Kerker des Glücks - Wolfgang Wiesmann - E-Book

Kerker des Glücks E-Book

Wolfgang Wiesmann

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Beschreibung

Zauberhaft, sexy und märchenhaft kriminell "Es war einmal ..." Kaum zu glauben, aber sie sind wieder da! Die Grimmschen Märchen erwachen zu neuem Leben und ihre Helden liefern sich erbitterte Kämpfe. Nichts weniger als das wahre Glück steht auf dem Spiel. Rotkäppchen, 16 Jahre, trotzig und voller Ideale streitet mutig gegen die listige Verschwörung machtgieriger Gestalten. Zu allem Übel gerät der berüchtigte Zauberstab in falsche Hände und kein anderer als der Wolf wird zum brutalen Komplizen des Bösen.

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Kerkerdes Glücks

Wolfgang Wiesmann

1. Auflage Dezember 2022

© 2022 OCM GmbH, Dortmund

Gestaltung, Satz und Herstellung: OCM GmbH, Dortmund

Verlag:OCM GmbH, Dortmund, www.ocm-verlag.de

Printed in the EU

ISBN 978-3-949902-08-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über portal.dnb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt auch für die fotomechanische Vervielfältigung (Fotokopie/Mikrokopie) und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Inhalt

Einleitung

Die Aussprache

Maltes Villa

Die Vollversammlung

Bei Oma

Eintritt

Charade

Auf dem Heimweg

Das Quartier

Großmutter

Sterntaler

Froschkönig

Schwesterchen

Am Lagerfeuer

Die Fee

Knusperhäuschen

Rache

Hühnerbein

Das Glashaus

Im Hain

Schneider 3

Milchreis mit Himbeersauce

Das Bündel

Die Höhle der Löwin

Die Droge

Brainstorming

Mission Impossible

Die List

Die Galaparty

Das Duell

Die Eule

Die Katerin

Das Glück

Das Finale

Über den Autor

Weitere Bücher vom Autor

Über den Verlag

Einleitung

… und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage.

Diese Prophezeiung war gelogen. Das versprochene Glück kam abhanden, irgendwie, unaufhaltsam, glitt es davon.

Unmut machte sich breit. Die Leute waren enttäuscht, bespitzelten sich, bezichtigten sich gegenseitig des Diebstahls.

Feindliche Lager drohten mit Gewalt, vorne weg die Bremer Rocker, angeführt von Dornröschen und ihrem versoffenen Grafen.

Die feine Sippschaft hauste im Schloss, wo sich angeblich das Glück versteckt hielt. Tatsächlich berichteten ausgewählte Gäste von unvergleichlichen Gelüsten, rauschenden Festen und ausschweifenden Gelagen.

Keimte dort wirklich das neue Glück? Honorige Bewohner, wie Rotkäppchen und ihre Großmutter, sahen die Entwicklung mit Skepsis und wünschten sich einen Helden, der weder Zauberkraft noch Hexerei fürchtete.

Ein kühler Kopf musste her, ein Glücksbringer. Und er kam. Der donnernde Hufschlag seines Einhorns kündigte ihn an.

Die Aussprache

Großmutters Haus lag abseits der Stadtmauern in einem kleinen Wäldchen aus Laubbäumen. Aufgrund seiner historischen Bedeutung stand es unter Denkmalschutz. Dieser Umstand hatte kürzlich zu Reibereien zwischen Rotkäppchen und Großmutter geführt. Das Haus hatte einen Anstrich nötig und Rotkäppchen bestand auf Pink. Oma hatte argumentiert, dass sie Schwierigkeiten mit den Behörden bekommen würden. Rotkäppchen pochte darauf, dass es Großmutters Haus war und sie gefälligst damit machen konnte, was sie wollte. Damit die Nörgeleien ihrer Enkelin nicht zur Plage wurden, hatte Oma eingelenkt und beide hatten das Haus in einer Nacht- und Nebelaktion strahlend pink gestrichen.

Zwei Stufen führten hoch zu einer Veranda aus Holz. Von dort ging man direkt in die Küche. Links und rechts von der Tür befanden sich zwei niedliche Fenster mit weißen Gardinen. Ein Schaukelstuhl stand neben der Tür. Innen saßen Rotkäppchen und Großmutter am Küchentisch und unterhielten sich.

„Warum lackierst du dir schon wieder die Fingernägel? Du bist erst sechszehn. Deine Mutter – Gott hab sie selig – würde nicht erlauben, wie du dich für die Männer so ungeniert zurechtmachst. Und dann der Rock. Noch einen Zentimeter kürzer und jeder kann sehen, dass du türkisfarbene Unterwäsche trägst. Man braucht sich nicht mal zu bücken.“

Rotkäppchen ließ den kleinen Pinsel in das Fläschchen mit Nagellack sinken, schraubte es zu und fächerte mit den Fingern in der Luft herum.

„Oma, du kannst nicht wissen, was Mama sagen würde.“ Sie erhob sich und schaute aus dem Fenster. „Mama wäre noch am Leben, wenn der verdammte Jäger sein Handwerk richtig verstanden hätte. Dass er glaubte, die Steine im Bauch des Wolfes hätten die blutrünstige Bestie unschädlich gemacht, zeugt nicht von viel Grips im Kopf.“

Oma wunderte sich über den plötzlichen Themenwechsel.

„Wie sprichst du denn von deinem Lebensretter? Er war ein Gentleman, besuchte mich regelmäßig und machte mir Geschenke. Was glaubst du, warum ich am helllichten Tag damals im Bett lag? Ich erwartete meinen Jäger. Mit dir hatte ich überhaupt nicht gerechnet.“

„Ah, daher weht der Wind. Dann waren Kuchen und Wein, die ich dir öfter brachte, ein Liebesschmaus. Sag bloß, Mama wusste von deiner Affäre?“

„Nein, wo denkst du hin. Dann hätte sie dich nicht am Nachmittag geschickt. Er war verheiratet und hatte nur vor dem Abend Zeit für mich. Wäre der Wolf nicht gekommen, hättest du uns bei der Liebe ertappt.“

„Da habe ich aber Glück gehabt. Das wäre das Letzte, was ich hätte sehen wollen. Jetzt verstehe ich auch, warum er es nach unserer Rettung so eilig hatte. Dein Verehrer musste pünktlich zu seiner Frau zurück. Leider kam er dort nie an, denn der Wolf hatte die Steine wieder ausgewürgt und machte kurzen Prozess mit dem Jäger. Wäre die Bestie nur damit zufrieden gewesen“, seufzte Rotkäppchen, „aber seine unstillbare Blutgier verlangte nach einem weiteren Opfer. Wäre Mama doch nur zu Hause geblieben, dann wäre sie jetzt noch am Leben.“

Oma war verunsichert, denn ihre Enkelin hatte bisher über die tragische Ermordung ihrer Mutter durch den blutrünstigen Wolf geschwiegen. Nun wartete sie ab, ob Rotkäppchen endlich den Mut finden würde, sich der ganzen Wahrheit zu stellen. Rotkäppchen setzte sich zurück auf die Bank und prüfte, ob der Nagellack getrocknet war. Großmutter ließ sie gewähren, wollte aber auf keinen Fall die Gelegenheit verstreichen lassen, die schicksalhafte Vergangenheit aufzuarbeiten.

„Mein Kind, du warst so jung. Ich dachte nicht, dass du dich an das schreckliche Ereignis und das viele Blut erinnern würdest.“ Großmutter rückte zu ihr, strich ihr über die Haare und sah sie verständnisvoll an. Rotkäppchen umfasste die Lehne, als suchte sie Halt, um sich zu sammeln. Das Thema Wolf war eigentlich tabu.

„Warum kam der Wolf zu uns zurück, nachdem er deinen Verehrer in Stücke gerissen hat? Zumindest hätten wir damit rechnen müssen! Wir hätten Mama warnen können. Das Biest hatte Blut geleckt. Wir haben nur an uns gedacht.“

„Wir waren ganz allein. Ich habe nicht geahnt, dass deine Mutter dich suchen würde.“

Rotkäppchen wandte sich ab und wischte sich die Augen.

„Wir haben uns im Haus verschanzt. Das war falsch. Wir hätten ihn reinlassen sollen.“

„Ins Haus! Den Wolf?“ Oma wusste nicht, wie ihr geschah.

„Was sonst? Wir hätten ihn vergiften können. Deine schönsten Gewänder hätten wir ihm hingelegt. Hast du nicht gemerkt, dass er auf Frauenkleider stand? Der Wolf hätte sich eines deiner seidenen Nachtgewänder angezogen und wäre ein zweites Mal zu dir ins Bett gestiegen. Bevor er dich vernascht hätte, hätte ich ihm das große Brotmesser zwischen die Rippen gerammt.“

Rotkäppchen fühlte sich offensichtlich schuldig am Tod ihrer Mutter. Oma schaute sie mitfühlend an.

„Du warst damals erst acht. Es wäre uns nicht gelungen, den Wolf zu überwältigen.“

„Wir hätten wissen müssen, dass Mutter nach mir sucht und leichte Beute für die Bestie wird.“

„Heute sind wir klüger, aber damals standen wir unter Schock. Es ist vorbei!“

„Nicht für mich!“, grollte Rotkäppchen. „Ich träume davon, wie er sie hier vor dem Haus anspringt, sich in ihren Hals verbeißt, rüttelt und würgt, bis Mama keine Luft mehr kriegt und verblutet. Oma, die Bilder gehen mir nicht aus dem Kopf.“

Großmutter hielt Rotkäppchens zittrige Hand. Der Moment Ruhe tat beiden gut. Erleichtert tupfte Großmutter sich ihre Tränen mit der Schürze ab.

„Ich bin froh, dass wenigstens wir überlebt haben und du seitdem bei mir wohnst. Wir hatten auch schöne Zeiten. Oder gefällt es dir nicht mehr? Du bist in letzter Zeit so rührig. Fehlt dir etwas?“

„Schon gut, Oma. Ich bin manchmal so impulsiv, ich weiß auch nicht warum.“

„Vielleicht ist es das Alter. Da ging es mir nicht anders. Übrigens, was ich dich noch fragen wollte. Hast du eigentlich einen Begleiter, wenn du heute zur Versammlung gehst? Ich meine, ob du einen Freund hast. Ich mache mir sonst Sorgen.“

Rotkäppchen verdrehte die Augen. Nutzte Oma etwa die vertrauliche Stimmung, um sie auszufragen? Eine patzige Antwort lag ihr bereits auf der Zunge. Aber sie hatte ihre Oma sehr gern und gab nach.

„Ich gehe mit einem Bürgerlichen. Prinzen sind nicht mein Ding.“

„Es darf auch etwas genauer sein“, lächelte Oma auffordernd.

„Ich gehe mit dem Mittleren der Schneidersöhne, der mit dem Goldesel.“

„Schön, das gefällt mir. Aber sag mal, wurde ihm der Esel nicht gestohlen?“

„Vom gestiefelten Kater, Oma. Das weiß doch jeder. Der Kater, der versoffene Graf und Dornröschen hecken ewas aus. Keiner weiß genau, was da im Schloss vor sich geht. Jedenfalls kosten die Umbauten ein Vermögen. Deswegen wurde meinem Freund der Goldesel gestohlen, als Finanzspritze, verstehst du.“

Großmutter runzelte die Stirn. Tiefe Sorgenfalten machten sich breit, denn es gab Grund zu ernster Besorgnis. Wo blieb das Glück bis ans Lebensende? Vielen im Volk war nach ihren abenteuerlichen Erlebnissen Glück und Reichtum versprochen worden, doch leider stellte sich dieses Versprechen bislang als heiße Luft heraus. Die Stimmung war explosiv. Jeder verdächtigte jeden, das Glück gestohlen oder gebunkert zu haben. Wehe, wenn das Glück für immer aus dem Land geschmuggelt wurde. Menschen denunzierten andere aus Missgunst, Nachbarn bespitzelten sich und Großmäuler handhabten das Faustrecht nach Lust und Laune. Es herrschte Bürgerkriegsstimmung. Großmutter verfolgte die Situation seit Langem mit wachsendem Unbehagen.

„Der Kater ist ein ganz Schlauer. Dem würde ich Geschäfte mit dem Glück zutrauen. Weißt du mehr über die Sache mit dem Schloss?“

„Es wurde zu einem Museum umgebaut. Neuerdings gibt es sogar Spätvorstellungen für Erwachsene. Hört sich harmlos an, aber ich bin sicher, dass Dornröschen Übles ausheckt. Sie ist keine Wohltäterin. Malte sagt, dass die Bremer Rocker ständig am Schloss rumhängen.“

„Malte heißt also dein Freund. Ist er traurig wegen des gestohlenen Esels?“

„Malte konnte sich alles erlauben und jeder dachte natürlich, dass er glücklich sein müsse mit all dem Gold. Doch so war es nicht. Als sich überall in seiner Villa das Gold türmte und seine Freunde immer öfter kamen, um sich was zu borgen, wurde er das Reichsein leid. Dann kam es zum Überfall der Bremer Bande. Sie entführten seinen Goldesel und Malte kann von Glück sagen, dass er mit dem Leben davongekommen ist. Das Räuberpack ist echt brutal.“

„Das schöne Gold. Vermisst er es denn gar nicht?“

„Nein! Außerdem hat er ja mich.“

Großmutter konnte sich den Hauch eines Lächelns nicht verkneifen.

„Kommt Malte dich abholen? Dann kann ich ihn begrüßen. Ich wüsste gerne, wie er aussieht.“

Rotkäppchen schaute ihre Oma entrüstet an.

„Du bist gut! Kommst du etwa nicht zur Versammlung? Alle gehen hin, und es ist eigentlich deine verdammte Pflicht, dort zu erscheinen. Schließlich bist du berühmt.“

Großmutter schloss kurz die Augen, als könnte sie damit das ‚verdammt‘ ungeschehen machen.

„Ich halte nichts von diesem demokratischen Firlefanz. Dauernd kluge Reden, Abstimmungen und raus kommt nix. So finden wir das Glück jedenfalls nicht. Wir brauchen einen guten König und nicht einen Haufen von Besserwissern ohne Erfahrungen. Von Verschwörungstheorien ganz zu schweigen.“

„Oma, das tut hier nichts zur Sache. Es geht ums Große und Ganze. Du erinnerst dich: ‚… und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage‘. Ich muss dir nicht sagen, dass diese Verheißung nicht eingetroffen ist. Wir wurden um das höchste Gut betrogen. Wenn wir das Glück nicht zügig finden, steuern wir geradewegs auf eine Katastrophe zu. Die neuen Mächtigen ködern das Volk mit Lust und Genuss. Nicht wenige glauben bereits, dass man Glück kaufen kann.“

Rotkäppchen setzte sich ihre Mütze auf und machte sich zum Gehen bereit. An der Tür drehte sie sich um und warf ihren letzten Trumpf in die Waagschale.

„Außerdem machst du dich verdächtig. Wer nicht auf dem Marktplatz erscheint, könnte etwas zu verbergen haben. Das kann gefährlich für uns werden. Du hast doch nichts mit dem Verschwinden des Glücks zu tun, Oma, oder?“

Großmutter blieb besonnen. Sie machte einen Schritt auf Rotkäppchen zu und sprach mit besänftigenden Worten:

„Bedenke, mein Kind, wenn einer das Glück hat, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder ist derjenige glücklich, dann würdest du das merken. Das Glück scheint immer hell und freundlich und steckt an. Oder derjenige ist schlecht und versteckt das Glück, das würdest du nicht merken. Der Schlechte, der das Glück verbirgt, kann selbst nicht glücklich sein. Wenn du mich betrachtest, so fehlt mir nicht viel zum Glück. Ein Mann müsste es sein, ein feiner mit Verstand und charmantem Witz. Der würde mir die Zeit wie im Flug zerstreuen und ich wäre nah am Glück, das kannst du mir glauben.“

„Schon gut, Oma. Ganz so einfach kommst du mir allerdings nicht davon. Mit einem verheirateten Mann eine Affäre zu unterhalten, zeugt nicht gerade von einer tugendhaften Gesinnung. Also kommst du nun?“

Großmutter winkte ab.

„Ich schaue mir das ganze live im Fernsehen an. Aber einen Tipp hätte ich.“

Rotkäppchen ergriff die Klinke und verharrte genervt.

„Oma, bitte! Ich höre.“

„Guckt euch einen Inspektor aus, der die Suche nach dem unrechtmäßigen Inhaber des Glücks übernimmt. Einen netten und wohlgesitteten Inspektor, den brauchen wir. Da wäre auch für mich vielleicht eine neue Bekanntschaft drin.“

„Du meinst Glück in der Liebe?“

„Ein Glück, das kommt und geht. Warum nicht?“

„Zum letzten Mal, Oma: Kommst du?“

„Hochgewachsen soll er sein, vornehm und mit guten Manieren, ein Mann der Tat!“

Maltes Villa

Malte telefonierte gerade, als Rotkäppchen von außen durch die großen Fenster der Villa blickte. Als er sie sah, legte er gleich auf und öffnete die Tür. Sie küssten sich flüchtig auf den Mund. Für ihren Geschmack hatte Malte ein wenig zu hastig aufgelegt. Sie wollte ihm auf keinen Fall hinterherspionieren, aber dass er ihr nicht freiwillig sagte, mit wem er gesprochen hatte, veranlasste sie zu einer Bemerkung.

„Klar möchte ich gerne wissen, mit wem du gerade gesprochen hast, aber ich frag nicht.“

Malte schmunzelte.

„Ich könnte behaupten, dass es mein Bruder war, aber warum solltest du mir das glauben? Vielleicht war es ja auch Sterntaler, die mich zu einer ihrer Edelpartys einladen wollte.“

Rotkäppchen ging gemächlich durch den Raum und fuhr mit dem Zeigefinger über diverse Möbelstücke. Ihr Schweigen sprach Bände. Malte schaute ihr nach.

„Du sagst ja gar nichts. Eifersüchtig auf Sterntaler?“ Er ließ sich in einen Sessel fallen. Seine gespielte ­Lässigkeit machte ihn umso verdächtiger. Sie war es leid, zog die Augenbrauen hoch und ließ Dampf ab.

„Die aufgeblasene Pute! Nur weil sie als Kind nackt im Wald stand und zu blöd war, ihr letztes Hemd anzubehalten, muss sie heute nicht ihre besten Jahre mit Shopping-Orgien und Fetisch-Partys vergeuden. Die wird nie erwachsen. Bist du fertig? Wir müssen gehen.“

Malte rührte sich nicht. Er wollte ihre Reaktion auf seine nächste Bemerkung genau beobachten.

„Hänsel wollte vorbeikommen.“ Malte wartete einen Moment. Rotkäppchen zupfte teilnahmslos an ihrer Mütze. Malte setzte nach. „Wir dachten, dass wir unsere klugen Köpfe zusammenstecken und uns selbst um die Wiederbeschaffung des Glücks kümmern.“

Rotkäppchen marschierte energisch auf ihn zu und bäumte sich vor ihm auf.

„Ach! Und Gretel und ich? Wo bleiben wir Frauen?“

Malte zuckte unschuldig die Achseln. Rotkäppchen war sauer, dass Malte nicht wenigstens an sie gedacht hatte.

„Ausgerechnet Hänsel! Der ist doch übergeschnappt. Sein Handel mit den Glücksaktien, das ist glatter Betrug.“

Typen wie Hänsel waren ihr ein Dorn im Auge, weil sie sich mit den schlechten Zuständen arrangierten, statt für das Gute zu kämpfen. Sie schaute herablassend auf Malte.

„Hänsel ist auf Geld aus, mein Lieber, das allein ist mies. Mach dir nichts vor! Dem geht’s nur um die eigene Haut.“

„Ach was, der Hänsel ist okay. Die Idee mit der Froschfarm stammt übrigens auch von ihm. Verhökert die grünen Flitsche für’n Wucherpreis an junge Mädchen. Die Frösche sind ein Verkaufsschlager. Die jungen Dinger geben die Hoffnung nach einem schmucken Prinzen nicht auf. Der grüne Schleimbeutel wird an die Wand geworfen und dann kreischen sie wie verrückt. Das ist momentan der letzte Schrei auf Instagram.“

Rotkäppchen sah ihn mitleidig an.

„Wer will heute noch einen Prinzen? Ich muss lachen, entschuldige, aber für mich sieht das sehr naiv aus. Erst kommt der Prinz und dann das Glück. Wie einfältig, aber die blöden Gören glauben dran. Was, wenn es genau andersherum ist? Erst sorgst du für dein Glück und dann suchst du dir einen Mann. Wenn du bereits glücklich bist, findest du auch dein Herzblatt, egal ob Prinz oder Bettelmann.“

Malte erhob sich genervt aus seinem Sessel.

„Lass dir ein Patent drauf geben. Das mit den Glücksaktien hat jedenfalls Zukunft. Du kaufst eine Aktie, und wenn das Glück gefunden wird, hast du ein verbrieftes Anrecht darauf. Der Hänsel versteht sein Geschäft.“

Malte schlenderte auf und ab, blieb ungeduldig vor ihr stehen und ließ die Schultern sinken. Rotkäppchen erwiderte seinen mürrischen Blick mit eiserner Miene.

„Okay, für diesmal sag ich Hänsel ab“, brummte Malte launisch.

Ein siegreiches Lächeln legte sich auf ihre Wangen.

„Nett von dir. Und nun beeil dich, wir müssen los.“

Die Vollversammlung

Auf dem Marktplatz drängten sich aufgebrachte Bürger, deren Unmut sich nicht selten in streitbaren Gesten entlud. Radikale Gruppen zogen fahnenschwenkend durch die Gassen. Die Masse strebte zum Brunnen, wo man ein provisorisches Rednerpult aufgebaut hatte.

Die beleibte Sprecherin der zwölf weisen Frauen hielt gerade eine Rede, als Rotkäppchen und Malte sich einen Weg durch die Menge bahnten. Die 13. weise Frau, die damals nicht zur Festtafel anlässlich Dornröschens Geburt eingeladen worden war, hatte sich immer noch nicht mit ihren Kolleginnen versöhnt. Sie galt als verschroben, lebte außerhalb der Stadt und wurde mehrmals in der Gesellschaft subversiver Gestalten gesehen.

„Warum kommst du nicht?“, meckerte Malte. „Dort ist Hänsel mit seiner neuen Flamme. Lass uns hingehen!“

„Nein, danke“, wehrte Rotkäppchen zähneknirschend ab. „Das Flittchen kenne ich. Sie war einst Prinzessin. Wegen ihr wurde ihre Kammerzofe nackt in ein Fass mit Nägeln gesteckt und durch die Gassen der Stadt gezogen, bis sie elendig verblutet war. Die geht über Leichen. Verkommene Gesellschaft, dein Hänsel und seine Flamme! Außerdem müssen wir dann an Dornröschen und ihrem Macker, dem Grafen, vorbei. Der gestiefelte Kater hockt auch da rum. Das Gesindel kotzt mich an. Lass dich besser nicht bei denen blicken. Sie werden dich provozieren.“

„Wo, sagst du, stecken die edlen Herrschaften, die meinen Goldesel gestohlen haben?“, fauchte Malte mit feurigen Augen.

„Na, da! Die Schnepfe im langen Pelzmantel und der Schnösel mit dem weißen Hut. Schau, wie protzig er mit dem Autoschlüssel seines Cabrios spielt!“ Rotkäppchen zerrte an Maltes Jacke. „Lass dich nicht bitten! Dort drüben steht Schwesterchen mit ihrem Sohn. Sie ist nett. Ich möchte zu ihr.“

Rotkäppchen zog los und Malte trottete hinterher. Im Vorbeigehen hörte sie, wie zwei Frauen in schwarzen Gewändern miteinander tuschelten. Alles, was sie in der Menge aufschnappen konnte, war: „… Unfrieden stiften. Die Versammlung muss ein Fehlschlag werden …“

Sie wandte sich hastig um, konnte aber die Gesichter der Frauen in dem Gedränge nicht erkennen und beließ es dabei.

„Hallo Schwesterchen!“, rief Rotkäppchen. „Was für eine Freude, dich zu sehen!“

Sie umarmten sich. Rotkäppchen beugte sich zu dem kleinen Jungen hinunter. Der griff gleich nach ihrer roten Mütze und zog sie über. Sein Gesicht verschwand fast vollständig darin. Rotkäppchen lachte schallend.

„Weißt du was, mein Kleiner. Der Malte holt uns Frauen jetzt zwei Piccolos und für dich ein großes Eis, und wenn er wiederkommt, gibst du mir die Mütze zurück, okay?“

Malte machte ein Gesicht, als hätte er begriffen, dass Protest wenig Sinn machte. Also verzichtete er darauf und fügte sich in die Rolle des Dienstboten. Schwesterchen warf ihm ein wohlwollendes Grinsen zu.

„Du siehst gut aus“, strahlte Schwesterchen. „Zeig mal den Nagellack! Tolle Farbe! Meinst du, die würde mir auch stehen? Es ist lange her, dass ich mich zurecht gemacht habe. Ich würde gern mal wieder ausgehen.“

Rotkäppchen umarmte ihre Freundin. „Deine Trennung vom König ist lange her, und wie es aussieht, bist du noch nicht drüber weg.“

„Doch. Ich glaube nur nicht mehr an eine feste Beziehung. Ein Mann, so für eine Nacht, das wäre allerdings etwas anderes. Was meinst du?“

Rotkäppchen glaubte, ihr aus der Seele zu sprechen.

„Mal wieder tanzen, flirten, eine Männerstimme, die dir ein Kompliment ins Ohr flüstert, starke Arme, die dich über die Schwelle seines Hauses tragen, wo er dich mit Leidenschaft in den siebten Himmel hebt und morgens als Kavalier neben dir aufwacht, dir das Frühstück ans Bett bringt und dir sagt, dass du auch ungeschminkt die Schönste bist. Das meintest du doch, oder?“

„Ich vermisse einen richtigen Kerl“, stöhnte Schwesterchen verdrießlich.

„Gut – auch nicht schlecht. Aber einen richtigen Kerl, gibt’s den überhaupt? Sieh dir Dornröschen an. Glaubst du, der aufgetakelte Graf macht sie glücklich? In ihrem Museum soll’s übrigens ziemlich heiß hergehen.“

Schwesterchen hielt ihren Zeigefinger vor den Mund und deutete auf ihren kleinen Sohn.

„Hast du es also auch gehört?“, ereiferte sich Rotkäppchen.

„Was die Leute so reden. Du erfährst nichts Genaues, aber wer schon dort war, schwärmt von leiblichen Genüssen.“

„Da kommt Malte.“ Mit vorgehaltener Hand flüsterte Rotkäppchen: „Wir gehen heute Abend ins Schloss. Danach erzähl ich dir alles.“

„Hier Mädels, eure Drinks und ein Eis für den jungen Mann.“ Malte sah zum Rednerpult herüber. „Was wird gesprochen? Gibt es schon Vorschläge?“

Die Frauen wiegelten ab: „Wir haben nichts gehört.“

Rotkäppchen setzte sich wieder ihre Mütze auf und schaute sich um. Ein Rednerwechsel stand an. Die Sprecherin der zwölf weisen Frauen stieg das Treppchen hinunter und winkte Dornröschen zu. Die reagierte mit einem stolzen Lächeln, als wollte sie der Öffentlichkeit demonstrieren, dass sie einflussreiche Verbündete hatte.

„Dornröschen hat sich sehr zu ihrem Nachteil verändert“, kommentierte Rotkäppchen, „und den zwölf weisen Frauen und ihrer fetten Sprecherin kannst du auch nicht trauen. Sieh nur, wie Dornröschen den monströsen Weibern schöne Augen macht.“

„Vielleicht ist sie, na, du weißt schon.“

„Lesbisch? Kein Wunder bei dem Grafen.“

Malte hatte den Vorgängen am Rednerpult aufmerksam zugesehen und rief den beiden Frauen zu: „Als Nächstes spricht der Jäger, der Schneewittchen vor dem Tod bewahrt hat.“

Rotkäppchen musterte den Mann. Einen Moment dachte sie an ihre Großmutter und dass ihr ein Jäger als Inspektor und Liebhaber wohl gerade recht wäre. Sie musste schmunzeln, konnte es doch gut sein, dass man ihn mit einem Amt betraute und er dadurch ihrer Oma über den Weg liefe.

Buhrufe erschallten, als der Jäger sich anschickte, das Rednerpult zu betreten. Feministinnen hatten ihn auf dem Kieker, weil er es angeblich nur auf das unschuldige Mädchen abgesehen und den Mordauftrag der Stiefmutter aus eigennützigen Motiven erfunden hatte. In Wahrheit ging es den Feministinnen um eine Verschleierung von Tatsachen. Stiefmütter hatten einen zweifelhaften Ruf. Das passte nicht zu einem zeitgemäßen Frauenbild. Allerdings hatten die Feministinnen ihr Ziel weit unterschätzt, denn es gab schlicht zu viele schlimme Frauen. Mit dazu zählten die Hexe, die Hänsel fressen wollte, die böse Köchin, die ein Findelkind kochen wollte, und die Hexe, die Brüderchen in ein Reh verwandelt hatte. All diese monströsen Gestalten sind unter grauenvollen Qualen umgekommen. Das war wiederum ein Vorteil für die Feministinnen, denn post mortem war es einfacher, Verbrecherinnen in ein besseres Licht zu rücken. Die bösen Frauen hatten eine Legende hinterlassen, die sich bei der bröckelnden Moral der Leute immer größerer Akzeptanz erfreute. Das Böse bekam einen freundlichen Anstrich. Die vergebliche Suche nach dem Glück nährte zusätzlich den Boden für alternative Glücksbringer. Laute Stimmen schworen dem wahren Glück ab und forderten eine Politik der harten Hand. Die Bremer Rocker gehörten mittlerweile zum Stadtbild. Dass sie heute in der ersten Reihe vor dem Rednerpult saßen und sich mit Bierflaschen bewaffnet hatten, überraschte eigentlich niemanden. Aber sie dort grölen zu hören, störte dann doch. Ein provokantes Wort, und die Situation würde eskalieren. Der Jäger galt als konservativ, als Erzgläubiger an das Glück. Mit seiner Rede könnte er die Atmosphäre anheizen, dass es zum Tumult käme.

Es wurde still auf dem Platz. Der Jäger ergriff das Wort:

„Liebe Anwesende und ihr daheim an den Bildschirmen, auch wenn ich mir nie etwas zu Schulden kommen ließ, so stehe ich nicht als Unschuldiger vor euch. Hätte ich früher eingegriffen, wäre Schneewittchens Stiefmutter nicht elendig in ihren glühenden Tanzschuhen verbrannt und dem zarten Mädchen wäre der Tod nicht so dicht auf den Fersen gewesen, wie es die Eitelkeit ihrer Stiefmutter wollte.“

Hier und da grummelte es in der Menge. Die Bremer tranken fast zugleich ihre Flaschen leer. Der Jäger fuhr guten Mutes fort. Hätte er doch einen Trumpf im Ärmel, dachte Rotkäppchen und nippte an ihrer Sektflasche.

„Kurz und gut, ich habe die Weisheit nicht mit Löffeln gegessen und zaubern kann ich auch nicht, aber etwas wurde mir in letzter Zeit klar. Wären viele von euch nicht durch Elend und Kummer hindurchgegangen, würde sich die Frage nach dem Glück nicht stellen. Erst die Tiefpunkte des Lebens lassen das Glück so erstrebenswert erscheinen. So lernten wir, das Glück als Lohn für das Unglück zu betrachten. Kann es ein Glück ohne Unglück geben? Ich gebe das nur zu bedenken, denn ich kenne die Antwort nicht. Dennoch seid ihr zu Recht enttäuscht, weil das versprochene Glück auf Lebenszeit noch immer auf sich warten lässt. Wir haben uns daher heute versammelt, um dieses Glück endlich zu finden.“

Der Jäger sah in die Menge. Ein lauter Widerspruch blieb aus, sodass er mutig seinen Kurs fortsetzte.

„Ich schlage vor, eine vertrauenswürdige Person zu erwählen, die die Suche nach dem Glück stellvertretend für uns alle übernimmt. Dann beschimpfen wir uns nicht ständig gegenseitig und die peinliche Spionage hört auch auf.“

Die Leute schauten skeptisch. Sie hatten sich wohl eine patentere Lösung erhofft.

„Sehr diplomatisch“, kommentierte Malte. „Er spricht nicht von gestohlenem Glück, auch wenn er damit den Nerv des Volkes getroffen hätte. Das läuft auf einen Posten hinaus, den ich mir gut für mich selbst vorstellen könnte.“

Wieder musste Rotkäppchen an ihre Oma denken, die sich einen Mann der Tat fürs Auffinden des Glücks und für ein paar Glücksmomente in ihrem Bett gewünscht hatte. Malte und ihre Oma, den Gedanken schob sie allerdings rasch beiseite. Der Jäger erhob seine Stimme.

„Liebe Freunde, ich schlage also vor, den Posten eines Inspektors ins Leben zu rufen. Die betreffende Person ist für das Auffinden des Glücks verantwortlich. Wenn ihr damit einverstanden seid, halten wir sofort eine Wahl ab.“

Rotkäppchen zerrte plötzlich an Maltes Pullover und bat ihn hektisch, sie auf seine Schultern zu hieven. Nichts ahnend folgte er ihrer Bitte.

„Halt!“, schrie sie gebieterisch. „Ich bin gegen eine Wahl. Hört meinen Vorschlag! Wer Inspektor werden will, muss drei Rätsel lösen. Ich werde die Rätsel stellen.“

Absolute Stille erfüllte den Marktplatz. Selbst die Bremer Rocker rührten sich nicht. Rotkäppchen besaß großes Ansehen beim Volk, weil ihre Geschichte weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt war und sie sich nie etwas hatte zu Schulden kommen lassen.

Es machte sich Zustimmung breit. Bis auf die ­Bremer und vereinzelte Sympathisanten des Dornröschenclans jubelten die Leute Rotkäppchen zu. Es kam Schwung in die Versammlung. Der Vorschlag mit den drei Rätseln erinnerte viele an die alten Zeiten, als noch gezaubert wurde und das Glück auf der Schwelle stand. Rotkäppchen ergriff gleich die Initiative und legte mit ihren drei Fragen los.

„Hört zu! Hier die erste Frage: Wie fühlt sich der Schwanz eines Fuchses an? Nun die zweite Frage: Welche Farbe hatten Aschenputtels Seidenstrümpfe, als sie zum zweiten Mal zum Tanz ausging? Drittens: Wer ist Heinrich?

Das sind die drei Fragen! Wer von euch eine falsche Antwort gibt, ist raus. Wer die meisten Fragen richtig beantwortet, ist Sieger. Es kann losgehen.“

Einer der Rocker hatte offensichtlich Feuer gefangen, lief zu seinem Motorrad und befühlte den Fuchsschwanz, der an einem Chrombügel seines Sitzes hing.

„Frage eins geht auf mein Konto“, rief er mit brodelnder Stimme, als er zurückkam. „Ein Fuchsschwanz fühlt sich weich und haarig an.“

Rotkäppchen wies ihn zurecht.

„Du musst dich für ein einziges Wort entscheiden.“

„Okay“, grölte der Rocker selbstsicher. „Weich ist die Antwort.“

„Falsch! Du bist raus!“

Der fettwanstige Bremer ballte die Fäuste.

„Verdammte Schlampe, der Teufel soll dich holen!“

Die anderen Bremer stänkerten. Ein Wunder, dass keine Flaschen flogen. Der blamierte Rocker drohte mit der Faust, schnippte sich eine Flasche Bier mit den Zähnen auf und verschwand in der Menge.

Rotkäppchen ließ sich nicht beirren. Das Volk war auf ihrer Seite. Alle überlegten fieberhaft. Es wurde getuschelt und gekungelt.

Malte hatte von dem Alleingang seiner Freundin nichts geahnt. Er war enttäuscht, dass sie ihn nicht in die Fragen eingeweiht hatte, besonders, weil er keine beantworten konnte. Rotkäppchen wurde ihm zu schwer. Er ließ sie von seinen Schultern steigen und bat um einen Tipp. Sie blieb hart und schenkte ihm kein Gehör. Schwesterchen sah Maltes Not und beschwichtigte die Situation.

„Ich habe auch keinen Schimmer, bin mir allerdings sicher, dass bei Hänsel die meisten Vorschläge zusammenlaufen. Der versteht sein Geschäft, sammelt und verkauft Informationen.“

„Warum bin ich da nicht selbst drauf gekommen?“, fasste Malte sich an den Kopf. „Mädels, entschuldigt mich. Ich muss zu Hänsel, bin gleich zurück.“

In Rotkäppchens Nähe befand sich der Marktbrunnen, der aus dicken Natursteinen gemauert war. Sie bahnte sich einen Weg dorthin, stieg auf den Rand und übernahm wieder die Moderation.

„Ein Tipp: Heinrich, der Wagen bricht!“, schrie sie über den Marktplatz. „Nun muss es aber funken!“

Natürlich gab es auch kundige Leute, die aber die Aufgabe des Inspektors nicht übernehmen wollten. Sie ließen sich ihre Tipps gut bezahlen und so kam es, dass sich nur willige Kandidaten zu Wort meldeten. Der geschiedene Prinz von Dornröschen, dessen Kuss sie aus dem hundertjährigen Schlaf erweckt hatte, erhob das Wort. Er galt als eitel und affektiert.

„Ich denke, dass Rotkäppchen einen ehrlichen Kandidaten präsentieren möchte. Ich schreibe deshalb meine drei Lösungen auf ein Blatt Papier und händige es ihr in diesem Umschlag aus. Er möge allerdings verschlossen bleiben, bis alle Mitstreiter sich gemeldet hatten.“

Rotkäppchen verzog die Mundwinkel, nahm aber das Gesuch des Prinzen an. Könige und Edelleute hatten ihr Ansehen beim Volk verspielt und so erntete der Prinz nur ein lausiges Murren von der Menge.

Malte drängte sich zu Rotkäppchen durch und sprang zu ihr hoch auf den Brunnenrand. Er hielt sie bei der Schulter und verkündete lautstark:

„Heinrich war der Kutscher des Prinzen, der als Frosch eine goldene Kugel aus der Tiefe eines Brunnens geholt hat.“

Rotkäppchen strahlte und beglückwünschte Malte. Leider kam es nicht zum erwarteten Applaus, denn ein Zwerg fuhr augenblicklich dazwischen.

„Malte muss vom Verfahren ausgeschlossen werden!“, keifte der Zwerg. Ein Raunen ging durch die Menge. „Rotkäppchen und er haben ein Verhältnis miteinander“, schrie der Zwerg. „Vetternwirtschaft ist verboten.“

Schnell wendete sich das Blatt. Rotkäppchen sah ihre Sympathie schwinden. Die Leute verdächtigten sie, gemeinsame Sache mit Malte gemacht zu machen. Sie lief rot an und Malte schaute finster. „Malte ist aus dem Rennen“, verkündete sie entschieden. Malte machte sich erbost aus dem Staub und Rotkäppchen versuchte zu retten, was zu retten war.

„Maltes Antwort war korrekt, aber ich kann eure Bedenken verstehen. Das Verfahren muss sauber bleiben. Ich schlage deshalb ein neues Rätsel vor, das jemand von euch stellt. Was denkt ihr?“

Das tapfere Schneiderlein meldete sich zu Wort. Weil er so klein war, hatte er sich auf einen Esel gestellt.