswird.«

»Nein!«, rief Livia. »Sie ist seine große Liebe.«

»Fernsehen«, kommentierte ihr Vater. »Fiction. Was glaubst du wohl, weshalb ich mir niemals solches Zeug anschaue?«

»Und dann solltest du mal sehen, wie die Schauspieler gekleidet sind, das passt eigentlich nur nach Gütersloh! Dabei ist das eine deutsch-italienische Koproduktion. Und mittendrin sitzt der große Boss vom Fernsehsender und redet allen rein. Ein aufgeblasener Fettwanst, der tut, als gehöre ihm die Welt. Den Schauspielerinnen macht er pausenlos ziemlich unverblümte Avancen, mich hat er auch angebaggert. Am Mittagsbuffet drängt er sich ständig vor, zuhören tut er schon gar nicht. Angeblich hat er auch noch das Drehbuch unter Pseudonym verfasst, wofür er neben seinem Job als Programmchef zusätzlich abkassiert. Das ganze Team ist genervt, und es gibt ständig Krach. Der Regisseur ist leider ein Opportunist, der sich nicht gegen ihn auflehnt. Aber weißt du, was das Beste ist? Heute hat der Boss entschieden, dass am Ende des Films das Gesicht des Politikers in einen Teller Tiramisu klatschen soll, nachdem er einen Espresso getrunken hat. Gift. Abgesehen davon, dass der Kaffee erst nach dem Dessert serviert wird, schmoren die Mafiosi da längst im Knast, und niemand weiß, wer ihm das Zeug untergemischt hat. Lediglich ein Schatten wird dann durchs Bild laufen, der suggerieren soll, dass die finsteren Mächte weiterwirken und die Geschichte eventuell eine Fortsetzung haben kann, falls die Einschaltquote stimmt.«

»Unglaublich realistisch.« Laurenti lächelte müde. »Leider fragt nie einer meiner Kunden nach der Quote, sonst würden sie endlich aufhören, immer die gleichen krummen Dinger zu drehen.«

Livia saß mit ihrem Vater auf der großen zum Meer hin offenen Piazza im Schatten der Terrasse von Harrys Grill und nippte an ihrem Aperitif. Seit Wochen kam sie nur aus dem Büro heraus, wenn es am Set unüberwindbare Verständigungsprobleme gab. Dann ereilte sie ein dringender Anruf, sie möge alles stehen und liegen lassen, und sie konnte sich mit dem Motorroller gar nicht schnell genug durch den dichten Verkehr der Stadt fädeln, um als Dolmetscherin zum Prellbock zwischen den Streithähnen zu werden. Auch heute hatte es ordentlich gekracht, als der mächtige Mann vom Sender schon wieder alles über den Haufen warf, was mühsam organisiert worden war.

»Der wollte plötzlich die ganze Szene auf die gegenüberliegende Seite des Canal Grande verlegen, obwohl wir dort keine Drehgenehmigung haben. Und nicht einmal der Anschluss an die vorherige Szene stimmte. Zuerst Sonne, dann plötzlich Schatten. Das würde sowieso niemandem auffallen, behauptete er. Das Licht dort gefiel ihm besser. Erst als Alessandro, der Location-Manager, der vor lauter Stress schon vier Kilo abgenommen hat, ihm klarmachte, dass es Probleme mit den Behörden geben würde, steckte er zurück. Das ist das einzige, was ihn beeindruckt. Stell dir vor, der sitzt da einfach fett auf seinem Stuhl, hält das Drehbuch in der Hand und behauptet, er sei derjenige, der wüsste, was der Zuschauer erwartet. Und der Regisseur, diese Pfeife, nimmt es schweigend hin.« Livia war wütend.

Proteo Laurenti streichelte seiner Tochter die Wange. »Schmeiß den Job hin, Livia. Wir finden etwas Besseres für dich.«

»Wenn ich die jetzt hängenlasse, kann ich lange auf mein Geld warten. Außerdem sind derzeit dreißig Prozent der Leute in meinem Alter ohne festen Job.« Sie schmiegte sich deprimiert an die Schulter ihres Vaters, der dem Kellner winkte und noch einen Americano bestellte, halb Campari, halb Wermut, eine Orangenscheibe, ein Stück Zitronenschale und Sodawasser.

Der Commissario war seiner Tochter zufällig im Zentrum begegnet, nachdem er eine sich endlos hinziehende Sitzung beim Präfekten überstanden hatte, zu der alle leitenden Beamten der Ordnungskräfte geladen waren. Der Statthalter Roms hatte soeben erst seinen Dienst in Triest aufgenommen und eine Antrittsrede gehalten, die sich von denen seiner Vorgänger, die der Commissario in den letzten Jahrzehnten erlebt hatte, kaum unterschied. Die öffentliche Sicherheit sei zunehmend in Gefahr, und alles hinge von unbürokratischer Zusammenarbeit der Beteiligten ab, lautete auch sein Appell. Er war nicht der einzige Neue in der Stadt, auch der Polizeipräsident war ausgewechselt worden, und seine Nachfolgerin sprach ständig von Ordnung und Disziplin.

Die neue Regierung in Rom machte sich vor allem in der Innenpolitik bemerkbar. Die Minister aus der Lega Nord polemisierten am heftigsten. Sie hatten ihren Wählern mit dumpfpopulistischer Ausländerhetze die Stimmen abgeluchst und schrien nun auch nach Steuerföderalismus, als könnten sie sich vom Süden des Landes lossagen. Echten Föderalismus hatte bisher nur das Organisierte Verbrechen geschaffen – Cosa Nostra, Camorra, Sacra Corona Unita und ’Ndrangheta im Verein mit den Clans aus Osteuropa, China und Afrika – seit es gelernt hatte, dass Verhandlungen und Zusammenarbeit die Profite rascher erhöhten als kleinliche Abrechungen. Ein weltweites Netzwerk höchster Effizienz, das in ganz Europa Einzug in die oberen Etagen von Politik und Wirtschaft gehalten hatte. Nach dem Regierungswechsel begann sich wie üblich das Personenkarussell zu drehen. Die neuen Herren lösten die alten Strukturen auf und besetzten die Schlüsselpositionen mit Freunden und Verbündeten. Laurenti hingegen hatte sich auch noch an eine neue Staatsanwältin zu gewöhnen, die eine brillante Karriere in Rimini vorzuweisen hatte und auf deren Schreibtisch ein Großteil der Ermittlungen bei Kapitalverbrechen und Organisierter Kriminalität zusammenliefen. Wenigstens war seine Abteilung verstärkt worden. Seit drei Monaten tat ein junger Kollege bei ihm Dienst, der zuvor im durchs Erdbeben zerstörten L’Aquila in den Abruzzen eine Menge Staub geschluckt hatte.

Als Laurenti am Nachmittag aus dem klimatisierten Sitzungssaal der Präfektur schließlich auf die sonnenbeschienene Piazza hinaustrat, war ihm Livia über den Weg gelaufen. Überglücklich war sie gewesen, als sie ihren überraschten Eltern vor drei Monaten mitgeteilt hatte, dass sie nach Triest zurückkommen würde. Sie hatte ihre Lektorenstelle in einem Münchener Verlag gekündigt und bei einer Filmproduktion angedockt, die, im Auftrag des italienischen und des deutschen Staatsfernsehens, einen belanglosen Streifen abdrehte und dafür eine zweisprachige Koordinatorin suchte. Das Blaue vom Himmel hatten sie ihr versprochen. Ihr Vater war nicht damit einverstanden gewesen, hübsch, wie sie war, hätte er sie lieber als Schauspielerin gesehen. Doch Laura, ihre Mutter, freute sich und hätte ihr sowieso in allem den Rücken gestärkt.

»Livia, die Zeiten sind zwar nicht rosig, aber du hast glänzende Zeugnisse. Wir finden etwas für dich«, wiederholte Laurenti. »Immer mehr Filme werden hier gedreht, auch Kino. Und wenn das nicht klappt, dann brauchen die kontinuierlich expandierenden Versicherungsgesellschaften oder die großen Kaffeeröstereien in der Stadt jemanden mit deinen Sprachkenntnissen. Ich hör mich um. Wie lange dreht ihr hier?«

»Mindestens noch drei Wochen. Aber wenn die so chaotisch weitermachen, kann es auch länger dauern.«

Laurentis Blick fiel auf den Zweimaster mit den rostroten Segeln, der soeben vom Kai vor der Piazza ablegte. »Weißt du was, wenn du die Sache hinter dir hast, schenke ich dir das Geld für das Segelpatent, das du doch schon so lange machen willst.«

Endlich lächelte sie wieder. Manchmal hilft es zu wissen, dass alles irgendwann ein Ende hat.

*

Mit einem dumpfen Rasseln der schweren Kette senkte sich vom Bug der »Greta Garbo« der Anker auf den Grund vor dem westlichen Ufer des Golfs. An der Bordwand hing die Badeleiter, und Vittoria, die Harald Bierchen nach der zweiten Flasche Champagner nur noch Whisky einschenkte, servierte ihm auf einem Silbertablett die dritte Linie Kokain. Das Kleidchen war bis zur Hüfte hinabgerutscht, und die fleischigen Hände des mächtigen Mannes konnten nicht genug von ihren Silikonbrüsten bekommen.

Der Skipper hatte ganz gelassen einige Aufnahmen der beiden gemacht und verschloss den Fotoapparat in einem Ablagefach im Steuerhaus. Dann ließ er zweimal das Signalhorn brummen, ging unter Deck und zog die Badehose an.

Vittoria hatte verstanden.

»Nein, Süßer, langsam, langsam, ich brauche dringend eine Abkühlung«, hauchte sie und richtete sich auf. Der Fettwanst streckte gierig seine Hände nach ihr aus, doch sie trat zwei Schritte zurück.

»Zuerst ein Bad im Meer«, rief Vittoria. »Komm schon!«

Sie griff nach seiner Hand, zog ihn zur Reling und sprang, bevor eine Idee des Protests in ihm aufflackern konnte, von Bord und riss den vollständig bekleideten Mann mit sich. An einer Stütze aus Edelstahl stieß er sich die Hüfte, der Stoff riss, und er fiel wie ein Sack mit einer halben Körperdrehung in das laue Wasser der Adria.

Harald Bierchen prustete vor Vergnügen, als er wiederauftauchte, und planschte auf Vittoria zu, deren Kleidchen auf den sanften Wellen trieb. Doch plötzlich schlug er hysterisch um sich. Etwas zog ihn mit aller Kraft unter den Wasserspiegel. Ein verzweifeltes Gurgeln drang aus seiner Kehle, als er verschwand. Vittoria sah noch Luftblasen an die Oberfläche steigen, bevor sein heller Körper wie in Zeitlupe in die Tiefe sank.

Katzenfrau

»Eine Frau sollte mit zwei Männern leben, einer mehr Liebhaber, der andere eher ein Freund. Das hat Leonor Fini häufig gesagt und sich tatsächlich siebenunddreißig Jahre lang daran gehalten.« Enrico D’Agostino reichte Laura ein Glas perlenden Franciacorta. »Der eine war Stanislao Lepri, der seine Stelle als italienischer Konsul aufgab und ebenfalls zu malen begann, nachdem er sie kennengelernt hatte. Der andere war Konstantyn Jelensky, ein polnischer Intellektueller.«

»Und welcher hatte die Rolle des Liebhabers?«, fragte Laura, der die Geschichte der Künstlerin seit langem vertraut war.

»Ach, das wird vermutlich gewechselt haben.«

Sie standen im Salon der riesigen Wohnung in der Beletage eines fünfstöckigen Palazzo des Borgo Giuseppino an der Riva Nazario Sauro. In diesem Stadtteil erstreckten sich die ausladenden Gebäude über die gesamte Grundfläche zwischen zwei Parallelstraßen. Der Palazzo war ein Musterexemplar des klassizistischen Baustils: Vier weiße Lisenen hoben sich vom Altrosa der Fassade ab und akzentuierten die zentralen Fenster des ersten und zweiten Stockwerks. Ein wohlhabender serbischer Kaufmann, der es in der Stadt zu beachtlichem Reichtum gebracht hatte, ließ das Gebäude errichten. Im Erdgeschoss an der Ecke zur Via Annunziata befand sich eine alte Bar, an deren Wände alte Fotografien das einst geschäftige Treiben entlang der Molen dokumentierten. Enrico D’Agostino hatte, wie vor ihm seine Mutter, den 1825 erbauten Palazzo geerbt und bald alle großen Flächen in abgeschlossene Einheiten unterteilt; natürlich mit der Unterstützung des Verantwortlichen im Bauamt, der gegen ein paar Gefälligkeiten gerne die Denkmalschutzgesetze übersah. Kleinere Einheiten brachten bessere Mieten, die Enrico Monat für Monat ein beruhigendes Auskommen sicherten. Einige davon hatte er en bloc einer Dienstleistungsgesellschaft im Filmgewerbe überlassen, und die zahlte noch besser. Wie so viele in der Stadt lebte er ausgezeichnet, ohne einen Finger zu rühren. Das hatten die tatkräftigen Ahnen längst für ihn erledigt.

Nur die Wohnung im zweiten Stock, aus deren Fenster sich ein unverbaubarer Blick auf den Triestiner Golf und den Porto Vecchio öffnete, zog sich noch um den gesamten Innenhof und war, vor allem dank der exzellenten Stilsicherheit seiner Frau Carmen, zu einem Schmuckstück geworden. Laura waren die hochwertigen Materialien sofort ins Auge gesprungen, lediglich das wertvolle Parkett in den langen Fluren war übriggeblieben und knarzte noch an manchen Stellen. Die Küche musste so viel Geld gekostet haben, dass man sich davon in Randlagen eine Eigentumswohnung hätte kaufen können. Die Dame des Hauses allerdings konnte das Meisterwerk an Wohnkultur kaum nutzen, sie kannte dafür die Wände ihres Büros im schmucklosen Neubau der größten Kaffeerösterei der Stadt in- und auswendig sowie die Sessel der Business-Class jener Fluglinien, die sie als Marketing-Managerin nutzte, um mit den Topkunden ihres Arbeitgebers auf allen Kontinenten große Deals abzuschließen. Dafür genoss Enrico D’Agostino das Leben in vollen Zügen. Er kontrollierte die Abrechnungen des Verwalters, und wenn sein Lebensstil es verlangte, veräußerte er gelegentlich ein Appartement oder eines der Kunstwerke, die ihm nicht am Herzen lagen. Dicht aneinandergelehnt füllten die Bilder zwei Räume dieser riesigen Wohnung. Laura hätte sie rasend gerne in aller Ruhe inspiziert, ohne Begleitung. Doch hatte D’Agostino nur zwei Werke herausgezogen und sie ihr zur Begutachtung überlassen.

Der leidenschaftliche Segler war als Tombeur de femmes bekannt, ein Lady-Killer, der nicht abließ, bevor er ans Ziel gekommen war. Seit langem hatte er der fast zehn Jahre älteren blonden Frau hinterhergeschielt. Doch erst vor kurzem war es ihm gelungen, Laura in ein Gespräch zu verwickeln, als sie einmal ohne den Commissario, ihren Ehemann, zu einer Vernissage gekommen war. Ein Kompliment nach dem anderen machte er ihr, schwärmte von ihren smaragdgrünen Augen und der angeblich verführerischen Heiterkeit ihrer Körpersprache.

Endlich hatte es wieder eine bedeutende Kunstausstellung gegeben. Für gewöhnlich drang aus dem Kulturreferat nur bleierne Stille nach außen, dabei war das wundervolle Gebäude, das einst den städtischen Fischmarkt beherbergte, erst vor wenigen Jahren aufwendig renoviert worden und sollte, wie jeder damals der Presse entnehmen konnte, mit bedeutenden Ausstellungen großes Publikum anziehen. Doch das Gebäude stand meistens leer und wurde nur selten und stiefmütterlich genutzt. Inzwischen hatte man aus dem Rathaus vernommen, dass man ein kleines Aquarium darin einrichten könnte.

»Leonor Fini ist zweifelsohne unsere berühmteste Künstlerin«, sagte Laura. »Eine beeindruckende Biografie. Ihre Mutter hatte sie in Knabenkleider gesteckt, um die Entführungsversuche des rachsüchtigen Vaters zu vereiteln, der ihnen aus Buenos Aires hinterhergereist war. Und als sie dreizehn war, hat sie sich ins Leichenschauhaus geschlichen, um die Verstorbenen zu porträtieren. Später dann waren ihre Werke so gefragt wie die von Pablo Picasso. Warum bloß haben Sie dieses Bild nicht als Leihgabe für die Ausstellung im Revoltella-Museum gegeben?«

»Niemand weiß von seiner Existenz.«

»Vermutlich ein Selbstporträt.« Sie stand ratlos vor dem Ölgemälde, das Enrico D’Agostino ihr unter der Auflage gezeigt hatte, nicht darüber zu sprechen. Das Werk maß ein auf eineinhalb Meter und zeigte, ganz gegen den sonst so ausgeprägten Ästhetizismus der Künstlerin, drei vierschrötige, dickbäuchige Weiber, in deren Haar Fischgräten steckten und denen ein paar edle rotgetigerte Katzen mit hochmütig gerecktem Schwanz das Hinterteil zeigten. Sie geiferten über eine hübsche, feingliedrige Nackte, die bis zu den Oberschenkeln in den sanften Wellen stand.

»Was halten Sie davon?«

D’Agostino sprach davon, es auf den Markt zu bringen. Und Laura hatte sich nicht zweimal bitten lassen, es zu begutachten. Eine einmalige Chance, für das Versteigerungshaus, an dem sie beteiligt war, an Nachschub zu kommen.

»Das hätte gut als Frontispiz des Katalogs getaugt«, sagte Laura. »Die Stadt hat über Jahrzehnte so wenig von ihr wissen wollen wie von allen anderen, die ihr Ruhm gebracht haben. Dabei hatte Leonor Fini noch als Jugendliche die Bekanntschaft von Italo Svevo und Umberto Saba gemacht, von Arturo Natan und Bobi Bazlen. Und später, als sie über Mailand nach Paris kam, lernte sie die Surrealisten kennen, wurde Freundin von Cocteau, Max Ernst, Man Ray und Paul Éluard.«

»Dieses Bild ist in keinem der Werkverzeichnisse aufgeführt. Sie hat es in den sechziger Jahren gemalt, als sie ein paar Tage hier zu Besuch war. Es trägt einen ziemlich komischen Titel: ›La mare dei mona‹ …«

Laura prustete vor Lachen. Es war der erste Teil einer unflätigen Redeweise des bisweilen deftigen Triestiner Dialekts, die etwas fatalistisch besagte, dass die Mutter der Idioten endlos neue Kinder austrug. Ein namhafter Journalist war unlängst zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil er ihn auf einen überempfindlichen Lokalpolitiker angewendet hatte. Der Kläger war nicht mehr im Amt, doch an der Wahrheit überlieferten Redensarten ließ sich nicht rütteln.

»Und Sie haben natürlich kein Zertifikat über die Echtheit des Bildes, mein lieber Enrico«, sagte sie amüsiert. »Für solch satirische Ausführungen ist Leonor Fini nicht unbedingt bekannt.«

»Die Signatur ist so eindeutig wie das Datum. Sie war damals wirklich in Triest.«

»Und Ihre Mutter hat es direkt von der Künstlerin gekauft. Gibt es dafür Belege oder Korrespondenz?« Laura nahm einige Details des Bildes genauer unter die Lupe.

»Bisher habe ich nichts gefunden.«

»Es sind schrecklich viele Kopien im Umlauf. Von fast allen berühmten Künstlern.« Soeben erst war ihr ein gefälschter Monet untergekommen, womit der Anbieter sich allerdings umgehend eine Anzeige wegen versuchtem Betrug eingehandelt hatte – bei der anschließenden Hausdurchsuchung waren noch andere falsche Meisterwerke beschlagnahmt worden.

»›La mare dei mona‹ heißt es also. Die Schrift ist auf jeden Fall ihre«, sagte Laura schließlich. »Wen sie wohl damit gemeint hat?«

Enrico D’Agostino präsentierte nun einen signierten und mit Prägestempel versehenen Schwarz-Weiß-Abzug von Henri Cartier-Bresson. Er stammte aus dem Jahr 1933 und zeigte den nackten Torso der schönen Leonor Fini im Prisma des Lichtspiels des kristallklaren Meerwassers in der Triestiner Badeanstalt Ausonia.

»Für mich ist das eine Interpretation von Courbets ›L’Origine du Monde‹«, behauptete Enrico d’Agostino kühn. »Die Perspektive der lasziv geöffneten Schenkel ist fast die gleiche, auch wenn auf Leonors Schamhügel kein Härchen sprießt. Vor zweihundert Jahren stand man eben auf einen richtigen Busch in der Lendengegend. Aber feine nackte Haut ist doch viel sinnlicher. Finden Sie nicht auch?«

»Und diesen Abzug wollen Sie wirklich verkaufen?« Laura überging die Anspielung und nahm das Blatt unter die Lupe. Natürlich kannte sie Wiedergaben des berühmten Fotos, doch im Originalformat von vierundzwanzig auf sechsunddreißig sah sie es nun zum ersten Mal. Mit der freien Hand strich sie ihr strohblondes Haar zurück.

»Ach, ich ziehe die Natur ihrem Abbild vor. Sie selbst stehen ihr sicher in nichts nach.« Enrico blickte sie herausfordernd mit seinen blauen Augen an.

»Dieses Blatt kaufe ich Ihnen sofort ab. Für das Gemälde aber muss ein Gutachter herangezogen werden. Da geht es um viel Geld. Wer hat diese Bilder gesammelt?«

»Nehmen wir einen Aperitif an der Stazione Rogers«, schlug D’Agostino vor. »Dann erzähl ich es Ihnen gerne.«

Erst vor drei Tagen hatte Laura den quietschroten Alfa Romeo Mito vom Händler abgeholt. Während sie die Rive entlangfuhren, erzählte ihr Enrico D’Agostino von seiner Großmutter, die mütterlicherseits einer griechischstämmigen Triestiner Bankiersfamilie entstammte und eine sachverständige Kunstsammlerin gewesen war, der es nicht an den nötigen Mitteln gefehlt hatte. D’Agostino deutete an, was noch an Gemälden in seiner Wohnung lagerte, die er mit der Zeit, aber ohne Eile, abzustoßen gedachte. Laura prägte sich die Künstler und die Titel der Werke ein, am nächsten Tag würde sie die einschlägigen Kataloge und im Internet die jüngsten Auktionsergebnisse konsultieren und sich über die zuletzt erzielten Preise informieren.

»Halten Sie hier«, sagte der Charmeur, als sie an den Gebäuden der Ruderclubs vorbeifuhr. »Wenn wir schon da sind, kann ich Ihnen rasch mein Boot zeigen. Es liegt gleich da vorne in der Sacchetta.«

»Haben Sie da etwa noch mehr Bilder?«, fragte Laura und bog auf den Parkplatz ein.

Mit dem Sommer öffnet sich die ganze Welt

In den Bergen des Friaul und den Julischen Alpen Sloweniens musste es am Tag zuvor sintflutartig geregnet haben, während die Temperaturen in Triest Rekordwerte für den Juli markierten. In einem smaragdfarbenen Halbkreis drängte das Wasser des Isonzo ins Meer und schob sich stetig Richtung Triest, bis es sich beim Schloss Miramare allmählich mit dem tiefblauen Salzwasser der Adria vermischte. So weit vermochte das Süßwasser nur vorzurücken, wenn der Himmel über den Bergen sämtliche Schleusen geöffnet hatte. Der schäumende Fluss, der im Sommer sonst eher einem Rinnsal glich, trieb dann alles vor sich her ins Meer, und die Segler mussten aufpassen, dass ihre Yachten nicht mit Treibholz oder gar Baumstämmen kollidierten. Dafür war die Luft von kristallener Klarheit, und hinter dem Nordwestufer des Golfs leuchteten die Dolomiten, als hätte ein Bühnenbildner sie auf den Himmel gemalt.

Schon um sechs am Morgen hatte Proteo Laurenti sich in die Fluten der Adria gestürzt und war fast eine ganze Stunde lang geschwommen, weit über die Muschelbänke hinaus, bis zu den Bojen, welche die Reihe der ins Meer versenkten Reusen markierten, zum Fang der »Canoce«, wie die Meeresheuschrecken im Dialekt genannt wurden. Und voll überschäumender Fröhlichkeit war er zwei Stunden später vor der Questura aus seinem Wagen gestiegen, hatte unter den verwunderten Blicken der vor den Schaltern der Ausländerbehörde in langen Schlangen demütig wartenden Menschen federnden Schrittes die Eingangshalle durchquert, um zwei Stufen der breiten Treppe zu den oberen Stockwerken auf einmal zu nehmen. Es war ihm nicht bewusst, dass er unentwegt die Melodie von »Twisted Nerve« aus Quentin Tarantinos »Kill Bill« vor sich hin pfiff, ebenso wie im Film die diabolische Krankenschwester »California Mountain Snake«, bevor sie die Giftspritze ansetzte – was Marietta sehr bald dazu bringen sollte, die Tür zu seinem Büro mit Nachdruck und ganz ohne die sonst nötige Aufforderung zu schließen.

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