Küstenrache - Angelika Svensson - E-Book
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Küstenrache E-Book

Angelika Svensson

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Beschreibung

Krimi – Küste – Kiel! Düstere Spannung mit Ostsee-Flair und der 6. Fall für Kommissarin Lisa Sanders und Oberstaatsanwalt Thomas von Fehrbach Ein Doppel-Mord in einem Kieler Naturschutzgebiet ruft nicht nur die Kripo Kiel auf den Plan, sondern auch gleich das LKA: Die Opfer gehörten zum berüchtigten libanesischen Zaidan-Clan aus Lübeck, der mit Menschen- und Drogenhandel in Verbindung gebracht wird und offenbar nach Kiel expandieren will. Ein Fall von Revierstreitigkeiten? Mark Holtkamp, ein alter Bekannter von Kommissarin Lisa Sanders, bietet ihr an, vorübergehend für das LKA zu arbeiten und weiter in dem Mord-Fall zu ermitteln. Da ausgerechnet Lisas verhasste Kollegin Katrin Wagner kürzlich die Leitung der Kieler Mordkommission übernommen hat, nimmt Lisa das Angebot nur zu gern an – sehr zum Unmut von Oberstaatsanwalt Thomas von Fehrbach, der seit Monaten gegen den Zaidan-Clan ermittelt und um dessen Gefährlichkeit weiß. Riskiert Lisa Sanders diesmal zu viel? Ihr 6. Fall führt Kommissarin Lisa Sanders aus Kiel mitten ins Herz der organisierten Kriminalität – und an ihre eigenen Grenzen. Die Krimi-Reihe von Angelika Svensson ist an der deutschen Ostsee-Küste angesiedelt und in folgender Reihenfolge erschienen: Band 1 - Kiellinie Band 2 - Kielgang Band 3 - Wassersarg Band 4 - Küstentod Band 5 - Küstenzorn Band 6 - Küstenrache

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Angelika Svensson

Küstenrache

Ein Fall für Kommissarin Sanders

Knaur e-books

Über dieses Buch

Krimi – Küste – Kiel!

Düstere Spannung mit Ostsee-Flair und der 6. Fall für Kommissarin Lisa Sanders und Oberstaatsanwalt Thomas von Fehrbach

 

Ein Doppelmord in einem Kieler Naturschutzgebiet ruft nicht nur die Kripo Kiel auf den Plan, sondern auch gleich das LKA: Die Opfer gehörten zum berüchtigten libanesischen Zaidan-Clan aus Lübeck, der mit Menschen- und Drogenhandel in Verbindung gebracht wird und offenbar nach Kiel expandieren will. Ein Fall von Revierstreitigkeiten?

Mark Holtkamp, ein alter Bekannter von Kommissarin Lisa Sanders, bietet ihr an, vorübergehend für das LKA zu arbeiten und weiter in dem Mordfall zu ermitteln. Da ausgerechnet Lisas verhasste Kollegin Katrin Wagner kürzlich die Leitung der Kieler Mordkommission übernommen hat, nimmt Lisa das Angebot nur zu gern an – sehr zum Unmut von Oberstaatsanwalt Thomas von Fehrbach, der seit Monaten gegen den Zaidan-Clan ermittelt und um dessen Gefährlichkeit weiß. Riskiert Lisa Sanders diesmal zu viel?

Inhaltsübersicht

Donnerstag, 3. JuliFreitag, 4. JuliSamstag, 5. JuliSonntag, 6. JuliMontag, 7. JuliDienstag, 8. JuliMittwoch, 9. JuliDonnerstag, 10. JuliEpilogAnmerkung der Autorin
[home]

Donnerstag, 3. Juli

Nichts von dem, was in den letzten Stunden geschehen war, hatte in seiner Absicht gelegen. Aber seinem Schicksal konnte man nicht entfliehen, das war ihm jetzt endgültig klar geworden.

»Bleib!« Er zog sie an sich, so fest er konnte, und seine Hände fanden den Weg über die Wölbung ihres schmalen Rückens, die festen Pobacken und die straffen Schenkel, die sich an seine schmiegten. Ihre samtene Haut, die Wärme ihres Körpers brachten ihn schier um den Verstand. So lange schon hatte er auf diesen Augenblick gewartet.

»Ich kann nicht. Amal erwartet, dass ich zu ihrer Geburtstagsfeier komme. Sie ist meine beste Freundin, ich kann ihr diesen Wunsch nicht abschlagen.« Sie gab ihm einen schnellen Kuss auf den Mund und entwand sich seinem Griff, um aus dem Bett zu schlüpfen.

Er schaute ihr hinterher, wie sie durch das Zimmer in Richtung Flur schritt, mit diesem stolzen Gang, dem stets selbstbewusst erhobenen Haupt. So schreitet eine Königin, hatte er gedacht, als er sie das erste Mal gesehen hatte, und ihr Anblick hatte ihm für einen Moment den Atem geraubt.

Es war in Lübeck gewesen, in der Fußgängerzone, als sie die Hüxstraße heraufgekommen war und zielstrebig auf das Arkadencafé von Lübecks heimlichem Wahrzeichen, dem Niederegger, zugehalten hatte, wo sie sich einmal in der Woche mit zwei Freundinnen traf. Stets am Sonnabend, nachmittags um fünfzehn Uhr. Im Sommer draußen auf der Marktterrasse des Cafés, im Winter im Inneren des Gebäudes. Im Dossier hatten auch die Namen der Freundinnen sowie eine Reihe weiterer Informationen über die beiden jungen Frauen gestanden. Das Wichtigste in dem Schriftstück waren allerdings die Namen sämtlicher in Lübeck gemeldeter Familienmitglieder des Zaidan-Clans gewesen. Die Akte war weiterhin um deren Bekannte und Freunde ergänzt worden, soweit bekannt. Das Zusammentragen und fortwährende Ergänzen dieser Angaben war eine größere Aufgabe für die Kollegen des Dezernats 21 im LKA Kiel, die jetzt bereits seit drei Jahren andauerte, nachdem sich seinerzeit die ersten Mitglieder des berüchtigten libanesischen Clans in Lübeck niedergelassen hatten.

Während er das Wasser in der Dusche rauschen hörte, gingen seine Gedanken zu jenem schicksalhaften Tag vor zehn Monaten zurück, als sein Einsatz endgültig begonnen hatte …

 

Sie hatten festgelegt, dass sie es zu zweit machen würden. Mark Holtkamp sollte mit dem Wagen an der Ecke Wahmstraße/Kohlmarkt warten, und zwar an einer Stelle, von der er gute Sicht in den letzten Bereich der Breite Straße hatte. Nach Beendigung des nachmittäglichen Treffens mit ihren Freundinnen würde Yara dort entlangkommen. Allein, denn die Frauen trennten sich immer am Café. In den zwei Monaten, in denen Steffen sie jetzt observierte, hatte es noch nie eine Veränderung in diesem Ablauf gegeben; und so waren er und sein Kollege guter Hoffnung, dass es auch an diesem Tag nicht anders sein würde.

Steffen würde Yara unauffällig folgen. Wenn sie in Sichtweite des Wagens kamen, sollte Mark anfahren und auf sie zuhalten. Im letzten Moment würde Steffen hinzuspringen und Yara zur Seite reißen.

Das war der Plan, hinter dem die Hoffnung stand, Kriminalhauptkommissar Steffen Sattler als verdeckten Ermittler in den Zaidan-Clan einzuschleusen. Denn Yara war nicht irgendeine muslimische Frau, sondern eine von vier Schwestern des Clanchefs Faris Zaidan, von der es hieß, dass sie ihm sehr nahestand. Ihr Leben zu retten würde hoffentlich der Türöffner in den Zaidan-Clan sein.

Sie hatten lange überlegt, wie sie an Faris Zaidan herankommen konnten, und diese Möglichkeit schließlich als die beste erachtet, da sich das Risiko für alle Beteiligten in Grenzen hielt. Mark war ein gewiefter Autofahrer, und außerdem hatten sie die Situation mehrere Male mit einer Kollegin geübt. Bei dem Wagen würde es sich um einen unauffälligen und in die Jahre gekommenen Passat mit verdreckten Nummernschildern handeln, damit sie nicht Gefahr liefen, dass ihnen aufmerksame Passanten womöglich noch die Kollegen von der Schutzpolizei auf den Hals hetzten. Das wäre nämlich das Letzte, was sie gebrauchen konnten, da von Steffens Einsatz nur sein Vorgesetzter Holger Behrens, Mark Holtkamp sowie der zuständige Staatsanwalt Thomas von Fehrbach Kenntnis hatten. Holtkamps Stellvertreter Roland Theissen war zwar bekannt, dass ein VE in den Clan eingeschleust werden sollte, allerdings kannte er weder Steffens wirklichen Namen noch den seiner Legende. Der Rest des Dezernats wusste nichts von seinem Einsatz. Wenn ein verdeckter Ermittler ins Spiel kam, war es aus Sicherheitsgründen immer geboten, den Personenkreis, der davon Kenntnis hatte, so klein wie möglich zu halten.

Es war ein heißer Tag Mitte September gewesen, viel zu heiß für die Jahreszeit, der unzählige Menschen ins Freie gelockt hatte. Die Fußgängerzone war voll von ihnen; auch viele Touristen hielten sich noch immer in Lübeck auf, wie Steffen den unterschiedlichen Dialekten entnehmen konnte, die ihn umschwirrten.

Yara Zaidan und ihre beiden Freundinnen hatten vor einer Stunde Platz auf der Marktterrasse genommen. Steffen saß im Inneren des Cafés, von wo aus er die Frauen gut beobachten konnte. Sie plauderten angeregt, redeten teilweise mit Händen und Füßen. Vor allen Dingen Yara, die seinen Blick immer wieder auf sich zog. Sie war die klassische arabische Schönheit mit ihrer geschmeidigen Figur, den dunklen Augen und den glänzenden schwarzen Haaren, die ihr lang den Rücken hinunterfielen. Er wusste aus dem Dossier, dass sie neunundzwanzig Jahre alt war, als Assistenzärztin an der Uni-Klinik arbeitete und einen westlichen Lebensstil pflegte. Sie liebte schöne Kleidung und Schmuck, übertrieb es allerdings nicht mit dem Geldausgeben. Laut den Unterlagen lebte sie allein in einer Zweizimmerwohnung in einem Mehrfamilienhaus in der Kleinen Petersgrube, nur einen Steinwurf von St. Petri entfernt. Eine Beziehung war nicht bekannt.

Heute hatten sich die Frauen offensichtlich besonders viel zu erzählen, denn als sie endlich aufbrachen, war es schon nach halb sechs. Steffen bezahlte und beobachtete, wie sie sich mit Wangenküssen voneinander verabschiedeten. Wie erhofft ging Yara die Breite Straße Richtung Kohlmarkt hinunter. Er folgte ihr und musste lächeln, als sie plötzlich aus ihren Sandalen schlüpfte und sich zwischen die Wasserspiele begab, um ihre nackten Füße mit dem erfrischenden Nass zu kühlen. Er hätte es ihr gerne gleichgetan, denn die Hitze war wirklich mörderisch. Er dachte an Mark, der jetzt bereits seit Stunden dazu verdammt war, in dem unklimatisierten Wagen auszuharren.

Nach kurzer Zeit streifte Yara ihre Sandalen wieder über und wandte sich einem Juweliergeschäft auf der linken Seite zu, wo sie einen Blick in das Schaufenster warf und dann im Laden verschwand. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder herauskam und zu Steffens Erschrecken den Weg zurückging, den sie gerade gekommen war. Hastig zog er sein Smartphone aus der Hosentasche und schickte seinem Kollegen eine kurze Nachricht. Dann folgte er ihr. Sie passierte wieder das Café Niederegger, den Eingang zum Rathaus, dann St. Marien, bevor sie nach links in die Mengstraße einbog und schließlich vor dem Buddenbrookhaus stehen blieb. Steffen hielt Distanz und runzelte die Stirn. Was wollte sie hier? Das in aller Welt bekannte Haus, das heute ein Literaturmuseum war, schloss seine Pforten um sechs Uhr, und jetzt war es bereits halb sieben. Er sah, wie sie sich dem Fenster zur Linken des Eingangs zuwandte, auf dem die Öffnungszeiten des Hauses und Hinweise zu Führungen angebracht waren. Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche und machte eine Aufnahme davon. Nachdem sie das Mobilfunkgerät wieder verstaut hatte und sich erneut in Bewegung setzte, traten zwei junge Männer aus der Zufahrt des Hauses links neben dem Literaturmuseum und kamen mit schnellen Schritten auf sie zu. Verwaschene T-Shirts, Haare im Undercut-Style, osteuropäisches Erscheinungsbild. Als sie Yara erreicht hatten, umklammerte einer der Männer sie mit festem Griff, während der andere versuchte, ihr die Handtasche zu entreißen. Yara schrie auf und wehrte sich nach Kräften, aber sie hatte keine Chance. Als Steffen lossprintete, um ihr zu Hilfe zu eilen, hatte einer der Männer sie bereits zu Boden gebracht und trat mehrere Male auf ihre linke Hand, damit sie die Tasche losließ. Allerdings waren seine Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt, und als Steffen ihn sich gerade vornehmen wollte, sah er ein Messer in der Hand des zweiten Mannes aufblitzen. Drohend kam der Typ auf ihn zu, wurde aber mit einem gezielten Griff von Steffen außer Gefecht gesetzt, woraufhin der andere Mann in seinem Tun innehielt, kurz zu überlegen schien und dann das Weite suchte. Es wäre ein Leichtes für Steffen gewesen, zumindest den zweiten Mann bis zum Eintreffen der Polizei festzuhalten, aber damit riskierte er seine Tarnung. Also lockerte er seinen Griff, woraufhin der Mann aufsprang und hinter seinem Kumpel herrannte.

»Sind Sie verletzt?« Steffen kniete neben Yara nieder, die sich aufzurichten versuchte und dabei schmerzhaft ihr Gesicht verzog.

»Geht schon.« Sie wehrte ihn ab und stieß einen leisen Schmerzensschrei aus, als sie sich mit der lädierten Hand abstützte und wieder auf das Pflaster des Gehwegs zurücksank. Kurz entschlossen packte Steffen sie und zog sie hoch.

»Wo sind die Typen hin?«, fragte sie und blickte sich suchend um. Steffen bemerkte die Abschürfungen auf ihrer Hand und sah, dass der kleine Finger in einem unnatürlichen Winkel abstand.

»Da runter.« Er deutete die Mengstraße entlang. Die beiden Männer waren nicht mehr zu sehen, und er überlegte kurz, wie er jetzt weiter vorgehen sollte. Der unerwartete Überfall hatte ihm die Chance geboten, doch noch als Retter in Erscheinung zu treten, womit er nach der plötzlichen Änderung ihres gewohnten Rückwegs nicht mehr gerechnet hatte. Da musste er jetzt dranbleiben. Dennoch durfte er den Vorfall nicht ganz außer Acht lassen. Schließlich war sie gerade überfallen worden, und nach einem solchen Ereignis unternahm man normalerweise gewisse Schritte. »Können Sie die beiden Männer beschreiben?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das ging alles so schnell.« Sie schaute ihn an. »Und Sie?«

Natürlich hätte er es gekonnt, sein Blick war in solchen Dingen geschult. »Nein, tut mir leid. Mir war nur wichtig, Ihnen zu helfen, da habe ich nicht auf die Gesichter geachtet.«

Sie presste die Handtasche an ihren Oberkörper und runzelte die Stirn, als ob ihr etwas eingefallen wäre. »Ich war vor einer halben Stunde bei einem Juwelier in der Breite Straße. In dem Laden haben sich auch zwei Männer mit diesen verwaschenen T-Shirts aufgehalten, wie die beiden sie trugen.«

Ihr Deutsch war perfekt.

»Könnten sie das gewesen sein?«

»Ich weiß nicht. Diese Shirts tragen ja viele. Ich habe nur mitbekommen, dass sie sich einige Uhren zeigen ließen, und dann haben sie vor mir den Laden verlassen.«

»Haben Sie etwas gekauft, auf das die beiden es abgesehen haben könnten?«

»Ich habe eine Kette abgeholt, die dort zur Reparatur war. Da sich außer uns dreien und den beiden Verkäufern niemand im Laden aufgehalten hat, dürften sie das mitbekommen haben.«

Seine nächste Frage barg ein Risiko, aber er musste sie stellen, da sie eine logische Schlussfolgerung des Vorangegangenen war. »Sollen wir die Polizei rufen? Wollen Sie Anzeige erstatten?«

Sie überlegte einen Augenblick. »Nein, was soll das bringen? Sie haben mir nichts gestohlen, und ich kann sie ja auch nicht beschreiben.«

Die Antwort erleichterte ihn. Er warf einen Blick auf ihre Hand. »Darf ich?« Als sie nickte, ergriff er sie und sah sie sich genauer an. Der kleine Finger schien gebrochen, und die Abschürfungen waren voller Dreck. »Ich bringe Sie ins Krankenhaus. Das muss desinfiziert werden, und den Finger sollte sich ein Arzt ansehen.«

 

Der Finger war zum Glück nur verstaucht, und nachdem eine Krankenschwester die Wunde gereinigt hatte, konnten sie die Klinik wieder verlassen. Vor dem Eingang ergriff sie seinen Arm. »Ich habe mich noch überhaupt nicht bei Ihnen bedankt. Wenn Sie mir nicht zu Hilfe gekommen wären, wäre der Überfall nicht so glimpflich ausgegangen.«

Steffen machte eine abwehrende Handbewegung. »Halb so wild.«

»Nein, das ist es nicht. Heutzutage schauen doch alle weg bei einer solchen Situation.« Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. »Ich bin Yara Zaidan.«

Steffen erwiderte den Händedruck. »Marten Lührs.«

 

Damals war ihm der mit seiner Legende verbundene Name noch schwer über die Lippen gegangen, aber inzwischen hatte er sich an ihn gewöhnt.

Marten Lührs, selbstständiger Taxiunternehmer aus Lübeck-Moisling, der mittlerweile ausschließlich Mitglieder des Zaidan-Clans durch die Gegend kutschierte, deren Luxusschlitten einkassiert worden waren. Da bot es sich an, den deutschen Taxifahrer, der ein enger Freund des Clanchefs war, in Anspruch zu nehmen.

Ja, der damalige Vorfall mit Yara Zaidan hatte als Türöffner funktioniert, auch wenn er etwas anders abgelaufen war als ursprünglich geplant. Steffen hatte die junge Frau nach dem Verlassen des Krankenhauses nach Hause gefahren und ihr beim Abschied die Visitenkarte seiner vermeintlichen Firma mit den Worten »wenn Sie mal ein Taxi brauchen« in die Hand gedrückt. Sie um ein Treffen zu bitten wäre ihm plump erschienen; sein Instinkt sagte ihm, dass sie sich melden würde. Was sie eine Woche später dann auch getan hatte. Dass sie ihn allerdings zu einer größeren Familienfeier einladen würde, wo er als ihr Retter gefeiert wurde, hatte er nicht erwartet. Genauso wenig wie die Gefühle für sie, deren er sich bald nicht mehr hatte erwehren können …

 

»Hey, wo bist du denn mit deinen Gedanken?« Yara stand im Türrahmen, bereits fertig angezogen. Jeans und eine schlichte weiße Bluse, bunte Glitzersandalen an den Füßen. Mit wenigen Schritten war sie am Bett und ließ sich neben ihm nieder. Zärtlich streichelten ihre Finger sein Gesicht und malten die Konturen seiner Lippen nach. »Es war wunderschön.« Sie hauchte einen Kuss auf seine Wange. »Warum haben wir nur so viel Zeit verschwendet?« Der Schatten eines Bedauerns flog über ihr Gesicht. »Wir wussten doch beide, dass es irgendwann dazu kommen würde.«

Er hatte dagegen angekämpft. Sie waren sich nicht allzu häufig begegnet und wenn, dann nur im Beisein von Yaras Familie. Auf Feiern, zu denen Faris ihn eingeladen hatte. Sie hatten höfliche Phrasen ausgetauscht, stets unter den wachsamen Augen der anderen. Aber Yaras Blicke und flüchtige Gesten, wenn sie wie zufällig beim Servieren seine Hand streifte, sprachen eine andere Sprache.

Irrsinn, hatte er gedacht und versucht, ihr aus dem Weg zu gehen. Wir dürfen unseren Gefühlen nicht nachgeben, weil das über kurz oder lang unser beider Ende wäre. Ihre Familie würde ihn niemals akzeptieren, und außerdem riskierte er seine Tarnung. Er hatte einen Job zu erledigen, da hatten Gefühle nichts zu suchen.

Er hätte es durchgehalten, die Initiative war von ihr ausgegangen. Ihr Liebesgeständnis hatte ihn mit überbordendem Glück und grenzenloser Panik erfüllt.

Wie sollte es jetzt weitergehen?

[home]

Freitag, 4. Juli

Sarah Clausen hatte Angst. Ein Zustand, der ihr seit der Krebserkrankung ihrer Mutter vertraut war und an den sie sich mittlerweile gewöhnt zu haben glaubte.

Was für ein Irrtum!

Wie sich wirkliche, panische, alles andere überlagernde Angst anfühlte, wusste sie erst seit wenigen Minuten. Seit lautes Geschrei sie und Benni aus ihrem Liebesnest im Naturschutzgebiet des Mönkeberger Sees hochgeschreckt hatte. Zitternd hatten sie ihre Kleidung übergestreift und sich im Schutz einiger Bäume in Richtung der Stimmen bewegt und erstarrt innegehalten, als sie das Szenario vor ihren Augen gewahrten, das vom gleißenden Licht des Vollmonds geradezu erbarmungslos ausgeleuchtet wurde.

Drei Männer. Hysterische, sich überschlagende Stimmen, eine beginnende Prügelei. Dann plötzlich … ein merkwürdiges Geräusch, plopp, plopp, in schneller Folge, und zwei Männer, die zu Boden fielen.

Sarah bekam kaum noch Luft, stand da wie paralysiert, als der Killer seine Waffe hob und etwas abzuschrauben begann. Ein Schalldämpfer, schoss es ihr durch den Kopf. Er verstaute die Gegenstände in den Taschen seines Hoodies, und auf einmal blickte er in ihre Richtung.

Hatte er sie entdeckt?

Unwillkürlich drückte sich Sarah noch fester an Bennis Rücken. Sie hörte, wie er scharf die Luft einsog, dann kam Leben in ihn. Er packte ihre Hand und zog sie mit sich, und dann rannten sie, so schnell sie konnten. Immer weiter und weiter, bis sie die vertrauten Straßen in Mönkeberg erreichten. Erst hier hielten sie inne, beide vollkommen außer Atem, und gestatteten sich einen Blick zurück.

Niemand zu sehen. Aber das Licht der Straßenlaternen reichte nicht weit, dahinter tat sich wieder die Finsternis auf.

Hatten sie ihn abgehängt, oder war er ihnen gar nicht gefolgt? Oder verbarg er sich irgendwo in der Dunkelheit und würde im nächsten Moment auch ihr Leben beenden?

»Meinst du, dass er uns verfolgt hat?«, flüsterte Benni. Seine Züge waren angstverzerrt, immer wieder sah er sich hektisch um, das Gesicht schweißnass.

»Ich weiß es nicht.« Sie war so voller Panik, in ihren Ohren dröhnte es. Hätte sie Schritte hinter ihnen überhaupt wahrgenommen? Sie wollte nur noch nach Hause und sich in ihrem Bett verkriechen in der Hoffnung, am Morgen aufzuwachen und festzustellen, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Aber eines war ihr bewusst. »Wir müssen die Polizei rufen.«

Benni schien sie nicht gehört zu haben, er wirkte wie in Trance.

»Benni, hörst du, wir müssen die Polizei rufen!«

Mit einem verzweifelten Ausdruck packte er ihre Oberarme, sodass es schmerzte. »Das geht nicht! Keine Polizei!«

Sarah verstand nichts mehr. »Aber … wieso …?«

Benni riss sie in seine Arme, so fest, dass sie kaum noch Luft bekam. Sein Atem ging schwer. »Bitte, Sarah, versprich es mir. Keine Polizei!«

Sie befreite sich aus der Umklammerung. »Nein, das verspreche ich nicht! Erklär mir, was los ist. Hast du irgendwas mit den Männern zu tun? Mit dem Mann, der geschossen hat? Kennst du ihn?«

Benni strich über ihr Haar, sein Blick war weich geworden. »Vertrau mir, Sarah. Wenn du mich wirklich liebst, informierst du nicht die Polizei. Alles andere erkläre ich dir später.«

»Das kannst du nicht von mir verlangen, Benni! Wenn ich die Polizei nicht rufen soll, musst du mir schon den Grund dafür nennen!«

Er schüttelte den Kopf und sah sie voller Resignation an, dann rannte er fort.

Fassungslos blickte ihm Sarah hinterher. Er konnte sie doch jetzt nicht allein lassen. Sie hatten ein grauenhaftes Verbrechen beobachtet und mussten es der Polizei melden. Warum wehrte er sich so dagegen?

Die plötzliche Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Er hatte wieder zu dealen begonnen und Angst, dass die Polizei ihn durchleuchten würde, wenn er sich als Zeuge eines Verbrechens meldete.

Oder hatte seine Weigerung einen anderen Grund?

Sarah schluchzte auf, die Verzweiflung wollte überhandnehmen. Was sollte sie tun? Sie hatte Angst, nach Hause zu gehen und diesen Ort womöglich preiszugeben, falls der Killer ihnen doch gefolgt war, aber sie konnte ihre Mutter auch nicht die ganze Nacht über allein lassen. Was, wenn es dieser wieder schlechter ging? Sarah hatte eh schon das schlechte Gewissen geplagt, dass sie sich für das Treffen mit Benni heimlich fortgestohlen hatte, aber im Moment brauchte sie ihn dringender denn je, weil ihr zu Hause alles über den Kopf wuchs. Am Donnerstag nächster Woche musste sie ihre Mutter wieder ins Krankenhaus bringen, wo ein weiterer Chemotherapie-Zyklus anstand.

Und so riss sie sich zusammen und pirschte auf Umwegen zu dem Einzelhaus im Hülsenberg zurück; schlich durch Nachbargärten, immer bemüht, so wenig Geräusche wie möglich zu machen, und froh darüber, dass sich auch die Terrassentür mit einem Schlüssel von außen öffnen ließ.

Ihre Mutter schien zu schlafen, jedenfalls vernahm Sarah keinen Laut hinter der angelehnten Schlafzimmertür. So ging sie in ihr Zimmer, wo sie sich in ihren Sessel setzte und die Beine hochzog.

Was sollte sie tun? Sie konnte doch nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, als ob nichts geschehen wäre. Aber wenn sie die Polizei informierte, lieferte sie unter Umständen Benni ans Messer. Das konnte sie nicht, damit würde sie ihre Liebe verraten.

Sie griff zum Smartphone und drückte seine Nummer. Der Ruf ging raus, aber weiter geschah nichts.

Hatte er sein Handy ausgeschaltet? Das wäre mehr als ungewöhnlich, da es normalerweise rund um die Uhr in Betrieb war.

Ihre Gedanken schweiften zurück zu dem Tag vor einem knappen Jahr, als sie sich kennengelernt hatten. Was hatte Benni ihr damals imponiert. DJ im angesagtesten Klub von Kiel, von allen Mädchen angehimmelt. Dass er sich ausgerechnet für sie, die sich immer als graue Maus empfunden hatte, interessieren könnte, wäre ihr niemals in den Sinn gekommen. Bei seinem Aussehen hätte er doch ganz andere haben können.

Dass er in der Vergangenheit gedealt hatte, hatte sie durch Zufall bei einem belauschten Gespräch zwischen ihm und einem Gast mitbekommen, der ihn aus Lübeck kannte, Bennis vorherigem Wohnort. Darauf angesprochen, hatte er kleinlaut vor ihr gestanden und geschworen, dass er nichts mehr mit Drogen zu tun habe. Sein Umzug nach Kiel sei eine Zäsur gewesen; er habe sein altes Leben endgültig hinter sich gelassen. Verliebt, wie sie war, hatte sie ihm geglaubt. Oder glauben wollen.

»Sarah? Bist du da, Liebes?«

Sarah fuhr hoch, als sie ihre Mutter aus dem Schlafzimmer rufen hörte. Sie strich über ihr Gesicht und durch die Haare und atmete mehrere Male tief durch. Bleib ruhig, ermahnte sie sich. Mama darf nicht erfahren, was passiert ist, das würde sie viel zu sehr aufregen. Sie ging nach nebenan. Ihre Mutter hatte die Nachttischlampe angeknipst und sah sie mit einem liebevollen Blick an. »Hast du dich mit Benni getroffen?«

Sarah nickte. »Hab ich dich geweckt?« Sie hatte sich doch solche Mühe gegeben, leise zu sein.

»Nein, du weißt doch, dass ich in manchen Nächten schwer zur Ruhe komme.« Brigitte Clausen richtete sich im Bett auf und griff nach dem gefüllten Wasserglas auf dem Nachttisch. Sie nahm einen großen Schluck, stellte das Glas wieder ab und ließ sich mit einem Seufzer zurücksinken.

»Benni hatte um Mitternacht seine Ablösung, da haben wir uns noch kurz getroffen.« Sie scheute sich, von dem Ort ihres Treffens zu sprechen, den Liebesnächten, die sie bei schönem Wetter dort verbrachten.

»Ach, meine Kleine, es tut mir so leid, dass ich dich immer beanspruchen muss und du im Moment so wenig Zeit mit ihm verbringen kannst. Aber ich bin froh, dass du Benni hast. Er wird dir Halt geben, wenn ich nicht mehr …«

»Nein, Mama, bitte nicht!« Sie hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten.

»Ich weiß, was ich dir zumute, Sarah, aber wir müssen doch darüber reden, was aus dir wird, wenn ich nicht mehr bin. Das Haus ist noch nicht abbezahlt …«

»Du wirst steinalt, Mama«, unterbrach Sarah sie, wie immer die Wirklichkeit leugnend. Der Gedanke, ihre Mutter zu verlieren, schnürte ihr die Luft ab und ließ die Bilder der letzten Stunde für einen Moment in den Hintergrund treten. Hastig versuchte sie, das Thema zu wechseln. »Soll ich dir einen Schlaftee machen? Oder heiße Milch mit Honig?«

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Nein, Liebes, danke, aber das brauchst du nicht. Leg dich jetzt hin und schlaf.«

Sarah trat zum Bett und drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. »Du aber auch.« Bevor sie den Raum verließ, löschte sie das Licht der Nachttischlampe.

Zurück in ihrem Zimmer, versuchte Sarah erneut Benni zu erreichen, aber auch dieses Mal hatte sie keinen Erfolg. Sie rollte sich auf ihrem Bett zusammen und nickte irgendwann tatsächlich ein, bis sie das Klingeln ihres Handys aus zusammenhanglosen Albträumen riss. Als sie Bennis Nummer auf dem Display erblickte, schluchzte sie vor Erleichterung auf. Bevor sie etwas sagen konnte, drangen seine aufgeregten Worte an ihr Ohr.

»Ich muss verschwinden, Sarah.«

Ihr Herz klopfte bis zum Hals. »Bitte, Benni, sag mir endlich, was los ist.«

Bei den nächsten Worten zitterte seine Stimme. »Ich hab mein Portemonnaie verloren. Wenn der Typ das gefunden hat, kennt er meine Adresse. Dann bin ich geliefert.« Eine kurze Pause, dann: »Ich liebe dich, Sarah.«

Sie schluckte, wollte antworten, aber Benni hatte das Gespräch beendet.

 

 

 

Nachdem Benjamin Klemm in aller Hast einige Klamotten in eine Reisetasche gepackt hatte, hielt er inne und sank auf sein Bett. Sein Kopf war noch immer wie betäubt, sein Handeln auf Autopilot, aber ein Gedanke hatte es jetzt doch an die Oberfläche geschafft.

Wohin sollte er eigentlich abhauen? Geld, Kredit- und Scheckkarte, Ausweis, alles, was er für eine Flucht brauchte, war in diesem verdammten Portemonnaie. Er konnte nicht einmal seinen Wagen dazu nutzen, um wenigstens fürs Erste aus der Stadt zu kommen, da der Tank so gut wie leer war. Er hatte am Nachmittag tanken wollen, aber dann war wieder etwas dazwischengekommen, und er hatte sich gesagt, morgen ist auch noch ein Tag.

Als er den Gedanken endlich zuließ, überwältigte ihn die Hoffnungslosigkeit. Er hatte keine Familie, und Freunde konnte er nicht mit in die Angelegenheit hineinziehen, indem er sie um Unterschlupf bat. Damit würde er auch sie in Gefahr bringen, denn dass der Killer aufgab, wenn er ihn hier, in seiner Wohnung, nicht antraf, glaubte Benni keine Sekunde.

Er hatte gehofft, diesen Mann nie mehr wiederzusehen. Aber um das zu erreichen, hätte er wohl mehr als die achtzig Kilometer zwischen Lübeck und Kiel zurücklegen müssen. Andererseits, was war denn damals Schlimmes passiert? Er hatte ihm die Freundin ausgespannt, so what? So etwas passierte jeden Tag auf der Welt. Wenn er gewusst hätte, dass er nach dieser Sache keine ruhige Minute mehr haben würde, hätte er die Finger von der Tussi gelassen. Zum Glück war das Jobangebot aus Kiel gekommen, und so hatte er Lübeck und diesen Irren endlich hinter sich lassen können. In der Hoffnung, dass er seinen neuen Wohnort nicht herausfinden würde.

Und nun war der Typ wieder aufgetaucht und hatte zwei Menschen umgebracht. Benni wurde immer noch schlecht, wenn er daran zurückdachte.

Unschlüssig schaute er auf seine Armbanduhr. Mittlerweile war es fünf Uhr morgens, das erste Tageslicht hatte sich seinen Weg durch die Jalousien gebahnt. Seit dem Anruf bei Sarah war eine halbe Stunde vergangen.

Und wenn er nun doch zur Polizei ging, das Gesehene meldete und um Schutz bat? Denn selbst wenn der Irre sein Portemonnaie nicht gefunden hatte, würde er an seine Adresse kommen, da war Benni sich hundertprozentig sicher. Aber die Polizei würde ihn bei einer Anzeige ebenfalls durchleuchten und schnell darauf stoßen, dass er wieder dealte und somit gegen sämtliche Bewährungsauflagen verstieß. Er würde wieder einfahren, aber war das nicht immer noch besser, als in die Hände eines wild gewordenen Killers zu geraten?

Ein Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Es schien aus dem hinteren Bereich der Erdgeschosswohnung gekommen zu sein, wo das Wohnzimmer lag. Bei seiner Ankunft hatte Benni als Erstes sämtliche Fenster sowie die Terrassentür kontrolliert und dann in allen Zimmern die Innenjalousien heruntergelassen. Im Außenbereich gab es keine.

Da … da war es wieder. Ein Scharren an der Terrassentür. Bennis Herzschlag setzte für einen Moment aus, bis er ein lautes Miauen hörte. Erleichterung flutete seinen Körper, so stark, dass ihm schwindlig wurde.

Das konnte nur Boogie sein, der schwarze Kater, der ihm vor einigen Monaten zugelaufen war. Boogie war ein Freigänger, fand aber regelmäßig zu Benni zurück, um sich sein Futter und seine Streicheleinheiten abzuholen.

Vorsichtig linste Benni durch die Jalousie in den Garten, über dem die erste Morgendämmerung lag, und da entdeckte er den Kater. Er schien in einen Kampf verwickelt gewesen zu sein, denn er humpelte stark und blutete aus einer Wunde am Kopf.

Ich kann mich nicht um dich kümmern, dachte Benni verzweifelt. Ich muss sehen, dass ich hier wegkomme, auch wenn ich keine Ahnung habe, wohin ich abhauen soll.

Im nächsten Moment zersplitterte die Scheibe, und Benni nahm einen heftigen Schlag gegen die Brust wahr. Er taumelte zurück und versuchte vergebens, sich an der Lehne des Sessels festzuhalten. Als er zu Boden fiel, war er bereits tot.

 

»Das ist nicht dein Ernst!«

»Ja glaubst du etwa, dass es mir gefällt? Ganz bestimmt nicht! Aber was soll ich denn machen?« Wie so häufig in letzter Zeit kamen Kriminalhauptkommissarin Lisa Sanders bei diesem Thema die Tränen. Sie war noch nie nah am Wasser gebaut gewesen, aber wann immer jemand in den vergangenen sechs Monaten die aktuelle Entwicklung in der Kieler Mordkommission angesprochen hatte, war es mit ihrer Selbstbeherrschung vorbei.

»Lisa, du kannst doch jetzt nicht alles hinschmeißen, wofür du jahrelang gearbeitet hast!«

Fehrbachs Stimme klang ungläubig, in seinem Blick lag Verärgerung. Sie sehnte sich danach, dass er sie in die Arme nahm und in ihrem Entschluss, den sie in einer schlaflosen Nacht gefasst hatte, bestärkte, aber er blieb auf Distanz. Natürlich hatte sie das Thema in den letzten Monaten häufig angesprochen, und augenscheinlich nervte es ihn mittlerweile ebenso wie ihre bisherige Entschlusslosigkeit. Aber damit war es jetzt ja vorbei. »Ich werde keine Sekunde länger in einer Abteilung arbeiten, in der Katrin Wagner das Sagen hat!«

Die Entscheidung tat weh, zumal sie nicht wusste, wohin sie wechseln sollte, und mit das Schlimmste daran wäre, dass sie Frank Bergmann zurücklassen müsste. Aber sie sah einfach keine andere Möglichkeit.

Im Dezember des Vorjahres hatten sie und ihre Kollegen erfahren, dass ihr Vorgesetzter Ralf Södersen, Leiter der Kieler Mordkommission, vorzeitig in den Ruhestand gehen wollte. Nicht von ihm, mit dem sie eine jahrelange Freundschaft verband. O nein, er hatte es vorgezogen, über den Jahreswechsel mit seiner Frau auf eine Kreuzfahrt zu gehen und andere diese Nachricht überbringen zu lassen. Lisa schwankte immer noch zwischen Wut und Unverständnis, wenn sie über dieses Verhalten nachdachte, das keiner von ihnen jemals an Södersen erlebt hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ihn jeder als einen aufrichtigen Menschen gekannt, der immer sagte, was Sache war, und sich in keiner Situation zu drücken pflegte.

Im Januar hatte man ihnen dann mitgeteilt, dass er seine Überstunden abbummeln würde und erst im April zurückkomme, um die Übergabe mit Katrin Wagner zu erledigen, die sich nach dem auf sie abgegebenen Schuss auf dem Wege der Besserung befand und seinen Posten am ersten Mai übernehmen sollte.

In den darauffolgenden Monaten hatte sich Lisa immer wieder um eine Kontaktaufnahme bemüht, aber Södersens Frau hatte sie am Telefon stets abgewimmelt. Als er dann zurück im Büro war, hatte Lisa ihn mehrere Male um ein Gespräch gebeten, aber auch diese Bemühungen waren nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Im Dienst war Katrin Wagner nicht von seiner Seite gewichen, und als Lisa ihm in ihrer Verzweiflung einmal nach Feierabend vor der Bezirkskriminalinspektion aufgelauert hatte, hatte er sie brüsk abgewiesen. Danach hatte sie ihre Anstrengungen endgültig eingestellt, tief enttäuscht von einem Mann, den sie einmal für einen guten Freund gehalten hatte. Als Södersen am 30. April schließlich in den Ruhestand gegangen war, hatte es nur die offizielle Verabschiedung gegeben. Zu einer privaten Feier wäre ohnehin kaum ein Mitarbeiter des K1 erschienen, zu tief saßen die Enttäuschung und der Frust über Södersens unverständliches Verhalten.

»Lisa, jetzt sei doch vernünftig!«

»Das bin ich, Thomas! Es gibt nur diese Möglichkeit für mich. Södersen hat mir zugesagt, dass ich seine Nachfolgerin werde, und dann ist er sang- und klanglos in den Urlaub abgehauen, und wir bekamen Katrin Wagner vor die Nase gesetzt. Was offensichtlich so mit ihm abgesprochen war. Du weißt doch, dass ich jetzt seit Monaten vergeblich hinter ihm herrenne, um endlich eine Erklärung zu erhalten.« Aufgebracht wischte sie die Tränen aus ihrem Gesicht. »So behandelt man andere Menschen nicht. Und schon gar keine, mit denen man angeblich befreundet ist.«

»Kann der Personalrat denn wirklich nichts gegen die Neubesetzung mit Katrin Wagner unternehmen?«

Sie schnaubte verächtlich. »Der Personalrat ist ein zahnloser Tiger. Wenn Wahlen anstehen, nerven sie dich mit ständigen Besuchen und drücken dir Blümchen in die Hand, aber wehe, du brauchst sie mal. Ich hab die Kollegen doch eingeschaltet, nur um mir dann immer wieder anhören zu müssen, dass sie leider nichts für mich tun könnten. Die sind noch überflüssiger als ein Kropf.« Sie trat auf die Außenterrasse von Fehrbachs neuer Penthouse-Wohnung, weil die Hitze im Inneren der Räumlichkeiten sie langsam, aber sicher fertigmachte und hier draußen wenigstens ein bisschen Wind wehte. Schleswig-Holstein ächzte wie schon im vergangenen Jahr seit Anfang Mai unter einer Hitzewelle. Kaum hatte man am Morgen geduscht, war man schon wieder durchgeschwitzt.

Fehrbach war ihr gefolgt, aber er erwiderte nichts.

»Katrin Wagner hat gelogen und betrogen, um an den Posten zu kommen, und erhält Rückendeckung von oberster Stelle«, fuhr sie fort und versuchte, ihre Wut wieder in den Griff zu bekommen. »Seit ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus macht sie mich jeden Tag fertig. Manchmal habe ich den Eindruck, dass sie etwas anderes überhaupt nicht interessiert.«

»Tut mir leid, Lisa, aber in meinen Augen reagierst du über. Du hast dich auf die Frau eingeschossen, weil sie dir den ersehnten Posten weggeschnappt hat. Aber die Hintergründe sind dir bis heute nicht bekannt. Vielleicht solltest du erst einmal versuchen, sie herauszufinden, bevor du deine Kollegin für alles verantwortlich machst.«

Fassungslos starrte Lisa ihn an. »Willst du damit andeuten, dass ich den Job nur deshalb nicht bekommen habe, weil ich unfähig bin?«

»Nein, das will ich nicht!«

»Das hörte sich aber ganz so an!« Mit wenigen Schritten war sie im Flur, wo ihr Rucksack an der Garderobe hing. Wütend zerrte sie ihn herunter und warf ihn über ihre Schulter. »Ich muss ins Büro.«

 

Das war doch wieder mal so typisch, dachte sie aufgebracht, während sie zu ihrem Wagen ging, den sie in einer Seitenstraße geparkt hatte. Wenn männlicher Pragmatismus auf weibliche Emotion stößt, hat Frau immer das Nachsehen. Die nächste Nacht würde sie besser in ihrer Wohnung verbringen, bevor Fehrbachs Verhalten sie noch zorniger machte und sie womöglich Dinge sagte, die sie hinterher bereute.

Sie waren jetzt seit sieben Monaten zusammen, und es war trotz aller Liebe eine Zeit mit Höhen und Tiefen gewesen. Hatte sie sich in ihrer vorherigen Beziehung eingeengt gefühlt, fehlte ihr jetzt häufig die Nähe, die in der kurzen Zeit, die Fehrbach nach dem Anschlag auf ihn in ihrer Wohnung gelebt hatte, entstanden war. Es hatte in den letzten Monaten eine Reihe von Tagen gegeben, an denen sie nur miteinander telefoniert hatten, weil Fehrbach seit Anfang des Jahres beruflich noch eingespannter war als bisher. Im K1 hingegen war es erstaunlich ruhig gewesen, sodass sich ihr die Möglichkeit geboten hatte, Urlaubstage und Überstunden abzubummeln. Zeit, die sie gerne mit Fehrbach verbracht hätte, die dieser aber teilweise nicht einmal am Abend erübrigen konnte. Es war eine Situation, die ihr zugesetzt hatte, weil sie sich nicht des Eindrucks erwehren konnte, dass er sich ihr entzog. Das machte sie entweder traurig oder wütend, weil sie nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte. Darauf angesprochen, hatte Fehrbach gemeint, dass sie weiße Mäuse sehe, aber ihr Gefühl sagte ihr etwas anderes.

Auf dem Weg in die BKI erreichte sie ein Anruf ihres Kollegen Frank Bergmann. Im Naturschutzgebiet des Mönkeberger Sees waren zwei männliche Leichen aufgefunden worden.

 

»Arif und Rasin Zaidan«, sagte Bergmann, während sie zum Leichenfundort gingen, der sich in der Nähe eines Wanderwegs befand, welcher vom Heikendorfer Weg abzweigte. Ihr Kollege reichte ihr zwei Beweismittelbeutel, in denen sich jeweils ein Personalausweis befand. »Libanesische Staatsangehörigkeit, beide wohnhaft in Lübeck. Sie wurden aufgrund eines telefonischen Hinweises am frühen Morgen aufgefunden.« Er zog einen Block aus der Tasche seiner Jeans und warf einen Blick hinein. »Eine Sarah Clausen hat um vier Uhr zweiunddreißig die 110 angerufen und angegeben, dass sie und ihr Freund Benjamin Klemm die Morde beobachtet hätten.«

»Um halb fünf?«, fragte Lisa erstaunt. »Ich hätte jetzt gedacht, dass die Taten früher geschehen wären. Um die Uhrzeit wird es immerhin schon hell, da ist das Risiko, dass ein sehr früher Jogger etwas mitbekommt, doch viel zu groß.«

»Nun mal nicht so hastig, ich war ja noch nicht fertig. Frau Clausen hat auf Nachfrage zugegeben, dass die Morde bereits um zwei Uhr geschehen sind.«

»Und dann hat sie sich erst nach zweieinhalb Stunden gemeldet?«

»Tja, die Hintergründe müssen wir nachher erfragen.«

»Wo ist sie jetzt?«

»In der Blume. Ich hab vorhin nur kurz mit ihr gesprochen und Grothmann gebeten, mit der Vernehmung zu warten, bis wir zurück sind. Könnte mir aber vorstellen, dass er sich nicht daran hält.«

»Kann sie den Täter beschreiben?«

Bergmann schüttelte den Kopf. »Sie kann sich nicht mehr an sein Gesicht erinnern. Der Schock. Hoffen wir mal, dass die Erinnerung zurückkehrt. Sie hatte allerdings den Eindruck, dass ihr Freund den Mann kannte. Aus irgendeinem Grund wollte dieser Klemm aber nicht, dass sie die Polizei alarmiert.«

»Und wo ist Benjamin Klemm jetzt?«

»Frau Clausen hat mir seine Adresse gegeben, weil sie in großer Sorge um ihn war. Sie und Klemm wohnen in Mönkeberg in getrennten Wohnungen und sind nach dem Anschlag gemeinsam weggerannt; allerdings hat sich Klemm dann von ihr getrennt, als sie ihr Wohngebiet erreicht hatten. Als Frau Clausen zu Hause war, hat sie mehrere Male vergeblich versucht, ihn zu erreichen, bis er sich dann gegen vier Uhr dreißig plötzlich bei ihr gemeldet hat. Klemm hat angegeben, dass er abhauen wolle, weil er sein Portemonnaie verloren habe. Wenn der Täter es gefunden hätte, würde er jetzt seine Adresse kennen. Frau Clausen hat ausgesagt, dass Klemm total panisch war. Nach diesem Anruf hat sie ihn nicht mehr erreicht. Ich habe eine Streife zu seiner Wohnung geschickt. Die haben sich aber noch nicht gemeldet.«

Lisa warf ihm einen besorgten Blick zu. »Na, dann hoffen wir mal, dass ihm nichts passiert ist. Notfalls müssen wir sein Handy orten lassen.« Sie schaute sich die beiden Ausweise an. »Haben wir die Männer im System?«

»O ja«, sagte Bergmann, und seine Betonung ließ Lisa aufhorchen.

»Wie es aussieht, weißt du mehr als ich. Dann mach mich doch mal schlau.«

»Bei den Zaidans handelt es sich um eine libanesische Großfamilie, die vor drei Jahren in Lübeck Fuß gefasst hat. Teile dieser Familie werden der Organisierten Kriminalität zugerechnet. Ich hatte in meiner Frankfurter Zeit bereits mit einigen der dort ansässigen Mitglieder das Vergnügen und beobachte den Clan seitdem sehr aufmerksam.«

»Bei uns wird Clan-Kriminalität langsam auch ein Thema, oder?« Lisa war bekannt, dass sich die Staatsanwaltschaften von Schleswig-Holstein dieses Themas angenommen hatten und dabei eng zusammenarbeiteten. Fehrbach leitete die Ermittlungen gegen den in Kiel ansässigen albanischen Hazari-Clan. Doch obwohl er sich jetzt bereits seit Anfang des Jahres damit beschäftigte, hatte er ihr gegenüber bisher kaum etwas erwähnt. Der Bereich der Organisierten Kriminalität war ein sehr sensibler, weshalb man auch mit nahestehenden Personen nicht darüber sprach, selbst wenn sie demselben Berufszweig angehörten. Ihr selbst war die Thematik Clan-Kriminalität von dem, was man aus den Medien erfuhr, bekannt und aus einigen Fernsehdokus der letzten Zeit.

»Es sieht ganz danach aus«, sagte Bergmann. »Zum Glück ist es bei uns aber noch nicht so schlimm wie in Berlin oder NRW und Bremen, doch die Clans sind auch in Schleswig-Holstein auf dem Vormarsch und dabei, neue Geschäftsfelder zu erschließen. Gerade unsere Ostseehäfen bieten sich an. Durch den Fährbetrieb mit den Ostblockstaaten gibt es da viele Möglichkeiten in Richtung Menschen- und Drogenhandel.«

»Ist das nur eine Vermutung, oder weißt du Näheres?«

Bergmann lächelte. »Sagen wir es mal so, ich halte den Kontakt zu meinen ehemaligen Frankfurter Kollegen …«

Ein warmes Gefühl breitete sich in Lisas Körper aus, während sie sein Lächeln erwiderte. Sie war so froh, dass die Ermittlungen gegen ihn vor einem Monat eingestellt worden waren und er endlich vollkommen rehabilitiert war. Wenn Bergmann nicht gewesen wäre, stünde sie heute nicht hier, denn er hatte durch sein entschlossenes Eingreifen ihr Leben gerettet, als ihr ehemaliger Lebensgefährte mit einem Messer auf sie losgegangen war, weil er die von ihr ausgegangene Trennung nicht verkraften konnte.

Obwohl sie eine enge Freundschaft mit Bergmann verband, sprach er auch mit ihr nicht viel über die Geschehnisse. Sie wusste, dass er in psychologischer Behandlung war, denn die Tatsache, dass man gezwungen wurde, einen Menschen zu erschießen, steckte niemand so einfach weg.

»Kommt die Wagner auch her, oder zieht sie es wieder mal vor, im Büro zu bleiben?«, fragte sie.

Bergmann winkte ab. »Als ich vorhin losgefahren bin, machte sie nicht den Eindruck, als ob sie nachkommen wollte. Sie murmelte etwas von viel zu tun und hatte sich regelrecht hinter ihrem Schreibtisch verschanzt.«

Das war Lisa nur recht, obwohl es schon ein merkwürdiges Verhalten war, das die neue Chefin an den Tag legte. Bei der ersten Zusammenarbeit im vergangenen Jahr hatte sie sich ständig danach gedrängt, mit rauszugehen, aber nachdem sie seinerzeit bei einem Alleingang lebensgefährlich verletzt worden war, schienen ihr derlei Ambitionen fremd geworden zu sein.

»Wir müssen allerdings mit Grothmann rechnen«, fuhr Bergmann fort, »der lief sich nämlich schon warm, als ich losgefahren bin.«

»Warum seid ihr nicht zusammen gekommen?«

»Weil er noch etwas Dringendes mit der Wagner besprechen musste. Ich solle doch schon mal vorfahren, er komme dann nach.« Ein verächtlicher Ausdruck lag jetzt auf Bergmanns Gesicht. »Da haben sich wirklich die Richtigen gefunden.«

Dass Katrin Wagner Uwe Grothmann zu ihrem Stellvertreter ernennen würde, hatte niemanden im K1 überrascht. Die neue Doppelspitze wurde von allen mit Misstrauen betrachtet und hatte dafür gesorgt, dass das Betriebsklima gen null gegangen war. Trotzdem hatte noch niemand Versetzungsabsichten geäußert, jedenfalls nicht laut. Auch Lisa hatte bisher nur mit Bergmann darüber gesprochen und ihn gebeten, es nicht weiterzutragen. Es war, als wenn sie die Luft anhalten würden, ob irgendjemand auf den Plan treten würde, um diesen unhaltbaren Zustand zu beenden. Aber wer sollte das sein bei dem Rückhalt, den die Wagner von ganz oben erhielt?

 

Ein Menschenpulk umstand die beiden Toten, die auf einer größeren Rasenfläche lagen. Als Lisa einen Blick auf die Männer warf, musste sie schlucken. »Du meine Güte.«

Bergmann trat neben sie. »Da wollte jemand auf Nummer sicher gehen.«

Beide Männer lagen auf dem Rücken, Arme und Beine in teilweise grotesken Winkeln, die Körper von Schüssen durchsiebt. Da hatte wirklich jemand ganze Arbeit geleistet. Ein deutliches Übertöten, was von großer Wut zeugte.

Während sie sich Bericht von den Kollegen der Schutzpolizei und des Kriminaldauerdienstes erstatten ließen, wurde Lisa auf einen Mann aufmerksam, der mit schnellen Schritten den Weg herunterkam und schließlich vor ihnen stehen blieb.

»Hey, Lisa, lange nicht gesehen!« Der drahtige Mittvierziger mit den kurz getrimmten grauen Haaren wirkte erfreut, und Lisa erging es ebenso bei seinem Anblick.

Mark Holtkamp, seit sechs Jahren Leiter des Dezernats 21, Organisierte Kriminalität, im LKA Kiel. Sie waren zusammen in der Ausbildung gewesen und hatten sich schon damals geschätzt. Dass er jetzt hier auftauchte, konnte nur bedeuten, dass das LKA den Fall übernehmen würde.

Sie stellte Holtkamp ihrem Kollegen vor und deutete auf die beiden Leichen. »Ich hab gerade gehört, um wen es sich handelt. Die übernimmt ihr jetzt also, oder?«

Holtkamp nickte. »Ja, aber ich habe diesbezüglich ein Attentat auf dich vor.« Er ergriff ihren Arm und führte sie ein Stück beiseite. »So, hier können wir ungestört miteinander reden.«

»Na, du machst es aber geheimnisvoll«, sagte sie und grinste ihn dabei an.

Holtkamp kam ohne Umschweife zur Sache, so war er schon immer gewesen. »Ich hätte dich gerne im Team.«

Voller Verwunderung sah Lisa ihn an. »Wieso das?«

»Weil ich zwei Stellen zu besetzen habe und du meine Wunschkandidatin für eine der beiden bist.«

Die Nachricht haute sie um.

»Ich hätte dich die nächsten Tage sowieso darauf angesprochen«, fuhr Holtkamp fort, »aber nun kann ich das ja gleich hier erledigen.«

Lisa fand ihre Stimme wieder. »Aber wieso ausgerechnet mich?«

»Weil ich eine Quotenfrau brauche.« Auch Holtkamp grinste, als er ihren konsternierten Gesichtsausdruck sah. »Scherz, Lisa! Hätte nicht gedacht, dass du immer noch auf meine dummen Sprüche reinfällst.«

Sie lachte befreit auf. »Nun aber mal im Ernst.«

»Ganz einfach. Ich will dich in meiner Abteilung, weil du eine Toppolizistin bist und prima ins Team passen würdest. Außerdem glaube ich, dass dir eine Veränderung guttun würde, oder?«

Dann hatten sich die Querelen im K1 offensichtlich schon bis ins LKA herumgesprochen. Lisa nickte. »Ich habe immer sehr gern in der MK gearbeitet, aber seit dem Chefwechsel ist es dort unerträglich für mich geworden.« Sie erzählte Holtkamp von Wagners Intrigen und dass die neue Chefin Deckung von höchster Stelle erfuhr.

»O ja, das kann ich mir gut vorstellen«, bestätigte er, und ein Ausdruck der Verachtung überzog sein Gesicht. »Ich habe die Frau vor einigen Jahren kennengelernt, und sie war mir gleich unsympathisch. Stutenbissig, aber wehe, es kam ein Mann in ihre Nähe. Dann zog sie die Weibchennummer ab, mit Augenklimpern und devotem Verhalten, einfach zum Kotzen.«

»Aber offensichtlich sind viele Männer dafür nur allzu empfänglich.«

»Dumpfbacken vielleicht, ich mit Sicherheit nicht.«

Lisa schmunzelte, wurde aber gleich wieder ernst. »Dein Angebot kommt zur rechten Zeit, Mark. Ich hatte mich nämlich endgültig dazu durchgerungen, das K1 zu verlassen, aber wer weiß, wo ich gelandet wäre, wenn ich um eine Versetzung gebeten hätte.«

»Dann ist das also eine Zusage?« Er sah sie erwartungsvoll an.

»Ja, das ist es. Danke für dein Angebot, ich freue mich sehr über dein Vertrauen.« Flüchtig streifte sie der Gedanke, dass Katrin Wagner ihr womöglich Steine in den Weg legen könnte, aber dann verwarf sie ihn wieder. Die Frau dürfte ebenso froh sein wie sie, wenn sich ihre Wege endlich trennten.

Holtkamp winkte ab. »Da nich für. Die beiden Stellen sind seit gestern im Intranet ausgeschrieben, und wenn du nachher zurück im Büro bist, solltest du dich sofort darauf bewerben. Du weißt ja, dass so etwas immer den offiziellen Weg gehen muss. Die Bewerbungsfrist dauert drei Wochen. Wenn sie beendet ist, werde ich meine Entscheidung zügig bekannt geben.«

»Dann werde ich der Wagner noch nichts sagen, sonst ist das ganz schnell rum.«

Holtkamp nickte. »Ich fordere dich jetzt erst mal ganz offiziell für diesen Fall an, dann kann die Wagner nicht versuchen, sich selber oder jemand anderen aus dem K1 einzubringen. Und falls sie es doch tun sollte, kriegt sie einen vor den Latz.«

»Danke«, sagte Lisa erleichtert, denn diese Befürchtung hatte sie insgeheim auch schon gehegt. Katrin Wagner nutzte jede Gelegenheit, sich zu profilieren, da käme ihr eine Zusammenarbeit mit dem LKA natürlich mehr als recht. Lisa war gespannt auf ihre Reaktion, aber die Sorge, dass ihre neue Vorgesetzte die Anforderung von Holtkamp torpedieren könnte, hegte sie jetzt nicht mehr. Vielleicht würde es ein kurzzeitiges Kräftemessen geben, doch Holtkamp war ein viel zu hohes Tier im LKA, als dass man sich ihm ernsthaft widersetzte.

Er zog sein Smartphone aus der Hosentasche. »Mal sehen, was die Dame sagt.«

Lisa ergriff seinen Arm. »Warte mal. Du hast gesagt, dass du zwei Stellen besetzen musst. Hast du für die zweite auch schon einen Wunschkandidaten?«

»Es sind einige in der engeren Wahl, ich habe aber noch keine endgültige Entscheidung getroffen.« Er sah sie neugierig an. »Hättest du denn jemanden für mich?«

»Ja. Meinen Kollegen Frank Bergmann.«

»Der dir im letzten Jahr das Leben gerettet hat.« Holtkamps Blick war jetzt sehr intensiv. »Trittst du aus Dankbarkeit für ihn ein, oder kannst du ihn wirklich empfehlen?«

»Ich kann ihn wirklich empfehlen.« Lisa gab einen kurzen Abriss über Bergmanns Tätigkeit in Frankfurt und seine Zeit im K1. »In seiner Frankfurter Zeit hatte Frank mit einigen Mitgliedern des dort ansässigen Zaidan-Clans zu tun. Da könnte er unter Umständen hilfreich sein. Außerdem ist er wirklich schwer in Ordnung, wir sind gute Freunde.«

Ein Lächeln umspielte Holtkamps Lippen. »Und was sagt dein Staatsanwalt dazu? Wird er da nicht eifersüchtig?«

»Gibt es eigentlich irgendwas, das man in der Polizeifamilie verheimlichen kann?« Sie konnte nicht verhindern, dass ihr die Röte ins Gesicht stieg, da Holtkamp mit seiner Frotzelei tatsächlich den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Ihre Freundschaft mit Bergmann war Fehrbach ein Dorn im Auge. Er hatte es nie direkt ausgesprochen, aber sie hatte es trotzdem anhand einiger Äußerungen und Reaktionen gemerkt.

»Gut, dann wird auch Bergmann jetzt an dem Fall mitarbeiten, und danach sehen wir weiter.«

Lisa nickte. »Sag ihm bitte noch nichts davon, dass du mich dauerhaft in deiner Abteilung haben möchtest. Frank weiß zwar, dass ich weg aus der MK will, aber dass ich mich nun endgültig dazu entschlossen habe, habe ich ihm noch nicht gesagt.«

Holtkamp lächelte sie beruhigend an. »Nein, keine Sorge.« Er wählte Katrin Wagners Nummer und teilte ihr mit knappen Worten mit, dass das LKA den Fall bearbeite und er Lisa und Bergmann zur Unterstützung abfordere. Das Gespräch war kurz und sachlich, also schien Katrin Wagner keinen Widerspruch eingelegt zu haben.

»Und?«, fragte Lisa, nachdem Holtkamp das Gespräch beendet hatte. »Hat sie keinen Protest angemeldet?«

»Nein.«

Erstaunlich. »Noch was, Mark. Weißt du, dass es zwei Zeugen für die Morde gibt?«

Er blickte sie überrascht an. »Bis jetzt noch nicht.«

Lisa erzählte ihm, was sie von Bergmann erfahren hatte, und sah, wie ein sorgenvoller Ausdruck über Holtkamps Gesicht huschte. Sie ahnte, was ihm durch den Kopf ging. Sarah Clausen und Benjamin Klemm waren in Gefahr, sie würden sie unter Schutz stellen müssen.

 

Frank Bergmann blickte erstaunt, als Holtkamp ihn fragte, ob er Lust habe, für diesen Fall mit Lisa in sein Dezernat zu wechseln.

»Ich hab gehört, dass Sie in Frankfurt schon einmal mit Mitgliedern des Zaidan-Clans zu tun hatten. Wir haben den Clan zwar auch schon länger auf dem Kieker und stehen mit den Kollegen in den anderen Bundesländern in Verbindung, aber vielleicht sind Ihnen ja Dinge bekannt, von denen wir noch nichts wissen.«