Küstentod - Angelika Svensson - E-Book
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Angelika Svensson

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Beschreibung

Ein Ostseeküsten-Krimi mit dem beliebten Kieler Ermittlerteam. Lisa Sanders von der Kieler Mordkommission und ihre Kollegen ermitteln in einem Fall von besonderer Brisanz, bei dem drei Richter einem Tötungsdelikt zum Opfer fielen. Zunächst sieht alles danach aus, als stamme der Täter aus dem beruflichen Umfeld der Toten, da alle drei häufig wegen ihrer milden Urteile in der Kritik standen. Doch als Lisa im Privatleben der drei Richter eine weitere verstörende Gemeinsamkeit entdeckt, gerät plötzlich eine Person ins Visier, die einer an den Ermittlungen beteiligten Polizeibeamtin viel zu nahe steht ... Von Seiten der Staatsanwaltschaft hat Thomas von Fehrbach den Fall übernommen. Er ahnt nicht, dass er unter Beobachtung von Jegor Stepanow steht, dem Mann, dessen Bruder Lew er während seiner Dienstzeit in Frankfurt hinter Gitter gebracht und der ihm bei seiner Verhaftung Rache geschworen hat. Die Ostsee-Krimis von Angelika Svensson mit Kommissarin Lisa Sanders sind in folgender Reihenfolge erschienen: Band 1 - Kiellinie Band 2 - Kielgang Band 3 - Wassersarg Band 4 - Küstentod Band 5 - Küstenzorn Band 6 - Küstenrache

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Angelika Svensson

Küstentod

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Lisa Sanders von der Kieler Mordkommission und ihre Kollegen ermitteln in einem Fall von besonderer Brisanz, bei dem drei Richter einem Tötungsdelikt zum Opfer fielen. Zunächst sieht alles danach aus, als stamme der Täter aus dem beruflichen Umfeld der Toten, da alle drei häufig wegen ihrer milden Urteile in der Kritik standen. Doch als Lisa im Privatleben der drei Richter eine weitere verstörende Gemeinsamkeit entdeckt, gerät plötzlich eine Person ins Visier, die einer an den Ermittlungen beteiligten Polizeibeamtin viel zu nahe steht …

Von Seiten der Staatsanwaltschaft hat Thomas von Fehrbach den Fall übernommen. Er ahnt nicht, dass er unter Beobachtung von Jegor Stepanow steht, dem Mann, dessen Bruder Lew er während seiner Dienstzeit in Frankfurt hinter Gitter gebracht und der ihm bei seiner Verurteilung Rache geschworen hat.

Inhaltsübersicht

MottoPrologMittwoch, 22. OktoberDonnerstag, 23. OktoberFreitag, 24. OktoberSamstag, 25. OktoberSonntag, 26. OktoberMontag, 27. OktoberDienstag, 28. OktoberMittwoch, 29. OktoberVier Wochen späterDanksagung
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»Die Grenze zwischen Gut und Böse verläuft durch das Herz eines jeden Menschen.«

Alexander Solschenizyn

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Prolog

Als der silberfarbene Learjet zum Landeanflug auf den Airport Kiel ansetzte, öffnete Jegor Stepanow die Augen. Während des Flugs hatte er die Piloten, deren leise Stimmen von Zeit zu Zeit durch die halb geöffnete Cockpittür zu ihm drangen, in dem Glauben gelassen, er würde schlafen. Andernfalls hätte sich der Copilot bemüßigt gefühlt, in regelmäßigen Abständen nach ihm zu sehen, um zu erfragen, ob er etwas benötige, einen Drink vielleicht oder einige der vorbereiteten Köstlichkeiten, mit denen der Catering-Service den Kühlschrank im Heck des Jets vor dem Abflug aus St. Petersburg aufgefüllt hatte. Und derlei Störungen hatte Stepanow vermeiden wollen.

Er brauchte Ruhe. Nicht, um den Plan zu überdenken, der stand seit Wochen und bedurfte keiner weiteren Korrektur. Nein, die Ruhe diente einem anderen Zweck. Es war ein Innehalten, ein Sammeln vor dem entscheidenden Tag, von dem Stepanow immer gewusst hatte, dass er kommen würde. Kommen musste, so unweigerlich, wie auf Ebbe die Flut folgte.

Sein Blick wanderte zur Kabinenwand und nahm die Fotos der beiden Männer in den massiven Silberrahmen in Augenschein, die dort in einer Halterung befestigt waren. Das Gesicht des Mannes zur Linken mit den kurz getrimmten Haaren, den tiefliegenden wasserblauen Augen und dem vollen, sinnlichen Mund schien ihn vorwurfsvoll anzustarren.

Warum hast du mich nicht beschützt, großer Bruder? Warum hast du zugelassen, dass sie mich wie einen räudigen Hund erschlagen haben?

Ja, er hatte versagt, und dieser Umstand sowie das damit verbundene Schuldgefühl würden ihn bis an sein Lebensende verfolgen. Lew war verhaftet und zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden, und er, der einmal geschworen hatte, seinen kleinen Bruder zeit seines Lebens zu beschützen, hatte nichts dagegen unternehmen können. Nachdem er seinerzeit erfahren hatte, in welcher Haftanstalt Lew einsaß, hatte er alles darangesetzt, ihn vor den Gefahren, die dort auf ihn lauern würden, zu schützen. Aber auch in dieser Beziehung war er gescheitert. Vor knapp zwei Monaten hatte man Lew in einem Kellerraum der Frankfurter JVA aufgefunden, bis zur Unkenntlichkeit zusammengeschlagen und schließlich an seinem eigenen Blut erstickt. Wer dafür verantwortlich war, hatte bis jetzt nicht ermittelt werden können.

Stepanow wandte seinen Blick dem Foto im rechten Silberrahmen zu. Das Gesicht des Mannes darauf war älter, mit gut geschnittenen Zügen, ein Frauentyp, in dessen dunklen Augen Reserviertheit und ein Anflug von Arroganz lagen.

»Fehrbach!«

Stepanow spie den Namen heraus. Das Foto stammte aus einer Zeitung. Lews Anwalt hatte es ihm geschickt, damals während des Prozesses gegen seinen kleinen Bruder. Es hatte einen Platz in Stepanows Brieftasche gefunden, damit er niemals vergaß, wie der Mann aussah, der seinen Bruder hinter Gitter gebracht hatte. Nach Lews Tod hatte Stepanow Fehrbachs Foto in einem zweiten Silberrahmen untergebracht, der nun als eine Art ständiger Mahnung neben dem Foto seines toten Bruders stand, zu Hause in der großen Villa in St. Petersburg oder wie jetzt im Flugzeug. Wenn sie gelandet waren, würde Stepanow die beiden Bilderrahmen wieder in seinem Aktenkoffer verstauen. Irina hatte ihn einmal gefragt, warum er sie ständig mit sich herumtrüge. Er war ihr die Antwort schuldig geblieben, denn sie hätte es nicht verstanden.

Der erste Anschlag auf Fehrbach war misslungen. Sie hatten sich mit seiner Frau begnügen müssen, und bisweilen hatte sich Stepanow mit dem Gedanken getragen, es dabei zu belassen, da mit ihrem Tod schon ein großer Teil der Rechnung beglichen worden war und ein Anschlag auf Fehrbach zu viel Staub aufwirbeln könnte. Aber dann war Lew umgekommen, und deshalb hatte sich Stepanow jetzt auf den Weg nach Kiel gemacht, die Stadt, in der er schon diverse Geschäfte getätigt hatte und einigen Einfluss besaß.

Um die Rechnung endlich gänzlich zu tilgen.

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Mittwoch, 22. Oktober

Da Kriminalhauptkommissarin Lisa Sanders die Örtlichkeiten am Schönberger Strand kannte, fand sie die von den Kollegen am Telefon durchgegebene Adresse sofort. Nur Augenblicke nachdem sie vom Holunderbusch in den Schlehenkamp eingebogen war, tauchte ein Polizeiaufgebot vor ihr auf, wie es die Bewohner dieses schmucken Neubauviertels mit Sicherheit noch nicht zu Gesicht bekommen hatten. Streifenwagen, neutrale Personenwagen der Kripo, der blaue VW-Bus der Spurensicherung, ein Rettungswagen, offensichtlich gerade im Aufbruch begriffen, ein Leichenwagen, Kollegen in Uniform und Zivil, im Gespräch beieinanderstehend oder in einsamen Fußmärschen begriffen, das Handy am Ohr. Das Szenario hatte den Anschein einer Invasion und wollte so gar nicht in diese ruhige Gegend passen, die an diesem goldenen Herbstmorgen so jäh aus ihrer Idylle gerissen worden war.

Lisa parkte den Wagen neben zwei großen Mülltonnen am Straßenrand und begab sich zu dem Beamten der Schutzpolizei, der an einem Absperrband wachte, hinter dem eine schmale Straße, der Weidenweg, zu mehreren Häusern führte.

»Ihre Kollegen sind da drüben«, meinte er und wies mit dem Kopf in Richtung eines Hauses mit weißer Rauhputzfassade und schwarzem Walmdach, das am Ende der Straße auf der linken Seite lag. Beim Näherkommen wurde Lisa auf ihren Vorgesetzten Ralf Södersen und den Kollegen Frank Bergmann aufmerksam, die inmitten einer Gruppe von Schutzpolizisten und Beamten des Kriminaldauerdienstes vor dem gepflegten und mit einer Friesenmauer umgebenen Vorgarten des Hauses standen und offensichtlich gerade bei der Aufgabenverteilung waren.

»Moin«, grüßte Lisa, nachdem sie die Kollegen erreicht hatte.

»Kommst du auch endlich mal an Land?«, gab Södersen zur Antwort und blickte sie missmutig an.

»Ich war beim Zahnarzt, das hatte ich doch am Telefon gesagt.«

»So lange?«

»Ja, so lange! Man kann nicht mitten in einer Wurzelbehandlung vom Stuhl hopsen. Der Zahnarzt hat mich eh schon angegiftet, weil ich mein Handy nicht ausgestellt hatte.« Du meine Güte! War Södersen etwa heute Morgen schon wieder mit dem linken Fuß aufgestanden? Das konnte ja heiter werden. Sie beschloss, seinen Anraunzer zu ignorieren, und deutete Richtung Haus. »Das Opfer ist also erneut ein Richter.«

Bergmann nickte. »Raimund Egner, ebenfalls Richter am Landgericht Kiel.«

»Dann müssen wir jetzt wohl von einer Serie ausgehen, oder?«

»Schwer zu sagen, da das heutige Opfer etwas anders zu Tode gekommen ist als das erste«, entgegnete Södersen mit grimmigem Gesicht und reichte ihr einen eingeschweißten Schutzanzug. »Aber vielleicht will uns hier auch nur jemand glauben machen, dass wir es mit unterschiedlichen Tätern zu tun haben. Denn es ist doch ziemlich unwahrscheinlich, dass im Abstand von nur einer Woche zwei Richter vom Kieler Landgericht von zwei unterschiedlichen Tätern umgebracht werden. Mal sehen, wie die Kollegen der OFA das beurteilen. Ich hab sie angefordert, sie sind auf dem Weg.«

»Das ganze Team?«, fragte Bergmann erstaunt.

»Ja. Hendrik Falkner ist immer sehr daran gelegen, dass alle aus seinem Team einen Tatort zu sehen bekommen.«

»Aber die OFA wird doch jetzt von einer Frau geleitet«, warf Lisa erstaunt ein. »Oder ist da irgendwas an mir vorbeigegangen?«

»Nee«, entgegnete Södersen. »Falkner ist nach wie vor der Stellvertreter, was ich persönlich sehr bedaure. Und da ich seine neue Vorgesetzte noch nicht kenne, halte ich mich an ihn. Schließlich sind wir bisher immer gut mit ihm gefahren, und die Analysen haben uns häufig weitergeholfen. Wer weiß, wie das jetzt wird …«

»Manchmal bist du ein richtiger Chauvi«, sagte Lisa grinsend.

»Bin ich nicht! Aber was man so hört, soll die Neue eine ziemliche Zicke sein, und so was brauch ich nicht.«

Offensichtlich war Södersen heute wirklich mit dem falschen Fuß aufgestanden, denn wenn sich hier einer zickig gebärdete, dann ja wohl er. »Und wo liegt nun der Unterschied zwischen den beiden Delikten?«, brachte Lisa das Gespräch auf den Ausgangspunkt zurück.

»Das Opfer von vergangener Woche wurde zuerst mit einem Taser außer Gefecht gesetzt und dann mit einem Genickschuss getötet. Bei dem heutigen Opfer kam nur der Taser zum Einsatz, der Schuss entfiel.«

Das war in der Tat interessant. »Vielleicht haben die Stromschläge ausgereicht, um den Mann zu töten. Falls er zum Beispiel eine Herzschwäche oder etwas Ähnliches hatte.«

Södersen sah Lisa mit einem nachdenklichen Blick an. »Den Gedanken hatte ich auch schon. Dann hätte der Täter aber über medizinische Kenntnisse verfügen müssen, um festzustellen, dass sein Opfer wirklich tot ist.«

Lisa riss die Folie auf und faltete den Schutzanzug auseinander. Nachdem sie ihn übergestreift hatte, machte sie sich auf den Weg zur Eingangstür.

Zwei getötete Richter innerhalb einer Woche. Klaus Harmsen war am 14. Oktober in seinem Zweitwohnsitz in Scharbeutz umgebracht worden, und jetzt hatte es Raimund Egner am Schönberger Strand erwischt. Der Mord an Harmsen hatte den Anschein einer Exekution gehabt, und zum Glück war es ihnen bisher gelungen, diesen Aspekt vor der Presse geheim zu halten, die seit einer Woche kein anderes Thema zu kennen schien, obwohl nur spärlichste Informationen von der Pressestelle der Polizei herausgegeben worden waren. Oder vielleicht gerade deshalb, denn so war Raum für die wildesten Spekulationen. Lisa mochte gar nicht daran denken, was jetzt los sein würde. Eine Pressekonferenz wäre unumgänglich. Der Druck von oben war bereits nach dem ersten Tötungsdelikt enorm gewesen. Nun dürften ihre Vorgesetzten kein Halten mehr kennen. Bei der Aufklärung eines solchen Deliktes sollte es keine Unterschiede geben, aber Lisa hatte schon häufiger die Erfahrung gemacht, dass viele Chefs das anders sahen. So auch nach dem Mord an Harmsen. Södersen hatte von ganz oben die Direktive erhalten, dass das Tötungsdelikt zum Nachteil Klaus Harmsens absolute Priorität habe. Zum Nachteil … Die Polizeisprache hatte manchmal etwas Beschämendes, wie Lisa fand. Ebenso wie die Anweisung, die der ersten auf dem Fuße gefolgt war. »Falls Ihnen ein toter Obdachloser dazwischenkommt, der ist zweitrangig.« Profilierungsneurosen hochrangiger Beamter, denen Södersen auch diesmal wie bereits in der Vergangenheit mit Verachtung und noch größerer Sturheit begegnet war.

»Ist es denn abgesehen von der Tötungsart wieder dieselbe Vorgehensweise gewesen?«, fragte Lisa, nachdem sie in den Hausflur getreten waren. Sie blickte zu Dr. Karstens hinüber, der einen guten Meter hinter der geöffneten Tür neben der Leiche des Richters kniete.

»Ja«, antwortete Bergmann. »Auch hier stand die Terrassentür offen, und die Haustür war nur ins Schloss gezogen. Keine Fußspuren im Außenbereich.«

»Wer hat den Toten gefunden?«

»Eine Schutzpolizistin aus Schönberg«, sagte Bergmann. »Einer Nachbarin war heute Morgen gegen sechs die offen stehende Terrassentür aufgefallen, als sie mit ihrem Hund zum Deich wollte. Das war ihr wegen der frühen Uhrzeit und des schlechten Wetters komisch vorgekommen. Um die Zeit hat es hier nämlich noch kräftig geregnet, wie sie mir sagte. Die Frau hat sich allerdings nicht ins Haus getraut und deshalb die 110 angerufen. Die Leitstelle hat dann die Kollegin in Schönberg verständigt, die Bereitschaftsdienst hatte.«

»Wieso haben die nur eine Beamtin hergeschickt?«, fragte Lisa erstaunt. Seit der Umstrukturierung der Polizei im Kreis Plön, welche die Schließung kleinerer Stationen und die Aufwertung der Dienststellen in Schönberg, Lütjenburg und Plön beinhaltet hatte, sollten eigentlich immer zwei Beamte rausgeschickt werden. Übliche Praxis in den Städten, allein schon zum Schutz der Kollegen, in ländlichen Gebieten aufgrund von Personalknappheit allerdings selten der Fall. Offensichtlich hatte sich hier trotz Umstrukturierung nicht viel verändert.

»Keine Ahnung.« Bergmann zuckte mit den Schultern.

»Kannte die Nachbarin den Toten?«

»Sie hat gesagt, nein. Die Frau wohnt einige Straßen entfernt und kommt auch nicht jeden Tag hier vorbei. Ihre Überprüfung läuft.«

»Gibt es schon einen Hinweis, um welche Uhrzeit die Tat geschehen sein könnte?«

Bergmann schüttelte den Kopf. »Malte und Grothmann sind gerade auf Nachbarschaftstour. Hoffen wir mal, dass da jemand was mitbekommen hat.«

»Wo ist die Kollegin aus Schönberg?«

Bergmann warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Mittlerweile dürfte sie wohl im Krankenhaus sein. Das Mädchen hat das große Kotzen gekriegt, der ist total der Kreislauf weggesackt. War wohl ihr erster Toter. Die Sanis meinten, dass es besser wäre, sie zur Beobachtung mitzunehmen.«

O ja, das kannte Lisa gut. Ihr war es allerdings erst bei der vierten Leiche passiert, als sie sich bereits abgehärtet geglaubt hatte. Aber der Anblick des von Maden übersäten weiblichen Körpers, der sechs Wochen lang vergessen in einem Drecksloch in Kiel-Gaarden gelegen hatte, war dann doch zu viel für sie gewesen. Sie hatte sich die Seele aus dem Leib gekotzt.

»Wie heißt die Kollegin?«

Bergmann sah in seinen Notizblock. »Martina Falkner.«

Lisa zog die Augenbrauen hoch. »Martina?«

»Du kennst sie?«

»Ja. Sie ist die Tochter von Hendrik Falkner.«

Lisa musste schmunzeln. Sie hatte Martina vor zwei Jahren auf einer Weihnachtsfeier im LKA kennengelernt, zu der Falkner seine Tochter mitgenommen hatte. Sie hatte die Lütte, wie sie Martina insgeheim nannte, sofort in ihr Herz geschlossen, vielleicht auch, weil sie Erinnerungen an ihre eigenen Anfänge in ihr hervorrief. Die junge Frau sprühte vor Leben, war ehrgeizig und wild entschlossen, ihrem Vater zu zeigen, dass sie eine gute Polizistin war. Dass Falkner mit der Berufswahl seiner Tochter nicht einverstanden war, hatte er Lisa am Ende des Abends nach mehreren Gläsern Wein anvertraut. Von Martina hatte sie an demselben Abend erfahren, dass ihr dieser Umstand scheißegal war und sie es satthatte, dass ihr Vater immer noch das kleine Mädchen in ihr sah.

Lisa zurrte die Kapuze des Schutzanzugs fest und blickte sich um. Der Flur war in das Licht mehrerer auf Stativen befestigter LED-Schweinwerfer getaucht, die selbst die hintersten Ecken ausleuchteten. Der Tote lag auf dem grauen Laminatboden auf halber Höhe zwischen Haus- und Wohnzimmertür. Außer dem Rechtsmediziner umstanden ihn zwei Kollegen der Kriminaltechnik, die offenbar gerade mit ihrer Arbeit fertig waren. Der Körper des Mannes war mit durchnummerierten Folienstreifen abgeklebt, und auch die Aufnahme des 3-D-Laserscanners, womit ein Tatort »eingefroren« wurde, schien im Kasten zu sein, da der dafür zuständige Kollege die Ausrüstung einzupacken begann.

Vorsichtig setzte Lisa sich in Bewegung, um das Erdgeschoss zu erkunden. Es wurde von der Farbe Grau in den unterschiedlichsten Abstufungen sowie von Chrom, Glas und moderner Kunst dominiert. Letztere präsentierte sich in diversen Skulpturen und Gemälden, mit denen selbst Küche und Gästetoilette ausgestattet waren, wie Lisa mit kurzen Seitenblicken durch offen stehende Türen feststellen konnte.

Der Blick ins Wohnzimmer offenbarte eine elegante schwarze Ledergarnitur mit dazugehörigen Sesseln sowie einen gläsernen Couchtisch und eine TV- und Hi-Fi-Ausstattung, die ebenfalls nicht billig gewesen zu sein schienen. Im Hintergrund des Zimmers gaben drei bodentiefe Sprossenfenster den Blick auf eine geflieste Außenterrasse frei, auf der sich ein Ensemble aus hellen Rattanmöbeln sowie ein großer Strandkorb mit blau-weißer Streifenmusterung befanden. Im Anschluss daran erstreckte sich eine gepflegte Rasenfläche, die zur Promenade, dem unterhalb des Deiches verlaufenden Weg, von einer halbhohen Rhododendronhecke mit einer kleinen Tür darin begrenzt wurde.

»Ist Herr Egner schon offiziell identifiziert worden?«, fragte Lisa, nachdem sie in den Flur zurückgekehrt war.

»Ja, von mir«, war die Stimme von Dr. Martin Karstens zu vernehmen, der wieder neben dem Toten kniete.

Lisa trat zu ihm. »Woher kannten Sie ihn?«

Karstens erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung. Er wirkte fit, mehr, als es sein vor drei Monaten verabschiedeter Vorgänger Hesse, den Lisa schmerzlich vermisste, jemals gewesen war. Hesse war ein Genussmensch, wohlgenährt, mit fast immer guter Laune. Karstens hingegen erweckte den Eindruck eines Asketen, der sich vieles versagte und dementsprechend auch meistens mit schlechter Laune durch die Gegend ging. Lisa hatte gehört, dass er bereits dreimal am Wettbewerb des Ironman Germany teilgenommen hatte, der jedes Jahr im Sommer in Frankfurt und Umgebung ausgetragen wurde.

»Von einer Gerichtsverhandlung.« Eine kurze Verärgerung flog über das Gesicht des Rechtsmediziners. Die Erinnerung schien somit keine angenehme zu sein.

»Ja …?«, sagte Lisa auffordernd.

»Es ging um eine Rentnerin, die vor anderthalb Jahren in Kiel zu Tode gekommen ist. Sie war auf dem Rückweg von einem Einkauf, als vor ihr ein Wagen in eine Parklücke einzuparken versuchte. Da die Lücke zu klein war, stellte der Fahrer sein Fahrzeug quer, was dazu führte, dass er fast den gesamten Bürgersteig versperrte. Als die Frau ihn bat, seinen Wagen ordnungsgemäß zu parken, weil sie mit ihrem Rollator nicht daran vorbeikäme, ist der Mann ausgerastet. Er schlug ihr ohne Vorwarnung mit der Faust ins Gesicht, woraufhin die Frau zu Boden fiel und ihr Kopf mit voller Wucht auf das Pflaster knallte. Als ihr eine andere Frau zu Hilfe eilen wollte, hat der Mann auch sie mit Schlägen traktiert. Zum Glück kam gerade ein Streifenwagen vorbei, sonst hätte sie die Sache womöglich nicht so glimpflich überstanden. Die alte Dame hat einige Tage im Koma gelegen, dann ist sie verstorben. Ich habe sie obduziert und wurde von der Staatsanwaltschaft als Sachverständiger geladen. Richter Egner schien kein großes Interesse an meinen Ausführungen zu haben, und er hat auch keinen einzigen Blick auf die mitgebrachten Fotos von der Leichenschau geworfen. Als er schließlich das Urteil verkündete, gab es Tumulte im Gerichtssaal. Ein Jahr und zehn Monate, weil Richter Egner im Gegensatz zum Staatsanwalt keinen Tötungsvorsatz sah. Dem bereits mehrfach vorbestraften Angeklagten war vom Gutachter eine unterdurchschnittliche Intelligenz bescheinigt worden, was bedeute, dass er nicht in der Lage sei, die Folgen seiner Taten zu begreifen. Außerdem hätten nicht die Schläge zum Tod der Frau geführt, sondern die Tatsache, dass sie mit dem Hinterkopf auf das Pflaster aufgeschlagen sei.«

Lisa erinnerte sich an das Geschehen, die Medien hatten es danach aufgegriffen. Sie selbst hatte das Ganze nur am Rande mitbekommen, da das K1 seinerzeit in Arbeit erstickte und eine zweite Mordkommission ins Leben gerufen worden war, die den Fall bearbeitete. Sie musterte Karstens, in dessen Stimme eine unterdrückte Erregung gelegen hatte, und fragte sich, ob ihr bisheriges Bild von ihm wirklich den Tatsachen entsprach. Sie hatte ihn bislang in die Ecke unnahbar und desinteressiert an seinen Mitmenschen gestellt, aber dem Mann, der jetzt vor ihr stand, schien das damals Erlebte noch immer nahezugehen.

»Kannten Sie Richter Harmsen auch persönlich?«

Karstens schüttelte den Kopf. »Nein. Den habe ich zum ersten Mal bei mir auf dem Tisch gesehen.« Er gab den beiden Bestattern, die vor dem Eingang ausharrten, das Zeichen, noch einen Augenblick zu warten.

Lisa sah sich den Toten näher an. Er lag auf dem Rücken und war mit einer schwarzen Stoffhose und einem kurzärmeligen hellblauen Hemd bekleidet. Sein Bauch stach wie eine Kugel in die Luft. Ende vierzig, schätzte Lisa, und allem Anschein nach schon vollkommen außer Form, wovon seine unförmigen Gliedmaßen zeugten. Der bullige Kopf mit den schwindenden mausgrauen Haaren ging ohne die Andeutung eines Halses in den wulstigen Schulterbereich über. Sie beugte sich weiter hinunter. »Sie gehen davon aus, dass der Mann ebenso wie das erste Opfer mit einem Taser außer Gefecht gesetzt wurde?«, fragte sie Karstens.

»Ja, schauen Sie.« Der Rechtsmediziner deutete auf den linken Unterarm, wo kurz unter der Ellenbeuge mehrere stecknadelgroße rötlich braune Markierungen zu erkennen waren. »Strommarken.«

Lisa nickte. Dieser Anblick hatte sich ihnen bereits bei dem ersten Opfer geboten. »Aber der Genickschuss entfiel. Demnach könnten wir es also mit zwei Tätern zu tun haben?«

Karstens zuckte mit den Schultern. »Das herauszufinden ist Ihre Sache.«

»Es besteht doch aber auch die Möglichkeit, dass bei Richter Egner aufgrund einer Vorerkrankung bereits die Stromschläge ausgereicht haben, um ihn zu töten.«

»Natürlich besteht diese Möglichkeit. Das wird die Obduktion ergeben.« Karstens erhob sich. »Ich bin hier durch. Wenn Sie nichts mehr haben, lasse ich die Leiche ins Institut bringen.«

»Ich habe nichts mehr«, bestätigte Lisa. »Wann werden Sie ihn obduzieren?«

»Morgen früh als Erstes.« Karstens winkte den Bestattern, und Lisa ging noch einmal ins Wohnzimmer zurück, wo sie ans Fenster trat und gedankenverloren auf die scheinbare Idylle dahinter schaute.

Auf den ersten Blick deuteten die unterschiedlichen Tötungsarten tatsächlich auf zwei Täter hin. Aber wie wahrscheinlich war diese Hypothese? An beiden Tatorten war ein Taser zum Einsatz gekommen, und selbst wenn es nicht so gewesen wäre, erschien es doch ziemlich unwahrscheinlich, dass sich fast zeitgleich zwei Menschen aufgemacht hatten, um Rache an Mitgliedern eines bestimmten Berufsstandes zu üben.

Richter Harmsen war für seine milden Urteile bekannt gewesen und in der Presse häufig als Richter Gnädig bezeichnet worden, was unter Umständen auch auf Richter Egner zutraf. Zumindest ließen die Worte des Rechtsmediziners darauf schließen.

Möglicherweise lag das Motiv in diesen Urteilen, und ein oder zwei selbsternannte Rächer hatten sich aufgemacht, da sie in ihrer kruden Gedankenwelt durch den Tod der Richter wieder ein Stück Gerechtigkeit herzustellen glaubten.

Nein. Wie sie es auch drehte und wendete, die Theorie von zwei Tätern erschien ihr einfach zu weit hergeholt. Viel wahrscheinlicher war das, was Södersen vorhin gesagt hatte. Der Täter variierte die Tötungsarten, damit sie auf genau diesen Gedanken verfielen. Oder aber ihre Überlegung von einer Vorerkrankung Egners stimmte. Sie war gespannt auf das Ergebnis der Obduktion und die Beurteilung der Kollegen von der Operativen Fallanalyse.

»Was grübelst du?«, fragte Bergmann, der neben sie getreten war. Sie erzählte es ihm, und er nickte. »Da ist was dran. Die Annahme, dass wir es mit zwei Tätern zu tun haben, erscheint mir auch ziemlich weit hergeholt.«

»Seit wann wohnt Egner eigentlich hier?«

»Seit zehn Jahren. Vorher stand hier eine abbruchreife Bude, wie mir eine Nachbarin erzählt hat. Nachdem der Besitzer gestorben war, sind noch ein paar Jahre ins Land gegangen, bis die Besitzverhältnisse geklärt waren. Egner hat dann das alte Haus abreißen und dieses hier bauen lassen.«

»Ganz arm scheint der Mann nicht gewesen zu sein, wenn ich mir das hier so ansehe. Ich verstehe zwar nichts von Kunst, aber die Gemälde und Skulpturen dürften einiges wert sein.«

»Wieso verstehst du nichts von Kunst? Ich denke, du bist mit einem Maler liiert.«

»Nicht mehr«, sagte sie und wandte den Kopf ab. Ihre Trennung von Peter Lannert war nach einem bösen Streit vor einem Monat erfolgt, als er sie wieder einmal mit seiner Eifersucht auf die Palme gebracht hatte. Seitdem hatte er sie mit Anrufen und Mails traktiert und mehrere Male sogar vor ihrer Wohnungstür gestanden. Sie hatte ihm mehr als einmal eine deutliche Ansage gemacht und hoffte inständig, dass er die Trennung endlich akzeptieren und sich nicht in Richtung Stalker entwickeln würde.

»Aha.«

Lisa linste zu Bergmann hinüber, da sie nicht sicher war, ob diesem einen Wort jetzt noch Fragen folgen würden. Auf Erklärungen hatte sie nämlich überhaupt keine Lust. Aber ihr Kollege hielt sich zurück, und sie war ihm dankbar dafür.

»Was machen Sie denn hier?«, war da plötzlich Södersens erstaunte Stimme zu vernehmen, der offenbar die Inspektion des Obergeschosses abgeschlossen hatte und gerade zu ihnen getreten war. Mit leichter Irritation blickte der Leiter der Mordkommission zu dem Mann hinüber, der in der Wohnzimmertür stand.

»Wie ich höre, ist ein weiterer Richter zu Tode gekommen«, gab Fehrbach zur Antwort, nachdem er den Raum betreten und Södersens Hand gedrückt hatte.

»Ja … aber …« Es kam nur selten vor, dass Södersen aus dem Takt geriet. »Für den ersten Fall war doch Staatsanwalt Hensel zuständig. Macht er denn jetzt nicht weiter?«

»Herr Hensel hatte auf dem Weg zur Arbeit einen Fahrradunfall. Er hat einen Beinbruch erlitten und ist bereits im Krankenhaus.« Fehrbachs Stimme klang seltsam teilnahmslos. Er sandte ein flüchtiges Nicken in Lisas und Bergmanns Richtung, bevor er auf den Flur zurückging, wo die Bestatter gerade dabei waren, Egners Leiche in einen Zinksarg zu legen.

Nachdem Lisa ihre Schrecksekunde überwunden hatte, folgte sie ihren Kollegen auf den Flur und beobachtete, wie Fehrbach einen Blick auf den Toten warf und dann einige Worte mit Dr. Karstens wechselte. Sie hatte Fehrbach seit längerem nicht mehr gesehen, was ausgesprochen gut für ihr Seelenleben gewesen war. Allerdings hatte sie sich keine Illusionen darüber gemacht, dass dieser Zustand von Dauer sein würde. Die Arbeit würde sie zwangsläufig immer wieder zusammenführen.

Er wirkte gehetzt und vollkommen überarbeitet. Lisa war zu Ohren gekommen, dass Dr. Norbert Sievers, der Leitende Oberstaatsanwalt, seit über einem Vierteljahr krankgeschrieben war. Hinter vorgehaltener Hand wurde etwas von einer Krebserkrankung gemunkelt. Da Fehrbach Sievers’ Stellvertreter war, hatte er nun auch noch dessen Aufgaben übernehmen müssen, was angesichts der anhaltenden Arbeitsüberlastung der Staatsanwaltschaft im Grunde eine Zumutung war.

Während Södersen Fehrbach Bericht erstattete, betrat eine Frau das Haus, und jeder schien instinktiv zu wissen, um wen es sich handelte, auch wenn sie bisher noch niemand zu Gesicht bekommen hatte.

Lea Nordin. Schlanke Figur, dunkelgrauer Hosenanzug, dazu passende Pumps. Hochgestecktes blondes Haar, dunkelblaue Augen, denen nichts zu entgehen schien. Seit einem halben Jahr Leiterin der Operativen Fallanalyse, davor lange Zeit bei einer Mordkommission in Hamburg tätig gewesen. Zweiundvierzig Jahre alt, Kriminaloberrätin, eine beachtliche Karriere.

Und ein Ruf wie Donnerhall, dachte Lisa, als sie Nordin dabei beobachtete, wie diese in die Schutzkleidung stieg.

Södersen machte sich mit Nordin bekannt und stellte sie dann seinen Mitarbeitern und Fehrbach vor. Nordin ersparte sich eine persönliche Begrüßung, nickte stattdessen nur jedem kurz zu, was einen Scan vom Kopf bis zu den Füßen einschloss. Lisa empfand eine spontane Abneigung und Mitleid mit Falkner, dass diese Frau jetzt seine Vorgesetzte war. Im nächsten Moment glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen, als sie auf den Mann aufmerksam wurde, der hinter Nordin ins Haus gekommen war und bereits die Schutzkleidung trug. »Luca?«

Er war es tatsächlich, Luca Farinelli, ihr ehemaliger Kollege und guter Freund, der das K1 vor einiger Zeit verlassen hatte, nachdem es ihm endlich gelungen war, den begehrten Ausbildungsplatz zum Fallanalytiker zu ergattern. Dem Umzug nach Wiesbaden, wo das BKA seinen Sitz hatte, waren lange Diskussionen mit seiner Frau Anja vorausgegangen, die kurz vorher ihr erstes Kind zur Welt gebracht hatte. Mit viel Überzeugungskraft war es Anja schließlich gelungen, ihrem Mann klarzumachen, dass er seinen beruflichen Traum nicht aufgeben solle. Lisa hatte ihn ebenfalls darin bestärkt, und so war Luca schließlich von dannen gezogen, mit einem Rest schlechten Gewissens, aber ebenso in dem vollen Bewusstsein, dass seine Frau im Schoß seiner italienischen Großfamilie gut aufgehoben war.

»Luca!« Lisa hätte ihn am liebsten in die Arme geschlossen, drückte angesichts der Situation aber nur kräftig seine Hände. »Was machst du denn hier?«

»Ich kann Teile meiner Ausbildung in Kiel absolvieren. Ist das nicht toll?«

Das war in der Tat eine wunderbare Nachricht. »Seit wann bist du wieder hier?«

»Seit vorgestern. Tut mir leid, aber ich bin noch nicht dazu gekommen, mich bei dir zu melden.« Er strahlte sie an, und Lisa stellte fest, dass er sich kein bisschen verändert zu haben schien. Ein warmes Glücksgefühl erfüllte sie, und ihr wurde einmal mehr bewusst, wie sehr sie ihn vermisst hatte.

»So, Leute, Schluss mit den Privatgesprächen. Macht euch an die Arbeit.«

Södersen gab sich bärbeißig, konnte aber ein Schmunzeln angesichts der Wiedersehensfreude von Lisa und Luca nicht verbergen. Die seine brachte er durch mehrfaches herzhaftes Klopfen auf Lucas Rücken zum Ausdruck, was jeden Willkommensgruß überflüssig machte.

Nordins Stimme setzte dem Treiben ein abruptes Ende. Heiser schallte sie durch den Flur, und Lisa fühlte sich an die Schauspielerin Mechthild Großmann erinnert, die im Münsteraner Tatort die Staatsanwältin gab. »Wo sind die Kollegen?«, fragte Nordin, an Luca gewandt.

»Wohl noch auf der Suche nach einem Parkplatz«, meinte dieser und zwinkerte Lisa kurz zu.

»Nee, nicht mehr.« Ein Mann betrat das Haus, drei weitere folgten ihm, alle ebenfalls schon in Schutzkleidung gewandet – Hendrik Falkner, Clemens Richter, Lorenz Prahl und Dr. Michael Böttcher. Böttcher war der Rechtsmediziner des Teams, Prahl der forensische Psychologe, Richter der Experte im Bereich der Spurensicherung. Falkner gehörte der OFA seit bald zehn Jahren an und hatte davor im Bereich der Rauschgiftkriminalität im LKA gearbeitet. Jeder hatte damit gerechnet, dass er der neue Leiter der OFA werden würde. Was er von seiner neuen Chefin hielt, war seinem Gesichtsausdruck nicht zu entnehmen. Es bedurfte allerdings keiner allzu großen Fantasie, um vorauszusehen, dass es für beide Seiten keine angenehme Zusammenarbeit werden würde. Falkner war an die eins neunzig groß und auch mit fünfzig Jahren noch durchtrainiert bis auf die Knochen. Ein hartes Training halte nicht nur seinen Körper fit, sondern auch seinen Geist wach, wie er häufiger gegenüber weniger sportlichen Personen betonte. Was Sport und Fitness anbelangte, hielt Lisa ihn für einen absoluten Freak. Ansonsten konnte sie gut mit ihm und seinen Kollegen, die sie alle schon länger kannte.

»Moin, Kollegen.« Im Gegensatz zu Nordin begrüßten die Neuankömmlinge alle Anwesenden mit Handschlag. Als Falkner zu Lisa trat, zog er sie kurz beiseite.

»Wo ist Martina? Ich hab gehört, sie hat den Toten gefunden.«

Lisa reagierte sofort. »Sie musste in die Dienststelle zurück.«

»War sie okay? Immerhin war es ihre erste Leiche.«

»Alles in Ordnung, mach dir keinen Kopf. Deine Tochter ist hart im Nehmen, das hat sie von dir.« Lisa schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass Falkner nichts von Martinas Missgeschick erfahren würde. Zu ihrer großen Erleichterung vertiefte er das Thema nicht weiter.

Fehrbach befand sich immer noch im Gespräch mit Dr. Karstens, und nachdem die Fallanalytiker ihre Arbeit aufgenommen hatten, beschloss Lisa, den ersten Stock des Hauses in Augenschein zu nehmen, Gästezimmer, Schlafzimmer, Arbeitszimmer, Bad. Einen Dachboden gab es nicht, ebenso wenig einen Keller, was für viele Gebäude in direkter Nähe zum Meer galt. Das Wasser drückte auf die Fundamente, was die Errichtung eines Kellers für die meisten Bauherren unerschwinglich machte.

Das Arbeitszimmer erweckte mit seiner Schrankwand aus gebürstetem Stahl, dem mit schwarzem Leder bezogenen Arbeitsstuhl sowie einem Schreibtisch mit zwei nebeneinander plazierten Monitoren einen nüchternen Eindruck. Nichts Überflüssiges, was einen Menschen ablenken konnte.

Im Schlafzimmer herrschte wieder moderne Kunst vor, drei großformatige Bilder in Schwarz und Rot. Die Motive blieben für Lisa auch nach längerem Hinsehen im Dunkeln. Ebenso wie im Arbeitszimmer war auch hier – zumindest dem ersten Anschein nach – nichts in Schränken und Schubladen verborgen, was einen Anhaltspunkt auf das Verbrechen geben konnte. Da mussten die Kollegen von der Spurensicherung ran.

Das Bett im Gästezimmer schien frisch bezogen. Ein schwacher Lavendelduft hing in der Luft, was auch für das Bad galt, das geradezu klinisch rein wirkte, als wäre erst vor Kurzem ein Putzgeschwader hindurchgefegt. Neidvoll blickte Lisa auf die blank gewienerten Kacheln und die Bodenfliesen, von denen man seine Mahlzeiten hätte einnehmen können. Himmel, wenn sie da an ihre Wohnung dachte. Wann hatte sie das letzte Mal Zeit gehabt, sie gründlich zu putzen? Bloß nicht darüber nachdenken. Eine über Eck eingebaute Badewanne mit Blick auf die Ostsee ließ ein kurzes Gefühl von Wehmut in ihr aufsteigen. So hatte sie sich ihr Badezimmer auch immer vorgestellt, aber es würde wohl bei dem Traum bleiben. Ansonsten fand sie auch hier nichts von Bedeutung.

Zurück im Erdgeschoss, blieb sie schließlich vor der Eingangstür stehen, um sich diese noch einmal genau anzuschauen. Die Tür wies keinerlei Spuren eines gewaltsamen Eindringens auf. Die Techniker hatten allerdings eine Vielzahl von Fingerabdrücken sichergestellt und diese auf Tatortspurenkarten erfasst, wie Alexander Behring, der Leiter der Spurensicherung, ihr in einem kurzen Gespräch mitteilte.

Lisa blickte sich um, als hinter ihr das typische Rascheln von Schuhüberziehern auf Laminatböden zu vernehmen war. Fehrbach hatte einige Mühe mit dem Abstreifen des Schutzanzugs und blieb schließlich neben ihr stehen, um sein Unterfangen zu Ende zu bringen.

»Hat Södersen Sie mit dem Tötungsdelikt von vergangener Woche vertraut gemacht?«, fragte sie ihn.

»Nur kurz«, kam es zurück, während Fehrbach den Schutzanzug zusammenknüllte und ihn dann Behring reichte, der eine Hand auffordernd danach ausgestreckt hatte. »Die neue OFA-Leiterin hat ihn sofort mit Beschlag belegt. Ich weiß nur, dass das Opfer von letzter Woche ebenso wie das heutige Richter am Landgericht Kiel war.«

»Kannten Sie die beiden Männer?«

»Nicht persönlich. Wenn ich mich recht erinnere, kamen sie allerdings immer mal wieder in der Medienberichterstattung vor. Richter Gnädig war da der allgemeine Tenor.«

Lisa nickte. »Ich kannte sie auch nicht persönlich. Dabei hatte ich gedacht, dass mir mittlerweile jeder unserer Richter über den Weg gelaufen wäre.«

»Was haben denn die Ermittlungen im ersten Fall bisher erbracht? Können Sie mir eine kurze Zusammenfassung geben, dann muss ich nicht die ganze Akte durchlesen.«

»Leider haben wir noch nicht viel herausfinden können«, musste Lisa zugeben. »Richter Harmsen hat keine Familie, Verwandte konnten wir noch nicht auftreiben. Was einen eventuellen Freundeskreis angeht, sieht es ebenfalls mau aus. Seine Nachbarn hier in Kiel und in Scharbeutz haben übereinstimmend ausgesagt, dass sie nie etwas von Besuch bei ihm mitbekommen hätten.«

»Eine Freundin oder ein Freund?«

»Ebenfalls Fehlanzeige. Im Augenblick deutet nichts darauf hin, dass der Täter im privaten Umfeld von Richter Harmsen zu finden ist. Wir bleiben da natürlich dran, aber uns scheint der dienstliche Bereich vielversprechender zu sein.«

»Lassen Sie mich raten. Richter Gnädig?«

»Genau. Richter Harmsen war aufgrund seiner milden Urteile häufiger Anfeindungen ausgesetzt, hauptsächlich natürlich in den sozialen Medien und in irgendwelchen Foren. Wie Sie ja vielleicht wissen, hat sein letzter Prozess die Öffentlichkeit mehr als ein halbes Jahr in Atem gehalten, woran die Medien einen nicht unwesentlichen Anteil trugen.«

Fehrbach runzelte die Stirn. »War das nicht diese lettische Autoknackerbande?«

Lisa nickte.

»Helfen Sie meinem Gedächtnis auf die Sprünge, ich hab das nicht mehr so ganz im Kopf.«

»Der Prozessbeginn liegt mittlerweile ein knappes Jahr zurück. Bei den Angeklagten hat es sich um fünf Mitglieder einer lettischen Bande gehandelt, die sich auf den Diebstahl von Luxusmarken spezialisiert hatte. Die Verhandlung war gleich zu Beginn geplatzt, weil die Verteidiger einen Schöffen wegen Befangenheit abgelehnt hatten. In der Folge sorgte dann ein Verfahrensfehler dafür, dass auch der zweite Anlauf im Keim erstickte, woraufhin in der Öffentlichkeit sehr intensiv die Frage diskutiert wurde, ob man eigentlich noch Vertrauen in die Kieler Justiz haben könne. Nachdem der Fall dann zum dritten Mal aufgerollt worden war, ging plötzlich alles ganz schnell. Die Autoknacker, deren Alter zwischen siebzehn und neunzehn Jahren lag, haben ihre Taten gestanden und vor Gericht die ganz große Reuenummer abzogen. Das hat ihnen Strafen zwischen sechs Monaten bis zu anderthalb Jahren eingebracht, wobei das Jugendstrafrecht zur Anwendung kam und die Strafen aufgrund ihres Alters alle zur Bewährung ausgesetzt wurden. Wo sich die Herrschaften mittlerweile aufhalten, ist nicht bekannt, aber es dürfte davon auszugehen sein, dass sie ihre Raubzüge in einem anderen Bundesland fortsetzen werden oder dies vielleicht schon getan haben.« Als Lisa seinerzeit das Urteil zu Ohren gekommen war, hatte sie nur den Kopf geschüttelt und sich gefragt, was eigentlich bei der deutschen Gerichtsbarkeit im Argen lag. »In Harmsens Fall ist eine Person in unseren Fokus gerückt«, fuhr sie fort. »Der Mann heißt Oliver Faber. Ihm gehörten zwei kleinere Autohäuser im Kieler Umland, die er vor fünf Jahren verkauft hat. Ein großer Teil des Erlöses floss in sein Flaggschiff in Scharbeutz. Die Bande hat den Laden komplett ausgeräumt und danach alles kurz und klein geschlagen. Da Faber mit seinen Versicherungsraten in Verzug war, hat er nur einen Bruchteil des Schadens ersetzt bekommen und steht jetzt vor dem Ruin. Er hat Harmsen mehrere Drohbriefe geschrieben, dass er ihn fertigmachen würde.«

»Hat Harmsen das angezeigt?«

»Ja, aber das scheint im Sande verlaufen zu sein.«

»Hat dieser Faber ein Alibi für die Tatzeit?«

»Seine Freundin hat angegeben, dass er zur fraglichen Zeit bei ihr war.« Lisa krauste die Nase. »Solche Alibis sind ja immer mit Vorsicht zu genießen. Bis jetzt können wir allerdings auch nicht das Gegenteil beweisen.«

Fehrbach sah sie nachdenklich an. »Da das heutige Opfer auch zu dieser Richter-Gnädig-Fraktion gehört, besteht die Möglichkeit, dass hier jemand als Rächer durch die Gegend zieht. Das könnte bedeuten, dass noch weitere Richter, die in der Vergangenheit ebenfalls milde Urteile gefällt haben, in Gefahr sind.«

Sein Ton ließ keinen Zweifel daran, dass auch er dieser Richtergruppe mit Skepsis, wenn nicht sogar mit Abneigung gegenüberstand. Was nicht verwunderlich wäre, denn bestimmt hatte er ebenfalls schon die Erfahrung machen müssen, dass ein beantragter Haftbefehl von einem Richter abgeschmettert wurde, weil dieser keine Haftgründe sah.

»Das werden wir jetzt als Erstes überprüfen. Und dann müssen wir diese Personen warnen und vielleicht sogar unter Schutz stellen.«

Während ihres Gesprächs hatte Fehrbach mehrere Male auf seine Armbanduhr geblickt. Erst nach ihren letzten Worten hatte Lisa das Gefühl, dass er sie zum ersten Mal, seitdem er das Haus betreten hatte, wirklich wahrzunehmen schien. Sie erinnerte sich an ihren letzten Fall, bei dem sie sich endlich zusammengerauft und zum ersten Mal Hand in Hand gearbeitet hatten, so wie es Polizei und Staatsanwaltschaft im Idealfall taten. Und auch privat hatten sie sich damals wieder angenähert. Fehrbach hatte sich geöffnet und ihr Dinge über den Mord an seiner Frau, sein nie versiegtes Schuldgefühl und den Hintergrund für seine Herabstufung zum Oberstaatsanwalt anvertraut. Dinge, von denen bestimmt nur wenige Menschen wussten, davon war sie überzeugt. Sie hatte es als einen großen Vertrauensbeweis empfunden.

»Geben Sie mir bitte Bescheid, wenn Sie Ihre Teambesprechungen haben. Ich stecke zwar bis zum Hals in Arbeit, aber ich will trotzdem versuchen, das eine oder andere Mal dazuzukommen«, sagte Fehrbach und warf dann noch einen Blick in Richtung Wohnzimmer. »Ist mit Herrn Södersen wieder alles in Ordnung?«

Lisa nickte. »So weit ja.«

Ihr Vorgesetzter hatte vor drei Monaten den Dienst wiederaufgenommen, und wie es aussah, waren die im Februar aufgetretenen gesundheitlichen Komplikationen endgültig ausgestanden. Nach der Zeit im Krankenhaus und einer anschließenden Reha war Södersen Mitte August mit Feuereifer in den Dienst zurückgekehrt. Manchmal hatte Lisa ihn zu stoppen und daran zu erinnern versucht, nicht gleich wieder aufs Ganze zu gehen und sich Pausen zu gönnen, aber sie war mit ihren Ermahnungen, die einer tiefen freundschaftlichen Sorge entsprangen, nicht unbedingt auf Verständnis gestoßen. Es gehe ihm gut und damit basta! Was das Zeigen körperlicher Schwäche anbelangte, unterschied sich der Leiter der Kieler Mordkommission nicht vom Rest der männlichen Bevölkerung. Er ignorierte sie schlichtweg.

»Das ist gut.« Fehrbach verabschiedete sich und verließ das Haus. Auf dem Gehweg kamen ihm Malte und Uwe entgegen. Ein kurzer Gruß wurde ausgetauscht, dann kamen ihre Kollegen herein.

»Und?«, fragte Lisa gespannt.

»Tja«, sagte Uwe gedehnt, »viel ist nicht bei unserer Tour rausgekommen. Die meisten der Wohnungen und Häuser werden an Feriengäste vermietet. Mehrere Eigentümer benutzen sie ausschließlich zum Eigenbedarf, aber die kommen dann auch alle von weiter her. Wenn die Saison vorbei ist, herrscht hier tote Hose. Das hat uns einer der wenigen Festansässigen erzählt, der Egner allerdings nur vom Sehen kannte.«

»Aber es müssen doch noch ein paar mehr Menschen dauerhaft hier wohnen, oder?«

»In diesem Neubaugebiet offensichtlich nicht«, sagte Malte. »Die Kollegen von der Polizeistation in Schönberg werden sich in den nächsten Tagen allerdings noch den ganzen Ort vornehmen.« Er blätterte seinen Notizblock auf. »Die Einzigen, die nach unseren bisherigen Erkenntnissen das ganze Jahr über in diesem Gebiet wohnen, sind der Mann, von dem ich eben sprach, Egners Nachbarin im Einzelhaus gegenüber und zwei ältere Ehepaare, von denen das eine in einem Mehrfamilienhaus im Schlehenkamp wohnt und das andere in einem Einzelhaus im Weißdornweg. Sie kannten Egner und haben auch hin und wieder ein paar Worte mit ihm gewechselt, wenn sie sich über den Weg gelaufen sind. Welchem Beruf Egner nachging, wussten sie allerdings nicht, ebenso wenig wie Dinge über sein privates Umfeld. Und etwas Auffälliges haben sie in den letzten Tagen auch nicht wahrgenommen. Sie haben uns allerdings darauf hingewiesen, dass Egners Nachbarin Lina Michelsen mehr über ihn wissen könnte.«

»Dann sollten wir sie sofort aufsuchen.«

»Das geht nicht«, sagte Malte. »Sie befindet sich seit einigen Tagen im Krankenhaus.«

»Weiß man, in welchem?«

Malte zückte wieder seinen Notizblock. »In der Uni-Klinik in Kiel. Die haben hier nichts in der Nähe.«

Lisa wandte sich an Bergmann, der zu ihnen gestoßen war. »Gibt es eigentlich eine Aussage von Martina Falkner?«

Ihr Kollege schüttelte den Kopf.

»In welches Krankenhaus wurde sie gebracht?« Sein Gesichtsausdruck gab ihr die Antwort. »Uni-Klinik.«

»Genau.«

»Okay.« Lisa ergriff ihren Rucksack, den sie auf dem Flur abgestellt hatte, und zog den Autoschlüssel aus der Vordertasche. »Dann werde ich mich jetzt mal auf den Weg nach Kiel machen und die beiden befragen. Wir sehen uns nachher in der Blume.«

Im Freien zog sie den Schutzanzug aus, den ihr ein Kollege der Kriminaltechnik abnahm. Während sie zu ihrem Wagen ging, wurde sie auf zwei Männer aufmerksam, die an einer Buchsbaumhecke lehnten und ihr neugierig entgegensahen. Sie stieß einen Seufzer aus, da sie eine ziemliche Aversion gegen die beiden hegte, weil sie zu der Sorte Journalisten gehörten, die man nicht mehr losbekam.

»Na, wieder unseren Funkverkehr gehackt?«, fragte sie spöttisch und öffnete die Wagentür. Die Bemerkung war rhetorisch gemeint, denn seit der Umstellung auf den Digitalfunk war so etwas nicht mehr möglich. Jetzt musste die Presse andere Wege beschreiten, um an aktuelle Informationen zu gelangen. Und wie es aussah, hatten diese beiden Gestalten Erfolg damit gehabt, wie auch immer sie es angestellt hatten.

Die Angesprochenen hoben die Hände in einer bedauernden Geste, die nicht zu dem breiten Grinsen in ihren Gesichtern passen wollte.

»Ein zweites Opfer?«, fragte der Jüngere der beiden, dessen Gesichtszüge Ähnlichkeit mit einem Frettchen aufwiesen. »Ist es wieder ein Richter?«

»Kein Kommentar.« Lisa wollte in den Wagen steigen, aber das Frettchen vertrat ihr den Weg.

»Nun kommen Sie schon, Frau Sanders. Wie wär’s denn mit ein paar Informationen aus erster Hand?«

Lisa visierte ihn mit einem kalten Blick, bis er schließlich den Weg freigab, setzte sich in ihren Wagen, schlug die Tür zu und sah durch das Seitenfenster nach draußen. Die beiden Männer schienen sich zu besprechen, dann gingen sie in Richtung Absperrband. Lisa beobachtete, wie sie den dort postierten Beamten ansprachen, der nach kurzer Zeit den Kopf schüttelte und eine unmissverständliche Geste machte.

Haut ab! Aber pronto!

 

Hendrik Falkner galt als besonnener Mann, den nichts so leicht aus der Ruhe bringen konnte. Als Inka gegangen war, damals vor zwölf Jahren, hatte er Fassung bewahrt und den Scheidungskrieg sowie den damit verbundenen schmutzigen Kampf um das Sorgerecht für Martina durchgestanden, aus dem er schließlich als Sieger hervorgegangen war. Auch im Beruf hatte ihm seine Umsicht stets zum Vorteil gereicht, wenn komplexe Fälle ihn und das Team bis an ihre Belastungsgrenzen oder darüber hinaus geführt hatten.

Im Augenblick fühlte sich Falkner allerdings wie ein HB-Männchen, das kurz davor stand, durch die Decke zu gehen. Und schuld daran war diese absolut hirnrissige Theorie, die Lea Nordin zu Beginn der Besprechung nur aufgrund der Tatsache aufgestellt hatte, dass Egner auf eine andere Art und Weise umgebracht worden war als sein Richterkollege in der vergangenen Woche.

Zwei Täter, du meine Güte, sie waren gerade erst in den Fall eingestiegen, hatten vorhin die Infos über das erste Tötungsdelikt erhalten, es war doch noch viel zu früh, eine solch gewagte Prognose abzugeben. Außerdem gab es viele Faktoren, die zu einer anderen Tatbegehung geführt haben konnten, eine bewusst gelegte falsche Spur zum Beispiel oder eine erzwungene Änderung des Tatablaufs aufgrund äußerer Umstände. Falkner hatte nicht lockergelassen, darauf hinzuweisen, und eine tiefe Genugtuung verspürt, dass sein Team Lea Nordins Theorie genauso ablehnend gegenüberstand wie er.

Sein Team …

Verdammt noch mal, er musste diese beiden Worte endlich aus seinem Kopf kriegen. Die Jungs waren nicht sein Team, auch wenn es sich in den endlosen Wochen, welche die oberste Heeresleitung für die Frage der Wiederbesetzung benötigte, so angefühlt hatte. Er war seit Jahren Hartmuts Stellvertreter gewesen, und nach dessen überraschendem Tod hatte niemand einen Zweifel gehegt, wer nachrücken würde. Tja, so kann man sich täuschen, dachte Falkner und spürte wieder diese giftige Bitterkeit in sich aufsteigen, die jetzt seit einem halben Jahr sein ständiger Begleiter war. Das musste aufhören, er musste endlich akzeptieren, dass man ihm aus welchen Gründen auch immer jemanden vor die Nase gesetzt hatte und er nach wie vor in der Stellvertreterposition verharrte. Frauenquote, Vitamin B, hochgeschlafen, letztendlich war es egal. Lea Nordin war da, und sie würde nicht weichen. Dazu war sie viel zu ehrgeizig. Ob sie auch gut war, nun ja, mittlerweile hegte er diesbezüglich große Zweifel. Bei ihrem Dienstantritt hatten er und seine Kollegen vor dem Abschluss zweier Analysen gestanden, in denen es um eine Raubserie und eine Reihe sexueller Übergriffe in einem Internat gegangen war. Sie hatten Lea Nordin mit den Fakten vertraut gemacht, ein Fehler, wie er sich hinterher eingestehen musste, aber was sollte man machen, wenn da plötzlich eine Person vor einem stand und Einblick in die laufenden Fälle begehrte, was ja schließlich ihr gutes Recht als neue Vorgesetzte war. Nordin hatte sich die Analysen vorgenommen und mehrere der zusammengetragenen Hypothesen in Frage gestellt. Endlose Diskussionen waren die Folge gewesen, bis Nordin darauf bestanden hatte, dass beide Analysen ein weiteres Mal in Angriff genommen wurden. Falkner konnte bis heute nicht sagen, ob sie wirklich neue Ansätze gesehen hatte oder das Ganze nicht vielmehr eine Machtdemonstration gewesen war. Das Ergebnis hatte sich jedenfalls nicht von der vorherigen Analyse unterschieden, nur der Weg dorthin war ein anderer gewesen. Tja, hatte er damals gedacht, so kann man auch kostbare Arbeitszeit verschwenden.

Etwas anderes hatte aber fast noch schwerer gewogen. Nordin hatte versucht, sie gegeneinander auszuspielen. Was ihr nicht gelungen war und auch niemals gelingen würde, davon war Falkner überzeugt. Aber der Versuch hatte doch sehr eindrucksvoll gezeigt, mit wem sie es ab jetzt zu tun haben würden. Mit einer Frau, die seiner Einschätzung nach krank vor Ehrgeiz war und auf ihrem Weg nach oben vor nichts zurückschrecken würde.

»Herr Falkner, sind Sie noch bei uns?«

»Wo sollte ich sonst sein?«

»Sie scheinen mir abwesend.«

Na, du musst es ja wissen, dämliche Pute, wäre es ihm beinahe herausgerutscht. »Ach ja?« Er brauchte jetzt dringend eine Pause, um das Gehörte zu überdenken, und griff nach den beiden Kaffeekannen, aus denen die Kollegen gerade die letzten Tropfen herausgepresst hatten. Fragend blickte er in die Runde, die vor anderthalb Stunden in einem Besprechungsraum des LKA am Mühlenweg in Kiel zusammengekommen war. »Wer will noch?«

Bis auf Lea Nordin hoben alle die Hand. Sie bevorzugte Tee, wie Falkner mittlerweile wusste.

»Sie wollen doch jetzt keinen Kaffee kochen, Herr Falkner? Wir sind mitten in einer Besprechung!«

Die nächste bissige Bemerkung rutschte auf seine Zunge, aber er verkniff sich auch diese und schaffte es tatsächlich, seine neue Vorgesetzte freundlich anzulächeln. »Die mit Sicherheit noch einige Zeit dauern wird. Und darum brauchen wir Nachschub.« In der Küche gesellte sich schon nach kurzer Zeit Lorenz Prahl zu ihm. Der Kollege sah wie immer etwas zerzaust aus. Sein ungebändigter Schopf hatte auch heute Morgen allen Versuchen von Bürste und Kamm widerstanden, ihn in Form bringen zu wollen. Das karierte Hemd hing halb aus der Jeans, die eine Wäsche dringend nötig gehabt hätte, und als Falkner zu den Schuhen hinuntersah, lachte er auf. »Das ist jetzt nicht wahr, oder?«

Prahl folgte seinem Blick und musterte die Objekte, die für Falkners Heiterkeitsausbruch verantwortlich waren. Er bevorzugte Mokassins und hatte mehrere Paare in unterschiedlichen Farben, die er nur im Winter gegen anderes Schuhwerk austauschte, und das auch nur sehr widerwillig, wenn Schnee lag oder es bitterkalt war. »Oh, da muss ich wohl was durcheinandergekriegt haben.«

»So dunkel ist es morgens doch noch nicht, dass du nicht siehst, was du anziehst.«

»Ich weiß gar nicht, was du willst«, meinte Prahl und hob abwechselnd seine Füße hoch. »Dunkelblau und dunkelgrün harmoniert doch perfekt. Einfarbig kann jeder.«

»Ist Bettina nicht da?«

»Bei ihrer Mutter«, kam es in kläglichem Ton zurück.

»Alles klar!«

»Was heißt hier alles klar? Ich komm auch ohne meine Frau wunderbar zurecht!«

»Das sieht man«, sagte Falkner grinsend. In häuslichen Dingen war Prahl absolut hilflos. Bettina legte ihm die Sachen zum Anziehen heraus, bekochte ihn mit seinen Lieblingsgerichten und hielt Haus und Garten in Schuss. Falkner ging jede Wette ein, dass sein Kollege nicht einmal wusste, wie man eine Waschmaschine bediente. Ein großes Kind von fünfundvierzig Jahren, im Beruf eine Spitzenkraft und zu Hause … Nun ja, darüber breitete man lieber den Mantel des Schweigens.

Prahl hatte sich ebenso wie Richter, Böttcher und auch weitere Kollegen, die nur bei Bedarf zu ihnen stießen, für Falkner starkmachen wollen. Jeder von ihnen hatte befürchtet, dass die Ernennung einer Kollegin von außerhalb ihr Team kaputt machen könnte. Aber Falkner hatte sie gebeten, dies zu unterlassen, denn eine solche Aktion hätte sich aller Wahrscheinlichkeit nach nur gegen ihn gerichtet, weil ihre Vorgesetzten davon ausgegangen wären, dass er seine Kollegen angestachelt hatte.

Der Kaffee war durchgelaufen, Falkner füllte ihn in die Warmhaltekannen um. Das kurze Geplänkel mit Prahl hatte gutgetan und ihnen beiden für kurze Zeit etwas von der Anspannung genommen, unter der sie seit dem Morgen standen. Sie würden fallbegleitend arbeiten, also nicht, wie in der Mehrzahl der Fälle, die an ein OFA-Team herangetragen wurden, an Cold Cases. Letztere lagen oft Jahre zurück, alle Informationen waren zusammengetragen, eine ideale Ausgangsbasis. Bei einer fallbegleitenden Analyse hingegen gab es erst wenige Informationen, und außerdem wurde stets unter einem hohen Zeitdruck gearbeitet, weil es in vielen Fällen auch darum ging, weitere Verbrechen zu verhindern.

»Lass uns wieder reingehen.« Falkner nickte in Richtung der Tür. »Wie ich unsere neue Chefin einschätze, schickt sie sonst eine Suchmeldung raus.«

»Glaubst du, dass wir es mit einem Serienmörder zu tun haben?«

Falkner zuckte mit den Schultern. »Es ist noch zu früh, um das beurteilen zu können.«

Seitdem er zur OFA gehörte, hatte er erst einen Fall bearbeitet, in dem ein Serienmörder sein Unwesen trieb, denn diese Spezies kam in der Realität weitaus seltener vor, als es Kriminalliteratur und -filme die Menschen glauben machen wollten. Damals hatte ihre Analyse zur Festnahme des Täters geführt, in letzter Sekunde sozusagen, denn er hatte sich bereits auf dem Weg zu seinem nächsten Opfer befunden.

Die Fenster im Besprechungszimmer waren weit geöffnet, feuchtkalte Luft hing im Raum. Das Wetter war in der letzten Stunde umgeschlagen, die angekündigte Kaltfront hatte Kiel erreicht und sollte laut der Meteorologen einige Tage anhalten. Falkner fröstelte, was aber eher auf seinen Gemütszustand zurückzuführen war als auf die Wetterverhältnisse. Er stellte die Kaffeekannen auf dem Tisch ab, schloss die Fenster und nahm wieder Platz.

Während sich die Kollegen bedienten, musterte Lea Nordin ihn aus zusammengekniffenen Augen. »Ist jetzt alles zu Ihrer Zufriedenheit, Herr Falkner?«

Er sah sie verständnislos an.

»Na ja«, fuhr sie fort, als er nichts erwiderte, »es hätte ja sein können, dass Sie noch ein wenig Gebäck für unser Kaffeekränzchen benötigen. Lassen Sie sich nicht aufhalten, wir warten gerne noch länger auf Sie. Und auf Sie natürlich auch, lieber Herr Prahl, falls Sie Herrn Falkner begleiten möchten.«

Prahl atmete hörbar aus, enthielt sich aber einer Erwiderung. Richter schien großes Interesse für einen imaginären Punkt an der Wand aufzubringen, Böttcher betrachtete angelegentlich seine Fingernägel. Nur Luca Farinelli, den Falkner erst vor zwei Tagen kennengelernt hatte, schien zu einer Äußerung ansetzen zu wollen. Dass sich der italienische Neuzugang um Ausgleich in angespannten Situationen bemühte, hatte Falkner bereits am Tatort bemerkt, wo es beinahe zu einer Auseinandersetzung zwischen den beiden Rechtsmedizinern gekommen war. Farinelli war es gelungen, die Situation zu entschärfen, und allem Anschein nach hatte er hier jetzt das Gleiche vor.

Genau das aber wollte Falkner nicht. Ihm reichte es jetzt nämlich endgültig mit dieser Zimtzicke. »Was bezwecken Sie mit Ihren Bemerkungen, Frau Nordin? Wollen Sie mich provozieren?«

»Aber ich bitte Sie, nichts läge mir ferner.« Ihre Stimme troff mittlerweile vor Sarkasmus. »Mir ist bloß daran gelegen, dass es Ihnen allen gutgeht und jeder das hat, was er braucht. Dann besteht ja vielleicht die Chance, dass wir demnächst weitermachen können.«

Falkner beugte sich vor und nahm Lea Nordin ins Visier. »Hören Sie auf, uns wie dumme Jungs zu behandeln. Ihre Machtspielchen und diese plumpen Versuche von Ironie ziehen bei uns nicht. Wenn Sie als Leiterin dieses Teams ernst genommen werden wollen, sollten Sie schleunigst mit diesen Mätzchen aufhören.«

»Was erlauben Sie sich?« Lea Nordin war blass geworden, ihre Hände hatten zu zittern begonnen. »Ich werde mich über Sie beschweren.«

»Tun Sie das. Nach unten treten und bei Gegenwind das Mädchen rauskehren und zu Papi laufen, ganz genauso habe ich Sie eingeschätzt.«

Was nicht der Wahrheit entsprach, aber in diesem Moment stand Falkner der Sinn nach Provokation. Er deutete zur Tür. »Na los, der Chef ist im Haus. Ich habe ihn vorhin gesehen.«

Lea Nordin sprang auf, in ihren Augen glitzerte es verdächtig. Sie schien etwas sagen zu wollen, entschied sich dann aber dagegen und rannte fast zur Tür. Du meine Güte, dachte Falkner beinahe ein wenig erschrocken, denn mit einer solchen Reaktion hatte er nicht gerechnet. Sie ist ja tatsächlich ein Mädchen.

»War das jetzt nötig?« Richter schaute unbehaglich drein, nachdem die Tür hinter Lea Nordin zugeschlagen war.

»Ja, das war nötig! Das war sogar überfällig, wenn du mich fragst. Diese Frau will unsere Chefin sein? Dass ich nicht lache! Der fehlen sämtliche Voraussetzungen für einen solchen Job, das haben wir doch mittlerweile alle bemerkt. Und was das Thema Menschenführung angeht, du liebe Güte. Da hat doch keiner der Kurse, die sie gemacht haben dürfte, in irgendeiner Weise gefruchtet.« Falkner hatte keine Lust, die Angelegenheit zu vertiefen, und so erhob er sich und trat zu einem überdimensionalen Whiteboard hinüber, auf dem die Fotos von Klaus Harmsen und Raimund Egner hingen. In seiner steilen Handschrift setzte er unter die beiden Namen Datum und Todeszeitpunkt. Harmsen: 14. Oktober, zwischen zwanzig und dreiundzwanzig Uhr; Egner: 21. Oktober, Todeszeitpunkt noch unbekannt. Als Nächstes listete er die Punkte der Tathergangsanalyse auf, die es mit Informationen zu füllen galt: Annäherung an das Opfer, Angriff, Kontrollgewinnung, Tötung und anschließendes Verhalten. Unter Tötung setzte er bei Harmsen den Vermerk: Betäubung durch Taser, anschließende Tötung durch Genickschuss. Weitere Einträge würden im Verlauf des Tages folgen, wenn er die von Södersen übermittelte Aktenkopie vollständig durchgelesen hatte. Bei Egner lautete der Vermerk: Betäubung durch Taser, Todesursache? Mehr lag hier noch nicht vor.

»Wann findet die Obduktion von Egner statt?«, wollte Prahl wissen.

»Morgen früh um halb neun«, antwortete Böttcher. »Ich hab meinem Kollegen schon gesagt, dass ich dabei sein werde.« Er verzog das Gesicht.

»Was ihm anscheinend nicht gefallen hat«, bemerkte Prahl grinsend. »Ihr habt nicht den Eindruck erweckt, als ob ihr Freunde werden könntet.«

Böttcher zog die Augenbrauen hoch. »Nee, ganz bestimmt nicht. Den Typen brauch ich nicht. Ich hoffe nur, dass er irgendeine Vorerkrankung beim Richter findet, aufgrund derer man davon ausgehen kann, dass der Mann nur durch den Einsatz des Tasers ums Leben gekommen ist. Das würde nämlich unsere Theorie von nur einem Täter erhärten.«

Falkner ging zum Notebook, da ein melodischer Ton den Eingang einer Mail signalisierte. »Die Spusi hat erste Infos geschickt«, sagte er nach einem kurzen Blick. »Dann wollen wir doch mal sehen, was die Kollegen herausgefunden haben.«

 

Lina Michelsen hatte sich einem gynäkologischen Eingriff unterziehen müssen, wie sie Lisa hinter vorgehaltener Hand anvertraute, befand sich aber laut Aussage ihrer Ärzte auf dem Weg der Besserung und sollte noch in dieser Woche entlassen werden. »Dass man nicht mal im hohen Alter Ruhe vor seinem Unterleib hat«, sagte sie kichernd und schlüpfte wieder ins Bett, das sie bei Lisas Eintritt eiligst verlassen hatte, um ihrem unverhofften Besuch wiederholt die Hände zu schütteln. Die Nachricht vom Tod ihres Nachbarn hatte sie mit Bestürzung zur Kenntnis genommen, ein Zustand, der allerdings erstaunlich schnell einer nur schwer zu zügelnden Sensationsgier wich.

»Mein Gott, ein Mörder bei uns am Strand?!« Sie schlug eine Hand vor den Mund. »Das ist ja schrecklich! Was, wenn er es auch auf uns abgesehen hat? Auf mich zum Beispiel, immerhin wohne ich ja direkt gegenüber von Herrn Egner. Womöglich hat der Täter mich auch schon ins Visier genommen. Als alleinstehende Frau ist man ja allen möglichen Gefahren ausgesetzt. Vielleicht war es ein Sexualmord, so was kommt doch heute andauernd vor.« Ihre Augen waren weit aufgerissen. »Sie müssen mich beschützen!«

Klar doch, dachte Lisa und seufzte innerlich. Sexualstraftäter haben es ja auch überwiegend auf fünfundachtzigjährige Frauen abgezielt. »Frau Michelsen, wann haben Sie Herrn Egner zum letzten Mal gesehen?«

Lina Michelsen wirkte zunächst etwas irritiert, da Lisa mit keinem Wort auf ihre Forderung nach Schutz einging, dann legte sie ihre Stirn in Falten. »Das muss so vor drei oder vier Tagen gewesen sein.«

»Genauer können Sie es nicht sagen?«

Die alte Frau sah Lisa mit einem entschuldigenden Ausdruck an. »Ich war ein bisschen aufgeregt, weil ich doch ins Krankenhaus musste. In meinem Alter denkt man ja, da kommt man nicht mehr lebend raus.«

»Wann sind Sie denn ins Krankenhaus gekommen?«

»Ja … so … vor drei oder vier Tagen.« Lina Michelsen wirkte jetzt ziemlich desorientiert, und Lisa verzichtete fürs Erste darauf, weiter nachzuhaken.

»Worüber haben Sie und Herr Egner bei ihrer letzten Begegnung gesprochen?«

»Och, so dies und das. Das Wetter, meine Hüfte, über was man halt so spricht.«

»Wo fand diese Unterhaltung statt?«

»Über den Zaun. Ich hatte Herrn Egner im Garten gesehen und Lust auf ’nen kleinen Klönschnack. Aber er war sehr kurz angebunden. Das ist er eigentlich immer.«

Lina Michelsens Blick verlor sich, und auf einmal empfand Lisa Mitleid mit der alten Frau, die ein sehr einsamer Mensch zu sein schien.

»Erinnern Sie sich noch, um welche Uhrzeit das Gespräch stattgefunden hat?«

»Das muss so gegen acht gewesen sein.« Ihr Gesicht erhellte sich. »Ja, genau, gegen acht. Als ich wieder in mein Wohnzimmer kam, begann nämlich gerade die Tagesschau.«

»Was für einen Eindruck hatten Sie von Herrn Egner?«

»Wie meinen Sie das?«

»Nun ja, war er vielleicht nervös oder aufgeregt oder etwas in der Art?«

»Nein, daran erinnere ich mich nicht. Er war so wie immer.«

»Wie war das in der Zeit vor Ihrer letzten Begegnung? Hatten Sie den Eindruck, dass Herr Egner irgendwie anders war oder Angst vor etwas oder jemandem hatte?«

»Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen, so oft haben wir uns ja nun auch nicht gesehen.«

»Hat Herr Egner häufiger Besuch bekommen? Ist Ihnen da etwas aufgefallen?«

»Nein, tut mir leid.«

»In Ordnung, Frau Michelsen.« Lisa drückte ihr ihre Visitenkarte in die Hand. »Falls Ihnen noch etwas einfallen sollte, rufen Sie mich bitte an.«

Lina Michelsen betrachtete die Karte mit einem andächtigen Ausdruck. »Dass ich in meinem Leben noch einmal mit der Mordkommission zu tun habe, hätte ich auch nicht gedacht.« Das Glitzern in ihren Augen verdeutlichte, wie aufregend sie diesen Umstand fand.

 

Martina Falkner streifte gerade ihre Uniformjacke über, als Lisa das Krankenzimmer betrat. Ein Strahlen ging über das Gesicht der jungen Frau. »Mensch, Lisa! Unsere erste Zusammenarbeit!«

Lisa musste angesichts dieser offenkundigen Begeisterung schmunzeln, auch wenn Martinas Worte ihr überhaupt nicht gefielen. Unsere erste Zusammenarbeit? Was stellte die Lütte sich vor? Dass sie Seite an Seite mit ihr und ihren Kollegen an diesem Fall arbeiten würde? So naiv konnte sie nicht sein, das galt es jetzt auf der Stelle zu klären. Aber etwas anderes hatte im Augenblick eine noch größere Priorität. »Willst du etwa schon wieder hier raus?«

»Ich bin okay«, wiegelte Martina ab. »Ich weiß überhaupt nicht, warum die mich mitgenommen haben.«

»Weil du zusammengeklappt bist. So etwas sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen.«

Martina machte eine unwillige Handbewegung. »Das war doch nichts Großes.«

»Haben die Ärzte deiner Entlassung zugestimmt?«

Das »Ja« kam etwas zu schnell heraus, aber Lisa hütete sich, nachzuhaken. Beschützerinstinkt hin oder her, Martina war eine erwachsene Frau, die ihre eigenen Entscheidungen treffen musste.

»So, ich bin fertig.« Martina hatte ihre Uniformmütze aufgesetzt und blickte Lisa erwartungsvoll an. »Ich freu mich schon darauf, endlich mal eure Truppe und die berühmte Blume kennenzulernen.«

Jetzt war die richtige Wortwahl vonnöten, denn Lisa hatte nicht die Absicht, Martina in die Blume, wie die Bezirkskriminalinspektion in der Blumenstraße genannt wurde, mitzunehmen. »Ich habe den Eindruck, dass du von falschen Voraussetzungen ausgehst, Martina.«

»Was meinst du damit?«

»Es wird keine Zusammenarbeit zwischen uns geben. Ich bin hier, weil ich deine Aussage aufnehmen will.«

Martina schien sie nicht verstehen zu wollen. »Aber das können wir doch bei dir im Büro machen. Ich gehöre doch jetzt zu eurem Team.«

»Es tut mir leid, Martina, aber das tust du nicht.«

»Aber wieso denn nicht? Immerhin habe ich den Toten gefunden. Und in so einem Fall könnt ihr doch Unterstützung brauchen. Ich bin vor Ort und kann …«

»Martina, jetzt tu bitte nicht so, als ob du unsere Strukturen nicht kennen würdest. Du arbeitest bei der Schutzpolizei in Schönberg und kannst dich nicht mal eben zur Mordkommission abkommandieren.«

»Hendrik sagt ständig, dass die Kripo-Dezernate zu wenig Leute haben. Wenn ihr große Fälle habt, holt ihr euch doch auch Kollegen dazu.«

»Das ist richtig. Aber diese Kollegen verfügen über eine jahrelange Erfahrung, und das tust du nicht.«