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Angelika Svensson

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Beschreibung

Kurz vor Beginn der Kieler Woche finden zwei Segler die Leiche einer jungen Frau an der Kieler Förde. Es handelt sich um die Tochter des ehemaligen Liebhabers von Kriminalhauptkommissarin Lisa Sanders. Erschwert werden Lisas Ermittlungen in diesem Mordfall durch die Zusammenarbeit mit dem arroganten Oberstaatsanwalt Dr. Thomas Freiherr von Fehrbach, den selbst ein dunkles Geheimnis zu umgeben scheint. Die Ostsee-Krimis von Angelika Svensson mit Kommissarin Lisa Sanders sind in folgender Reihenfolge erschienen: Band 1 - Kiellinie Band 2 - Kielgang Band 3 - Wassersarg Band 4 - Küstentod Band 5 - Küstenzorn Band 6 - Küstenrache

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Angelika Svensson

Kiellinie

Kriminalroman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

WidmungPrologSonntag, 15. Juni 2008Montag, 16. JuniDienstag, 17. JuniMittwoch, 18. JuniDonnerstag, 19. JuniFreitag, 20. JuniSamstag, 21. JuniSonntag, 22. JuniMontag, 23. JuniDienstag, 24. JuniMittwoch, 25. JuniDonnerstag, 26. JuniFreitag, 27. JuniSamstag, 28. JuniSonntag, 29. JuniEine Woche späterDanksagungDieses Buch ist ein [...]
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Zum Gedenken an meine Eltern

Danke für alles

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Prolog

Das Schloss klemmte noch immer.

Sie hockte in ihrem Kinderzimmer und versuchte, die Tür zu dem kleinen Abstellraum zu öffnen, die eine alte Kommode vor den Blicken Neugieriger verbarg. Als die Scharniere schließlich mit einem quietschenden Protestgeräusch nachgaben, holte sie tief Luft und betrat nach einem kurzen Zögern den Raum. Der abgewetzte Koffer lag im untersten Regal. Nachdem sie ihn geöffnet hatte, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. Das Tagebuch lag noch dort, wo sie es vor elf Jahren versteckt hatte.

Das grüne Wildleder des Einbands war an den meisten Stellen abgegriffen und blank. Behutsam fuhr sie mit den Fingern darüber und spürte der Kühle des Materials einen Augenblick lang nach. Der Verschluss des Buchs war schon damals kaputt gewesen. Der Schlüssel, den sie stets an einer Kette um den Hals getragen hatte, war verlorengegangen. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann.

Es dauerte einige Zeit, bis sie den Mut aufbrachte, das Buch zu öffnen. Die noch unentwickelte Schrift des halbwüchsigen Teenagers sprang ihr entgegen. Ihr Blick streifte einzelne Wörter, vermied es, sich an ganzen Sätzen festzusaugen. Nur auf dem letzten Satz, der in Druckbuchstaben über die ganze Seite geschrieben stand, ließ sie ihre Augen verweilen.

»Ich werde zurückkommen!«

Als sie die Tränen aufsteigen spürte, schloss sie das Buch und wog es in den Händen. Dann packte sie es in den bereitgelegten Umschlag.

Sie hatte sich entschlossen, es ihm zu zeigen. Er musste es lesen, weil er ihr sonst nicht glauben würde. Danach würde sie das Buch wieder an seinen gewohnten Platz zurücklegen.

Erst wenn ihr Plan vollendet war, würde sie das Buch zu Lisa bringen und ihr alles gestehen. Lisa würde sich von ihr abwenden, aber sie musste erfahren, warum sie sich für diesen Weg entschieden hatte.

Es war die einzige Möglichkeit, Rache zu nehmen.

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Sonntag, 15. Juni 2008

Der Anruf vom Kriminaldauerdienst in Kiel erreichte Kriminalhauptkommissarin Lisa Sanders um acht Uhr morgens in ihrem Hotelzimmer auf Sylt. Er holte sie aus einem kurzen, von Alpträumen geplagten Schlaf.

Ein Tötungsdelikt. Zwei Segler hatten auf ihrer morgendlichen Joggingrunde gegen sechs Uhr eine leblose Person zwischen Müllcontainern auf der Blücherbrücke gefunden. Weiblich, Mitte bis Ende zwanzig, keine Papiere. Der Notarzt hatte nur noch den Tod feststellen können.

Völlig mitgenommen schlug Lisa die Bettdecke zurück und richtete sich auf. Ihr Herz raste, ihre Gedanken liefen Amok in dem Bemühen, das Gehörte zu erfassen und sich gleichzeitig aus den Fängen des letzten Traums zu befreien. Am Morgen, in diesem langsamen Taumeln zwischen den Welten, waren sie immer am schlimmsten.

Es ist nicht Britt! Sie kann es nicht sein. Lieber Gott, bitte, sie darf es nicht sein!

Lisa zuckte zusammen, als ihr Handy ein zweites Mal zu klingeln begann. Als sie die Nummer auf dem Display erkannte, krallte sich ihre linke Hand in die Bettdecke.

»Thorsten?« Der Hals war wie zugeschnürt, mehr als ein Krächzen brachte sie nicht hervor. Ein Dröhnen erfüllte ihren Kopf, während sie den Worten ihres Kollegen Thorsten Brenner von der Schutzpolizei lauschte und vernahm, dass er einer der Ersten am Leichenfundort gewesen war. Nachdem er geendet hatte, spürte sie, wie eine Welle der Erleichterung ihren Körper durchflutete, so stark, dass ihr fast schwindlig wurde. »Und du bist dir ganz sicher, dass es nicht Britt ist?«

»Ja, das bin ich«, hörte sie Brenner ruhig sagen. »Schließlich hängt ihr Foto auch in unserer Dienststelle.« Im Hintergrund waren Stimmen zu hören. »Wann kannst du hier sein?«

Der Pulsschlag begann sich wieder zu normalisieren, der Kopf wurde klar. »Das hat mich gerade schon der Kollege vom KDD gefragt. Ich kann nicht kommen, Thorsten. Ich bin dienstlich auf Sylt und habe gestern meinen Bereitschaftsdienst mit Luca getauscht.«

»Davon steht nichts im Dienstplan.«

»Das habe ich auch schon mitbekommen.« Lisa erhob sich vom Bett. »Ruf Luca an. Bitte! Ich kann hier noch nicht weg.«

»Das habe ich schon versucht, aber ich habe nur Mailbox und AB erreicht. Keine Ahnung, wo dein Kollege steckt. Also sieh zu, dass du herkommst.« Bevor sie einen erneuten Widerspruch anbringen konnte, hatte Brenner aufgelegt.

Stirnrunzelnd starrte Lisa auf das Handy in ihrer Hand. Sie spürte, wie sich ihr Unbehagen verstärkte. Luca war ein äußerst zuverlässiger Kollege. Dass er etwas so Wichtiges vergaß, passte nicht zu ihm. Sie drückte seine eingespeicherten Nummern. Mailbox und AB, wie Brenner gesagt hatte. Also versuchte sie Carsten Gerlach zu erreichen, der diensthabender Staatsanwalt an diesem Wochenende war. Ebenfalls ohne Erfolg. Anscheinend hatte sich heute alles gegen sie verschworen. Sie überlegte, wen sie sonst noch anrufen könnte. Ihren Vorgesetzten wollte sie nicht behelligen, schließlich wusste sie, wie sehr er sich auf das lange geplante Segelwochenende gefreut hatte. Blieb also nur Uwe Grothmann. Zwar umfasste die Kieler Mordkommission neun Beamte, doch aufgrund von Urlaubszeit, dem Mutterschutz einer Kollegin sowie zweier dezernatsübergreifender Einsätze hatte sich diese Zahl gerade kräftig dezimiert. Uwe gehörte erst seit einem halben Jahr zur Truppe. Ihr Verhältnis war nicht das beste, und Lisa hatte auch keine große Hoffnung, dass sich das ändern würde. Uwe war nicht im mindesten teamfähig und hatte Probleme damit, Anweisungen zu befolgen. Alleingänge von ihm waren keine Seltenheit. Außerdem hatte er denselben Dienstrang wie sie, was schon mehrfach dazu geführt hatte, dass er so auftrat, als hätte er das Sagen.

Aber auch Uwe wusste nichts von der Dienstplanänderung. Mit Luca hatte er das letzte Mal am Freitagnachmittag gesprochen.

Lisa wurde klar, dass sie keine andere Wahl hatte, als sofort nach Kiel zurückzukehren. Eilends informierte sie die Sylter Kollegen und machte sich dann auf den Weg. Uwe hatte ihr zugesichert, sofort zur Blücherbrücke zu fahren und mit der Aufnahme der Ermittlungen zu beginnen. Lisa konnte sich lebhaft vorstellen, mit welcher Schadenfreude ihn diese Situation erfüllte. Schließlich hatte er in der Vergangenheit schon häufiger versucht, sie auszubooten. Auf der Rückfahrt probierte sie weiterhin, Luca und Gerlach zu erreichen, aber vergebens. Irgendetwas war offensichtlich gewaltig schiefgelaufen. Sie hatte das mulmige Gefühl, dass eine Menge Ärger auf sie zukommen würde.

Als sie gegen Mittag an der Blücherbrücke eintraf, war die Tatortsicherung noch immer in vollem Gange. Der Bereich um die Brücke war weiträumig abgesperrt. Im Bernhard-Harms-Weg standen mehrere Einsatzfahrzeuge, ebenso auf dem benachbarten Gelände der Staatskanzlei. Überall liefen die Mitarbeiter der Spurensicherung und Kriminaltechnik herum, die in ihren weißen Schutzanzügen wie Fremdkörper an diesem sonst so friedlichen Ort wirkten.

»Was ist denn eigentlich passiert?« Ein unförmiger Mann am Absperrungsband starrte Lisa sensationsgierig an. Er war nicht allein, Neugierige aller Altersstufen umgaben ihn. Wortlos wandte Lisa sich ab und schlüpfte unter dem rot-weißen Band hindurch. Sie fand es immer wieder erschreckend, welche Anziehungskraft der Schauplatz eines Verbrechens auf die Menschen hatte.

Thorsten Brenner stand einige Meter hinter der Absperrung neben der geöffneten Heckklappe eines dunklen Kastenwagens. Ein erleichtertes Lächeln überzog sein Gesicht, als er sie herankommen sah. »Da bist du ja.« Er zog Mundschutz, Handschuhe und einen Schutzanzug samt Schuhüberziehern aus den entsprechenden Vorrichtungen im Innern des Wagens und drückte ihr die Gegenstände in die Hand. »Hier … Mit schönen Grüßen der Kollegen vom K6.«

Lisa ergriff die Sachen und sah sich suchend um. »Hast du ’ne Ahnung, wo Uwe steckt?«

»Der ist vorhin mit so ’nem Lackaffen von Staatsanwalt an mir vorbeigegangen. Ich wollte ihm noch sagen, warum du später kommst, aber er hat mich abgewürgt und gesagt, er wisse Bescheid. Wirklich ein nettes Kerlchen, dein neuer Kollege.« Brenners Mund verzog sich zu einem sarkastischen Grinsen. Er deutete auf eine Gruppe von Menschen, die am Anfang der Brücke stand. »Da drüben sind sie.«

Lisa beobachtete, wie sich zwei aus der angesprochenen Personengruppe aus ihren Tyvek-Anzügen schälten und in ihre Richtung kamen. Sie erkannte Uwe Grothmanns hagere Gestalt. Als sie den schlanken, hochgewachsenen Mann neben ihm sah, schwante ihr nichts Gutes. Sie hatte die Bekanntmachung und das Foto gesehen, das die Staatsanwaltschaft über Dr. Thomas Freiherr von Fehrbach herausgegeben hatte. Persönlich hatte sie den neuen Oberstaatsanwalt noch nicht kennengelernt. Wieso war er statt Gerlach hier, noch vor seinem offiziellen Dienstantritt am Montag?

Uwe schien auf sie aufmerksam geworden zu sein, auch wenn er das mit keiner Geste zu erkennen gab. Er wechselte nur einige Worte mit Fehrbach, der daraufhin zu ihr herüberschaute und dann mit schnellen Schritten auf sie zukam.

Lisa musterte ihn neugierig. Ein Dreitagebart umrahmte das gutgeschnittene Gesicht. Wie sie gelesen hatte, war Fehrbach achtundvierzig Jahre alt. Er hatte kurzgeschnittenes graumeliertes Haar und dunkelbraune, fast schwarze Augen, die im Moment wütend auf sie hinunterschauten.

»Frau Sanders? Thomas Fehrbach von der Staatsanwaltschaft.« Er verschwendete keine Zeit für einen Händedruck. Unauffällig sah Lisa sich nach Gerlach um, aber sie konnte ihn nirgends entdecken. »Können Sie mir bitte erklären, wieso Sie erst jetzt hier erscheinen? Soweit ich weiß, wurden Sie vor über fünf Stunden informiert.« Bevor Lisa etwas erwidern konnte, sprach Fehrbach schon weiter. »Oder sollte ich mich bedanken, dass Sie überhaupt erreichbar waren?« Er musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. »Der Kollege Gerlach hat es nämlich nicht einmal für nötig befunden, sein Handy einzuschalten.«

Also hatte Uwe den Oberstaatsanwalt nicht darüber informiert, dass sie den Dienst getauscht hatte. Über die Gründe dafür konnte Lisa nur spekulieren. Ihr wurde klar, dass sie in einem Dilemma steckte. Die Wahrheit wollte sie Fehrbach nicht sagen, erst musste sie mit Luca sprechen.

»Diese unglaubliche Schlamperei wird ein Nachspiel haben«, fuhr Fehrbach mit wütender Stimme fort, offensichtlich irritiert, dass sie nicht reagierte.

Es reichte. »Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich jetzt gerne meiner Arbeit nachgehen und mir die Tote ansehen.« Lisa ließ Fehrbach stehen und warf im Vorübergehen einen kurzen Blick auf Uwe. Er wirkte vollkommen unbeteiligt und hatte diesen stoischen Gesichtsausdruck aufgesetzt, der sie jedes Mal aufs Neue reizte.

»Den Weg können Sie sich sparen. Ich habe die Leiche bereits in die Rechtsmedizin bringen lassen.«

Abrupt drehte Lisa sich zu Fehrbach zurück. »Sie haben was? Wie kommen Sie dazu?«

»Wie ich dazu komme? Frau Sanders, muss ich Sie wirklich über die Befugnisse eines Staatsanwalts aufklären?«

Mein Gott, war der Kerl arrogant.

»Also gut, wenn das jetzt geklärt ist, würde ich vorschlagen, dass Sie endlich Ihre Arbeit aufnehmen.« Fehrbachs Stimme war zunehmend lauter geworden.

Lisa zwang sich zur Ruhe, denn sie wollte kein Schauspiel für die anderen bieten. Die ersten Kollegen schauten schon herüber.

»Entschuldigung, ich suche Herrn Dr. von Fehrbach.« Ein junger Beamter der Schutzpolizei war zu ihnen getreten.

»Was wollen Sie?«

»Sind Sie Herr Dr. von Fehrbach?« Unsicher sah der Polizist Fehrbach an, offensichtlich völlig verschüchtert von dessen Ton.

»Ja«, sagte Fehrbach gereizt. »Was gibt es denn?«

»Da will Sie jemand sprechen.« Der Beamte deutete zur Absperrung hinüber.

»Ich habe jetzt keine Zeit, das sehen Sie doch.« Fehrbach wandte sich erneut an Lisa. »Frau Sanders …« Weiter kam er nicht, denn der Polizist ergriff seinen Arm.

»Entschuldigung, Herr Dr. von Fehrbach. Das ist sehr wichtig, hat er gesagt.«

Mit einer ruckartigen Bewegung schüttelte Fehrbach die Hand des Beamten ab. »Was soll das? Wer ist er?«

»Thomas!« Ein mittelgroßer, kräftig gebauter Mann stand neben Thorsten Brenner und hob den Arm. Trotz des sommerlichen Wetters trug er einen dunklen Anzug und eine Krawatte. Auf seiner Halbglatze begann sich ein Sonnenbrand abzuzeichnen.

Der Anflug eines Lächelns glitt über Fehrbachs Gesicht, ganz kurz nur und auch schon wieder weggewischt, als er Lisa ansah. »Sie entschuldigen mich einen Augenblick!«

Während Fehrbach zur Absperrung ging, blickten Lisa und Uwe ihm hinterher. »Wer ist das?«, fragte Uwe, als er sah, wie sich die beiden Männer herzlich begrüßten.

»Dr. Norbert Sievers.« Uwe erwiderte nichts, und Lisa fiel ein, dass er Sievers noch nicht kennengelernt hatte. »Unser Leitender Oberstaatsanwalt. Man munkelt, er hätte Fehrbach nach Kiel geholt.« Stirnrunzelnd beobachtete sie die beiden Männer. Fehrbach war völlig verwandelt. Keine Spur mehr von der noch bis eben gezeigten Überheblichkeit und Anmaßung. Ganz im Gegenteil. Das Gespräch der beiden Männer wirkte freundschaftlich, mehrere Male überzog sogar so etwas wie ein Lächeln Fehrbachs vorher so steinerne Züge.

»Zwei echte Buddys also«, sagte Uwe mit verächtlichem Blick. Er kaute auf seinem Daumennagel herum. »Ich hab läuten hören, dass Fehrbachs Familie ein großes Pferdegestüt in der Nähe von Hohwacht gehört. Da ist er als Jurist ja ein bisschen aus der Art geschlagen.«

Lisa erwiderte nichts darauf. Während sie den Mundschutz umlegte, Handschuhe und Schuhüberzieher anzog und als Letztes in den Schutzanzug schlüpfte, ließ sie sich von ihm Bericht erstatten. Die nächste Stunde verbrachte sie damit, sich den Leichenfundort anzusehen. Sie erfuhr, dass die Identität der Toten noch immer nicht geklärt war. Bis jetzt hatte man weder eine Handtasche noch etwas anderes gefunden, was einen Hinweis hätte geben können. Schließlich ging Lisa zu Uwe zurück, der an einem Streifenwagen stand und gerade ein Funkgespräch beendete. Während sie den Schutzanzug auszog, der bei jeder Bewegung leise raschelte, fragte sie ihren Kollegen nach den beiden Männern, die die Tote gefunden hatten.

Sebastian Connert und Dietmar Baudin. Connert war Teilnehmer an der kurz bevorstehenden Kieler Woche, Baudin sein Trainer. Die Namen sagten Lisa nichts, aber sie war auch keine Expertin in Sachen Segelsport. Die beiden Männer hatten nicht viel sagen können. Sie waren am Morgen gegen Viertel vor sechs von ihrem Quartier im Hotel Kieler Yacht Club zum Joggen aufgebrochen und hatten einen Abstecher zu Baudins Schiff gemacht, das an der Blücherbrücke vor Anker lag. Baudin hatte an den ehemaligen Liegeplatz der Gorch Fock ausweichen müssen, da der Sporthafen Düsternbrook, der sich unmittelbar vor dem Hotel befand, belegt gewesen war. Wenn ihr Hund nicht so anhaltend gebellt hätte, wären sie nie auf die Idee gekommen, zwischen die Müllcontainer zu sehen.

»Ich hoffe, Sie haben sich einen Überblick verschaffen können.« Wie aus dem Boden gewachsen stand Fehrbach plötzlich wieder neben Lisa. »Ich möchte noch einmal auf unser Gespräch zurückkommen. Mich würde nämlich sehr interessieren, ob dieser fahrlässige Umgang mit dem Bereitschaftsdienst hier in Kiel die übliche Vorgehensweise ist. Erscheint die Kripo generell immer erst dann, wenn sie Lust dazu hat? Oder passiert das nur am Sonntag, weil man erst einmal in Ruhe das Frühstück mit der Familie beenden will?« Der Sarkasmus in seiner Stimme verstärkte sich. »Oder tue ich Ihren Kollegen damit unrecht? Das läge mir natürlich fern. Vielleicht gehören ja nur Sie zu der Sorte Kripobeamter, die immer erst dann am Tatort erscheint, wenn die anderen bereits die Arbeit erledigt haben.«

Lisa erstarrte. Das hatte nichts mehr mit Zynismus zu tun. Eine solche Beleidigung hatte ihr in fünfundzwanzig Dienstjahren noch niemand an den Kopf geworfen. Fehrbachs Worte machten sie sprachlos und beraubten sie ihrer Schlagfertigkeit, die normalerweise sofort zu einer bissigen Antwort geführt hätte.

Was hatte sie diesem Mann eigentlich getan, dass er sie so angriff?

Die Ankunft des Leiters der Kriminaltechnik beendete die Konfrontation. Fürs Erste, denn Lisa hatte nicht die Absicht, Fehrbachs Bemerkungen einfach so stehenzulassen.

»Das haben wir auf der Brücke gefunden«, sagte Alexander Behring und trat zu ihnen. Er hielt Lisa zwei Beweismittelbeutel hin.

In einem befand sich ein Armband, und Lisa sah sofort, dass es aus der Trollbeads-Kollektion stammte, mit der sie selbst seit einiger Zeit liebäugelte. Das Armband war aus Silber, mehrere Figuren hingen daran. Eine Seite des Verschlusses war intakt, die andere war aufgerissen.

»Das Armband lag in der Mitte der Brücke. Sieben Anhänger waren noch dran. Diese vier allerdings«, Behring deutete auf den zweiten Beutel, »lagen in einiger Entfernung um das Armband herum.«

»Kann man davon ausgehen, dass das Armband der Toten gehört hat?«, fragte Lisa.

»Ja. An ihrem linken Handgelenk waren Druckspuren, hauptsächlich im oberen Bereich des Gelenks. Es muss einen Kampf gegeben haben, bei dem das Armband kaputtgegangen ist.«

Eisbären und Seehunde.

»Wir haben vorhin die restlichen vier Anhänger mal probehalber aufgezogen. Da blieb eine kleine Lücke. Es scheint also einer zu fehlen«, fuhr Behring fort.

»Nicht zwangsläufig. Am Anfang kauft man sich häufig erst einige Beads. Nach und nach ergänzt man dann seine Sammlung. Das ist im Grunde nichts anderes als das Bettelarmband von früher.«

Behring zog nachdenklich die Brauen zusammen, als einer seiner Mitarbeiter zu ihnen trat. Der Mann reichte Lisa einen weiteren Beutel. »Das lag in einer kleinen Vertiefung am Ende der Brücke, nur wenige Zentimeter vom Kopf der Toten entfernt.«

Lisa hob den Beutel gegen das Licht und begutachtete das kleine, goldene Gebilde mit dem eingearbeiteten Buchstaben. »Das ist ein K-Bead.«

»Ein was?«, fragte Behring verständnislos.

»Ein K-Bead«, sagte Lisa. »Jeder der Beads hat einen Namen. Innerhalb der Kollektion gibt es auch eine Serie von Buchstaben-Beads.«

»Dann wollen wir mal was probieren.« Behring hockte sich mit den drei Beuteln auf den Boden und öffnete sie. Seine Gummihandschuhe quietschten leise, als er die Anhänger aufzog. »Passt. Dann war das also derjenige, der gefehlt hat.« Als Lisa nichts erwiderte, erhob Behring sich und sah sie aufmerksam an. »Irgendwas passt dir nicht an meiner Theorie, oder?«

Gedankenverloren schüttelte Lisa den Kopf. »Ich wundere mich nur, dass dieser Bead direkt bei der Toten gefunden wurde. Außerdem passt er so gar nicht in die Sammlung.«

»Das K könnte doch vielleicht der Anfangsbuchstabe ihres Namens sein«, schlug Behring vor. »Und was das andere angeht … Wir gehen davon aus, dass der Angriff dort erfolgt ist, wo wir das Armband gefunden haben. Wie es aussieht, wurde die Tote anschließend zu den Müllcontainern geschleift. Auf der Rückseite ihres Kleides waren Schleifspuren und Risse. Außerdem wiesen beide Unterarme erhebliche Druckspuren auf. Als das Armband kaputtging, könnte sich der Bead in ihrer Kleidung verhakt haben, und erst als sie bei den Containern abgelegt wurde, ist er abgefallen.«

»Haben Sie noch mehr gefunden?«, unterbrach Fehrbach ungeduldig.

Behring schüttelte den Kopf. »Bis jetzt nichts Verwertbares. Heute Nacht hat es mehrere Stunden lang heftig geregnet. Wir haben mit dem Wetterdienst gesprochen. Der Regen begann gegen zweiundzwanzig Uhr gestern Abend und ging bis circa vier Uhr heute Morgen. Wenn es also Spuren gegeben hat, dürften kaum noch welche vorhanden sein.«

»Das heißt also, dass die Tote schon in der Nacht hier abgelegt wurde«, stellte Lisa fest.

»Davon können wir ausgehen. Du weißt ja, dass Hesse vor der Obduktion nicht viel sagt, aber zumindest hat er nach den Messungen der Umgebungs- und Körperkerntemperatur schon mal was von Mitternacht gemurmelt. Außerdem waren ihre Kleidung und die Haare noch nass.«

»War sie vollständig angezogen?«, fragte Lisa.

»Ja«, antwortete Behring. »Unter dem Kleid trug sie einen Slip und einen BH.«

»Gibt es Anzeichen für ein Sexualdelikt?«

»Dem ersten Anschein nach nicht.«

»Gibt es mittlerweile irgendwelche Anhaltspunkte bezüglich ihrer Identität?«, mischte Fehrbach sich wieder ein.

»Leider noch nicht.«

»Was ist mit den Containern und den Müllsäcken? Haben Sie die durchsucht?«

»Wir sind noch dabei.«

»Lassen Sie auch im Wasser suchen. Fordern Sie Taucher an. Wir müssen die Mordwaffe finden.«

»Wenn es überhaupt eine gibt«, sagte Behring. »Das Opfer hatte Druckspuren am Hals, und der Kopf wies einige große Hämatome auf. Für mich sieht das so aus, als wäre sie totgetreten worden.«

»Verfügen Sie auch über eine rechtsmedizinische Ausbildung, Herr Behring?«

Irritiert sah Behring Fehrbach an. »Nein, natürlich nicht. Was …«

»Dann würde ich Ihnen raten, hier keine Mutmaßungen anzustellen, sondern das Ergebnis der Obduktion abzuwarten. In der Zwischenzeit sollten Sie Ihrer Arbeit nachgehen und nach der Mordwaffe suchen. Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt.«

»Oh, das haben Sie zweifelsohne, Herr Dr. von Fehrbach. Bei dieser Gelegenheit sollten wir gleich etwas klarstellen. Auch wir in Kiel wissen, wie wir unseren Job zu machen haben.«

Im Weggehen warf Behring Lisa einen verschwörerischen Blick zu, den sie mit einem gequälten Gesichtsausdruck erwiderte. Sie beneidete ihn um die Gelassenheit, mit der er selbst die unangenehmsten Zeitgenossen in ihre Schranken wies.

Sie setzte sich ebenfalls in Bewegung und gab Uwe ein Zeichen. »Ich fahre in die Rechtsmedizin. Mach du hier weiter.« Als sie an Fehrbach vorbeiging, würdigte sie ihn keines Blickes. Sollte er doch sehen, wie er in die Uni-Klinik kam.

 

Das rotgeklinkerte Gebäude des Instituts für Rechtsmedizin in der Arnold-Heller-Straße war mit Planen verhängt. In der letzten Woche hatte die seit langem überfällige Dachsanierung begonnen. Es sah aus, als hätten Christo und Jeanne-Claude Hand angelegt.

Lisas Wunsch, dass Fehrbach sich hoffnungslos verfahren würde, erfüllte sich nicht. Er wartete bereits neben einem metallicgrauen BMW X5 auf sie, der ihr schon am Hindenburgufer aufgefallen war. Schweigend gingen sie auf das Gebäude zu. Immerhin besaß Fehrbach so viel Anstand, Lisa die Tür aufzuhalten und ihr den Vortritt zu lassen. Im langen, durch grelle Deckenlampen beleuchteten Flur hing ein schwacher Geruch nach Desinfektionsmitteln, der sich verstärkte, als sie die Treppe in den Keller hinabstiegen. Vor dem Eingang zu den Sektionsräumen blieben sie stehen. Lisa klingelte, und einen Augenblick später wurde die schwere Milchglastür von einem Sektionsassistenten geöffnet.

Der hellgrün gekachelte Raum wirkte antiseptisch. Von den vier Edelstahltischen war zu Lisas großer Erleichterung nur einer belegt. Als sie zu Michael Hesse hinüberblickte, der an einem kleinen Schreibtisch stand, sah sie, dass er gerade den Telefonhörer auflegte. Er winkte sie zu sich herüber.

»Schau dir das bitte mal an.« Hesse deutete auf die Fenster, die sich über die ganze Länge des Raums zogen. Ein großes Baugerüst und dicke Planen aus Plastik versperrten die Sicht und verdunkelten den Raum. »Das soll hier jetzt wochenlang hängen bleiben. Man kann nicht mal mehr lüften. Die veranstalten einen Höllenlärm da draußen, es ist nicht zum Aushalten.« Seine ganze, nur knapp einen Meter siebzig große Gestalt drückte Entrüstung aus.

»Hallo, Michael, ich freue mich auch, dich zu sehen«, sagte Lisa und lächelte ihn an. Sie mochte den kleinen, quirligen Rechtsmediziner, der trotz seiner bald fünfundsechzig Jahre eine unerschöpfliche Energie aufwies und so herrlich normal war. Ihr graute vor dem Tag, an dem Hesse in Pension gehen würde und sie sich mit seinem Nachfolger herumschlagen musste. Dr. Martin Karstens war zweifelsohne ein ebenso brillanter Mediziner wie Hesse, aber menschlich lag er ihr überhaupt nicht. Dazu hatte er in der Vergangenheit zu häufig einige seinem Berufsstand von der Kriminalliteratur zugeschriebenen Eigenschaften gezeigt. Düster, mundfaul, mehr an Toten als an Lebenden interessiert, waren nur einige davon. Wenigstens musste man dankbar sein, dass er während der Obduktionen keine Arien spielte oder dozierende Vorträge hielt.

»Hallo, meine Schöne. Da bist du ja mal wieder.« Anerkennend ließ Hesse seinen Blick über Lisas schlanke Gestalt in der hellen Jeans und dem buntbedruckten Shirt gleiten und drückte sie dann kurz an sich. »Findest du nicht auch, dass es höchste Zeit wird, dass wir uns auch mal außerhalb dieser Räume treffen?« Er grinste und hielt Lisa auf Armeslänge von sich entfernt. »Gut siehst du aus. Was hast du mit deinen Haaren gemacht?« Er strich leicht über ihr dunkelbraunes, kinnlanges Haar, das im Licht der Deckenbeleuchtung schimmerte. »Sie sind kürzer als bei unserer letzten Begegnung.«

Dr. Michael Hesse liebte die Frauen. Vielleicht hatte er deshalb nie geheiratet. Er hatte sich einfach nicht entscheiden können.

Lisa machte die beiden Männer miteinander bekannt und bemerkte, dass Hesse Fehrbach voller Interesse musterte.

»Hab schon gehört, dass die Staatsanwaltschaft einen adligen Neuzugang bekommen hat. Sehr nett, dass Sie mir gleich die Ehre geben. Das bringt doch endlich mal ein bisschen Glanz in meine alte Hütte.« Hesse grinste über das ganze Gesicht und sah aus, als ob er Fehrbach im nächsten Moment auf die Schulter klopfen wollte. »Schon eingelebt in Kiel?«

Auf einmal wirkte Fehrbach seltsam angespannt. Er ging mit keinem Wort auf Hesses Bemerkungen ein, sondern wandte sich mit einer abrupten Bewegung zum Sektionstisch. »Ich denke, wir sollten anfangen.«

Hesses Brille rutschte auf die Nase, als er die Augenbrauen hob und irritiert zu Lisa hinüberschaute, die nur mit den Schultern zuckte.

»Natürlich, wenn Sie das wünschen, Herr Oberstaatsanwalt.« Hesse betonte jedes einzelne Wort.

Mit einem unbehaglichen Gefühl kam Lisa näher und versuchte die Beklemmung abzuschütteln, die sie ergriffen hatte. Sie rief sich Brenners Worte vom Morgen ins Gedächtnis und starrte trotzdem voller Furcht auf die Umrisse des menschlichen Körpers unter dem weißen Tuch und Hesses Hände, als er begann, das Laken zurückzuziehen. Im nächsten Moment wich sie zur Seite, taumelte gegen Fehrbach und krallte sich an seinem Arm fest.

»Was ist mit Ihnen?« Fehrbach hatte nach ihren Händen gegriffen.

»Das ist Kerstin.« Lisas Stimme war nur mehr ein Flüstern.

»Sie kennen die Tote?«

»Das ist Kerstin Wiesner.«

Die Konturen des Raums begannen sich aufzulösen, alle Geräusche wirkten auf einmal gedämpft, das Surren der Klimaanlage, das Hämmern der Arbeiter vor dem Fenster. Lisa spürte, wie ihre Beine nachgaben, befreite sich aber dennoch aus Fehrbachs Griff. Augenblicke später brach sie in unkontrolliertes Zittern aus.

Hesse fackelte nicht lange. Kurzerhand brachte er Lisa in den Nebenraum und sorgte dafür, dass sie sich setzte und ein Glas Wasser trank. Er beobachtete, wie sie das Glas in hastigen Zügen leerte.

»Soll ich dir nachschenken?«

»Nein danke, es geht schon.« Lisas Gesicht war weiß wie die Wand. Vergeblich bemühte sie sich, das Zittern ihrer Hände unter Kontrolle zu bekommen.

»Hier, trink das!« Hesse hatte eine Cognacflasche aus dem Schrank geholt und das Glas zur Hälfte gefüllt. Als er sah, dass Lisa widerwillig den Kopf schüttelte, drückte er ihr das Glas in die Hand. »Runter damit! Das ist eine ärztliche Anordnung.«

Es dauerte einen Augenblick, bis Lisa seiner Aufforderung nachkam. Hesse nickte befriedigt, als er sah, dass wieder Farbe in ihre Wangen zurückkehrte.

»Frau Sanders, was können Sie mir zu der Toten sagen?«

Aufgebracht knallte Hesse die Schranktür zu, als er Fehrbachs Stimme vernahm. »Hat das nicht Zeit? Sie sehen doch, dass es Frau Sanders schlechtgeht.«

Ungerührt erwiderte Fehrbach Hesses Blick. »Ich denke, Sie wissen sehr gut, dass die ersten Stunden nach einem Tötungsdelikt die entscheidenden sind. Also halten Sie mich bitte nicht von meiner Arbeit ab.«

»Sie sind doch …«

»Herr von Fehrbach hat recht«, fiel Lisa Hesse ins Wort. Sie atmete tief durch und zwang sich zur Konzentration. »Kerstin ist die Tochter von Horst und Susanne Wiesner. Horst ist ein bekannter Wissenschaftler, der im Institut für Meeresforschung arbeitet. Wir sind auf Sylt in dieselbe Schule gegangen.« Mit einer mechanischen Bewegung strich sie eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. »Als Horst mit dem Studium anfing, ist unser Kontakt abgebrochen. Wir haben uns erst Jahre später zufällig hier in Kiel wieder getroffen. Die Wiesners wohnen in derselben Straße wie meine Mutter.«

»Dann sind Sie also auch mit Wiesners Frau bekannt?«

Lisa nickte und versuchte, ihren rasenden Pulsschlag zu ignorieren.

»Und wie gut kannten Sie Kerstin Wiesner?«

»So gut, wie man die Kinder von Bekannten eben kennt. Ich hatte Kerstin allerdings seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Sie ist erst vor fünf Monaten nach Kiel zurückgekehrt.« Ein wehmütiges Lächeln trat in Lisas Gesicht. »Sie hatte eine Anstellung bei GEOMAR bekommen. Das war immer ihr größter Traum, dort einmal mit ihrem Vater zusammenzuarbeiten.«

»Wo hat Kerstin Wiesner vorher gelebt?«

»Bei ihrer Tante Jana Williams und deren Mann in Seattle. Kerstin ist vor elf Jahren zu ihnen gezogen. Sie wollte in den Staaten ihre Schule beenden und anschließend ein Studium beginnen.«

»Vor elf Jahren?« Fehrbach runzelte die Stirn. »Da war sie doch noch ein Kind.«

»Sie war zwölf Jahre alt.«

»Warum wollte sie ihre Ausbildung in den Staaten machen? Das wäre doch ebenso gut in Deutschland möglich gewesen.«

»Sie wollte Biologische Ozeanographie an der University of Washington in Seattle studieren«, antwortete Lisa mit gepresster Stimme. »Kerstin hat immer gesagt, dass diese Uni die beste ist.«

»Aber Sie sagten eben, dass Kerstin damals erst zwölf Jahre alt war. In dem Alter war an ein Studium doch noch gar nicht zu denken.«

»Es war geplant, dass Kerstin mit vierzehn in die Staaten gehen sollte. Sie wollte dort ihre Schule beenden, weil sie die Hoffnung hatte, mit einem amerikanischen Schulabschluss eher an den Studienplatz zu kommen.«

»Und warum ist sie dann zwei Jahre früher übergesiedelt?«, hakte Fehrbach nach.

»Soweit ich mich erinnere, gab es einige Probleme in der hiesigen Schule.«

»Probleme in der Schule?«, wiederholte Fehrbach gedehnt. »Die hat doch jeder irgendwann mal. Sind Sie sicher, dass das der einzige Grund war?«

»Mir ist kein anderer Grund bekannt«, sagte Lisa. »Ich war zu der Zeit gerade auf einer mehrwöchigen Fortbildung in München. Ich habe nur ein paarmal mit Horst Wiesner telefoniert, und da hat er es mir erzählt.«

»Wann hat Kerstin Wiesner Kiel verlassen?«

»Im September 1996.«

»Und was genau hat Horst Wiesner Ihnen damals erzählt?«, fragte Fehrbach ungeduldig.

»Kerstin hatte große Schwierigkeiten in der Schule, das sagte ich doch schon. Deshalb wollte sie zwei Jahre früher in die Staaten.«

»Dann ist die Initiative also von Kerstin ausgegangen?«

»Ja.«

»Wissen Sie, welcher Art diese Schwierigkeiten waren?«

»Nein.«

»Und Kerstins Eltern haben dem einfach so zugestimmt?« Der Argwohn in Fehrbachs Stimme war jetzt unüberhörbar.

Lisa nickte angespannt.

»Gab es damals irgendwelche Probleme bei den Wiesners?«

»Was meinen Sie?« Lisa bemühte sich, ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen, während sie Fehrbachs abschätzendem Blick standhielt.

»Nun, ich versuche mir ein Bild von der Familie zu machen. Als Wissenschaftler ist Horst Wiesner vermutlich häufig auf Reisen. Was war damals mit seiner Frau? Hat sie gearbeitet?«

»Nein. Susanne war schon seit Jahren sehr krank. Sie hatte Brustkrebs und war oft im Krankenhaus oder zur Reha.«

»Auch zur damaligen Zeit?«

»Sie hatte damals gerade eine OP hinter sich. Es ging ihr sehr schlecht.«

»Was war mit Wiesner? War er zu Hause und hat sich um seine Frau und seine Tochter gekümmert?«

Hilflosigkeit stieg in Lisa auf. Sie konnte die damaligen Geschehnisse nicht vor Fehrbach ausbreiten, denn sie würden kein gutes Licht auf Horst werfen.

»Frau Sanders, ich habe Sie etwas gefragt.«

»Ich kann mich nicht mehr so genau erinnern. Ich war damals beruflich sehr eingespannt. Außerdem war ich …«

»… auf einer beruflichen Fortbildung in München, ich weiß«, unterbrach Fehrbach sie brüsk. »Wissen Sie, was mir auffällt? Sie können sich sehr genau daran erinnern, was mit Susanne Wiesner war. Aber wenn ich Sie nach Horst Wiesner befrage, dann versagt Ihr Gedächtnis plötzlich. Können Sie mir erklären, woran das liegt?«

»Horst Wiesner hat einen verantwortungsvollen Beruf.« Lisa stockte und merkte voller Schreck, dass es Fehrbach gelungen war, sie in die Ecke zu drängen.

»Das erwähnten Sie bereits. Aber der Zusammenhang mit meiner Frage erschließt sich mir nicht.«

Ein Blick in Fehrbachs Gesicht ließ Lisa das Gegenteil vermuten. »Was ich damit sagen will …« Sie suchte nach den richtigen Worten. »Horst Wiesner konnte nicht einfach mal so für ein paar Wochen zu Hause bleiben.«

»Was heißt das jetzt konkret?«

»Er war damals auf einer Forschungsreise.« Sie kam sich vor wie eine Verräterin.

»Das ist ja interessant«, sagte Fehrbach mit einem süffisanten Unterton. »Wiesners Frau ist schwer krank, aber anstatt zu Hause zu bleiben und sich um sie und seine minderjährige Tochter zu kümmern, geht der Mann auf Reisen. Also ich muss sagen, das zeugt schon von einer ziemlichen Gefühllosigkeit.«

Genau dasselbe hatte sie damals auch gedacht.

»Kann es sein, dass Kerstin deshalb vorzeitig in die Staaten wollte? Weil sie sich von ihren Eltern vernachlässigt fühlte?«

»Horst und Susanne haben Kerstin nicht vernachlässigt«, sagte Lisa empört. »Sie haben sie abgöttisch geliebt.«

»Aber offensichtlich nicht viel Zeit für sie gehabt.«

Wütend fuhr Lisa auf. »Wollen Sie Horst Wiesner vorwerfen, dass er einen Beruf hat, der ihm nicht viel freie Zeit lässt? Und seiner Frau, dass sie krank ist?«

»Ihre Unterstellungen sind lächerlich«, sagte Fehrbach unbeeindruckt. »Ich möchte nur herausfinden, warum ein zwölfjähriges Mädchen von zu Hause wegwollte. Und warum dessen Eltern ihre Zustimmung gegeben haben.« Mit einer schnellen Bewegung stemmte Fehrbach sich von der Wand ab und trat auf Lisa zu. »Ich warne Sie, Frau Sanders. Wenn ich herausbekommen sollte, dass Sie mir Informationen vorenthalten, werden Sie ziemlichen Ärger bekommen.«

»Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.«

»Was war in den Jahren nach Kerstin Wiesners Abreise?«

»Was meinen Sie damit?«

»Ich denke, das liegt auf der Hand. Kerstin Wiesner hat sich laut Ihrer Aussage elf Jahre lang in den USA aufgehalten. War sie in diesen Jahren einmal wieder in Kiel? Oder haben ihre Eltern sie drüben besucht?«

»Horst und Susanne sind einige Male rübergeflogen.«

»Wie oft genau?«

»Das weiß ich nicht mehr.«

»Hat Kerstin ihre Eltern auch besucht?«

»Nein.«

»Fanden Sie das nicht ungewöhnlich?« Als Lisa schwieg, bohrte Fehrbach weiter. »Was haben Kerstins Eltern dazu gesagt? Haben sie ihre Tochter nicht vermisst?«

»Wir haben nicht oft darüber gesprochen.« Lisa gewahrte Fehrbachs ungläubigen Blick. Auch für sie war es damals schwer zu verstehen gewesen. Wann immer sie Horst auf Kerstin angesprochen hatte, war er ihr ausgewichen. Bis er ihr schließlich gestand, dass er seine Tochter unendlich vermisse und der Gedanke an sie ihm weh tue. Von da an hatte Lisa das Thema vermieden, um nicht noch mehr Salz in die Wunde zu streuen.

»Sie haben nicht oft darüber gesprochen?« Fehrbach stieß ein verächtliches Lachen aus. »Wenigstens erinnern Sie sich noch daran.« Er schwieg eine Zeitlang und forschte in ihrem Gesicht. »Kehren wir in die Gegenwart zurück. Haben Sie Kerstin Wiesner seit ihrer Rückkehr gesehen?«

»Ja, einmal.«

»Bei welcher Gelegenheit war das?«

»Ich hatte meine Mutter besucht, und beim Weggehen habe ich Kerstin auf der Straße getroffen.«

»Woher wussten Sie, dass sie es war? Immerhin haben Sie sie als Zwölfjährige das letzte Mal gesehen.«

Wieso zog er alles in Zweifel? Lisa merkte, wie Wut in ihr aufstieg.

»Schon mal was von der Erfindung des Fotoapparats gehört? Oder von dem Begriff E-Mail?« Michael Hesse hatte das Gespräch bisher schweigend verfolgt, doch jetzt mischte er sich aufgebracht ein. »Hören Sie auf, auf Frau Sanders rumzuhacken. Sehen Sie denn nicht, wie ihr die ganze Sache zu schaffen macht?«

Aber Fehrbach ließ nicht locker. »Wann war das?«

»Vor drei Monaten etwa.«

»Worüber haben Sie sich unterhalten?«

»Kerstin war in ziemlicher Eile. Sie hat mir nur kurz erzählt, dass sie zurückgekommen ist, weil sie eine Stelle bei GEOMAR bekommen hat.«

»Das war alles?«

»Das war alles.«

»Wussten Sie, dass sie nach Kiel zurückgekehrt war?«

»Nein.«

»Ich denke, Sie sind mit ihren Eltern befreundet.«

Erschöpft lehnte Lisa sich auf dem Stuhl zurück. Warum ließ er sie nicht endlich in Ruhe?

Auch Michael Hesse hatte genug. »Schluss jetzt. Ich werde nicht zulassen, dass Sie Frau Sanders länger quälen. Das ist hier ja wie bei einer Inquisition. Ein wenig Mitgefühl wäre wohl angebracht, Herr Oberstaatsanwalt.«

Du bist doch gar kein Mensch, Thomas. Du bist ein gefühlloses Monster. Was andere empfinden, schert dich einen Dreck.

Fehrbach stand regungslos da. In einer Geste der Abwehr verschränkte er die Arme vor der Brust und vermied jeden Blickkontakt mit Lisa und Hesse. Eine beängstigende Atemnot hatte sich eingestellt, die Enge im Brustkorb verstärkte sich mit jeder Sekunde.

Mein Gott … er hatte gedacht, es wäre vorbei.

 

Nach der Rückkehr in den Sektionsraum fasste Hesse das Ergebnis der äußeren Leichenschau zusammen, die er vor Lisas und Fehrbachs Ankunft mit Dr. Karstens durchgeführt hatte. Es ließ noch keine eindeutige Todesursache zu. Kerstins Hals und Kehlkopf wiesen Druckstellen auf, am Körper, vor allen Dingen aber am Kopf waren unterschiedlich große Hämatome zu sehen, die auf heftige Gewalteinwirkung in Form von Faustschlägen oder Fußtritten schließen ließen. Abwehrverletzungen gab es keine. Das konnte bedeuten, dass der Angriff sie überrascht hatte oder sie sehr schnell bewusstlos geworden war. Des Weiteren waren die Innenseiten der Oberschenkel sowie die Haut um den Bauchnabel herum mit Brandwunden bedeckt, die von ausgedrückten Zigaretten zu stammen schienen.

»Das Entstehungsdatum dieser Wunden liegt schon länger zurück. Wir müssen das noch genauer untersuchen, aber Dr. Karsten und ich sind uns sicher, dass sie über einen Zeitraum von mehreren Jahren entstanden sind«, sagte Hesse. Sein Kollege war in der Zwischenzeit dazugekommen und begrüßte Lisa und Fehrbach mit einem kurzen Nicken. »Wir haben überlegt, woher diese Wunden stammen könnten«, fuhr Hesse fort. »Ich habe so etwas bisher nur bei Prostituierten gesehen, die von ihren Freiern gefoltert wurden. Die Tote kann sich die Verletzungen allerdings auch selbst zugefügt haben. Hast du eine Ahnung, ob sie zu autoaggressiven Verhaltensweisen geneigt hat?«

Bestürzt schüttelte Lisa den Kopf. »Nein, ganz bestimmt nicht. Wieso auch?«

»Dafür kann es viele Gründe geben. Falls Herr von Fehrbach mit seiner Vermutung recht gehabt und Kerstin sich tatsächlich vernachlässigt gefühlt hat, kann sie sich diese Verletzungen unter Umständen selbst zugefügt haben.«

Lisa schluckte. Was Hesse da andeutete, erschreckte sie zutiefst. Auf ihre Frage, ob es zu einer Vergewaltigung gekommen war, zuckte der Mediziner mit den Schultern. »Das kann ich noch nicht ausschließen.« Er griff nach der Schutzbrille, die auf dem kleinen Metalltisch oberhalb des Sektionstisches lag. Hier würden die bei der inneren Leichenschau entnommenen Organe abgelegt werden. Hesse winkte einem Sektionsassistenten, der mit einer Oszillationssäge herantrat, um damit die Schädeldecke der Toten zu öffnen. Dann schaltete er das Aufnahmegerät an und zog das über dem Tisch hängende Mikro etwas herunter.

Lisa wandte sich ab. Für einen kurzen Moment wäre sie fast der Versuchung erlegen, den Raum zu verlassen und nicht an der Obduktion teilzunehmen, aber sie wollte sich keine Blöße vor Fehrbach geben. Also trat sie zum Schreibtisch hinüber und versuchte Hesses Stimme, die in nüchternen Worten die Befunde ins Mikro sprach, so gut es ging auszublenden.

Die Obduktion dauerte knapp zweieinhalb Stunden. Am Ende stand fest, dass Kerstin totgetreten worden war. Die heftige Gewalteinwirkung gegen ihren Kopf hatte eine Gehirnblutung verursacht, die schließlich zum Tod geführt hatte. Eine Vergewaltigung hatte nicht stattgefunden. Den Todeszeitpunkt legten die beiden Mediziner auf vierundzwanzig Uhr fest, plus minus einer Stunde.

Als Lisa ihr Büro betrat, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. Die letzten Stunden hatten sie an ihre Grenzen geführt. Auf dem Rückweg in die Blume, wie die Bezirkskriminalinspektion in der Blumenstraße genannt wurde, war sie so unkonzentriert gewesen, dass sie fast einen Unfall verursacht hätte.

Die Verabschiedung von Fehrbach war kurz ausgefallen. Vor dem Institut hatten sich ihre Wege getrennt, ein kurzes »Ich melde mich bei Ihnen« war alles gewesen, was er gesagt hatte.

Im Büro wurde Lisa von Uwe erwartet. »Wissen wir mittlerweile, wer die Tote ist?«

»Sie heißt Kerstin Wiesner«, sagte Lisa tonlos. Dass sie Kerstin kannte, erwähnte sie nicht. Im Moment zählte nur eines – sie musste eine Distanz zwischen dem Tötungsdelikt und ihrer persönlichen Bekanntschaft zum Opfer herstellen, denn andernfalls würde sie den Fall nicht emotionslos und mit der nötigen Objektivität bearbeiten können. Außerdem musste sie verhindern, dass im Anfangsstadium der Ermittlungen zu viele Personen von ihrer Bekanntschaft erfuhren, sonst wäre sie den Fall nämlich ganz schnell wieder los. Wenn die Ermittlungen erst einmal liefen, standen ihre Chancen besser, ihn zu behalten.

Uwe hatte inzwischen Luca erreicht. Das Gespräch hatte die Dinge geklärt.

»Anja hat kurz nach deinem Anruf am Freitag starke Wehen bekommen. Luca musste sie ins Krankenhaus bringen.«

Anja war Lucas Frau. In vier Monaten sollte ihr erstes Kind zur Welt kommen.

»Sag jetzt nicht, dass sie das Kind verloren hat.«

»Es hat wohl eine Zeitlang so ausgesehen. Aber Luca hat gesagt, dass die Ärzte vorhin Entwarnung gegeben haben.«

»Gott sei Dank.«

»Es tut ihm wahnsinnig leid, dass er über der ganzen Aufregung vergessen hat, die Dienstplanänderung weiterzugeben. Er wird morgen früh sofort zu Fehrbach gehen und die Sache richtigstellen.«

»Fehrbach ist doch jetzt nicht mehr wichtig«, sagte Lisa erleichtert. »Hauptsache, mit Anja ist alles in Ordnung.«

Lisa kannte Lucas Frau, ebenso wie den Rest seiner Familie. Die Farinellis waren das Klischee der typisch italienischen Großfamilie. Herzlich und laut, drückten sie jeden, den Luca mochte, auch sofort an ihr eigenes Herz. So auch Lisa, nachdem Luca sie kurz nach seinem Dienstantritt in Kiel vor acht Jahren ins Restaurant seiner Familie mitgenommen und allen vorgestellt hatte.

 

Seit einer Stunde saß Fehrbach in seinem Wagen und starrte auf die Einfahrt zum Gestüt. Das große schmiedeeiserne Tor stand einladend offen, die dahinter beginnende breite Auffahrt führte direkt zum Herrenhaus. Er kniff die Augen zusammen und versuchte einen Blick auf die weiße Fassade zu erlangen, aber das Laub der alten Bäume versperrte ihm die Sicht.

Lankenau, so hatte auch das Gut seiner Großeltern in Ostpreußen geheißen. Ihre Flucht zum Ende des Zweiten Weltkriegs hatte sie schließlich nach Schleswig-Holstein geführt, in der Hoffnung, dass ein dort lebender Onkel ihnen Unterschlupf gewähren würde. Und genauso war es dann auch gekommen. Carl-Wilhelm von Fehrbach nahm die Flüchtlinge mit offenen Armen auf, denn seit dem Tod seiner Frau und seines einzigen Kindes hatte er in den letzten Jahren allein auf dem fast dreihundertfünfzig Jahre alten Familiensitz gelebt. Mit drei Trakehnern, die den endlosen Treck über das Haff überlebt hatten, wurde eine neue Zucht begründet. Als Carl-Wilhelm zehn Jahre später gestorben war, hatten sein Neffe und dessen Frau den Besitz, der inzwischen in Trakehnergestüt Lankenau umbenannt worden war, geerbt.

An seine Großmutter Martha konnte Fehrbach sich kaum noch erinnern. Sie war bei einem Reitunfall ums Leben gekommen, als er drei Jahre alt gewesen war. Aber seinen Großvater, den sah er auf einmal wieder ganz deutlich vor sich.

Heinrich Baron von Fehrbach – ein stattlicher und eindrucksvoller Mann, mit einer lauten und durchdringenden Stimme, die es gewohnt war, Befehle zu erteilen. Seine Angestellten hatten ihn gefürchtet, Fehrbach hatte ihn geliebt. Sein Großvater war ein harter Mann gewesen, der viel in seinem Leben durchgemacht hatte, aber sein erster Enkel war sein Ein und Alles. Er verwöhnte ihn, so wie er es mit seinem einzigen Sohn Johannes niemals tat. Dieser war von klein auf dazu erzogen worden, einmal den Besitz zu übernehmen und weiterzuführen. Da war für Sentimentalitäten bei der Erziehung kein Platz.

Aber seinem Enkel zeigte Heinrich seine andere Seite, die weiche und liebevolle. Zwischen den beiden entstand eine Beziehung, wie sie Fehrbach zu seinem Vater niemals gehabt hatte.

Als Fehrbach sechzehn Jahre alt war, erkrankte Heinrich an Krebs. Sein qualvolles Sterben dauerte zwei Jahre. Ein Jahr nach seinem Tod hatte Fehrbach Lankenau endgültig den Rücken gekehrt.

Er hatte lange nicht mehr an seinen Großvater gedacht. Er hatte die Erinnerung verdrängt, wie so viele andere auch. Aber seitdem er zurückgekehrt war, tauchten sie wie Gespenster aus der Vergangenheit wieder auf.

 

Ich muss es Horst sagen. Ich muss es Horst sagen.

Gebetsmühlenartig rotierten die Worte in Lisas Kopf. Sie versuchte die aufsteigende Angst zu unterdrücken, als sie in die kleine Sackgasse einbog, in der das Haus der Wiesners lag. Auf ihr Läuten hin erfolgte keine Reaktion. Sie versuchte es erneut, doch auch diesmal öffnete niemand. Sie spähte durch das Glasfenster, das die obere Hälfte der schwarzen Eingangstür verzierte, aber sie konnte keine Bewegung im Innern des Hauses ausmachen. Als sie in den Garten ging, sah sie, dass die Außenjalousien an allen Fenstern des zweigeschossigen Baus heruntergelassen waren. Ihr Blick fiel auf die Beete, die das Haus umgaben, auf verwelkte Blumen und vertrocknetes Buschwerk. Zwischen den rechteckigen Granitsteinen auf der Terrasse wucherte das Unkraut. Irritiert sah sie sich um, verwundert darüber, wie verwahrlost alles wirkte. Sie versuchte sich zu erinnern, wann sie das Grundstück das letzte Mal betreten hatte. Es musste Jahre zurückliegen, denn noch immer scheute sie eine Begegnung mit Susanne.

Nachdem Lisa wieder auf der Straße stand, wählte sie die Nummer von Horst Wiesners Handy. Kein Empfang, nicht einmal die Mailbox sprang an. Einen Augenblick war sie unschlüssig, dann versuchte sie es in seinem Büro bei GEOMAR. Auch dort erreichte sie niemanden, und der eingeschaltete Anrufbeantworter in der Zentrale gab nur die Öffnungszeiten des Instituts preis.

Für einen Moment übermannte sie die Verzweiflung. Wenn sie seit der letzten Begegnung mit Horst nicht so stur gewesen wäre, dann wüsste sie, was in der Zwischenzeit geschehen war. So aber herrschte jetzt seit einigen Monaten Funkstille zwischen ihnen.

Lisa beschloss, mit ihrer Mutter zu sprechen, die im gegenüberliegenden Mietshaus wohnte. Sie wusste, dass Gerda hin und wieder einem kleinen Nachbarschaftsplausch nachging. Vielleicht hatte sie bei diesen Gelegenheiten etwas aufgeschnappt. Lisa ging zwar davon aus, dass ihre Mutter es ihr erzählt hätte, aber ganz sicher war sie sich nicht. Das Thema Horst Wiesner war für Gerda tabu. Und im Gegensatz zu Lisa hatte sie auch nicht die Absicht, Wiesner jemals zu verzeihen.

Gerda Sanders sah sofort, dass etwas nicht stimmte. »Was ist los, Kind?«

Als Lisa die Anteilnahme in Gerdas Stimme vernahm, war es mit ihrer Selbstbeherrschung vorbei, und sie weinte hemmungslos. Ihre Mutter wartete geduldig, bis sie sich beruhigt hatte und zu erzählen begann.

»Wie soll ich es Horst sagen?«, fragte Lisa verzweifelt. »Ich kann das nicht.«

»Lisa!« Ihre Mutter hatte sich rasch gefasst und setzte sich neben sie auf das Sofa. »Lisa! Sieh mich an!« Ihre Stimme hatte einen energischen Ton angenommen. Sie ergriff die Hand ihrer Tochter. »Nur du kannst es ihm sagen. Verstehst du? Nur du! Seine Tochter ist ermordet worden. Wie würdest du dich fühlen, wenn dir eine wildfremde Person eine solche Nachricht überbringt?«

»Ich kann das nicht«, sagte Lisa und wischte sich die Tränen vom Gesicht.

»Doch, Lisa, du kannst das. Ich weiß, dass du es kannst.«

Lisa putzte sich die Nase und knetete das Tuch in ihren Händen. Woher nahm ihre Mutter bloß diese unerschütterliche Zuversicht? Nachdem sie sich wieder etwas beruhigt hatte, fragte sie sie, ob sie etwas von den Veränderungen im Haus der Wiesners mitbekommen habe.

Zu Lisas großer Enttäuschung schüttelte ihre Mutter den Kopf. Sie riet ihr eindringlich, den Fall sofort abzugeben, aber Lisa dachte nicht daran, den gutgemeinten Ratschlag zu befolgen. »Das werde ich nicht tun!«, sagte sie, und bevor ihre Mutter weiter in sie dringen konnte, drückte sie ihr einen Kuss auf die Wange und verließ hastig die Wohnung.

Vielleicht wussten die unmittelbaren Nachbarn der Wiesners mehr. Lisa klingelte an Türen und musste sehr schnell erfahren, dass es niemanden zu geben schien, der näheren Kontakt zu der Familie hatte. Während sie grübelnd zu ihrem Wagen zurückging, erblickte sie eine Frau, die ihr Fahrrad vor einem der Grundstücke abbremste, bevor sie abstieg und es die Auffahrt hinaufschob. Schnell lief Lisa auf sie zu.

»Entschuldigung, haben Sie einen Augenblick Zeit für mich?«

»Ja?« Hellblaue Augen musterten sie neugierig.

»Können Sie mir sagen, wo ich die Wiesners finde?«

»Kann sein, dass er wieder auf einer seiner Forschungsreisen ist. Genau weiß ich das aber nicht. Und seine Frau …« Die Nachbarin dehnte die Pause genussvoll aus. Um ihre Lippen hatte sich ein hämischer Zug geschlichen. »Die hat das Weite gesucht.«

»Susanne Wiesner wohnt nicht mehr hier?«

»Die ist vor einigen Monaten zu ihrem Freund gezogen.« Die Frau beugte sich vertraulich zu Lisa hinüber. »Ist ja auch kein Wunder, dass die sich ’nen anderen gesucht hat. Der Wiesner ist doch sowieso nie zu Hause.«

»Wissen Sie, wo sie jetzt wohnt?«

»Woher soll ich das denn wissen?«

»Na ja, Sie scheinen so einiges zu hören.«

Die Nachbarin schaute sie scharf an. »Was soll das denn heißen, junge Frau? Glauben Sie vielleicht, dass ich eine von diesen Tratschen bin?«

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Lisa beschwichtigend.

»Sagen Sie mal, wer sind Sie überhaupt? Warum wollen Sie das eigentlich alles wissen?«

»Danke für die Auskunft.« Lisa hatte nicht die Absicht, Erklärungen abzuliefern. Sie wandte sich ab, als sie den melodischen Signalton ihres Handys vernahm, der das Eintreffen einer SMS verkündete.

Uwe hatte die Adresse von Kerstin herausgefunden. Lisa stieg in ihren Wagen und startete den Motor.

 

Am liebsten hätte Fehrbach einen Rückzieher gemacht und wäre zurückgekehrt. Aber wohin? Eva war tot, sein altes Leben gab es nicht mehr.

Er öffnete die Wagentür und stieg aus. Seitdem er die Rechtsmedizin verlassen hatte, war die Anspannung immer stärker geworden. Er hoffte, dass Lisa und die beiden Ärzte nichts mitbekommen hatten. Erbittert schlug er mit den Fäusten aufs Dach, bis er endlich den Schmerz spürte. In der Therapie hatten sie Sport getrieben, wenn der Druck zu groß geworden war.

Plötzlich vernahm er ein Geräusch und sah, wie ein großer Geländewagen mit einem Pferdetransporter dahinter die Einfahrt heruntergefahren kam. Schnell stieg er in den Wagen zurück und duckte sich. Erst als das Motorengeräusch leiser wurde, kam er langsam wieder hoch und schaute in den Rückspiegel. Der Geländewagen bog auf die Hauptstraße in Richtung Ostsee und entschwand seinen Blicken.

Fehrbach straffte die Schultern. So konnte es nicht weitergehen. Er war gekommen, um seinen Vater und seinen Bruder zu sehen und sich endlich mit ihnen auszusprechen. Am Vortag hatte er seiner Feigheit noch nachgegeben, weil ihn der Gedanke an die vielen Menschen, denen er auf der Geburtstagsfeier seines Vaters womöglich Rede und Antwort stehen müsste, plötzlich erschreckt hatte. Aber heute würde er nicht mehr kneifen. Entschlossen startete er den Wagen, passierte das Tor und fuhr die Einfahrt hinauf.

Die breite Allee aus Kastanien und Linden war vor vierzig Jahren angelegt worden, als die Fehrbachs begonnen hatten das Terrain aufzuforsten. Zu beiden Seiten erstreckten sich Pferdekoppeln, die von weißen Holzgattern mit dahinterliegenden Elektrozäunen umgeben waren.

Nach einigen Metern parkte Fehrbach den Wagen am rechten Seitenstreifen und stieg aus. Langsam ging er auf eine der Koppeln zu. Die Lindenblätter hinterließen eine klebrige Spur an seinen Fingern, als er die tief herabhängenden Zweige ergriff und sich unter ihnen hindurchbeugte. Zwei Pferde kamen ihm entgegen. Neugierig beschnupperten sie ihn, als er an den Zaun herantrat. Er streckte die Hand aus und strich über die warmen, feuchten Nüstern.

Als Kind hatte er immer Äpfel und Möhren in den Taschen gehabt. Stundenlang hatte er sich bei den Koppeln herumgetrieben und seinem Vater bei der Ausbildung der Pferde zugesehen. Mit sechs Jahren hatte er reiten gelernt. Wenn es nach seinem Vater gegangen wäre, hätten die Unterrichtsstunden schon früher begonnen, aber seine Mutter Katharina hatte ein Machtwort gesprochen. Es war eines der wenigen Male gewesen, bei denen sie gegen ihren Mann aufbegehrt hatte. Im Laufe der nachfolgenden Jahre hatte sie sich immer tiefer in ihre eigene Welt zurückgezogen, in die ihr zum Schluss niemand mehr folgen konnte.

Nach einiger Zeit ging Fehrbach weiter. Er näherte sich dem Herrenhaus und erblickte zwei Männer, die von den Ställen herüberkamen. Beide trugen Reitkleidung, klein und schmächtig der eine, mit der Figur eines Jockeys, groß der andere, durchtrainiert, kurze blonde Haare, die immer noch strubblig in alle Richtungen abstanden. Die beiden Männer sprachen miteinander. Plötzlich schaute der blonde Mann hoch und entdeckte ihn. Er wandte sich an seinen Begleiter und schien diesem eine Anweisung zu geben. Der andere nickte und ging dann zu den Koppeln hinüber.

Nach kurzem Zögern kam Andreas von Fehrbach auf seinen Bruder zu. Er sagte kein Wort, sondern sah ihn nur mit versteinertem Gesicht an.

»Wie geht es dir, Andreas?«

»Was willst du hier? Falls du Vater zu seinem achtzigsten Geburtstag gratulieren willst, kommst du einen Tag zu spät.«

Fehrbach hatte mit keinem freundlichen Empfang gerechnet, aber die Wut in der Stimme seines Bruders überraschte ihn. Er setzte zu einer Erwiderung an, doch Andreas fuhr ihm über den Mund.

»Hast du eigentlich eine Ahnung, was du Vater damit angetan hast? Er hat den ganzen Tag auf dich gewartet. Dauernd hat er gefragt, warum du nicht kommst. Warum tust du das? Warum kündigst du deinen Besuch an, wenn du doch nicht vorhast zu kommen? Das ist so eine miese Art, ich könnte kotzen.«

Andreas’ Wut lähmte ihn. »Es ist sehr schwer für mich, es dir zu erklären.«

»Ich würde mir deine Erklärungen auch gar nicht mehr anhören. Immer wieder hast du uns Ausreden aufgetischt, warum du nicht kommen konntest. Alles war wichtiger als deine Familie. Weißt du, dass es mittlerweile über zehn Jahre her ist, seit du das letzte Mal hier warst?«

»Hört bitte auf, euch zu streiten.«

Von beiden Männern unbemerkt war eine Frau aus dem Haus getreten. Als Fehrbach die vertraute Stimme vernahm, fuhr er herum. Sie hatte sich überhaupt nicht verändert. Er starrte sie an und hatte das Gefühl, ein Déjà-vu zu erleben.

Trotz ihrer vierundfünfzig Jahre besaß Barbara von Fehrbach noch immer ihre mädchenhafte, zierliche Figur. Die braungelockten Haare waren schulterlang und bis jetzt nur von wenigen grauen Strähnen durchzogen.

»Hallo, Thomas, ich freue mich ja so, dich zu sehen.« Barbara streckte ihrem Stiefsohn die Hand entgegen und lächelte ihn aus warmen braunen Augen an. »Komm doch rein.«

»Ich weiß nicht, ich denke, ich sollte besser gehen.«

»Ja, das denke ich auch«, herrschte Andreas ihn an.

»Nein! Ich möchte, dass Thomas bleibt«, sagte Barbara bestimmt.

Andreas starrte die beiden einen Augenblick lang finster an, dann machte er auf dem Absatz kehrt und eilte in Richtung der Ställe.

Barbara bat Fehrbach in den Salon. »Was möchtest du trinken, Thomas? Tee oder wie früher lieber Kaffee?«

Er bat um Kaffee.

»Ich gehe in die Küche und kümmere mich darum. Mach es dir bitte bequem.«

»Wo ist Vater?«

»Johannes hat sich hingelegt«, antwortete Barbara. »Die Feier gestern hat ihn sehr angestrengt.«

Sie verließ den Salon, und Fehrbach setzte sich in einen dunkelbraunen Ledersessel, der als Einziger von der ursprünglichen Möblierung übrig geblieben schien. Seine Blicke schweiften durch den fast drei Meter hohen Raum, über pastellgrün gestrichene Wände und weißlackierte Holztüren. Der Salon wirkte vertraut und fremd zugleich. Die dunklen und schweren Ledermöbel, die immer eine gewisse Düsternis ausgestrahlt hatten, waren durch helle italienische Leinensofas ersetzt worden. Die dazu passenden Sessel standen im Raum verteilt, umgeben von kleinen Beistelltischen und schlanken Bodenvasen, die Sommerblumen in verschwenderischer Fülle enthielten. Die Neugestaltung verlieh dem Zimmer eine beinahe heitere Note.

Nach einer Weile kam Barbara zurück und stellte ein kleines Tablett auf dem Couchtisch ab. Sie schenkte Kaffee ein und setzte eine Schale mit Gebäck in die Mitte des Tisches. Nachdem sie Platz genommen hatte, sah sie Fehrbach aufmerksam an. »Wie geht es dir, Thomas?«

»Gut, danke.«

Ihr zweifelnder Blick bereitete ihn auf die nächste Bemerkung vor. »Es tut mir so leid, was mit deiner Frau geschehen ist. Wenn ich dir irgendwie helfen kann …«

»Es ist alles in Ordnung.« Er hoffte, dass die Schärfe in seiner Stimme ihn vor weiteren Fragen bewahrte.

Barbara lehnte sich im Sessel zurück. Falls seine Abfuhr sie verletzt hatte, ließ sie es sich nicht anmerken.

»Wie geht es Vater?«, fragte Fehrbach, als sich das unbehagliche Schweigen auszudehnen begann.

»Ich mache mir große Sorgen um ihn.«

Auf einmal spürte er Angst. »Was ist mit ihm?«

»Es kommt eines zum anderen. Manchmal glaube ich, der Schlaganfall vor sechs Jahren war der Anfang vom Ende.« Barbara schluckte. »Im Jahr darauf hat dein Vater Diabetes bekommen. Sein Herz ist sehr schwach, das Atmen bereitet ihm oft große Mühe.« Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Hose und knetete es in den Händen. Als sie Fehrbach wieder ansah, standen ihre Augen voller Tränen. »Ich habe Angst, dass ich ihn verlieren werde, Thomas. Was soll ich denn ohne Johannes machen? Er ist doch mein Leben.«

»Warum hast du mich nicht über Vaters Gesundheitszustand informiert?«, fragte Fehrbach gepresst.

»Hätte das etwas geändert? Wärst du dann früher gekommen?«

Auf einmal konnte er ihren Anblick nicht mehr ertragen. Hastig stand er auf und trat zum Kamin.

»Dein Vater wird sich sehr freuen, dich zu sehen.«

Kein Vorwurf, warum er die Geburtstagsfeier versäumt hatte. Fehrbach hatte nicht die Absicht gehabt, sich zu rechtfertigen, und hörte sich dennoch eine Geschichte von Möbeln erfinden, die verspätet geliefert worden seien.

»Das verstehe ich. Aber jetzt bist du ja hier.« Barbara erhob sich und öffnete die doppelflüglige Terrassentür. Ein leichter Wind begann die Gardinen zu bauschen. Sie blickte hinaus, und es dauerte einige Zeit, bis sie wieder sprach. »Du hast doch sicher etwas Zeit mitgebracht und bleibst zum Abendessen?«