Kerle im Klimakterium - Karsten Weyershausen - E-Book

Kerle im Klimakterium E-Book

Karsten Weyershausen

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Beschreibung

Holger Reichard und Karsten Weyershausen sind in der Lebensmitte angekommen - also in den besten Jahren. Ihr Blick auf diese Zeit ist recht verschieden. Der eine ist seit vielen Jahren verheiratet und lebt mit Frau, Kind und Katze im Grünen. Der andere bezeichnet sich als 'alternden Hagestolz' und lebt mitten in der Stadt. Eines aber haben sie gemeinsam: Das Leben ab 40 stimmt sie nachdenklich. In ihrem gemeinsamen Buch widmen sich die Autoren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Woher kommen sie? Wo sind sie? Und vor allem: Wo soll das alles enden? In witzigen kleinen Geschichten behandeln die beiden Autoren im Wechsel Themen wie Liebe, Haarausfall, Glück, körperliche Gebrechen, Erfolg, Sinnsuche, Alter, Sex, Tod - und schonen sich selbst dabei kein bisschen. Den Frauen gewähren sie damit aufschlussreiche Einblicke in die Untiefen der männlichen Psyche. Und was die Kerle betrifft: Ihnen soll dieses Buch Mut machen. Es ist schließlich nicht alles schlecht in den mittleren Jahren. nur fast alles.

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Seitenzahl: 272

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Holger Reichard & Karsten Weyershausen

KERLE IM KLIMAKTERIUM

Männer in mittleren Jahren – Es ist nicht alles schlecht, aber fast alles

INHALT

•Die Unschuld vom Lande 13

•Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir! 21

•Wenn ich mal groß bin, werde ich U-Bahn-Fahrer in Hamburg 30

•Heimchen stehen am Herd, Emanzen lesen EMMA 39

•Fußball ist unser Leben 48

•Damenwahl 57

•Punk, Pop, Pubertät 66

•Birne-Blues 74

•Offline 83

•Die Zukunft war auch schon mal besser 92

•DER SKALP AM KLEIDERHAKEN 102

•Wenn die Postadoleszenz zweimal klingelt 114

•Von der Ungnade der späten Geburt 123

•Mein Haus, mein Auto, mein Gefängnis 131

•Hilfe, ich bin uncool! 140

•Nehme ich die Familienpackung? 149

•Die Ballade vom Lonesome Cowboy 157

•Unterm Strich gesehen 166

•Nach der Halbzeit ist vor der Halbzeit 174

•Themenwechsel 182

•Ich brech dann mal aus 191

•»WHEN THINGS DISINTEGRATE« 200

•Die schmale Straße 211

•Deine Tage sind gezählt 220

•Ganz der Alte! 229

•Die Schönheit der Erinnerung 238

•Dirty Old Man 247

•Gehen Sie nicht über Los und ziehen Sie keine 200 Euro ein! 257

•Aufstand der Milchgesichter 265

•Nach dem Jugendwahn kommt der Seniorenwahn 274

•Das Beste kommt zum Schluss! 282

•Der Sinn des Rest-Lebens 291

Gebrauchsanweisung für dieses Buch

Damit wir uns auch als Senioren noch daran erinnern können, wie das so war, als die Jugend ihren Hut nahm und die zweite Lebenshälfte mit fordernder Geste zur Tür hereinschaute, kamen wir auf die Idee, ein Buch darüber zu schreiben. Unser Blick auf die mittleren Jahre ist recht verschieden. Der eine, Holger Reichard (hr), ist seit vielen Jahren verheiratet und lebt mit Frau, Kind und Katze im Grünen. Der andere hingegen, Karsten Weyershausen (kw), bezeichnet sich als alternden Hagestolz, hat weder Kind noch Katze und lebt mitten in der Stadt. Eines aber haben wir gemeinsam: Das Leben ab 40 stimmt uns nachdenklich. Woher kommen wir? Wo sind wir? Und vor allem: Wo soll das alles enden? Das sind die drei Fragen, die uns beschäftigen und unser Buch gliedern.

Eigentlich hatte alles so gut angefangen. Wie zur Hölle wurden wir zu den müden Säcken, die uns jeden Morgen beim Zähneputzen aus dem Badezimmerspiegel anglotzen? Das fragen wir uns im ersten Teil unseres Buches mit Blick auf die Vergangenheit. Im zweiten Teil ziehen wir Bilanz: Ist das Glas mit 40 halb leer, halb voll oder gar staubtrocken? Im dritten und letzten Teil wollen wir wissen: Gibt es ein Leben nach dem Klimakterium? Und vor allem: Will man so ein Leben überhaupt?

Mancher Leser wird sich an dieser Stelle vielleicht etwas ganz anderes fragen: Warum berichten hier ausgerechnet zwei Kerle über die Widrigkeiten der Wechseljahre? Immerhin war das sogenannte »Klimakterium« doch bislang eine Domäne der Frauen. Ein Blick ins Wörterbuch bringt Klarheit: Der Begriff kommt vom griechischen »klimaktér« und bedeutet »Stufenleiter« oder auch »kritischer Zeitpunkt im Leben«. Meist trifft uns dieser »kritische Zeitpunkt« in der Lebensmitte, genau an der Stelle, an der wir gerade stehen, also zwischen 40 und 50, wenn es langsam bergab geht auf der Stufenleiter – bei Männern wie bei Frauen.

Nur reicht den Frauen im Klimakterium zur Krisenbewältigung meist schon ein Töpferkurs, während sich Männer einen teuren Porsche zulegen müssen. Wenn Männer in die Jahre kommen, haben ihre Partnerinnen meist nichts zu lachen. Den Frauen wollen wir deshalb auf den folgenden Seiten tiefe Einblicke in die Untiefen der männlichen Psyche gewähren. Und was die Kerle im Klimakterium betrifft: Ihnen möchten wir mit diesem Buch etwas Mut machen. Es ist schließlich nicht alles schlecht in den mittleren Jahren – nur fast alles.

Holger Reichard & Karsten Weyershausen

PROLOG

Willkommen bei den alten Säcken

Nun sitze ich hier vor meinem Rechner und versuche, einen passenden Anfang für meine Befindlichkeiten zu finden. Die jüngeren Leser fragen sich vielleicht: »Na, was will uns der alte Sack erzählen? Dass er die Suche nach einem Haarwuchsmittel aufgegeben hat? Oder wie er vor Kurzem heimlich ein Töpfchen Feuchtigkeitscreme in die Hand nahm, um damit seine ausgetrockneten Schienbeine einzuschmieren?«

Ja, wer solche Gedanken von mir erwartet, liegt genau richtig. Mann wird älter, nicht jünger. Das ist zwar allgemein bekannt, gelangt einem aber erst dann nachhaltig ins Bewusstsein, wenn man beispielsweise kurz hintereinander von drei verschiedenen Personen zum 50. Geburtstag eingeladen wird. Dann wird einem plötzlich klar, dass man selbst auch etwas mit diesem biblischen Alter zu tun haben muss, dass man wahrscheinlich die meisten Jahre seines Lebens hinter sich gebracht hat und dass man die Zahl der Fußballweltmeisterschaften, die man gegebenenfalls noch miterleben darf, schon an einer Hand abzählen kann.

Die Signale des Älterwerdens kommen unvermittelt und aus vielen Richtungen. Ich hätte schon an einem Silvesterabend vor einigen Jahren misstrauisch werden sollen. Statt wie früher beschwipst auf den Tischen einer lauten, viel besuchten Party zu tanzen, verbrachte ich den Abend in einer kleinen Pärchenrunde – mit Bleigießen. Zuerst waren die anderen dran. Sie gossen sich Dinge, die in ihrer Form an eine Blume, eine Banane oder einen Bumerang erinnerten. Ich kam als Vierter und Letzter an die Reihe. Optimistisch warf ich das geschmolzene Metall in die mit kaltem Wasser gefüllte Glasschüssel. Was ich anschließend herauslöffelte, sah aus wie ein künstliches Hüftgelenk. Ein Zeichen?

Nachdenklich stimmte mich auch ein Fernsehauftritt bei Radio Bremen. Die Regie gab vor, ich müsse zusammen mit meinem Kollegen Karsten Weyershausen aus der Kulisse kommen, dem Moderator freundlich die Hand schütteln und auf dem Talkshow-Sofa Platz nehmen. Als ich mir ein paar Tage später die Aufzeichnung im Fernsehen anschaute, konnte ich es nicht fassen: Dieser Kerl, der da schüchtern, schief und hüftsteif durchs Bild wankte, sollte ich sein? Mir wurde erneut klar: Die eigene Wahrnehmung ist ein Arschloch, dem man nicht trauen darf.

Natürlich weiß ich, dass ich die 40 längst hinter mir gelassen habe, dazu genügt ein Blick in meinen Personalausweis und – ehrlich gesagt – auch ein Blick in den Spiegel. Aber meine Güte! Ich höre noch immer laute Musik, grätsche beim Fußballspielen und drehe mich nicht leicht errötend zur Seite, wenn auf einer Veranstaltung mit jungen Studenten »Nahkampfsocken« verteilt werden. Ich bin jung, zumindest jung geblieben, ein junger, dynamischer, aufgeschlossener Kerl und nicht dieser kauzige »Briefmarkensammler«, den Radio Bremen da vor die Kamera gelassen hat.

Richtig frustrierend wird es, wenn ich mich an meine Kindheit erinnere. Als ich 10 Jahre alt war, waren für mich alle Männer über 40 alte Säcke. Als ich 20 war, gehörten erst die Männer ab 50 zu den alten Säcken. Als ich 30 war, fing das mit den alten Säcken erst ab 60 an. Und jetzt, da ich selbst weit über 40 bin, finde ich, dass man erst ab 70 ein alter Sack ist. Wenn 10-Jährige nun behaupten würden, ich mache mir etwas vor, sollte mich das nicht wundern.

Offensichtlich entscheidet die Perspektive darüber, wie alt wir wirklich sind. Männer über 60 bezeichnen mich immer noch als jungen Hüpfer. Das tut gut. Andererseits denke ich ungern darüber nach, wie junge Frauen unter 30 mich sehen. Wahrscheinlich halten sie mich für einen kauzigen Briefmarkensammler.

Wenn man mich fragt, ist die Zeit reif für einen Perspektivenwechsel. Schließlich wird die Gesellschaft, in der wir leben, immer älter. Deshalb fordere ich alle Senioren auf, mich künftig unter ihresgleichen zu begrüßen. Willkommen bei den alten Säcken! Sollen sie es ruhig so hart und schonungslos formulieren. Ich könnte gut damit leben, wenn junge Frauen mir im Gegenzug etwas Mut zusprechen und zu der Einsicht gelangen würden, dass echte Kerle nur auf Ü-40-Partys zu finden sind. Mal ehrlich, wäre das nicht eine wunderbare Lösung? Mit dem Gefühl, in voller Blüte zu stehen, könnten wir Männer unsere zweite Lebenshälfte so richtig genießen – bis zum Rentenalter. Danach vergessen wir sowieso alles. (hr)

ERSTER TEIL

EIGENTLICH FING ALLES SO GUT AN …

Wie wir wurden, was wir sind

Die Unschuld vom Lande

Wie die Herkunft unsere Zukunft bestimmt

Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Ich habe es nicht überprüfen können, vermute aber, dass diese beiden Fragen in Tagebuch-Aufzeichnungen besonders häufig zu finden sind. Dabei schenken wir der Frage nach unserem Ziel meist mehr Interesse und Aufmerksamkeit als der Frage nach unserer Herkunft, zumindest in jüngeren Jahren. Das ist verständlich. Denn woher wir kommen, das meinen wir in der Regel ziemlich genau zu wissen. Wohin wir gehen, wissen wir nicht. Wir wissen bestenfalls, wohin wir gehen wollen. Es bliebe dann aber noch die Frage, ob man auch die Möglichkeiten hat, dorthin zu gelangen, wohin man will. Das wiederum hängt zu einem großen Teil davon ab, woher wir kommen.

»Wer sehr hässlich ist oder von schlechter Herkunft oder einsam und kinderlos, kann nicht glücklich sein«, stellte schon der griechische Philosoph Aristoteles vor weit mehr als 2000 Jahren fest. Diese Erkenntnis für sich selbst zu gewinnen, ist einer der wenigen Vorteile des Älterwerdens.

Im Kindes-, Jugend- und jungen Erwachsenenalter kreisen unsere Gedanken vornehmlich um die Zukunft. Wir beschäftigen uns mit Fragen wie zum Beispiel: Werde ich im Beruf erfolgreich sein? Wie mache ich meine erste Million? Werde ich eines Tages das Herz der eiskalten Schönheit aus dem Nachbarort brechen können?

Als Kerl im Klimakterium stellt man ernüchtert fest, dass der beruflichen Karriere enge Grenzen gesetzt sind, oftmals steht man in mittleren Jahren schon direkt davor. Von der Million träumt man höchstens noch in Form eines Lottogewinns, der einem helfen würde, das hoch verschuldete Eigenheim vorzeitig abzubezahlen. Und bei der eiskalten Schönheit aus dem Nachbarort hat sich früh herausgestellt, dass sie ausnahmslos auf Frauen steht, womit es also leichter wäre, der anderen Liebgewonnenen, der späteren Ehefrau, die Abseitsregel im Fußball zu erklären, als jemals noch das Herz der ersten großen Liebe zu brechen.

Als Kerl im Klimakterium stellt man sich die Frage, woran es liegt, dass man die großen, meist großspurigen Ziele der Jugend nicht erreicht hat und voraussichtlich nicht mehr erreichen wird, und man gelangt zu der Einsicht, dass es nicht allein, aber doch zu einem beachtlichen Teil die eigene Herkunft war, die einem Steine in den Weg legte und einem bis zum Lebensende wahrscheinlich noch weitere dicke Brocken in den Weg legen wird. Kurzum: Man hat die Bedeutung des Begriffes »Herkunft« unterschätzt. Statt mit »Wohin gehen wir?« hätte man sich ausführlicher mit der Frage »Woher kommen wir?« beschäftigen sollen. Wir hätten dann sicher keinen völlig anderen Lebensweg eingeschlagen, vielleicht aber den einen oder anderen Fehler vermieden. Auf jeden Fall hätten wir früher gewusst, warum wir so sind, wie wir sind, und unser Leben rechtzeitig in die richtigen Bahnen lenken können.

Mit Herkunft meine ich in diesem Fall nicht nur den Ort, an dem wir zur Welt kamen und aufwuchsen, sei es wohlbehütet in Bullerbü oder in einem Puff in Barcelona, sondern auch die Eltern, das Elternhaus, das familiäre Umfeld, möglicherweise auch vererbte Eigenschaften, von einer schwerwiegenden körperlichen oder psychischen Behinderung bis hin zum frühen Haarausfall. Mit Herkunft meine ich außerdem das soziale Umfeld, in dem man aufwuchs, die echten und vermeintlichen Freunde, die Schule, die Lehrer und hier insbesondere die Qualität der Lehrer, die – wie man später als Vater eines schulpflichtigen Kindes wiederholt feststellen darf – erheblich schwanken kann.

An dieser Stelle möchte ich kurz meine eigene Herkunft skizzieren (weil es die Herkunft ist, über die ich am meisten zu wissen glaube): Ich wurde im Jahre 1966 geboren und bin wohlbehütet auf dem Lande groß geworden, mitten in der Provinz, in einem kleinen, unscheinbaren, knapp 450 Einwohner zählenden Dörfchen in Niedersachsen, nahe der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Ich stamme aus einem klassischen Arbeiterhaushalt: Die Mutter verdiente das Geld in einer Wäscherei, der leibliche Vater, der 1968 bei einem schlimmen Motorradunfall verstarb und – vielleicht besser so – keine bewussten Erinnerungen bei mir hinterließ, war Zimmermann. Der »zweite« Vater, der mich liebevoll aufzog, schob Schichten am Fließband des Volkswagenwerks in Wolfsburg. Die politische Einstellung meiner Eltern liegt auf der Hand, sie der Öffentlichkeit preiszugeben war mir und meinen Geschwistern (zwei ältere Brüder, eine jüngere Schwester) jedoch strikt untersagt. In dem Dorf und in dem Umfeld, in dem wir aufwuchsen, war so etwas tabu.

Es wurde also reichlich malocht in unserer Familie. Immerhin musste ein Haus abbezahlt und ständig renoviert werden. Wichtige Erziehungsaufgaben übernahm die Großmutter, die im vollen Bewusstsein zwei Weltkriege und deren Folgen miterlebt hatte. Ihre somit nachvollziehbar größte Sorge war es, wir Enkelkinder könnten eines Tages verhungern. Von den gleichaltrigen Kindern im Dorf besuchten nur sehr wenige das Gymnasium, und wenn, dann waren es meist die Mädchen. Fast alle gingen auf die Haupt- und Realschule. Zu den feierlichen Höhepunkten des Jahres gehörten unter anderem eine Kindermaskerade (im Februar/März), das Osterfeuer, für das man viele Stunden im Wald verbrachte und in langen Nächten am Lagerfeuer saß, ein dreitägiges Schützenfest (Ende Juni), ein Sportfest (meist Ende Juli) sowie die Geburts- und Weihnachtstage, die man natürlich im trauten Kreis der Familie verbrachte. Was den Urlaub betraf, so reichte das Geld nur für die Ostsee oder für Besuche bei Verwandten in der DDR. Eine Woche im Berchtesgadener Land war die Ausnahme. Ohne ein Bild von den strapaziösen Autofahrten und überfüllten Mittelmeerstränden zu haben, schaute ich daher voller Neid auf die wenigen Freunde, die mit ihren Eltern bereits Italien oder gar Spanien bereisten.

Wie gesagt: Ich hatte eine wohlbehütete, unbeschwerte Kindheit, ein liebevolles Elternhaus und ein relativ gut funktionierendes soziales Umfeld. Wenn ich auf andere Kindheiten, Biografien und Lebensschicksale schaue, kann ich dafür nur dankbar sein. Dennoch blieben Wünsche offen. So hätte ich aus heutiger Sicht gern eine akademische Laufbahn eingeschlagen oder mich eines längeren Auslandsaufenthaltes erfreut, einhergehend mit besseren Fremdsprachenkenntnissen. Der Weg zu dem kreativen Beruf, den ich heute mit Freude ausübe, hätte auch irgendwie leichter sein können.

Natürlich war es mir aufgrund meiner Herkunft nicht unmöglich, diese Dinge zu erreichen – siehe Gerhard Schröder, der es trotz harter Nachkriegskindheit und fehlendem Vater über den zweiten Bildungsweg bis zum Bundeskanzler brachte und sein Geld heute unter anderem mit russischem Gas verdient. Allerdings bilden solche Lebenswege die Ausnahme. In einem einfachen und beschaulichen Umfeld entwickelt sich nur langsam ein Bewusstsein für die Chancen des Lebens und wie man sie ergreift. Ist das Dasein trotz vieler Entbehrungen noch hinreichend komfortabel, fehlt es oftmals auch am Willen, das enge kleinbürgerliche Korsett zu sprengen und hartnäckig am Zaun des Bundeskanzleramts zu rütteln.

Und es gibt noch jede Menge kleinerer Stolpersteine, die einem im mittleren Alter schlagartig bewusst werden lassen, dass man über 30 Jahre lang eine holprige Nebenstraße befuhr und nicht auf der Überholspur einer gut ausgebauten Autobahn unterwegs war. Es sind die kleinen Macken, die jeder von uns hat. In meinem Fall habe ich sie teilweise meinen älteren Brüdern zu verdanken, in deren Kreisen ich als kleiner Pimpf immer mitmischen wollte, aber nur selten durfte – ein bekanntes Problem. Wer will schon ständig den aufmüpfigen kleinen Bruder beziehungsweise die zickige kleine Schwester an der Backe haben? Jedenfalls resultierten hieraus lange Zeit ein gesunder Minderwertigkeitskomplex und der blödsinnige Drang, irgendwelchen Leuten irgendetwas beweisen zu müssen.

Ich bin mir sicher, dass ich diese Macken inzwischen weitgehend ablegen konnte, weil ich um ihren Ursprung weiß. Es ist eine Erkenntnis, zu der man erst in einem reiferen Alter gelangen kann, und damit ein schlagkräftiger Beweis, dass das Älterwerden nicht nur Nachteile mit sich bringt. Als Mann mittleren Alters versteht man plötzlich auch, warum die eigenen Eltern früher in bestimmten Situationen ignorant, gereizt oder missmutig reagierten, und zwar deshalb, weil man sich dem eigenen Nachwuchs gegenüber heute verblüffend ähnlich verhält. Gern schmeiße ich fünf Euro in das Phrasenschwein, aber der Apfel fällt tatsächlich nicht weit vom Stamm. Höchstens bei Leuten, die ihren Stammbaum zurechtstutzen, wenn sie von ihrer Herkunft berichten, wie es in einem anderen Sprichwort heißt.

Etwa 100 Jahre vor Aristoteles hatte der griechische Politiker und Feldherr Perikles dazu aufgefordert, die Menschen nicht nach ihrer Herkunft zu beurteilen, sondern nach ihrer Leistung. Diesem Aufruf möchte ich hier klar und deutlich widersprechen. Um die Leistung eines Menschen wahrhaft beurteilen zu können, muss man seine Herkunft kennen. Wenn man im fortgeschrittenen Alter einmal die eigene Herkunft unter die Lupe nimmt und sie mit der Herkunft vieler anderer Menschen vergleicht, stellt man hoffentlich fest, dass man nicht das allerschlechteste Los gezogen hat. Man sollte bei der Gelegenheit auch einmal alle Dinge aufzählen, von denen man glaubt, sie ohne fremdes Zutun im bisherigen Leben erreicht zu haben. Dabei wird man auf Leistungen stoßen, die einem vorher nicht bewusst waren, jedoch einen außerordentlich hohen Wert haben. Es sind keineswegs die materiellen Errungenschaften, wie ein Haus, ein tolles Auto oder die Ferienwohnung auf Usedom, sondern die Dinge, die im Rahmen der ursprünglichen Verhältnisse nicht zu erwarten waren, also die geglückten Versuche, sich von den Fesseln seiner Herkunft zu befreien. (hr)

Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir!

Wenn kleine Lehrer große Schatten werfen

Mit der Schule ist es wie mit der Medizin: Sie muss bitter schmecken, sonst nützt sie nichts.« Dieser Satz stammt aus dem Film Die Feuerzangenbowle, in dem ein Erwachsener, der als Kind privat unterrichtet wurde, inkognito die Schulbank drückt, um die Schulzeit nachzuholen, die angeblich die schönste Zeit unseres Lebens ist. Alle Menschen jenseits des Klimakteriums haben ihn garantiert schon einmal gesehen. Seit 1969 lief Die Feuerzangenbowle rund 60 Mal im Fernsehen.

Natürlich ist der Film ein Märchen. 1944, als er gedreht wurde, war die Prügelstrafe an den Schulen noch an der Tagesordnung. Wenn meine Eltern, die damals die Schulbank drückten, aus dieser Zeit erzählen, ist weder von Dampfmaschinen, liebenswert vertrottelten Pädagogen noch von amüsanten Streichen die Rede, sondern von Strenge und Disziplin. Ein Mitschüler, der vergessen hatte, beim allmorgendlichen Führer-Gruß den rechten Arm zu heben, wurde gezwungen, den Rest der Stunde einarmig einen Stapel Bücher zu stemmen. Linkshänder bekamen ihren Individualismus mit dem Holzlineal ausgetrieben.

30 Jahre später, als ich die Grundschule besuchte, waren viele der damaligen Lehrer noch aktiv. Man gehorchte ihnen schon vor Angst aufs Wort, andernfalls setzte es eine Backpfeife oder auch die sogenannte Kopfnuss. »Auge um Auge, Zahn um Zahn«, war ihre Devise. Kein Wunder, dass Gewalt praktisch auf dem Stundenplan stand.

Bereits im Neuen Testament ist zu lesen: »Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er; er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er gern hat.«

Folgerichtig griffen meine Großeltern noch zum Lederriemen, um meinen Vater zu bestrafen. Was war da schon eine Backpfeife?

»Wer schreit, der bleibt und schreibt!«, brüllte dagegen eine Sportlehrerin an meiner Schule, die bevorzugt diejenigen Kinder zum Diktat nachsitzen ließ, die im Eifer des Gefechts laut wurden.

Etwas Lärm gehört zum Sport dazu, sollte man meinen. Doch ihr gefiel es anscheinend besser, wenn sich die Leibesübungen ihrer Schutzbefohlenen in absoluter Stille vollzogen. So hatte sie es in ihrer Jugend wahrscheinlich selbst gelernt.

Gerade den jüngeren Eltern waren solch raue Sitten ein Dorn im Auge. Schließlich sollten es ihre Kinder einmal besser haben als sie. »Antiautoritäre Erziehung« war in aller Munde. Wie so etwas aussah, wusste keiner. Für viele war es leider gleichbedeutend mit »gar keine Erziehung«. Neueste Erkenntnisse bewiesen, dass Kinder nicht wie bis dahin vermutet »verzogene Bälger« waren, sondern »kleine Erwachsene«, denen man mit Respekt begegnen musste. Das hatte Folgen. Nachdem ich die Grundschule beendet hatte, waren die meisten pädagogischen Urgesteine verschwunden. Vielleicht hatte jemand Simon Wiesenthal eine Liste des Lehrkörpers zugespielt.

Den Rest meiner schulischen Karriere verbrachte ich plötzlich in der Obhut vollbärtiger Junglehrer, die noch an das Gute im Menschen glaubten. Nur kannten sie da ihre Schüler nicht. Innerhalb einer Millisekunde, noch bevor sie ihre Namen an der Tafel verewigt hatten, entschied sich, ob sie unseren Respekt bekamen oder unsere Verachtung. Schon ein Hauch von Unsicherheit besiegelte ihr Schicksal. Gelernt haben wir in diesen Jahren wenig. Unsere antiautoritären Autoritäten waren die meiste Zeit damit beschäftigt, im Unterricht für Ruhe zu sorgen, manchmal unter Tränen.

»Wer mit dem Teufel aus einem Topf isst, braucht einen langen Löffel«, lautet ein weiteres Zitat aus der Feuerzangenbowle, das mir dazu einfällt.

In den Jahren meiner Kindheit wurde die Schule geradezu auf den Kopf gestellt. 1971 trat das Bundesausbildungsförderungsgesetz in Kraft, das Kindern aus einkommensschwächeren Bevölkerungsschichten ermöglichte, die Uni zu besuchen. Das änderte alles. Davor endete ihr Bildungsweg in den allermeisten Fällen bei der Fahrschule. Plötzlich konnte jeder von uns eine akademische Karriere anstreben. Oder zumindest jeder, der Eltern hatte, die sich teure Nachhilfestunden leisten konnten.

In der Theorie waren diese Reformen eine gute Sache. In der Praxis sah es leider anders aus. Wie sollte der durchschnittliche Herrenfriseur seinem Sohn, der plötzlich auf ein Gymnasium ging, mit Rat und Tat zur Seite stehen? Er konnte ihm nicht mal bei den Hausaufgaben helfen. Noch weniger konnte er ihn bei der Wahl einer Universität beraten. Etliche Schüler sahen sich alleingelassen. Man könnte sagen: Die Schulen waren plötzlich auch nicht mehr das, was sie nie gewesen waren. Wie gut, dass es damals wackere Pädagogen gab: idealistisch, verständnisvoll, geduldig und unterbezahlt (so oder so ähnlich sahen sie sich zumindest selbst).

Lehrer »sind zumeist Personen, die für die Wissensvermittlung ausgebildet wurden und deren Aufgabe es ist, andere dabei zu unterstützen, sich Bildung anzueignen. Sie fördern deren Ausbildung und sollen deren Persönlichkeit weiterentwickeln«, heißt es bei Wikipedia.

Das klingt zunächst gut. Nur sind mir in meiner gesamten Schulzeit lediglich zwei Lehrer begegnet, auf die diese Beschreibung zutraf. Der Rest? Mit allerlei Macken behaftete Individuen, deren Idealismus ein kürzeres Verfallsdatum hatte als ein Joghurtbecher im Regal eines Discounters. Dabei ist kaum ein Beruf wichtiger. Der Kurs, den wir später einschlagen, wird in den meisten Fällen während der Schulzeit festgelegt. Insofern haben die Lehrer unser aller Zukunft in der Hand. Neben den Eltern prägen sie unser Leben wie niemand sonst. Unser Abschlusszeugnis ist schließlich das Fundament, auf dem wir unser Leben aufbauen.

Es gab Lehrer, die mir die Schule regelrecht vermiesten – meine erste Mathematiklehrerin zum Beispiel, die zwei Jahre lang mit nur einem einzigen Gesichtsausdruck auskam, oder mein Sportlehrer, ein ehemaliger Bundeswehroffizier, der seinem Tonfall nach immer noch zu glauben schien, in einer Kaserne zu unterrichten. Einige Lehrer waren bemüht, uns ihre politischen Ideologien aufzudrängen. Der Mehrheit von ihnen waren wir jedoch einfach egal. Sie waren abgestumpft und gleichgültig. Trotzdem entschieden sie über unser Schicksal.

»Nichts ist schrecklicher als ein Lehrer, der nicht mehr weiß als das, was die Schüler wissen sollen«, notierte Goethe einst – er schien meine Schule gekannt zu haben.

Die Kerle im Klimakterium sind in ein Jahrzehnt des Ausprobierens hineingeboren worden. Mit einem Mal wurde alles im Leben infrage gestellt. Männer hatten lange Haare und kleideten sich in Rüschenhemden, Frauen wollten Karriere machen, Ehepaare dachten laut über Partnertausch nach. Die Welt schien quietschbunt, wie die Prilblumen am elterlichen Kühlschrank. Die Schule war plötzlich ein Sinnbild eines verknöcherten Establishments, das es mit allen Mitteln zu modernisieren galt, und wir waren die Versuchskaninchen. Nicht nur wir, sondern auch unsere Eltern – und vor allem unsere Lehrer – waren damals überfordert. Viele neue Erkenntnisse, die man an uns getestet hatte, wurden später verworfen. Die Mengenlehre war es, die bei mir erste Zweifel weckte, ob wir tatsächlich fürs Leben lernten oder lediglich für die Schule.

»Mengenlehre – das ist Zeitverschwendung«, behauptete 1974 der SPIEGEL.

Das wusste ich als Betroffener da schon längst. Mir fiel auf, dass man sehr weit kam, wenn man sich stumpfsinnig Zahlen und Formeln einpaukte, statt Zusammenhänge zu begreifen. Wichtig war vor allem, wann der 30-jährige Krieg stattgefunden hatte, nicht weshalb. Wozu sollte eine bloße Anhäufung historischer Eckdaten gut sein?

Die Freude am Lernen entdeckte ich erst nach meiner Schulzeit. Andere hatten dieses Glück nicht. Die Bildungspolitik meiner Kindheit brachte eine Legion von Schulabbrechern, akademischen Taxifahrern und arbeitslosen Langzeitstudenten hervor. Unsere Lebensläufe weisen Umwege, Irrwege und allerlei seltsame Zwischenstationen auf. Es gibt sogar einige, die selbst im Klimakterium ihren Weg noch nicht gefunden haben – vielleicht, weil wir entgegen damaliger Theorien eben doch keine »kleinen Erwachsenen« waren, sondern einfach Kinder.

In einem Jahrzehnt der antiautoritären Erziehung war Autorität ausschließlich negativ besetzt. Aber wer nie Autorität erfahren hat, kann sie später selbst nicht ausüben. Deshalb haben wir unter den Kerlen im Klimakterium Chefs, die anfangen zu brüllen, sobald sie an die Grenzen ihrer Kompetenz stoßen, Politiker, die ihre Karrieren auf Haargel und abgeschriebenen Doktorarbeiten begründen, Eltern, die länger an der PlayStation hängen als ihre Kinder, und schlimmer: eine Gesellschaft, die das alles mit einem Achselzucken abtut. Es ist das gleiche Achselzucken, mit dem meine Lehrer das Versagen eines Schülers quittierten.

Genau das ist vielleicht das Wichtigste, auf das mich die Schule vorbereitet hat: mit der Indifferenz, mit der uns die Welt im späteren Leben begegnet, fertigzuwerden. Die Schule war und ist ein Hort der Konformität. Erst später dämmerte es mir: In der Schule geht es nicht nur um die Vermittlung von Wissen. Vor allem lernen wir, uns anzupassen, nicht aufzufallen, so zu sein wie die anderen, zu werden, wie die Gesellschaft es von uns erwartet. In erster Linie bedeutet dies, später ein braver Familienvater zu sein, ein vorgezeichnetes Leben zu führen, einen langweiligen Job zu verrichten und sich gefälligst damit abzufinden. Wir lernen, ein Rad zu sein im unsichtbaren Getriebe, kein Sandkorn.

Wem in der Schule nicht das letzte Quäntchen Individualität ausgetrieben worden war, den knöpfte sich die Bundeswehr vor. Doch das änderte sich für die Kerle im Klimakterium gründlich. In unserer Jugend war es plötzlich erstrebenswert, unangepasst zu sein. Zumindest war es eine Option, mit der fast jeder einmal liebäugelte: ausbrechen und anders sein als unsere Eltern.

Oft dachte ich, die Erwachsenen wollten uns den Individualismus aus purem Neid austreiben, denn wir waren jung und frei, während sie im Gefängnis ihrer Sachzwänge steckten. Heute weiß ich, dass sie tatsächlich nur unser Bestes wollten. Die oft tragischen Biografien der Außenseiter und Unangepassten zeigen, dass ein Leben abseits der Norm beschwerlich ist. Freiheit hatte zu allen Zeiten einen hohen Preis. Diejenigen, die nie aus der Reihe tanzen, haben hingegen die Chance, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen, der noch immer unser höchstes Ideal darstellt. Und genau das wünschen wir unseren Kindern: ein unbeschwertes Leben ohne Probleme. Deshalb würde ich auch meinem Nachwuchs empfehlen, im Unterricht stets auf ihre Lehrer zu hören – auch wenn deren Idealismus ein kürzeres Verfallsdatum hat als ein Joghurtbecher.

»Mit der Schule ist es wie mit der Medizin: Sie muss bitter schmecken, sonst nützt sie nichts«, würde ich ihnen sagen und dabei hoffen, dass sie nicht merken, was für ein Heuchler ich doch bin. (kw)

Wenn ich mal groß bin, werde ich U-Bahn-Fahrer in Hamburg

Wunschträume und der harte Boden der Realität

Wie stellte einst der französische Schriftsteller und Philosoph Paul Válery so treffend fest: »Arbeit ist eine Art Gefängnis. Wie viele schöne Dinge gehen vorbei, die zu sehen sie hindert.«

Aber ich persönlich will nicht klagen. Ich bin freiberuflich tätig und entscheide an den meisten Tagen selbst, um welche Uhrzeit ich mit dem Aufbrühen frischen Kaffees den Arbeitstag beginne und ihn mit dem Herunterfahren des Computers beende. Ich betreue Internetseiten, deren Inhalte ich mitunter recht interessant finde, und schreibe Geschichten zu Themen, die mich bewegen. Die Menschen, für die ich arbeite, sind mir sehr sympathisch. Nur mein Chef – das bin ich selbst – kann manchmal ein echtes Arschloch sein. Doch inzwischen, mit 46 Jahren Lebenserfahrung, weiß ich ihn zu nehmen.

Als Kind hatte ich natürlich ganz andere Vorstellungen von meiner beruflichen Zukunft. Das Internet, wie wir es heute kennen, gab es ja noch nicht und ein erfolgreicher Schriftsteller wird man nicht, wenn man nur Comics liest. U-Bahn-Fahrer in Hamburg wollte ich zuerst werden, weil mich Hamburgs Verkehrssystem faszinierte und ich so gern durch dunkle Tunnel fuhr. In Erwägung gezogen hatte ich auch den Beruf des Fußballprofis, etwa bis zum 14. oder 15. Lebensjahr, als ich nach und nach feststellte, dass Bier eigentlich ganz lecker schmeckt und wie viel Spaß es einem bereiten kann, nächtelang auf Partys herumzuhängen. Das war mit den im Leistungssport üblichen Anforderungen leider nicht vereinbar, sieht man mal von Mario Basler ab.

Ungewöhnlich waren meine ersten beruflichen Pläne nicht. Wenn man kleine Jungs befragt, die gerade lustlos durch ihre sexuelle Latenzphase irren, hört man es ja immer wieder: »Wenn ich mal groß bin, werde ich Astronaut, Bundeskanzler oder Rockstar«, sagen sie. Haha, am besten noch in dieser Reihenfolge. Besäßen sie nur einen Funken Realitätssinn, müssten sie sagen: »Wenn ich mal groß bin, werde ich Beamter im Finanzamt Braunschweig-Altewiekring.« Oder: »Wenn ich mal groß bin, stehe ich den ganzen Tag lang in einem Telekom-Shop und verkaufe Handys.« Oder: »Wenn ich mal groß bin, lebe ich von Hartz IV« – oder: »beziehe ich Von-der-Leyen V«, je nachdem, wer in den nächsten Jahren das entsprechende Ministeramt bekleidet oder sich darum bemüht, dem Arbeitsmarkt in Deutschland eine hübsche Frisur zu verpassen.

Den Anlass zu derartigen Überlegungen gab mir eine wunderbare Szene aus dem Woody-Allen-Film Der Stadtneurotiker (Originaltitel: Annie Hall), in der fünf Schulkinder in einer Art Zeitreise erzählen, was aus ihnen als Erwachsene geworden ist.

Der erste Junge sagt: »Ich leite eine florierende Konfektionsfirma.«

Der zweite Junge behauptet stolz: »Ich bin Präsident der Pincus Sanitärbedarfs-Company.«

Der dritte Junge konstatiert schüchtern: »Ich handle mit Gebetsriemen.«

Der vierte Junge berichtet: »Früher war ich heroinsüchtig, jetzt bin ich methadonsüchtig.«

Und ein kleines Mädchen fügt hinzu: »Ich mach in Leder.«

Astronaut, US-Präsident oder Rockstar ist keiner von ihnen geworden. Und mal ganz ehrlich: Welcher erwachsene Mensch kann von sich behaupten, das geworden zu sein, was er als Kind werden wollte? Wahrscheinlich nur die Baggerfahrer unter uns – und selbst die werden sicher irgendwann festgestellt haben, dass die ersten Übungsstunden an ihrem Arbeitsgerät noch relativ aufregend waren, es auf Dauer aber auch nicht die Erfüllung ist, von morgens bis abends auf einer lärmenden Maschine zu reiten und große Löcher in die Erde zu buddeln.

Was hat das alles mit den Wechseljahren eines Mannes zu tun? Sehr viel, behaupte ich. Um es zu erklären, muss ich allerdings etwas weiter ausholen. Schauen wir uns zunächst eine beeindruckende Studie von GEO WISSEN aus dem Jahr 2005 an. Sie hat zutage gefördert, wie viel Lebenszeit ein durchschnittlicher Mensch in Deutschland mit welchen Dingen verbringt.

Dass Max Mustermann gut ein Drittel seines Lebens verschläft, ist sicher keine Überraschung, vielleicht aber, dass er im Laufe seines Daseins sechs Monate lang auf dem Klo sitzt. Genauso viel Zeit steht er übrigens mit seinem Auto im Stau. (Vielleicht gibt es da einen Zusammenhang.) Dinge, die Spaß machen, kommen im Leben von Max Mustermann eindeutig zu kurz. Küssen zum Beispiel – nur zwei Wochen seiner Lebenszeit gibt er dafür her. Dass er neun Monate lang mit seinen Kindern spielt, klingt zunächst viel. Aber aufs ganze Leben gerechnet, dürfen wir von einem liebevollen Vater zweifellos mehr erwarten.

Frustrierend wird es, wenn man sich die Tätigkeiten anschaut, die Max Mustermann fremdbestimmt erledigen muss. Wenn ihm zum Beispiel seine Frau Sabine sagt, er solle doch mal die Wohnung aufräumen und den Müll runterbringen, so füllt dies summa summarum 16 Monate seines Lebens aus. Kein Wunder also, dass Max und die meisten seiner Geschlechtsgenossen sich dieser Tätigkeiten hartnäckig verweigern. Es gibt ja so schon genug zu tun. Sieben Jahre seines Lebens opfert er seiner Arbeit, gefühlt die doppelte Zeit – mindestens. Hinzu kommen neun Monate für den Weg zur Arbeit und zurück sowie ein Jahr und zehn Monate, in denen er lernen und sich weiterbilden muss, um seinen Job ausüben zu können. Kurzum: Es gibt nur eine Sache, mit der Max Mustermann mehr Zeit verbringt als mit Arbeiten: Schlafen, und das hat er sich bei all den Anstrengungen auch wirklich verdient.

So gesehen ist es vielleicht frühe Intuition, wenn kleine Jungs von Berufen wie Fußballprofi oder Rockstar träumen. Sie denken sich: Wenn wir schon so viel arbeiten müssen, soll es wenigstens Spaß machen.Tatsächlich geht es um Identifikation. Die Tätigkeit beziehungsweise der Beruf soll unsere Persönlichkeit widerspiegeln.

Als Kind hat man noch das ganze Leben vor sich und damit so gut wie alle Möglichkeiten. Doch das ändert sich. Oftmals beginnt es mit einer Sehschwäche, die bereits in jungen Jahren diagnostiziert wird und einem klarmacht, dass eine Karriere als Astronaut darauf begrenzt bleibt, den verstellbaren Sessel in Liegeposition zu klappen und mit einer leeren Keksdose vor der Nase den Countdown zu simulieren. Um das Abenteuer Weltraum nicht gänzlich aufgeben zu müssen, liebäugelt man anschließend vielleicht noch eine Zeit lang mit dem Beruf des Astronomen, bis man feststellt, dass man für diesen Job Mathe benötigt und es wohl doch besser wäre, sich mit irdischen Problemen auseinanderzusetzen.

Noch ist die Auswahl an Traumberufen groß. Also wartet man auf die sturmfreie Bude und rockt, wenn der Moment gekommen ist, vor dem großen Badezimmerspiegel ab. Natürlich hält man keine E-Gitarre in den Händen, sondern malträtiert zu lauter Musik aus der Hi-Fi-Anlage eine alte Bratpfanne oder einen Federballschläger. Doch was soll’s! Der Konfirmandenanzug hat gewisse Ähnlichkeit mit der Schuluniform von Angus Young und so gibt man sich für ein paar Stunden völlig losgelöst der Vorstellung hin, man stünde im Madison Square Garden und elektrisiere die Massen. Bis man eines Tages von den Eltern oder älteren Geschwistern dabei erwischt wird, wie man in viel zu engen Klamotten vor dem Waschbecken herumzappelt und Highway to Hell in die Klobürste brüllt. Oder bis sich die Erkenntnis durchsetzt, dass man auf einer Luftgitarre keine Songs komponieren kann.