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Angelika Svensson

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Beschreibung

Auf einem Gestüt an der Ostsee werden zwei junge Männer aufgefunden – der eine tot, der andere schwer verletzt. Ein Fall für Kriminalhauptkommissarin Lisa Sanders von der Mordkommission Kiel, der dadurch erschwert wird, dass Oberstaatsanwalt Fehrbach der Sohn des verstorbenen Gestütsbesitzers ist. Seit ihrem letzten Fall hat Lisa eine äußerst zwiespältige Beziehung zu Fehrbach. Kein Wunder, dass sie sich mit gemischten Gefühlen an die Aufklärung des Verbrechens macht – die sie bald in die düstere Welt der Rockerbanden und ihrer Drahtzieher führt. Die Ostsee-Krimis von Angelika Svensson mit Kommissarin Lisa Sanders sind in folgender Reihenfolge erschienen: Band 1 - Kiellinie Band 2 - Kielgang Band 3 - Wassersarg Band 4 - Küstentod Band 5 - Küstenzorn Band 6 - Küstenrache

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Angelika Svensson

Kielgang

KriminalromanEIN FALL FÜR KOMMISSARIN SANDERS

Knaur e-books

Über dieses Buch

Auf einem Gestüt an der Ostsee werden zwei junge Männer aufgefunden – der eine tot, der andere schwer verletzt.

Inhaltsübersicht

WidmungProlog5 Wochen später Samstag, 2. AugustSonntag, 3. AugustMontag, 4. AugustDienstag, 5. AugustMittwoch, 6. AugustDonnerstag, 7. AugustFreitag, 8. AugustSamstag, 9. AugustSonntag, 10. AugustMontag, 11. AugustDienstag, 12. AugustMittwoch, 13. AugustDonnerstag, 14. AugustGlossar/RockerbegriffeDanksagungIn eigener Sache
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Für Lotti,

 

die mir in einer schweren Zeit zur Seite gestanden hat

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Prolog

Gegen Mittag erreichten die beiden Männer den kleinen Ostseebadeort Hohwacht. Auf dem großen Parkplatz am Meer standen dichtgedrängt die Wagen der Touristen, wie immer in den Sommermonaten, wenn das schöne Wetter die Menschen in Scharen ans Wasser lockte. Langsam ließen die Neuankömmlinge ihre schweren Maschinen ausrollen. Sie setzten die Helme ab und schauten sich um, Lässigkeit demonstrierend. Doch in Wahrheit schickte das Aufsehen, das sie erregten, Adrenalinstöße durch ihre Körper. Neugier stand in den Gesichtern der Menschen, in den meisten überwog jedoch der Ausdruck von Verunsicherung und Angst. Es kam selten vor, dass die beiden Männer angesprochen wurden, aber die blitzenden Harleys, die Kutten mit den unübersehbaren Patches auf Rücken und Brust waren ein unwiderstehlicher Blickfang für ihre Umgebung. Einmal hatte eine junge Frau den Mut aufgebracht, auf den Expect-no-mercy-Button zu deuten, den der Größere und Kräftigere der beiden auf der rechten Seite seiner kurzärmeligen Lederweste prangen hatte. »Du bist wohl einer von den ganz Harten«, hatte sie mit einem herausfordernden Lächeln gemeint. »Zu welchem Motorradclub gehörst du denn?« Angesichts des Blicks ihres Gegenübers hatte sie es allerdings sehr schnell vorgezogen, mit einer verlegenen Bemerkung das Weite zu suchen.

»Wo liegt denn jetzt das Teil, das du mir zeigen wolltest?«, fragte der Stiernacken, dessen Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen waren. »Doch hoffentlich nicht in diesem Kaff.«

Sein Begleiter startete seine Maschine. »Es liegt ganz in der Nähe. Ich wollte bloß noch ein bisschen Ostseeluft schnuppern.« Er lenkte die Harley auf die Straße in Richtung Lippe. Minuten später fuhren sie am südlichen Ende des Großen Binnensees entlang. An der Mündung des Sees in die Ostsee verlangsamte der ältere der beiden Männer seine Fahrt, bis er schließlich ganz stehen blieb. Er kümmerte sich nicht um die nachfolgenden Autos, die das Verkehrshindernis wütend anhupten.

»Hey, Alter, was ist?« Der Stiernacken hatte gemerkt, dass sein Begleiter ihm nicht mehr folgte, und war umgekehrt.

»Hier hatte mein Vater mal seinen Fischkutter liegen.« Er stieg die Stufen zum Deich empor und blickte auf die Schiffe und die wenigen freien Ankerplätze, die am Abend wieder belegt sein würden. Jetzt im Sommer war der Hafen ausgebucht. Neben Fischkuttern ankerten Motorboote und Yachten. Auch ein Schiff der Seenotretter lag an einer Mole vertäut. Im Hintergrund gleißte die Ostsee in der Sonne.

»Sag mal, wirst du jetzt etwa sentimental?« Der Stiernacken war ihm gefolgt. Ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit.

»Blödsinn!«, sagte sein Begleiter eine Spur zu heftig und lief hastig zu seiner Maschine zurück. Kurze Zeit später reihten sich die beiden Männer wieder in den Verkehr ein und hatten nach einer knappen Viertelstunde ihr Ziel erreicht.

»Das ist es?« Mit einem beinahe andächtigen Blick betrachtete der Stiernacken die große Gutsanlage, die von der Anhöhe, auf der sie standen, vollständig zu überblicken war. »Das ist ja ein Sahneschnittchen, mein Alter. Ist das ein Gestüt?«

Sein Begleiter nickte. »Ich bin allerdings der Meinung, dass wir die Pferde abschaffen sollten, wenn uns die Anlage erst einmal gehört. Die interessieren dann niemanden mehr, außerdem kostet ihr Unterhalt einiges an Geld.«

»Jetzt mal nicht so hastig … Ich finde das gar nicht so schlecht, wenn die Pferde bleiben. Ein solches Objekt hat es noch nie gegeben. Das ist doch der absolute Hit!« Der Stiernacken schlug dem Mann an seiner Seite so kräftig auf die Schulter, dass dieser zusammenzuckte. »Mit unserer Idee sind wir eh schon konkurrenzlos. Aber mit dem Teil da unten schießen wir den Vogel ab. Hast du schon Fotos gemacht?«

»Die kannst du dir nachher bei mir zu Hause ansehen. Ich hab alles aufgenommen, was mir vor die Linse kam.«

Der Stiernacken verzog das Gesicht. »Na hoffentlich hat dich keiner gesehen.«

Sein Begleiter streifte ihn mit einem kurzen Blick, seine Stimme klang kühl. »Ich mach das nicht zum ersten Mal.«

»Ist doch okay, mein Alter. Ich wollte dich bloß ein bisschen hochnehmen.« Der Stiernacken ging zu seiner Maschine und holte einen kleinen Feldstecher aus der Gepäcktasche. Er schob die Sonnenbrille hoch auf die Stirn und studierte die zu seinen Füßen liegende Anlage noch einmal. »Wie heißt das Gestüt?«

»Trakehnergestüt Lankenau. Der Besitzer ist vor einigen Tagen gestorben. Er hat das Gestüt zusammen mit seinem jüngsten Sohn geführt. Ich bin schon vor einiger Zeit auf das Objekt aufmerksam geworden und habe durch Zufall erfahren, dass der Junge sich kräftig verspekuliert hat. Die stecken mittlerweile tief in den roten Zahlen. Ich habe daraufhin Kontakt aufgenommen und die Lage ein bisschen sondiert.«

»Mit welchem Ergebnis?«

»Sohnemann hat sich gesperrt, zu verkaufen. Aber nach dem Tod des Alten sieht die Sache anders aus. Es soll noch einen älteren Sohn geben. Falls der jetzt ebenfalls einen Anteil erhält, dürfte er alles daransetzen, das Gestüt so schnell wie möglich loszuwerden. Wer erbt schon gerne einen Haufen Schulden.«

»Ich gehe davon aus, dass du den Kauf wie üblich abwickelst. Unsere Namen dürfen nirgendwo auftauchen.«

»Das werden sie auch nicht.«

Der Stiernacken strich sich über seinen kahlrasierten Schädel mit der Tätowierung im Nacken. Am goldenen Ring im linken Ohr glänzte ein Schweißtropfen. »Und falls die Erben doch Stress machen, werden wir sie davon überzeugen, dass es das Gesündeste für sie ist zu verkaufen.« Seine Augen glitzerten, als er zu seinem Begleiter hinüberschaute. »Eine unserer leichtesten Übungen, nicht wahr, mein Alter?«

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5 Wochen später Samstag, 2. August

Es war kurz vor zwanzig Uhr, als Dr. Thomas Freiherr von Fehrbach nach Lankenau zurückkehrte. Stirnrunzelnd fuhr er die von Kastanien und Linden gesäumte Auffahrt zum Herrenhaus hinauf und blickte mit zunehmendem Ärger auf die stattliche Anzahl von Pkw, die er passierte. Obwohl es an der Westseite des Gestüts einen großen Besucherparkplatz gab, hatten auch heute wieder unzählige Gäste die zahlreich aufgestellten Parkverbotsschilder ignoriert. Vor dem Herrenhaus, dessen weiße Fassade in der Abendsonne erstrahlte, war jede noch so kleine Lücke zugeparkt. Die Privatbesitz – Betreten-verboten-Schilder waren teilweise entfernt und achtlos an den Hauswänden abgestellt worden. Erst hinter dem Reitplatz fand Fehrbach endlich eine Parkmöglichkeit. Während er zum Herrenhaus hinüberging, fiel ihm auf, dass die ersten Konzertbesucher bereits aufzubrechen begannen, obwohl die Abendveranstaltung in der alten Scheune noch bis einundzwanzig Uhr andauern würde. Da die Konzerte nach draußen übertragen wurden, verzichteten viele der Besucher auf den Kauf einer Karte und lauschten den Klängen der Musik im Freien. Etliche hatten Decken und Picknickkörbe mitgebracht und es sich auf den schönsten Plätzen der Gutsanlage bequem gemacht. Andere stillten den zwischendurch aufkommenden Hunger an den zahlreich aufgebauten Catering-Ständen.

Fehrbach öffnete die massive Eichenholztür und betrat die weitläufige Diele. Eine angenehme Kühle erfüllte den Raum, der im Dämmerlicht lag. Vor der Tür zum Salon verharrte er kurz, dann drückte er die Klinke mit einer entschlossenen Bewegung hinunter. Bei seinem Eintritt bauschte ein leichter Windzug die Gardinen vor den geöffneten Terrassentüren.

Barbara hatte sich mit einem Buch auf dem Sofa ausgestreckt. Als sie ihn bemerkte, richtete sie sich auf, wobei ihr eng anliegender schwarzer Rock verrutschte und einen Blick auf ihre wohlgeformten Beine freigab. Wieder einmal fand Fehrbach, dass man seiner Stiefmutter die vierundfünfzig Jahre nicht ansah. Sie hatte sich ihre zierliche, mädchenhafte Figur erhalten, allerdings hatten ihre kinnlangen braunen Haare in den letzten Wochen einige graue Strähnen mehr bekommen.

»Wieso bist du nicht beim Konzert?«, fragte er.

»Ich bin in der Pause gegangen.« Barbara legte das Buch auf einem Beistelltisch ab und strich ihren Rock glatt. »Die Luft in der Scheune war mir zu stickig. Bis zum nächsten Jahr müssen wir da drinnen eine anständige Ventilation hinbekommen.«

»Kein Problem, wenn du mir sagst, wo wir das Geld hernehmen sollen.«

»Ich werde noch mal mit Herrn Kröger sprechen«, erwiderte Barbara. »Wenn das Schleswig-Holstein Musik Festival Lankenau weiterhin als Spielstätte nutzen will, müssen sie in Zukunft eben mehr zahlen.«

»Vorsicht, Barbara«, warnte Fehrbach, »der Schuss kann auch nach hinten losgehen. Du weißt, dass das Land dem Festival bereits die Mittel gekürzt hat. Vielleicht werden im kommenden Jahr einige der Spielstätten gestrichen. Lehn dich also nicht zu weit aus dem Fenster, denn sonst ist Lankenau das ›Musikfest auf dem Lande‹ unter Umständen ganz schnell wieder los.«

Seit dem Jahr 2002 richtete Lankenau eines der insgesamt fünf ›Musikfeste auf dem Lande‹ aus. Als seinerzeit die Festivalleitung mit einer Anfrage an Fehrbachs Vater herangetreten war, hatten dieser und seine Frau sich entschlossen, ihren Besitz an einem Wochenende im Sommer für ein breites Publikum zu öffnen.

»Lass mich nur machen.« Barbara lächelte siegessicher. »Herr Kröger und ich können gut miteinander.« Sie deutete auf den Platz neben sich. »Und? Wie war es?«

Fehrbach tat, als hätte er ihre Geste nicht bemerkt, und nahm im Sessel gegenüber Platz. Durch das Fenster drangen die letzten Klänge eines Klavierkonzerts, gefolgt von brandendem Applaus.

»Wir hatten ein gutes Gespräch. Ich habe Norbert die Gründe für meine damalige Entscheidung dargelegt, und er hat eingesehen, dass ich nicht anders handeln konnte.«

Dr. Norbert Sievers war der Leitende Oberstaatsanwalt in Kiel und Fehrbachs Vorgesetzter. Er hatte Fehrbach von Frankfurt nach Kiel geholt, obwohl er von den Alkoholproblemen seines ehemaligen Studienfreunds und der damit verbundenen Zurückstufung wusste. Sievers hatte Fehrbach zugutegehalten, dass er durch den Mord an seiner Frau komplett aus der Bahn geworfen worden war. Fehrbachs Rückfall vor wenigen Wochen hatte die Freundschaft dann allerdings auf eine harte Probe gestellt. Sievers hatte von Fehrbach verlangt, sich sofort in den Entzug zu begeben, und dieser hatte sich geweigert, weil er den aktuellen Fall zu Ende führen und Lisa Sanders von der Mordkommission Kiel nicht im Stich lassen wollte.

»Dann ist jetzt wieder alles in Ordnung zwischen euch?«

Fehrbach nickte. »Du glaubst gar nicht, wie erleichtert ich darüber bin. Norbert hat gesagt, dass ich ihm mit meinem Anruf zuvorgekommen bin. Ihm lag unser Streit genauso auf der Seele wie mir. Aber ich glaube, dass es gut war, mit dem Gespräch zu warten. Vor einigen Wochen wären wir bestimmt noch wütend aufeinander losgegangen.«

»Das heißt, dass du nach deinem Entzug in die Staatsanwaltschaft zurückkehren wirst.«

Fehrbach war der resignierte Ton nicht entgangen. »Ja, das heißt es.«

»Und was wird dann aus dem Gestüt?«

»Ich werde mich um Lankenau kümmern, bis Andreas zurückkommt. Wenn er erst mal ein bisschen Abstand gewonnen hat, kommt er auch wieder zur Vernunft.«

»Andreas hat uns fast in den Ruin getrieben«, fuhr Barbara auf. »Ich lasse nicht zu, dass er hier wieder das Ruder ergreift.«

»Barbara, bitte. Du musst endlich aufhören, Andreas für alles verantwortlich zu machen. Wir müssen doch erst einmal mit ihm sprechen und erfahren, wie es so weit kommen konnte.«

»Andreas ist verantwortlich«, sagte sie unversöhnlich. »Wenn er nicht diese riskanten Spekulationen betrieben hätte, wären wir nie in diese Situation geraten. Lankenau in den roten Zahlen, ich darf gar nicht daran denken. Wenn ich das früher gewusst hätte, hätte ich doch niemals diesen aufwendigen Restaurierungsarbeiten am Herrenhaus zugestimmt, die Andreas unbedingt vornehmen lassen wollte. Er hat doch gewusst, dass das Geld dafür gar nicht mehr vorhanden war.«

Natürlich hatte sie recht. Aber trotzdem wehrte Fehrbach sich dagegen, seinen Bruder jetzt ebenfalls in Grund und Boden zu verdammen.

»Ich möchte, dass du hierbleibst, Thomas. Ohne dich schaffe ich es nicht.«

So direkt hatte sie es ihm noch nie gesagt. Eine nervöse Spannung begann seinen Körper zu erfüllen, ein fast gieriges Verlangen nach Alkohol stieg in ihm auf. Es erschreckte ihn, denn er hatte es überwunden geglaubt, überwunden gehofft.

»Warum willst du in die Staatsanwaltschaft zurück?« Barbara ließ nicht locker. »Ist es, weil du noch eine Rechnung mit diesem Gerlach offen hast? Bist du wirklich so versessen darauf, dich wieder mit ihm herumzuschlagen? Der Mann hat von Anfang an gegen dich intrigiert. Deine Suspendierung hast du doch nur ihm zu verdanken.«

Es waren Momente wie dieser, in denen Fehrbach bereute, Barbara entgegen seiner ursprünglichen Absicht doch einige Dinge anvertraut zu haben, denn noch immer waren seine Gefühle ihr gegenüber mehr als zwiespältig. Auf der einen Seite war er froh, dass die Gespräche der vergangenen Wochen zu einer gewissen Normalität in ihrem Verhältnis geführt hatten. Auf der anderen gelang es ihm jedoch noch immer nicht, das Misstrauen ihr gegenüber gänzlich abzulegen. Dazu saß es einfach zu tief.

»Thomas?« Barbara schien verwirrt, dass er schwieg. »Es gibt doch nichts mehr, was dich in Kiel hält. Dein Platz ist jetzt hier.«

»Ich werde dich nicht im Stich lassen, Barbara. Wir werden alles unternehmen, um Lankenau zu retten. Aber nach meinem Entzug kehre ich in die Staatsanwaltschaft zurück. Ich bin Jurist, kein Pferdezüchter.« Fehrbach erhob sich, denn er wusste aus Erfahrung, dass Barbara weiter in ihn dringen würde. »Ich bin müde. Wir sehen uns morgen. Schlaf gut.«

 

Der Griff der Pistole lag kalt in ihrer hocherhobenen Hand. Sie umklammerte ihn so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Als der Arm zu zittern begann, hob sie die linke Hand als Stütze empor. Aber schon nach kurzer Zeit zitterten beide Arme so heftig, dass sie sie sinken lassen musste. Das war der Moment, auf den ihr Gegenüber gewartet hatte. Blitzschnell förderte er eine Waffe zutage und legte auf sie an. Mit einem Aufschrei riss sie ihre Waffe wieder hoch. Sie schossen fast gleichzeitig.

»Lisa?«

Keuchend fuhr sie hoch und schlug nach der Hand, die sie zu halten suchte. Ihr Herz hämmerte so stark gegen die Rippen, dass sie das Gefühl hatte, ihr Brustkorb müsse zerspringen.

»Lisa … Schatz … es ist alles in Ordnung. Du bist in Sicherheit, du brauchst keine Angst mehr zu haben.«

Sie sprang aus dem Bett, weg von dem Mann neben sich, der sie in den Arm nehmen wollte. Nach Luft schnappend richtete sie sich auf und versuchte ihren Oberkörper zu weiten, aber es gelang ihr nicht, ihren Atem zu kontrollieren. Sie merkte, wie sie zu hecheln begann und sich ein eiserner Schraubstock um ihren Brustkorb legte. Ihr war, als würden ihre Lungen im nächsten Moment den Dienst versagen. Wie in Trance nahm sie den festen Griff um ihre Taille wahr und die Plastiktüte, die ihr vor Mund und Nase gehalten wurde.

»Ganz ruhig.« Peter Lannert hielt sie mit eisernem Griff. »Atme ganz ruhig in die Tüte.« Sie spürte seinen Herzschlag an ihrem Körper und versuchte sich dem gleichmäßigen Rhythmus anzupassen. Ohne Erfolg. Erst als sie mit beiden Händen die Tüte umfasste und mit gierigen Atemzügen in sie hineinkeuchte, wurde es besser. Nach endlosen Minuten ließ sie die Tüte sinken und fiel auf den Rand des Bettes. Sie war vollkommen erschöpft, das kurze T-Shirt schweißdurchtränkt. Aber das unkontrollierte Zittern hatte nachgelassen. Lannert hockte sich vor sie und musterte sie mit besorgtem Blick.

»Wieder derselbe Traum?«

Lisa nickte, unfähig, etwas zu sagen. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper, weil sie plötzlich entsetzlich fror.

»Du musst endlich zum Psychologen gehen, Schatz. Warum weigerst du dich nur so hartnäckig, dir helfen zu lassen? Du hast Schlimmes durchgemacht, das steckt man doch nicht einfach so weg.«

Nein, das tat man sicherlich nicht. So weit war sie in ihren Überlegungen immerhin auch schon gekommen. Aber trotzdem brachte sie es nicht über sich, mit einem Außenstehenden über das schreckliche Geschehen zu sprechen. Selbst Lannert hatte sie erst vor kurzem erzählt, was genau bei der Geiselnahme im Kieler Hafen geschehen war, als sie es nicht mehr verheimlichen konnte, dass sie keinen Urlaub hatte, sondern suspendiert war und eine interne Untersuchung gegen sie lief. Noch immer schauderte es sie, wenn sie daran dachte, dass sie kurz davor gewesen war, den Geiselnehmer zu erschießen. Fehrbach hatte sie zurückgehalten, und seine Worte hatten schließlich dazu geführt, dass sie wieder zur Besinnung gekommen war. Ihr anfangs so gespanntes Verhältnis hatte sich schon während der Ermittlung zum Besseren gewandt, nach der Geiselnahme waren sie sich dann auch für einen kurzen Augenblick persönlich sehr nahegekommen.

»Was hältst du davon, wenn ich dir einen schönen Tee mache?« Lannert griff nach der Bettdecke und legte sie um ihre Schultern.

Dankbar sah sie zu ihm auf. »Das wäre lieb von dir.«

»So bin ich nun mal«, sagte er schmunzelnd und strich über ihre Wange. »Morgen früh sprechen wir noch mal über das Thema Psychologe. Und diesmal lasse ich mich nicht wieder abwimmeln.«

Gedankenverloren blickte Lisa ihm hinterher, als er den Raum verließ. Seit drei Wochen war sie jetzt mit dem bekannten Maler zusammen, den sie während der Ermittlungen ihres letzten Falls kennengelernt hatte. Und noch immer fragte sie sich, wie es dazu gekommen war. War es die Verzweiflung gewesen, die sie in seine Arme getrieben hatte, dieses grenzenlose Gefühl der Einsamkeit, das sie jedes Mal aufs Neue überfiel, wenn sie an die Frau im Kieler Hafen zurückdachte, in der sie ihre vor drei Jahren spurlos verschwundene Schwester zu erkennen geglaubt hatte? Die Angst vor der ungewissen beruflichen Zukunft? Oder hatte sie sich nach Fehrbachs Zurückweisung nicht viel eher beweisen müssen, dass sie zumindest in den Augen anderer Männer eine begehrenswerte Frau war?

Während der letzten Wochen hatte Lannert sie aufgefangen, wenn sie den Boden unter den Füßen zu verlieren drohte. Immer häufiger stellte sie sich seitdem die Frage, ob sie sich womöglich nur aus Dankbarkeit mit ihm eingelassen hatte.

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Sonntag, 3. August

Die morgendlichen Ausritte waren für Fehrbach mittlerweile wieder zu einem festen Bestandteil des Tages geworden, den er nicht mehr missen wollte. Als er kurz nach acht zum Gestüt zurückkehrte und den Rappen zur Koppel lenkte, sah er Barbara neben dem Zaun stehen. Sie erweckte den Eindruck, als ob sie auf ihn gewartet hätte.

»Da bist du ja endlich!« Sie kam auf ihn zugelaufen. »Du musst sofort mitkommen!«

»Hat das nicht einen Augenblick Zeit?« Fehrbach gab die Zügel hin und saß ab. »Ich muss mich erst um Cyrano kümmern.«

»Lass das Pferd!«, fuhr Barbara ihn an. Erst jetzt bemerkte Fehrbach, dass sie leichenblass war. »Die Köchin …« Barbaras Stimme zitterte, als sie zum Eingang des Herrenhauses deutete, vor dem eine ältere Frau mit seltsam verlorenem Gesichtsausdruck stand. »Sie hat zwei Tote im Toilettenhaus gefunden.«

Fehrbach spürte, wie sein Herzschlag für einen Moment aussetzte. Er sah, dass Barbara auf eine Reaktion von ihm wartete, aber sein Verstand hatte die Bedeutung ihrer Worte noch nicht vollends erfasst. Erst als sie nach seinem Arm griff, gelang es ihm, sich aus seiner Erstarrung zu lösen. Er warf die Zügel einem vorbeikommenden Pferdelehrling zu und rannte los.

Die Sanitäranlagen waren in der ehemaligen Remise untergebracht, in der bis vor einigen Jahren noch Ackergeräte gestanden hatten. Als Fehrbach um die Hausecke bog, blieb er wie angewurzelt stehen und starrte voller Entsetzen auf den reglosen Körper, der bäuchlings vor ihm im Sand lag. Das helle T-Shirt war blutverkrustet, Fliegen stoben auf, als er näher trat. Vorsichtig beugte er sich hinunter und entdeckte das Einschussloch im Rücken. Obwohl die Situation offenkundig schien, tastete er nach der Halsschlagader.

Der Pulsschlag war so schwach, dass er ihn fast nicht wahrgenommen hätte. Mit zitternden Fingern zog Fehrbach das Handy aus der Brusttasche seiner Reitweste und drückte den Notruf. Während er die erforderlichen Angaben durchgab, warf er einen Blick in das Toilettenhaus und entdeckte einen zweiten Mann, der zusammengekrümmt vor dem Waschbecken direkt hinter dem Eingang lag. Der weißgeflieste Fußboden war blutverschmiert.

Hier kam jede Hilfe zu spät. Fehrbach sah es sofort, als er sich zu dem jungen Mann hinunterbeugte. Weit aufgerissene Augen blickten ihn an, die Panik darin jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Als er das Geräusch von Schritten vernahm, sprang er auf und eilte hinaus.

»Thomas … mein Gott …«

Barbara stand nur wenige Meter entfernt. Erschüttert starrte sie auf den Mann am Boden, der versuchte sich auf die Seite zu drehen. Ein leises Wimmern erfüllte die Luft.

»Was ist denn bloß passiert?« Sie zitterte am ganzen Körper und sah aus, als ob sie im nächsten Moment zusammenklappen würde.

»Geh bitte wieder ins Haus.« Fehrbach ließ sich neben dem jungen Mann nieder.

Schmerzverzerrte Augen versuchten seinen Blick zu erfassen, verschleierten sich dann aber wieder. Fehrbach schluckte, als er in das von Tränen und Staub verschmierte Antlitz sah.

»Mein Gott, das ist ja fast noch ein Kind«, hörte er Barbara murmeln.

Der junge Mann versuchte etwas zu sagen, aber es kam nur ein gurgelnder Laut über seine Lippen. Wieder begann er zu wimmern, sein Körper zuckte, schaumiges Blut quoll aus seinem Mund.

»Ganz ruhig.« Fehrbach strich über die schweißnasse Stirn und griff nach den zuckenden Händen. »Nicht bewegen. Gleich wird Hilfe hier sein.«

 

Mathias Conradi erwachte mit einem Ruck. Er begann sich aufzurichten, sank aber unversehens zurück, als grelles Sonnenlicht seine Augen traf. Einen Moment lag er ganz still und blinzelte durch die halb geöffneten Vorhänge, bis er schließlich die Beine über die Bettkante schwang und sich erhob. Er streifte den schwarzen Morgenmantel über, der auf einem Stuhl neben dem Bett gelegen hatte, und öffnete das große Panoramafenster, das den Blick auf einen Teil des gepflegten, parkähnlichen Gartens freigab. Hinter der Terrasse konnte er das Wasser des Pools in der Morgensonne leuchten sehen.

Ein plötzliches Geräusch ließ ihn herumfahren, seine Nackenhaare richteten sich auf. Mit klopfendem Herzen ging er zur Schlafzimmertür, der weiche Flor des Teppichbodens verschluckte jeden seiner Schritte. Warum war er nur so verdammt nervös in letzter Zeit? Als er auf den Flur hinaustreten wollte, konnte er sich im letzten Moment vor der herannahenden Düse eines Staubsaugers in Sicherheit bringen.

»Du meine Güte«, stieß er beim Anblick seiner Putzfrau hervor, »was machen Sie denn hier? Es ist Sonntagmorgen!«

»Sie hatten mich doch gebeten, vor Ihrer Party noch einmal Klarschiff zu machen,« gab sie patzig zurück, ohne sich von ihrer Arbeit ablenken zu lassen.

»Aber doch nicht so früh!«

»Später habe ich keine Zeit mehr. Ich möchte schließlich auch noch was vom Wochenende haben.«

Conradi sparte sich eine Erwiderung und ging nach einem vorsichtigen Blick Richtung Staubsauger in den Wohnraum hinüber. Sonnenlicht flutete das große Eckzimmer und überzog die schwarzen Ledermöbel mit einem sanften Glanz. Ansonsten dominierten Chrom und Glas die Einrichtung. Conradi öffnete die Schiebefenster und trat auf die Terrasse hinaus, deren granitene Steine sich bereits in der Sonne zu erwärmen begannen. Der Blick über sein Reich, wie er es insgeheim nannte, verschaffte ihm wie immer einen inneren Frieden. Menschen kamen und gingen, auf sie war kein Verlass. Das hatte er in den vergangenen Jahren viel zu häufig erfahren müssen. Aber das hier würde bleiben. Das Refugium eines Mannes, der den Mief seines kleinbürgerlichen Elternhauses an der Ostsee hinter sich gelassen und es zu etwas gebracht hatte. Knapp achttausend Quadratmeter umfasste das Grundstück, der Blick auf die Kieler Förde war einzigartig. Davon hatte er immer geträumt.

»Haben Sie eigentlich einen Catering-Service bestellt?«, hörte er die Stimme der Putzfrau hinter sich.

»Natürlich habe ich das.«

Er spürte ihren bohrenden Blick zwischen den Schulterblättern, dieses fast greifbare Verlangen, dass er mit weiteren Informationen herausrückte. Was es zu essen geben würde, welche Gäste er erwartete. Schon häufiger hatte sie angeboten, seine Besucher zu bewirten. Er hatte es jedes Mal abgelehnt. So weit kam es noch, dass dieses neugierige Weib hier rumschnüffelte und womöglich noch seinen Gästen nachstellte. Es war höchste Zeit, sich eine neue Putzfrau zu besorgen, die weniger aufdringlich war. Denn Diskretion stand für Conradi an oberster Stelle. Was seine Gäste zu schätzen wussten, die Einladungslisten lasen sich stets wie das Who’s who der Kieler Gesellschaft. Manager und Unternehmer standen ebenso darauf wie hochrangige Polizeibeamte und Regierungsmitglieder. Dass die meisten von ihnen nach dem entsprechenden Alkoholgenuss die Sau rausließen und zu kleinen Plappermäulchen wurden, ging niemanden etwas an.

Conradi hielt sich beim Trinken stets zurück, weil er wusste, dass er nicht viel vertrug. Viel wichtiger war es allerdings, die Kontrolle über das Geschehen zu behalten und aufzupassen, dass einem nichts entging. Alte Kontakte zu pflegen und neue aufzubauen. Denn die vierteljährlich stattfindenden Partys, zu denen ausschließlich männliche Gäste geladen wurden, dienten nur einem einzigen Zweck – Networking. Eine Disziplin, in der Conradi es mittlerweile zur Perfektion gebracht hatte. Und darauf war er sehr stolz. Denn nur seiner hartnäckigen Freundschaftspflege hatte er es zu verdanken, dass er mit siebenunddreißig Jahren an die Spitze der alteingesessenen Anwaltskanzlei Werbelin, Föltke & Partner gelangt war. Das lag jetzt sechs Jahre zurück, und Conradi hatte seine Chance ergriffen. Mit spektakulären Mandaten und publikumswirksamen Auftritten vor Gericht und den Fernsehkameras war es ihm gelungen, die Kanzlei, die bis zu seiner Übernahme immer ein bisschen verstaubt gewirkt hatte, nach dem Tod des ehemaligen Inhabers zu einer der führenden in Kiel zu machen. Conradi, Föltke & Partner – Musik in seinen Ohren. Die anderen Anwälte waren ihm anfangs mit Misstrauen begegnet, erst recht, als sie sahen, welche Klientel er ins Haus zu holen begann. Das Geld, das diese ihnen in schöner Regelmäßigkeit einbrachte, hatte sie allerdings sehr schnell eines Besseren belehrt. »Ich verkaufe meine Seele«, hatte eine Anwaltskollegin einmal gemeint, um dann im nächsten Augenblick in lautes Gelächter auszubrechen. »Aber das bringt mir verdammt viel Geld.« Die Gier hatte sie alle ergriffen.

Networking war eine wirklich schöne Sache, vor allem, wenn man wusste, was die anderen Mitglieder dieses exklusiven Zirkels in ihrer Freizeit so trieben. Die harmloseren Dinge hatte Conradi im Lauf der Jahre von ihnen selber erfahren, schließlich hielten sie ihn für einen Freund. Weitergehende Informationen hatte er sich auf anderen Wegen besorgt. Es gab immer Möglichkeiten, an sie heranzukommen, wenn man bereit war, Geld zu investieren oder anderen einen Gefallen zu tun.

 

Der Anruf von Luca Farinelli warf Lisas Pläne für einen entspannten Sonntag über den Haufen. Da Lannert in sein Atelier gefahren war, um an den Bildern für eine neue Ausstellung zu arbeiten, hatte sie sich mit ihrer Mutter Gerda und deren neuem Verehrer, dem Reeder Jakob Solberg, treffen wollen.

»Daraus wird nichts«, sagte ihr Kollege, der ebenso wie sie zum Bereitschaftsdienst eingeteilt war. »Gerade ist die Meldung reingekommen, dass auf einem Gestüt in der Nähe von Hohwacht ein Toter und ein Schwerverletzter aufgefunden wurden. Die Kollegen aus Lütjenburg und die Kripo Plön sind schon vor Ort.«

»Auf einem Gestüt?« Ein Schauer fuhr über ihren Rücken.

»Ja, auf Lankenau.« Als Lisa nichts erwiderte, fuhr Luca fort: »Du weißt, wem das gehört?«

»Ist Fehrbach was passiert?« Sie griff nach der Lehne des Küchenstuhls. Auf dem Tisch standen noch die Reste des Frühstücks.

»Nein«, sagte Luca irritiert. »Wie kommst du darauf?«

»Ich dachte nur …« Lisa sank auf den Stuhl. »Weil Lankenau doch seiner Familie gehört.« Als ihr bewusst wurde, wie idiotisch diese Erklärung klang, verstummte sie. Während sie Lucas Worten lauschte, merkte sie, wie sich ihr Herzschlag wieder normalisierte.

»Ich hole dich in einer halben Stunde ab«, hörte sie Luca sagen. »Wir sollten auch Uwe informieren. Oder was meinst du?«

Uwe Grothmann gehörte seit einem knappen Jahr zum Team der Kieler Mordkommission. In der Vergangenheit hatte es häufiger Probleme zwischen Lisa und ihm gegeben, aber sie wusste, dass die Schuld auch zu großen Teilen bei ihr gelegen hatte.

»Ich rufe ihn an«, sagte Lisa und stand auf. »Er hat zwar keine Bereitschaft, aber er wäre bestimmt sauer, wenn wir ihm nicht Bescheid geben.«

 

Lisa legte den Weg nach Lankenau mit zwiespältigen Gefühlen zurück. Sie sprach wenig, während Luca darüber spekulierte, ob Fehrbach nur vorübergehend auf Lankenau war oder sich jetzt dauerhaft dort aufhielt. Ebenso wie andere Kollegen ging auch Luca davon aus, dass Fehrbach sein Erbe antreten und nach seinem Alkoholentzug nicht mehr in die Staatsanwaltschaft zurückkehren würde.

Als das Navigationsgerät verkündete, dass das Ziel erreicht sei, sah Lisa auf. Der Wagen passierte ein großes schmiedeeisernes Tor, hinter dem eine breite Auffahrt zu einem weißen Herrenhaus führte. Zu beiden Seiten erstreckten sich Koppeln, die von weißen Holzgattern mit elektrischen Weidezäunen umgeben waren. Während sie die Pferde beobachtete, die auf ihnen herumtollten, rief Lisa sich in Erinnerung, was sie dank Internet schon vor einiger Zeit über Lankenau herausgefunden hatte.

Das Gestüt befand sich seit fast dreihundertfünfzig Jahren im Besitz derer von Fehrbach. Im Jahr 1955 war es in die Hände von Fehrbachs Großeltern übergegangen. Diese hatten zum Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Ländereien in Ostpreußen verlassen müssen. Nur drei Trakehner hatten die Flucht über das Haff überlebt. Mit ihnen waren Fehrbachs Großeltern Anfang 1945 in Lankenau angekommen und hatten mit Hilfe eines dort lebenden Onkels eine neue Zucht begründet, die von ihrem Sohn Johannes weitergeführt worden war. Nach dessen Tod vor wenigen Wochen waren Details über das Erbe durchgesickert, die zu Spekulationen geführt hatten. Denn Johannes von Fehrbach hatte nicht nur seine Witwe Barbara und seinen Sohn Andreas bedacht, der das Gestüt viele Jahre lang gemeinsam mit ihm geleitet hatte, auch der älteste Sohn Thomas hatte ein Drittel geerbt. Seitdem wurde gemutmaßt, ob Fehrbach sich auf Lankenau niederlassen und in die Pferdezucht einsteigen würde.

In einiger Entfernung vom Herrenhaus waren mehrere Streifenwagen sowie der VW-Bus der Spurensicherung und ein Leichenwagen zu sehen. Allem Anschein nach konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Ermittler auf ein rechteckiges Gebäude und das umliegende Areal. Der Bereich war weiträumig mit rot-weißem Absperrband gesichert, das in einer leichten Brise flatterte.

»Das muss die ehemalige Remise sein, in der sich jetzt die Sanitäranlagen befinden«, meinte Luca, nachdem sie ihren Wagen vor dem Herrenhaus geparkt hatten. »Dort wurden die beiden Männer gefunden.«

Sie stiegen aus. »Ich komm gleich nach«, sagte Lisa, als Luca zu den Kollegen gehen wollte. Sie drehte sich um und nahm das langgestreckte zweigeschossige Herrenhaus in Augenschein, das einer Filmkulisse entstiegen schien.

Die weiße Fassade erstrahlte in der Sonne. Sie wies keinerlei Abnutzungserscheinungen auf, wie man sie häufig an alten Bauwerken sah, denen das Geld für die notwendigen Restaurierungsarbeiten fehlte. Die dunkelgrünen Holzrahmen der zweiflügeligen Fenster glänzten wie frisch gestrichen, die Scheiben blitzten, als wären sie erst am Morgen geputzt worden. Das heruntergezogene Walmdach strahlte in sattem tiefgrünem Glanz.

Lisa schaute zum Reitplatz hinüber, der dem Herrenhaus gegenüberlag. Rechter Hand dahinter entdeckte sie ein rotes Backsteingebäude mit dunklen Fachwerkverzierungen. Sie vermutete, dass es sich um Ställe handelte. Mehrere weißgestrichene Bauwerke schlossen daran an, allem Anschein nach Scheunen und Nebengebäude. Auf der linken Seite hinter dem Reitplatz konnte sie einen weitläufigen Park ausmachen, an dessen Ende das Wasser eines kleinen Sees glitzerte.

Luca war neben ihr stehen geblieben und fing ihren Blick ein. »Nicht schlecht, was?« Er nickte anerkennend.

Lisa schwieg. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, eine so prächtige Anlage war es jedenfalls nicht gewesen. Auf einmal fühlte sie sich seltsam eingeschüchtert.

»Da drüben ist Alex.« Luca erwiderte Alexander Behrings Gruß. Der Leiter der Spurensicherung verschwand zwischen den offen stehenden Heckklappen des Busses, dessen Sichtschutz bis zum Anschlag ausgefahren war, und hievte kurze Zeit später einen Metallkoffer heraus. Als sie zu ihm gehen wollten, kam ihnen ein Schutzpolizist entgegen. Er gehörte zu einer Gruppe Beamter, die sich um die immer zahlreicher eintreffenden Besucher des um elf Uhr beginnenden Konzerts kümmerte. Lisa hatte ihn bereits an der Auffahrt gesehen, wo er mit seinen Kollegen dafür sorgte, dass kein Unbefugter das Gelände mehr betrat.

»Wir haben ein kleines Problem«, sagte der Polizeiobermeister mit einem unbehaglichen Gesichtsausdruck. »Die Besucher wollen wissen, ob sie ihr Geld zurückbekommen. Einige sind schon laut geworden. Ich habe versucht jemanden in der Intendanz des Schleswig-Holstein Musik Festivals in Lübeck zu erreichen, aber da ging niemand ans Telefon.«

»Danke, Kollege«, erwiderte Lisa. »Ich weiß Ihren Einsatz zu schätzen, aber das ist nun wirklich nicht unser Problem. Sagen Sie den Leuten bitte, dass sie sich direkt an die Intendanz wenden sollen.«

Der junge Beamte schien nicht glücklich, diese Nachricht überbringen zu müssen. Lisa lächelte ihm aufmunternd zu. Dann folgte sie Luca, der schon vorausgegangen war, und für Sekundenbruchteile hatte sie das Gefühl eines Déjà-vu, denn genau wie vor wenigen Wochen bei ihrer ersten Begegnung erblickte sie Fehrbachs große schlanke Gestalt hinter dem Absperrband. Er stand neben einem Kollegen der Kriminaltechnik. Die beiden Männer schienen in ein Gespräch vertieft. Ärger stieg in ihr auf. Sie hieß ihn willkommen, denn er lenkte sie von anderen Gedanken ab.

Er mischte sich ein, obwohl er suspendiert war. Aber was hatte sie eigentlich erwartet? Lankenau war jetzt auch sein Besitz. Er würde nicht abseits stehen bleiben.

Fehrbach schaute hoch, ihre Blicke trafen sich. Lisa straffte die Schultern, als er sich unter dem Absperrband hindurchbeugte und auf sie zukam. Nachdem er die Schutzkleidung ausgezogen hatte, nahm sie die Blutflecken auf seiner Reitkleidung wahr. Sie erinnerte sich an die Worte der Schutzpolizisten, dass Fehrbach sich um den Überlebenden gekümmert hatte.

»Frau Sanders, Herr Farinelli.« Fehrbach nickte ihnen zu, machte aber keine Anstalten, ihnen die Hand zu geben. Voll ohnmächtiger Wut spürte Lisa die Röte, die ihr Gesicht überzog. Erleichtert drehte sie sich um, als sie die Stimme von Alexander Behring hinter sich vernahm.

»Nicht, dass ihr auf die Idee kommt, ohne die reinzugehen.« Behring reichte ihnen zwei in Plastik verschweißte Schutzgarnituren. Als er Lisas Blick gewahrte, hob er abwehrend die Hände. »Ich kann dir noch überhaupt nichts sagen. Wir sind auch erst vor kurzem gekommen.«

»Was ist mit dem Mann, der überlebt hat? Konnte er sagen, was passiert ist?«

Fehrbach schüttelte den Kopf. »Er hat es versucht, ist dann aber bewusstlos geworden.«

»Wer hat die beiden Männer gefunden?«, fragte Luca.

»Das war eine unserer Angestellten. Ich war auf einem Ausritt. Als ich zurückkam, hat meine Stiefmutter mich informiert.«

»Ist Hesse schon hier?« Lisa blickte sich suchend um. Normalerweise war der Rechtsmediziner einer der Ersten am Tatort.

»Hesse ist in Urlaub. Du darfst dich mit Karstens rumschlagen«, erwiderte Behring mit einem Grinsen, bevor er den Mundschutz wieder hochzog.

»Na gut«, sagte Lisa, »dann wollen wir mal.« Sie versuchte locker zu klingen und spürte doch, wie sie sich unter Fehrbachs prüfendem Blick immer mehr verkrampfte.

»Warten Sie bitte noch einen Moment«, hielt er sie zurück. »Ich möchte Ihnen jemanden vorstellen.« Er winkte einem Mann, der neben einem schwarzen Audi stand und zu ihnen herübersah. »Das ist Frank Bergmann von der Kripo in Plön.«

Bergmann war groß und stämmig. Lisa schätzte ihn auf Mitte bis Ende vierzig. Durch die kurzgeschnittenen grauen Haare und die von unzähligen Lachfältchen umgebenen dunkelblauen Augen erweckte er im ersten Moment einen ausgesprochen jugendlichen Eindruck. Doch die tief eingegrabenen Furchen um Nase und Mund machten diese Wahrnehmung schnell wieder zunichte. Der Kripobeamte verzog keine Miene, als er ihnen die Hand reichte.

»Ich habe einige Kollegen aus Plön mitgebracht«, sagte er. Seine Stimme klang rauh. »Sie vernehmen gerade die Mitarbeiter der Catering-Firma. Die Leute haben schon angedroht, dass sie ein Ausfallhonorar haben wollen.«

»Na toll.« Luca verdrehte die Augen. »Immer nur Geld, Geld, Geld. Als ob es nichts Wichtigeres gäbe. Ich geh gleich mal rüber und sag denen, dass sie das gefälligst mit den Leuten vom Schleswig-Holstein Musik Festival klären sollen.« Kopfschüttelnd machte er sich auf den Weg.

»Hauptkommissar Bergmann hat zugesagt, dass er Ihre Ermittlungen zusammen mit einigen seiner Kollegen unterstützen wird«, erklärte Fehrbach. »Es wäre natürlich am besten, die Einsatzzentrale auf Lankenau zu errichten, aber leider fehlen uns hier die technischen Möglichkeiten. Ich habe jedoch schon mit den Beamten der Polizei-Zentralstation in Lütjenburg gesprochen. Sie richten gerade zwei Räume für Sie und Ihr Team her. Es wird etwas dauern, das Equipment zu beschaffen, aber man hat mir zugesagt, dass Sie ab morgen früh dort arbeiten können.«

Lisa runzelte die Stirn. Ihre Befürchtungen begannen sich zu bewahrheiten. »Einen Moment, bitte. Soweit ich weiß, sind Sie immer noch beurlaubt. Oder ist da etwas an mir vorbeigegangen?«

»Es ist richtig, dass ich beurlaubt bin«, entgegnete Fehrbach, »aber Lankenau ist unser Familiensitz. Ich denke, da ist es verständlich, dass ich nicht abseitsstehe, sondern mich einiger Dinge annehme.«

Trotz seiner deutlichen Worte machte Fehrbach einen gelassenen Eindruck. Lisa hätte aus der Haut fahren können. Während sie nicht wusste, wohin mit ihren widersprüchlichen Gefühlen, schien ihn das Wiedersehen vollkommen kalt zu lassen. »Das bleibt Ihnen unbenommen«, stieß sie hervor, »aber um das Tötungsdelikt werden meine Kollegen und ich uns kümmern. Und die Entscheidungen treffe immer noch ich.«

»Es lag keineswegs in meiner Absicht, Ihnen die Entscheidungen abzunehmen. Ich habe mir bloß Gedanken darüber gemacht, auf welche Art und Weise am effektivsten gearbeitet werden kann.«

Lisa schaffte es nicht, Fehrbachs Blick standzuhalten. Auf einmal kam sie sich entsetzlich kindisch vor. Wenn es ihr jetzt nicht gelang, das Private vom Beruflichen zu trennen, hatte sie verloren. Denn natürlich würde sie Fehrbach in der nächsten Zeit immer wieder über den Weg laufen. Aber sie musste verhindern, dass er sich in die Ermittlungen einmischte. Und dass sie ihn noch einmal zu nahe an sich heranließ.

 

Auf dem Weg zum Toilettenhaus erzählte Fehrbach, dass die Identität der beiden Männer anhand ihrer Ausweispapiere festgestellt worden sei. Bei dem Toten handelte es sich um den zwanzig Jahre alten Felix Körting. Sein Begleiter, der mit dem Rettungshubschrauber in die Uni-Klinik nach Kiel geflogen worden war, hieß Daniel Hellberg und war laut Personalausweis achtzehn Jahre alt.

»Ich vermute, dass der Anschlag gegen Mitternacht oder am frühen Morgen erfolgt ist«, sagte Fehrbach. »Gestern war der zweite Tag des Festivals. Die letzte Veranstaltung ging gegen halb zehn zu Ende. Als ich um elf zu einem letzten Rundgang aufgebrochen bin, ist mir niemand mehr begegnet.«

Lisa hatte den Tyvek-Anzug übergestreift, und auch Fehrbach stieg in neue Schutzkleidung. So vorsichtig wie möglich betraten sie den Vorraum des Sanitärgebäudes, um die Kollegen nicht in ihrer Arbeit zu behindern. Aufmerksam sah Lisa sich um. Der Raum maß circa zehn mal sieben Meter und war bis auf Deckenhöhe weiß gekachelt. An der rechten Wand entdeckte sie vier nebeneinander angebrachte Waschbecken mit darüber befindlichen Spiegeln. Neben jedem Becken waren Behälter mit Flüssigseife befestigt, am Eingang und an der hinteren Wand hingen zwei Rollenhandtuchspender. Auf der gegenüberliegenden Seite befanden sich fünf Toilettenkabinen.

Der Tote lag vor dem ersten Waschbecken hinter dem Eingang. Seine Haltung war seltsam verdreht, als hätte er versucht, sich ins Freie zu schleppen. Zwei Kollegen des K6 hatten damit begonnen, die Hände des jungen Mannes mit Papiertüten zu umhüllen und mit Klebeband an den Handgelenken zu fixieren, eine übliche Maßnahme bei Schusswaffenverletzungen, wenn eine Untersuchung auf Schmauchspuren notwendig wurde, die immer auch das Opfer einschloss. Ein anderer Kollege verfasste den Spurensicherungsbericht, zwei weitere fotografierten den Tatort und nahmen ein Video auf.

Alexander Behring kniete mit einer jungen Frau neben dem Toten, allem Anschein nach eine Praktikantin, denn Lisa hörte, wie der Leiter der Spurensicherung eine kurze Abhandlung über die Sicherung von textilen Mikrospuren gab, während er begann, den Körper des Toten mit selbstklebenden durchsichtigen Folienstreifen abzukleben. Die Augen der jungen Frau waren weit aufgerissen und flogen immer wieder zwischen dem leblosen Körper und einem von Behrings Mitarbeitern hin und her, der die Nummerierung der Streifen vornahm. Aber sie nickte tapfer, auch wenn der kleine Ausschnitt ihres Gesichts unter der Schutzmaske mittlerweile schon die Farbe der ihn umgebenden Textilie angenommen hatte.

Über allem thronte Dr. Martin Karstens, designierter Leiter der Kieler Rechtsmedizin. Lisa mochte ihn nicht. Er war ihr zu wortkarg, zu düster und abweisend. Aber sie musste anerkennen, dass er sich noch niemals in die Arbeit des Erkennungsdienstes eingemischt hatte, wie sie es von anderen Rechtsmedizinern her kannte. Karstens herrschte niemanden an, schubste keinen beiseite, um sich sein Terrain – die Leiche – zu erobern, sondern arbeitete Hand in Hand mit den ihn umgebenden Personen. Im Augenblick stand er gerade neben dem Eingang und betrachtete mit nachdenklichem Blick die Blutspuren an der danebenliegenden Wand.

Lisa bemerkte, dass Karstens ihr einen kurzen Blick zuwarf, aber sie hütete sich, ihn anzusprechen. Bevor sich der Rechtsmediziner kein abschließendes Bild vom Geschehnisort und dem Opfer gemacht hatte, würde er sowieso nichts sagen. Also beugte sie sich hinunter, um den Toten in Augenschein zu nehmen.

Er war so jung. Lisa schluckte und bemühte sich um professionelle Distanz, aber es fiel ihr schwer. Sie sah, dass der Tote vollständig bekleidet war, dunkelblaue Jeans, schwarzes, kurzärmeliges T-Shirt, schwarze Sneaker. Er war von schlanker Statur, sein dunkelbraunes Haar kurz getrimmt. Über seine Arme zogen sich Tätowierungen. Der Körper lag auf der linken Seite, das rechte Bein war leicht angewinkelt, der rechte Arm zeigte in Richtung der Waschbecken. Das hochgeschobene T-Shirt war voller Blut, das aus einer Schusswunde zu stammen schien, die Lisa an der rechten Brustkorbseite entdeckte. Am Kinn war eine blassblauviolette Unterblutung unterhalb des linken Mundwinkels mit einem Durchmesser von etwa zwei Zentimetern zu sehen.

Als sie eine Bewegung neben sich spürte, blickte Lisa auf und sah, dass Fehrbach zu ihr getreten war. »Waren Sie vorhin hier drinnen?«, fragte sie ihn.

Fehrbach nickte und heftete seinen Blick auf den Körper am Boden. »Ich habe seinen Puls gefühlt. Als mir klarwurde, dass er tot war, bin ich sofort wieder nach draußen gegangen, um keine weiteren Spuren zu verwischen.« Er deutete auf das Blut am Boden, in dem unterschiedliche Fußabdrücke zu sehen waren. »Die Rettungssanitäter haben die Spurenlage dann aber natürlich verändert.«

Alexander Behring kam auf die Füße, die Praktikantin eilte ins Freie, offensichtlich froh, dem grausigen Ort entkommen zu können. »Das ist ja immer unser Problem«, sagte er trocken.

»Habt ihr die Tatwaffe gefunden?«, fragte Lisa ihren Kollegen.

»Nee«, kam es zurück. »Wir haben noch nicht mal Hülsen entdeckt.«

»Ein Revolver?«, mutmaßte Lisa und richtete jetzt doch ihre Augen auf den Rechtsmediziner.

»Sie sind herzlich eingeladen, an der Obduktion teilzunehmen, Frau Sanders. Danach wissen wir dann alle mehr.« Ein kleines Lächeln kräuselte seine Lippen, als er sich umdrehte und zur hinteren Wand des Toilettenhauses ging.

Was hat der denn genommen, dachte Lisa verwundert. Mehr als drei Worte hat er doch noch nie an einem Leichenfundort herausgebracht. Sie schüttelte den Kopf und begann die Kabinen in Augenschein zu nehmen. Alle waren in einem ziemlich verdreckten Zustand, hatten sie doch am Vortag einem großen Besucheransturm standhalten müssen. Lisa rümpfte die Nase, als sie die überquellenden Mülleimer sah, die verschmutzten Klobrillen und dunkle Schleifspuren in den Toilettenschüsseln. Offensichtlich hielt es heutzutage niemand mehr für nötig, die Hinterlassenschaften seiner körperlichen Ausscheidungen zu beseitigen. Dafür gab es ja Putzfrauen. Die Gleichgültigkeit der Menschen regte Lisa jedes Mal aufs Neue auf.

Blutspuren konnte sie in keiner der Kabinen entdecken, genauso wenig wie an den Außenseiten der Türen. Ebenso deutete nichts auf Kampfspuren hin. Und doch musste es eine körperliche Auseinandersetzung gegeben haben, davon zeugte das Hämatom am Kinn des Toten. Als Lisa nach ihrer Inspektion wieder im Vorraum war, sah sie, dass Fehrbach das Toilettenhaus mittlerweile verlassen hatte. Er stand im Freien und unterhielt sich mit einem Kollegen vom Kriminaldauerdienst.

Sie trat zu Behring, der sich erneut neben den Toten gehockt hatte. »Was könnte passiert sein?«

Behring richtete sich auf und drückte für einen Moment die rechte Hand in den Rücken.

»Wieder der Ischias?«, fragte Lisa mitfühlend.

»Hör bloß auf«, stöhnte Behring. »Der hat mich die ganze Nacht nicht zur Ruhe kommen lassen.« Er schüttelte den Kopf, als er Lisas Blick bemerkte. »Bitte keine weiteren Tipps aus der Naturheilkunde, von wegen Arnica D 6 und so. Ich lass mir morgen ’ne Spritze geben.« Er verzog das Gesicht und versuchte, sich wieder auf Lisas Frage zu konzentrieren. »Einen erweiterten Suizid schließe ich für den Moment aus. Da deutet nichts drauf hin. Ich denke, dass der Täter hier im Waschraum oder in einer der Toiletten gestanden hat. Der Schuss auf den Jungen dürfte aus einiger Entfernung abgegeben worden sein, denn um die Eintrittswunde ist auf den ersten Blick kein Pulverschmauch zu erkennen. Eine Austrittswunde haben wir nicht gefunden. Es sieht so aus, als hätte das Opfer versucht wegzulaufen, darauf deutet seine Haltung hin. Der zweite Junge ist meiner Meinung nach nicht hier drin gewesen. Er ist dazugekommen, und als er gesehen hat, was passiert ist, wollte er fliehen. Fehrbach hat gesagt, dass er ein Einschussloch im Rücken hatte.«

»Mein Gott«, sagte Lisa erschüttert. Sie merkte, wie dünnhäutig sie in den letzten Wochen geworden war. Seit der Geiselnahme hatte sich so vieles verändert. »Ich lass euch dann mal eure Arbeit machen«, murmelte sie und trat ins Freie hinaus. Sie spürte Behrings verwunderten Blick im Rücken. Früher hatte er sie häufig ermahnen müssen, sie endlich in Ruhe arbeiten zu lassen. So schnell hatte sie niemand von einem Leichenfundort wegbekommen; sie war in jede Ecke gekrochen, in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis zu finden.

Fehrbach sah hoch, als sie an ihm vorüberhastete. Sie wich seinem Blick aus und atmete erleichtert auf, als sie das Absperrband erreichte. Beim Wagen angekommen, streifte sie den Schutzanzug ab. Achtlos knüllte sie ihn zusammen und warf das Bündel in den Kofferraum.

Zwei Pferde standen am Gatter der gegenüberliegenden Koppel und sahen neugierig zu ihr herüber. Sie schnaubten, als Lisa zu ihnen trat und sie zu streicheln versuchte. Der Braune begann nach ihrer Hand zu schnappen. Als Lisa sie zurückzog, stieß er ein lautes Wiehern aus und stob davon. Nur wenige Sekunden später folgte ihm sein Gefährte. Seite an Seite tobten sie über die Weide.

»Die Biester sind ziemlich eigenwillig«, hörte sie Lucas Stimme neben sich. »Ich hab vorhin auch mal versucht sie zu streicheln, aber Pustekuchen.« Ihr Kollege lehnte sich an das Gatter und stieß einen Seufzer der Behaglichkeit aus. »Hier könnte ich mir vorstellen zu leben. Dieses Gestüt ist doch ein einziger Traum, findest du nicht?«

»Hm.«

Lisa spürte Lucas Blick. »Bist du sicher, dass du schon wieder so weit bist?«, fragte er nach einer Weile. »Du siehst ziemlich mitgenommen aus.«

»Das ist ja auch kein Wunder«, fuhr sie ihn an. »Dahinten liegt ein junger Mann von gerade mal zwanzig mit einem Einschussloch in der Brust. Der hatte doch noch sein ganzes Leben vor sich.«

»Das ist richtig«, räumte Luca ein. »Solche Fälle gehen einem natürlich besonders nah. Aber deine Professionalität hat dir bisher immer geholfen, damit fertigzuwerden. Doch im Moment scheint mir das nicht der Fall zu sein. Warum gehst du nicht endlich zum Psychologen und lässt dir helfen?«

»Ich leg mich nicht auf die Couch und breite mein Seelenleben vor wildfremden Leuten aus!«

»Die toughe Lisa Sanders. Immer schön cool bleiben, was? Bloß keine Schwäche zeigen.«

»Luca, bitte! Hör auf!« Lisa wandte sich zum Gehen, aber sie hatte wieder einmal Lucas Hartnäckigkeit unterschätzt. Und seine Besorgnis um sie. Er folgte ihr auf dem Fuß.

»Soll ich nachher in die Rechtsmedizin gehen?«

Sie blieb stehen und drehte sich abrupt zu ihm um. »Nein! Natürlich nicht! Wie kommst du auf diese Idee?«

»Ich habe gedacht, dass es dir im Moment vielleicht zu viel sein könnte.«

»Behandel mich bitte nicht so, als ob ich krank wäre. Ich gehe zur Obduktion! Und komm mir jetzt nicht wieder mit einer Bemerkung über meine Coolness.« Sie schickte Luca einen letzten wütenden Blick und stapfte in Richtung Toilettenhaus zurück.

Wie gerne hätte sie sich bei ihrem Kollegen, der auch ein guter Freund war, einmal so richtig ausgeheult. Er war der Einzige, vor dem sie sich diese Blöße geben konnte, weil sie ihm zutiefst vertraute und er dieses Vertrauen noch nie enttäuscht hatte. Aber im Augenblick war sie dazu einfach nicht in der Lage. Im Augenblick hätte sie am liebsten jeden weggebissen, der ihr zu nahe kam.

 

Die Befragungen der Mitarbeiter des Gestüts und der Catering-Firma hatten begonnen. In der Zwischenzeit war auch Uwe Grothmann eingetroffen.

Die Angestellte, die die beiden Männer gefunden hatte, stand noch immer unter Schock. Das Einzige, was Lisa aus ihr herausbekam, war das, was sie schon von Fehrbach gehört hatte. Die ältere Frau, die nicht nur als Köchin, sondern auch als Reinigungskraft beschäftigt war, hatte wie jeden Morgen im Toilettenhaus mit ihrer Arbeit beginnen wollen. Als sie die beiden Männer gesehen hatte, war sie sofort ins Herrenhaus gelaufen, um Barbara von Fehrbach zu verständigen.

Lisa hatte sich mittlerweile eingestehen müssen, dass Fehrbachs Vorschlag, die Plöner Kollegen ins Boot zu holen, vernünftig gewesen war. Sie konnten im Moment jede Unterstützung gebrauchen, denn das K1 war immer noch chronisch unterbesetzt. Sie verständigte sich mit Bergmann darauf, dass sie sich für die Befragungen aufteilen würden. Einen Augenblick lang geriet sie in Versuchung, das Gespräch mit Fehrbach auf Bergmann abzuwälzen, schalt sich dann aber für ihre Feigheit. Der Versuch, Fehrbach aus dem Weg zu gehen, würde auf Dauer sowieso nicht funktionieren.

Die Eingangstür des Herrenhauses stand einladend offen. »Komm«, sagte Lisa, »lass uns mal schauen, ob wir die hohen Herrschaften auftreiben. Vielleicht sitzen sie ja gerade im Salon und nehmen ihren Tee.« Offensichtlich fand Luca die Bemerkung nicht besonders witzig, denn er verzog nur gequält sein Gesicht und folgte ihr wortlos in die große Diele. Aber vielleicht war auch ihr patziges Verhalten von vorhin daran schuld.

»Du meine Güte.« Luca blieb in der Mitte des eichengetäfelten Raums stehen und drehte sich einmal um die eigene Achse. Ein ehrfurchtsvoller Ton hatte sich in seine Stimme geschlichen. »Ob der alte Fehrbach die alle selbst geschossen hat?« Er deutete auf eine eindrucksvolle Sammlung unterschiedlicher Geweihe, die den größten Teil der linken Wand einnahmen. An der gegenüberliegenden Seite hingen alte Gemälde und Gobelins. Im Hintergrund der Diele führte eine mit kunstvollem Schnitzwerk verzierte Eichenholztreppe in den ersten Stock hinauf.

»Und wo sind die Ahnengemälde?« Luca blickte sich suchend um. »Die dürfen doch in einem Adelshaus nicht fehlen.«

Lisa gab ihm ein Zeichen, als sie Stimmen hinter einer der Türen vernahm, die ebenso wie die Eingangstür und alle anderen von der Diele abgehenden aus dunklem Eichenholz gefertigt war. Sie klopfte, und nach einem kurzen Augenblick wurde ihr geöffnet.

»Kommen Sie herein. Wir haben Sie schon erwartet.« Fehrbach hatte sich umgezogen und schien geduscht zu haben, denn seine Haare waren noch feucht.

Bei ihrem Eintritt erhob sich eine Frau vom Sofa und blickte ihnen unsicher entgegen.

»Barbara von Fehrbach«, übernahm Fehrbach die Vorstellung und ging zu der Frau hinüber. »Meine Stiefmutter.«

Lisa begegnete Lucas verwundertem Blick. Auch sie war überrascht von der Tatsache, dass Fehrbachs Stiefmutter so viel jünger war als ihr verstorbener Mann. Wenn man sie und Fehrbach nebeneinanderstehen sah, konnte man sie glatt für ein Paar halten.

Sie nahmen Platz, und Lisa blickte sich unauffällig um. Wieder fühlte sie sich seltsam eingeschüchtert. Es war eine andere Welt, auf die sie hier traf, eine fremde Welt, die Menschen wie Luca und sie ausschloss.

Der Raum konnte zu Recht als Salon bezeichnet werden. Lisa schätzte, dass er an die drei Meter hoch und ungefähr siebzig Quadratmeter groß war. Das entsprach in etwa der Größe ihrer Zweieinhalbzimmerwohnung. Die Wände waren in einem hellen Pastellgrün gestrichen. Eine weiße Tür führte in ein Nebenzimmer, bei dem es sich allem Anschein nach um das Esszimmer handelte. Lisa erblickte einen ovalen Mahagonitisch, den dazu passende Stühle umgaben.

Der Salon machte einen hellen und freundlichen Eindruck. Lisa hatte dunkle und wuchtige Ledermöbel erwartet und war überrascht von den beigefarbenen italienischen Leinensofas, die mit Sesseln und kleinen Beistelltischen zu zwei unterschiedlich großen Sitzgruppen angeordnet waren. Die duftigen Gardinenschals an den Fenstern verstärkten die mediterrane Note. An den Wänden standen Kommoden aus hellem Buchenholz. Sie trugen büfettartige Aufsätze, deren Glas mit Rautensprossen verziert war. Lisa entdeckte Kristallgläser darin und eine Auswahl unterschiedlichster Sammeltassen.

»Kann ich Ihnen etwas anbieten?«, fragte Fehrbach. Als sie verneinten, nahm er neben seiner Stiefmutter Platz, die sich wieder auf das Sofa gesetzt hatte.

Da es Lisa noch immer widerstrebte, Fehrbach zu befragen, wandte sie sich an Barbara. »Frau von Fehrbach, schildern Sie mir doch bitte den genauen Ablauf des Morgens. Wann haben Sie erfahren, was passiert ist?«

Barbara von Fehrbach hatte sich dicht neben ihren Stiefsohn gesetzt. Sie wirkte aufgewühlt. »Ich bin gegen sieben Uhr aufgestanden. Als ich das Schlafzimmerfenster öffnete, habe ich laute Schreie gehört. Eine unserer Angestellten kam über den Hof gelaufen und hat um Hilfe gerufen. Ich bin nach unten geeilt, weil ich wissen wollte, was passiert war. Da hat sie mir von den beiden Männern erzählt, die sie bei den Sanitäranlagen gefunden hatte. Sie hat gesagt, sie wären tot.«

»Woher wollte sie das wissen? Hat sie es überprüft?«

»Sie hat die beiden nicht angefasst. Sie hat gesagt, das konnte man sehen.«

»Sind Sie zum Toilettenhaus gegangen, um sich zu vergewissern, ob diese Aussage stimmt?«

Barbara sah Lisa entsetzt an. »Um Himmels willen, nein! Dazu hatte ich viel zu viel Angst. Ich bin ins Torhaus gelaufen, Thomas hat dort sein Apartment. Ich war so geschockt, ich konnte überhaupt nicht klar denken. Erst nach ein paar Minuten fiel mir ein, dass er morgens um diese Zeit immer seinen Ausritt macht.«

»Also haben Sie auf ihn gewartet«, stellte Lisa fest.

»Ja.«

»Im Torhaus?«

»Nein, ich bin hierher zurückgekommen. Ich habe mich um das Frühstück gekümmert, ich musste mich irgendwie ablenken. Aber dann bin ich immer unruhiger geworden und nach draußen gegangen, um dort zu warten.«

»Warum haben Sie nicht sofort die Polizei verständigt?«

»Ich weiß nicht … Ich war so durcheinander und habe nur gehofft, dass Thomas endlich zurückkommt.«

»Sie hätten ihn auf dem Handy anrufen können. Das wird er doch sicher dabeigehabt haben.«

»Meine Stiefmutter stand unter Schock, Frau Sanders. Da denkt man nicht immer an das Naheliegendste.«

Lisa sah, wie Barbara Fehrbach mit einem dankbaren Blick streifte. Er hatte zweifellos recht, aber trotzdem packte sie die Wut, wenn sie daran dachte, dass die vor ihr sitzende Frau, die auf sie den Eindruck eines verhätschelten Püppchens machte und sich immer wieder wie Schutz suchend an Fehrbach drängte, durch ihr Zögern vielleicht den Tod von zwei Menschen verursacht hatte. Denn die Ärzte hatten wenig Hoffnung gehabt, dass Daniel Hellberg durchkommen würde, wie sie in einem Telefonat mit dem Krankenhaus erfahren hatte. Und wie lange Felix Körting nach dem Schuss noch gelebt hatte, konnte im Moment niemand sagen. Vielleicht hätte er überlebt, wenn rechtzeitige Hilfe gekommen wäre.

»Haben Sie während der Wartezeit mit jemandem gesprochen?«, fragte Lisa und bemühte sich, ihre Abneigung nicht deutlich werden zu lassen.

»Nein.«

»Haben Sie andere Ihrer Angestellten gesehen? Oder irgendwelche fremden Personen?«

Barbara von Fehrbach schüttelte den Kopf.

»Wo war die Frau, die Sie benachrichtigt hatte?«

»Ich wollte sie nach Hause schicken. Sie wohnt in Satjendorf, das liegt nur fünf Kilometer entfernt. Ich dachte, es ist besser, wenn sie in dieser Situation bei ihrer Familie ist. Aber sie wollte mich nicht allein lassen und ist hier im Herrenhaus geblieben. Wir haben allerdings nicht mehr miteinander gesprochen, dazu waren wir beide viel zu geschockt.«

Luca sah Fehrbach an. »Wann sind Sie heute Morgen aufgestanden?«

»Um halb sechs. Um kurz nach sechs war ich im Stall, habe mein Pferd gesattelt und bin losgeritten. Gegen acht war ich wieder zurück.«

»Sind Sie auf dem Weg zum Stall bei den Sanitäranlagen vorbeigekommen?«

»Nein. Die Ställe liegen in der entgegengesetzten Richtung.«

»Ist Ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen, als Sie zum Stall gegangen sind oder als Sie das Gestüt verlassen haben?«, wollte Luca wissen. »War irgendwas anders als sonst? Ist Ihnen jemand über den Weg gelaufen, der nicht hierhergehört?«

»Es war alles wie immer, und mir ist niemand begegnet.«

»Und hier im Haus? Hier gibt es doch sicher so was wie …«, Luca schien mit sich zu ringen, ob er das Wort aussprechen sollte, »… Bedienstete? Könnten die etwas bemerkt haben?«

»Bedienstete?« Fehrbach stieß ein gequältes Lachen aus. »Entschuldigen Sie, Herr Farinelli, aber dieses Wort ist nun wirklich ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Ich weiß ja nicht, welche Vorstellungen Sie vom Adel haben, aber offensichtlich sind sie etwas überholt.« Sein Gesicht war ernst geworden. »Adel ist heutzutage nicht mehr gleichbedeutend mit Wohlstand. Wir haben auf Lankenau vier festangestellte Mitarbeiter. Dazu gehören unsere Köchin, die Sie bereits kennengelernt haben, und ihre Schwester. Sie sind neben der Küche für die Reinigungsarbeiten zuständig. Darüber hinaus beschäftigen wir noch zwei Handwerker, die sich um die Instandhaltung der gesamten Anlage kümmern. Weiterhin haben wir vier Lehrlinge, die ihre Ausbildung zum Pferdewirt machen. Sie sind ausschließlich für die Pferde da, von denen wir zurzeit knapp fünfzig besitzen. Wenn ich Pech habe und keinen geeigneten Gestütsleiter finde, können sie ihre Ausbildung hier allerdings nicht fortsetzen. Ich würde das sehr bedauern.«

»Sind die Pferde Ihre einzige Einnahmequelle?«, fragte Luca.

Fehrbach lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Lankenau besitzt noch eintausend Hektar Land, auf dem Raps, Getreide und Zuckerrüben angebaut werden, sowie fünfhundert Hektar Wald.«

»Und trotzdem haben Sie nicht mehr Angestellte?«, fragte Luca verwirrt. »Wie ist denn das mit den wenigen Leuten zu schaffen?«

Fehrbach lächelte. »Beim Einbringen der Ernte und der Neubestellung der Felder beschäftigen wir Saisonarbeiter und Aushilfen. Früher hatten wir eigene Maschinen, aber das lohnt sich heute nicht mehr. Mittlerweile kommen Lohnunternehmen zum Einsatz.«

Lisa verfolgte Fehrbachs Ausführungen mit einer Art widerwilliger Faszination. Diesen Fehrbach kannte sie nicht. Wie es aussah, hatte er sein Erbe angenommen und kümmerte sich tatsächlich um die Geschicke von Lankenau. Und sie hatte gedacht, er befände sich noch in der Klinik im Entzug. Die neue Aufgabe schien ihm gutzutun, auch wenn es um das Gestüt nicht zum Besten stand, wie sie kürzlich gelesen hatte. Fehrbach wirkte jünger als achtundvierzig, trotz seiner graumelierten Haare, die noch kürzer geschnitten waren als sonst. Sein Gesicht und seine Arme waren tief gebräunt, seine Bewegungen hatten etwas Lässiges, als er aufstand, um eine Flasche Wasser aus der Küche zu holen. Sie fragte sich, ob er selbst mit Hand anlegte. Wenn es hier nur so wenige Angestellte gab, war es zu vermuten. Der arrogante Adlige beim Stallausmisten – ein schwer vorstellbares Bild.

»Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen …« Fehrbach war wieder da und hielt die Wasserflasche fragend hoch. Als alle verneinten, schenkte er sich ein großes Glas ein und trank einige Schlucke. »Hier im Haus war heute Morgen niemand außer Frau von Fehrbach und unserer Köchin.«

»Wohnen Sie jetzt eigentlich dauerhaft hier?«, fragte Luca vorsichtig. Dann gab er sich einen Ruck. »Wissen Sie, dass ich mir ziemlich dämlich vorkomme, dass ich Sie befragen muss.«

»Das müssen Sie nicht, Herr Farinelli, Sie machen schließlich nur Ihren Job. Pech für mich, dass ich diesmal auf der anderen Seite stehe und zu den Verdächtigen gehöre.«

»Wir verdächtigen Sie nicht«, warf Lisa unwillig ein.

»Aber Sie brauchen eine umfassende Aussage von mir«, entgegnete Fehrbach und sah sie mit unbewegter Miene an. Dann wandte er sich wieder an Luca. »Wie Sie vielleicht erfahren haben, hat mir mein Vater einen Anteil am Gestüt vererbt. Da sich mein Bruder zurzeit im Ausland aufhält, führe ich meinen Entzug auf Lankenau durch und kümmere mich bis zu seiner Rückkehr um das Gestüt.«

»Was haben Sie am gestrigen Abend gemacht?«, fragte Lisa.

»Ich hatte einen auswärtigen Termin und bin gegen zwanzig Uhr nach Lankenau zurückgekehrt. Ich habe noch kurz mit meiner Stiefmutter gesprochen und bin dann in mein Apartment gegangen.«

»Wie lange sind Sie aufgeblieben?«, wollte Luca wissen.

»Bis gegen halb zwölf. Ich habe am Computer gearbeitet und zum Abschluss meinen Rundgang über das Gestüt gemacht. Danach bin ich zu Bett gegangen und habe durchgeschlafen, bis um halb sechs der Wecker geklingelt hat.«

»Ist Ihnen bei Ihrem Rundgang etwas aufgefallen?«

Fehrbach verneinte.

»Haben Sie vielleicht irgendetwas mitbekommen, was Ihnen im Nachhinein auffällig erscheint?«, fragte Luca weiter.

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Aber ich kann mich an nichts erinnern, tut mir leid.«

Barbara von Fehrbach gab an, dass sie bis gegen zehn Uhr gelesen hatte und dann in ihr Schlafzimmer gegangen war. In der Nacht hatte sie einmal zur Toilette gemusst, dabei aber nichts Verdächtiges wahrgenommen.

 

Die Befragungen zogen sich bis in den Nachmittag hinein. Niemand hatte etwas gesehen oder gehört. Außer der Frau, die die Männer gefunden hatte, war keiner der Angestellten in der Nähe des Toilettenhauses gewesen. Die beiden Handwerker, die auf dem Gestüt wohnten, waren am Freitagabend mit ihren Frauen zu einem Wochenendausflug nach Fehmarn aufgebrochen. Sie wurden erst am kommenden Tag zurückerwartet. Die Lehrlinge waren am Samstagabend in eine Disco nach Lütjenburg gefahren und am Sonntagmorgen gegen drei Uhr zurückgekehrt. Da sich ihre Unterkünfte bei den Ställen befanden, waren auch sie nicht in der Nähe der Sanitäranlagen gewesen. Bei ihrer Rückkehr hatten sie weder ein Auto noch Menschen gesehen.

Den einzigen weiblichen Lehrling hatten die Beamten noch nicht befragen können. Sabrina Göbels war vor einigen Tagen zu ihren Eltern nach Husum gefahren, weil ihr Vater schwer erkrankt war.

Bevor sie sich trennten, verabredete Lisa mit Bergmann, dass sie sich am nächsten Morgen in der Polizei-Zentralstation in Lütjenburg treffen würden. Bergmanns Verabschiedung war kurz. Lisa hoffte, dass er im Lauf der Zusammenarbeit etwas zugänglicher werden würde.