10,99 €
Kiki ist inzwischen 17 Jahre alt. Ihre zarten Gefühle für Tombo entwickeln sich zu wahrer Liebe. Sie freut sich darauf, in den Sommerferien Tombo wiederzusehen, der inzwischen eine weit entfernte Schule besucht. Doch dann erreicht sie ein Brief, in dem er ihr schreibt, er würde sich in die Berge zurückziehen. Vor lauter Sehnsucht nach ihm begibt sich Kiki in den dunklen Wald. Derweil versucht auch Tombo, zu sich selbst zu finden. Die Verbindung der beiden vertieft sich immer mehr.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 196
Veröffentlichungsjahr: 2025
Einleitung
Kapitel 1: Ein kleiner Kunde
Kapitel 2: Ein Brief von Tombo
Kapitel 3: Das Strandfest
Kapitel 4: Die Nachtwanderung
Kapitel 5: Der Besen ist fort!
Kapitel 6: Kiki reist zum Parapluieberg
Kapitel 7: Jenseits der Dämmerallee
Kapitel 8: Der Schleier des Glücks
Kapitel 9: Nonos Geburtstag
Kapitel 10: Der Wunsch der Heilkräuter
Vor siebzehn Jahren wurde in einer kleinen Stadt, umgeben von tiefen Wäldern und sanften, grasigen Hügeln, ein Mädchen namens Kiki geboren. Und dieses Mädchen hatte ein kleines Geheimnis: Ihr Vater Okino war ein ganz normaler Mensch, doch ihre Mutter Kokiri war eine Hexe, was Kiki zu einer Halbhexe machte. Im Alter von zehn Jahren beschloss sie, ihr Leben wie ihre Mutter als Hexe zu bestreiten.
Im Gegensatz zu den Hexen der alten Zeit beherrschte Kiki zwar keine mächtigen Zauber und konnte nur auf ihrem Besen fliegen – das allerdings ziemlich gut. Mit Leichtigkeit flog sie Loopings und Drehungen oder schwebte in der Luft, immer begleitet von ihrem schwarzen Kater Jiji, der mit ihr zusammen aufgewachsen war. Doch Kiki und Jiji beherrschten gemeinsam noch eine ganz eigene Magie. Obwohl Kiki in Menschensprache redete und Jiji in der der Katzen, konnten sie sich miteinander verständigen. Diese sogenannte Hexenkatzensprache war Jijis einziger Zauber. Kikis Mutter Kokiri verstand sich aufs Fliegen mit dem Besen und auf die Herstellung von Erkältungsmedizin. Kiki hatte die Medizinherstellung als Kind aufgegeben, da sie ihr zu mühselig gewesen war. Seit alters gab es die Regel, dass alle Hexen im Alter von dreizehn Jahren ausziehen mussten, um sich in einer Stadt oder einem Dorf ohne Hexe niederzulassen und für zwölf Monate selbstständig nur mithilfe ihrer magischen Kräfte zu leben. Dies war einerseits ein Lehrjahr, um eine vollwertige Hexe zu werden, und andererseits ein wichtiger Brauch, um die Menschen wissen zu lassen, dass es auch in der fortschrittlichen Welt noch immer Hexen und Wunder gab.
So verließ auch unsere Heldin Kiki in einer Vollmondnacht ihres dreizehnten Lebensjahres ihre Heimat und gelangte mit Jiji in die große Küstenstadt Koriko. Mit Unterstützung der Bäckerin Osono und ihres Mannes machte sich Kiki ihre Flugkünste für einen eigenen Lieferservice zunutze. Nachdem sie das Lehrjahr erfolgreich hinter sich gebracht hatte, kehrte sie in die Heimat zurück. (Kikis kleiner Lieferservice)
An ihrem Geburtsort stellte Kiki jedoch bald fest, dass sie ihr Leben weiterhin in Koriko verbringen wollte, der Heimat ihres guten Freundes Tombo. Auch bei den anderen Stadtbewohnern war Kiki mit ihrem Lieferservice gern gesehen. So begann ihr zweites Jahr in Koriko. Sie begegnete vielen Menschen, brachte die verschiedensten Dinge zu ihren Empfängern und lernte, dass sie mit den Waren auch die Gefühle der Absender zustellte. Dabei machte Kiki schöne wie schmerzliche Erfahrungen. Doch sie fühlte sich zunehmend ruhelos. Als sie einen immer stärkeren Drang verspürte, ihren Horizont als Hexe zu erweitern, wagte sie sich erneut an die Medizinherstellung, die sie damals in ihrer Anfangszeit als Hexe aufgegeben hatte. So hing neben dem Schild ihres Lieferservices schließlich noch ein zweites, das ihre selbst gemachte Medizin anpries. Unterstützt von Korikos Bewohnern sollte Kikis Leben in Zukunft noch geschäftiger werden. (Kikis kleiner Lieferservice 2)
Eines Tages tauchte in Koriko ein Mädchen auf. Mit zwei struppigen Zöpfen und einem bodenlangen Rock stellte sich die Kleine mit krächzender Stimme als Keke vor und drängte sich mit verblüffender Dreistigkeit in Kikis Leben.
Doch wer war dieses Mädchen? In ihrem vierten Jahr in Koriko geriet Kikis bisher so beschauliches Leben aus den Fugen. Jeden Tag wurde sie von Sorgen geplagt, während Keke sich mit Tombo anfreundete und von Osono aufgenommen wurde. Selbst Jiji begann, Keke zu akzeptieren. Kiki dagegen verlor immer mehr an Selbstvertrauen und fühlte sich in die Enge getrieben.
»Sie stört mein schönes Leben in Koriko.«
Irgendwann hatte Kiki sogar das Gefühl, nicht länger in der Stadt bleiben zu können und weit fortgehen zu müssen. Da flog sie eines Nachts höher als je zuvor in den Himmel hinauf. Von tiefer Bedrängnis gepackt brach ein Schrei aus ihr heraus: »Ich liebe Tombo!«
Kurz bevor Keke in ihre Heimatstadt zurückkehrte, lernte Kiki dann doch noch, sie zu verstehen. Auch Tombo verließ die Stadt, um eine weit entfernte Schule zu besuchen. (Kikis kleiner Lieferservice 3)
An dieser Stelle beginnt für Kiki der Sommer ihres siebzehnten Lebensjahres.
Kiki reckte ihre Arme aus dem Bett und streckte sich ausgiebig.
»Dann wollen wir den Tag doch mal angehen!«, rief sie laut zur Zimmerdecke und sprang munter auf.
»Guten Morgen!«, entgegnete Jiji ebenso heiter. Er folgte ihrem Beispiel und sprang flink von seinem Schlafplatz, woraufhin er geblendet blinzelte.
Durch einen Spalt der geschlossenen Vorhänge fiel ein schmaler Strahl der hellen Morgensonne auf den Fußboden und schien ihm direkt in die Augen.
Kiki ging zum Fenster und öffnete schwungvoll die Vorhänge. Licht flutete durch die Gasse zwischen den Häusern, sodass sie unwillkürlich die Lider schloss.
Das trübe Wetter, die grauen Wolken und der Regen der letzten Tage waren wie weggeblasen. Heute erstreckte sich bis zum Horizont ein endloser blauer Himmel. Sommer lag in der Luft.
»Ach ja … Bald sind schon Ferien …«
Auf Zehenspitzen sah sie voller Vorfreude mit großen Augen in die Ferne.
»Die Schule hat auch Ferien …«, dachte Kiki laut, während sie alle Vorhänge aufzog und die Fenster öffnete. Sogleich strömte der Duft der Kräuter herein, die draußen in der Gasse wuchsen. Kurz nach einem Regenguss war der Geruch immer besonders stark.
Kiki tat einen tiefen Atemzug, um ihr plötzlich schneller klopfendes Herz zu beruhigen.
»Die ersten Sommerferien, seit er dort ist … und wir werden sie zusammen verbringen«, murmelte sie leise.
Rrring, klingelte das Telefon.
»Guten Morgen, liebe Hexe Kiki! Ich möchte gern die erste Lieferung des Sommers in Auftrag geben«, sagte eine Frauenstimme.
»Selbstverständlich! Ich komme sofort vorbei!«, antwortete Kiki. Ihr Blick wanderte hinab zu ihrem Schlafanzug und sie begann sogleich, mit der freien Hand das Hemd aufzuknöpfen, um sich rasch umzuziehen.
Die Anruferin sprach weiter: »Weißt du, ich möchte den ersten Hut, den ich diesen Sommer angefertigt habe, an meinen besten Freund schicken. Einen blütenweißen Hut. Heute Morgen beim Aufstehen war der Himmel so strahlend blau, da wäre das doch der perfekte erste Hut des Sommers, dachte ich. Ich habe ihn gerade in großer Eile fertiggestellt. Könntest du ihn überbringen?«
»Ja, natürlich. Der Sommer kommt und mit ihm die Ferien … und ein neuer Hut. Das wird den Empfänger sicher freuen!«, antwortete Kiki aufgeregt.
»Ich wohne in der Scheinkamelienstraße Nummer drei, im zweiten Stock des gelben Gebäudes. Mein Freund wohnt im ersten Haus der Ölbaumallee außerhalb der Stadt. Das Dach und die Wand sind so strahlend blau wie der Himmel heute, daran wirst du es gleich erkennen. Ich zähle auf dich!«
»Ich werde Sie nicht enttäuschen!«
Nachdem Kiki den Hörer aufgelegt hatte, zog sie eilig ihren Schlafanzug aus und schlüpfte in ihr Kleid, wobei sie vor sich hin sang: »Der Sommer kommt, juchhe; der Sommer kommt, juchhe.« Mit geübten Handgriffen bürstete sie ihre Haare und band sie mit einer Schleife zusammen. Im Nu hatte sie ihre übliche Hexenaufmachung angelegt.
»Los geht’s, Jiji. Bist du bereit?«
»Ich muss mich nicht fertig machen, ich bin stets bereit. Und heute bin ich genau wie ein gewisser Jemand bester Laune. Ich habe nur ein bisschen Hunger, weil es noch kein Frühstück gab …«
Wann immer Kiki in so heiterer Stimmung war, konnte sich Jiji nicht verkneifen, etwas Spöttisches zu erwidern.
In der Scheinkamelienstraße angelangt, entdeckten sie das Haus aus der Luft auf Anhieb. An einem offenen Fenster im zweiten Stockwerk lag ein blütenweißer Hut.
Statt die Treppe zu nehmen, schwebte Kiki langsam zum Fenster hinüber und setzte sich auf den Sims.
»Guten Morgen! Hier ist der Hexenlieferservice! Ich habe eine kleine Abkürzung genommen. Bitte entschuldigen Sie mein schlechtes Benehmen«, rief Kiki in die Wohnung.
»Wenn’s dir schon bewusst ist, solltest du es einfach lassen«, murrte Jiji leise.
»Huch, nanu!« Eine Frau tauchte auf und warf überrascht die Hände in die Luft. Dann fügte sie mit verschmitzter Miene hinzu: »Dann lassen wir den Hut aus dem zweiten Stock direkt zu seinem Empfänger fliegen. Oh ja, das passt perfekt zu diesem Hut! Erinnert dich seine Form nicht an etwas? Ich habe bei der Arbeit an ein Raumschiff gedacht«, erklärte sie kichernd.
»Ui!«, gab Kiki zurück, als sie den Hut entgegennahm.
»Sieh nur, dieses Lochmuster hier sieht doch aus wie die Fenster eines Raumschiffs, nicht wahr? Die Passagiere sehen dort hindurch auf die Welt unter ihnen. Ist das nicht toll? Ach ja, um ein Haar hätte ich es vergessen. Für dich habe ich natürlich auch noch ein kleines Dankeschön …«
Die Frau holte von hinten eine weiße Schleife, die sie an Kikis Kragen befestigte. Die langen Enden flatterten sanft im Wind. Dann band sie auch Jiji solch eine Schleife um den Hals.
»Oh, wie hübsch! Vielen Dank! Nun sehen wir auch ganz sommerlich aus. Dann mache ich mich mal auf den Weg«, rief Kiki und winkte zum Abschied, bevor sie wieder in die Lüfte aufstieg.
»Hast du das gehört, Jiji? Ein Raumschiff … Wäre es nicht toll, wenn man an einem klaren Tag wie heute eins am Himmel sehen könnte? Wollen wir es mal fliegen lassen?«
Kiki packte die Hutkrempe fester.
»J… Jetzt wirst du aber übermütig, Kiki! W… Was, wenn dir der Hut davonfliegt? Wieso bist du heute eigentlich so ausgelassen?«, stotterte Jiji nervös und sprang von der Besenquaste hastig auf ihre Schulter.
»Keine Sorge, das ist doch ein Raumschiff. Sieh nur, wie es im Wind schaukelt. Es will fliegen! Lass mich nur machen. Der Wind ist mein Freund«, erwiderte Kiki kichernd.
Dann holte sie mit dem Hut in der Hand schwungvoll aus. Er flog aus ihrer Hand und schoss durch die Luft davon.
»Aaah, du hast es wirklich getan!«, schrie Jiji entsetzt auf.
»Los geht’s! Wir folgen dem Raumschiff! Halt dich gut fest, Jiji!«
Kiki packte den Besenstiel fester und flitzte dem Hut in atemberaubender Geschwindigkeit hinterher. Im Nu hatte sie ihn wieder eingeholt und schnappte ihn an der Krempe.
»Siehst du, genau so! Habe ich’s dir nicht gesagt?«
Lachend schleuderte Kiki den Hut wieder fort und raste hinterher. Anders als zuvor fiel der Hut nun jedoch wild trudelnd hinab. Kiki machte eine schnelle Wendung und stürzte ebenso rotierend hinterher.
»Aaaaah!«, kreischte Jiji ängstlich. »Hör auf damit!«
»Hi hi hi hi hi«, kicherte Kiki, »was für ein herrliches Gefühl!«
Abermals fing sie den Hut geschickt ein und hielt ihn an der Krempe fest, um sodann in ein gemächliches Schweben überzugehen.
»Siehst du?« Lachend schwenkte sie den Hut vor Jijis Augen. »Und gleich noch mal, hui!«
Noch einmal ließ Kiki den Hut durch die Luft fliegen, der pfeilschnell davonsauste, als der Wind ihn erfasste. Sosehr sie auch versuchte, ihn einzuholen, er schlüpfte ihr immer wieder durch die Finger.
Schließlich segelte er ruhiger kreisend in den Wipfel eines Baumes inmitten eines großen Gartens. Als Kiki rasch hinterherflog, hörte sie aus dem Haus daneben laut eine Kinderstimme jubeln. Sie hielt in der Luft an und spähte durch das Fenster, aus dem sie erklungen war.
»Mama, ich hab’s geschafft, ich habe das Stück gespielt! Hör mal!«, rief ein kleiner Junge mit einer Geige ins Haus.
»Na, dann zeig mal her!« Seine Mutter, die vermutlich gerade in der Küche gewesen war, kam herein und wischte sich die nassen Hände ab.
Der Junge nahm eine kerzengerade Haltung ein und begann, andächtig auf seiner Geige zu spielen.
Fideldiii, fideldiii, fideldum.
Als er das Stück beendet hatte, hob er ruckartig das Kinn und rief: »Siehst du, ich hab’s geschafft! War doch gut, oder?«
»Das hast du wirklich, dabei ist es so ein schwieriges Stück. Ich bin sehr stolz auf dich!«
Die Mutter klopfte ihrem Sohn auf die Schulter.
»Weißt du, ich habe den Wind draußen pfeifen gehört. Da habe ich beim Spielen den Wind nachgemacht und dann ist es mir gelungen!«, erklärte der Junge und machte einen fröhlichen Hopser.
Als Kiki das hörte, jubelte sie ihm im Stillen zu. Dann klaubte sie den Hut aus dem Baum und machte sich eilig auf den Weg zur Ölbaumallee, diesmal ganz gewissenhaft.
Auf ihr Klopfen an der himmelblauen Tür des ebenso blauen Hauses steckte ein kleiner Junge den Kopf heraus. Als sie ihm den Hut überreichte, rief er freudig: »Der Sommer ist gekommen! Soyo hat den Sommer geschickt!«
»Genau so ist es. Er kam mit dem Sommerwind geflogen. Es ist ein Hut-Raumschiff!«
Der Junge sah mit schmalen Augen zum Himmel hinauf und murmelte: »Ui, ein Raumschiff … Vielleicht sollte ich den Hut tragen und mit Soyo einen kosmischen Strandspaziergang machen. Ich freue mich schon auf die Ferien! Wie wird denn dein Sommer, Frau Hexe?«
»Der wird bestimmt auch ganz toll!«, antwortete Kiki aufgeregt. »Ich denke, ich werde lauter schöne Dinge unternehmen.«
Danach flog Kiki wieder nach Hause. Ihre neue weiße Schleife flatterte leise raschelnd im Wind, genau wie die Schleife um Jijis Hals.
»Fideldiii,
Fideldiii, fideldum.
Wie der blaue Himmel strahlt,
So strahle auch ich
Und lasse mich vom Wind hinforttragen.
Fideldiii, fideldum.«
So sang Kiki, wie ihr die Worte in den Sinn kamen, und summte die kleine Melodie weiter vor sich hin.
Wieder zu Hause nahm sie mit Jiji gerade ein spätes Frühstück zu sich, als sie draußen eine Stimme »Schnaub, schnaub!« rufen hörten.
Kiki schlich zur Tür und riss sie ruckartig auf.
»Ha, ich weiß es! Heute bist du ein Pferdchen! Stimmt’s?«
Vor ihr stand der kleine Ole von der Bäckerei Gütiokipan.
»Ganz falsch! Ich bin eine Giraffe! Schnaub, schnaub!«, erwiderte Ole, wobei er den Hals reckte, mit den Armen wedelte und mit den Füßen aufstampfte. In letzter Zeit spielte er jeden Morgen mit großer Begeisterung ein Tier-Ratespiel mit Kiki.
»Oje, ich habe verloren! Dann mache ich heute also einen Spaziergang mit Herrn Giraffe!«
Schnell trat sie aus dem Haus, steckte ihren Kopf zwischen Oles Beinen durch und hob ihn auf ihre Schultern.
»Herr Giraffe, schnaub, schnaub!«
Kiki rannte zwischen den Kräutern umher. Die Pflanzen wogten um sie und verbreiteten ihren wunderbaren Duft. Grüne Grashüpfer flogen auf.
»Giraffen haben ganz lange Hälse. Sie essen sogar Grashüpfer.«
Ole streckte die Hände aus und berührte die Zweige der Bäume, während Kiki im Takt fröhlich dazu hüpfte.
Nachdem sie die Kräuterbeete einmal mit ihm umrundet hatte, trat sie gebückt durch die Tür der Bäckerei.
»Guten Morgen!«
»Nanu, Ole, du bist aber groß!«, rief sein Vater Fukuo, der sich vom Backofen zu ihnen umdrehte.
»Ich bin nicht Ole, ich heiße Herr Giraffe!«, entgegnete Ole voller Stolz.
»Wie schön, Ole!«
Seine Mutter Osono streckte die Hände aus und hob ihn von Kikis Schultern.
Derweil wandte sich Kiki an die kleine Bäckerstochter, die still in einer Ecke der Backstube stand. »Und was möchtest du sein, Nono?«,
»Ein Häschen«, antwortete das Mädchen leise.
»Hopst du dann auch lustig herum?«
»Nein, ich mümmle!«, sagte Nono und bewegte zum Beweis sogleich ihren Mund wie ein Hase. In letzter Zeit schien sie von Oles überbordender Energie so eingeschüchtert zu sein, dass sie recht schweigsam war.
Am nächsten Tag erreichte Kiki ein Brief von Tombo, der inzwischen eine Schule in der weit entfernten Stadt Naruna besuchte.
Liebe Kiki,
Geht es dir gut? Und ist Jiji auch gesund? Ich bin wie immer putzmunter. Das Schuljahr ist wie im Flug vergangen und nun stehen schon die Sommerferien vor der Tür. Dann ist meine Zeit gekommen. Ich werde meine ersten Sommerferien richtig genießen!
»Er hat recht. Wir werden sie zusammen genießen«, wisperte Kiki und schloss die Augen. Doch der Brief ging noch weiter.
Deswegen ziehe ich morgen auf den Parapluieberg.
»Was soll das heißen, er zieht auf den Berg …?«
Wie versteinert starrte Kiki auf die Zeile, bevor sie weiterlas.
Der Parapluieberg liegt acht Kilometer nordwestlich von Naruna, wo meine Schule ist. Das ganze Land mitsamt der Stadt rundherum ist flach, nur dieser eine Berg ragt daraus empor. Er liegt etwa zweihundert Meter über dem Meeresspiegel und ist dicht bewaldet. Aber auf dem Gipfel steht nur ein einzelner großer Baum, der wie ein Regenschirm aussieht und dem Berg seinen Namen verliehen hat. Ich habe diesen Berg jeden Tag vom Fenster meiner Schule aus gesehen und wollte unbedingt mal dorthin. Es fühlt sich sogar beinahe so an, als würde mich der Berg zu sich rufen. Und da jetzt Sommerferien sind, habe ich mich entschlossen, allein dorthin zu reisen. Auch wenn mich meine Freunde gefragt haben, was ich auf so einem langweiligen Berg will.
Aus der Ferne sieht der Berg mit dem dichten Wald aus wie ein grüner Haufen. Ich weiß nicht einmal, ob es dort Wege gibt.
Mein Klassenlehrer Nasowas meinte, ich solle hingehen, wenn mir danach ist, und hat mir ein Zelt geliehen. Dann habe ich fürs Erste Essen und Wasser für drei Tage und alles Nötige eingepackt, was mir eingefallen ist, wie Kerzen und Streichhölzer, Taschenlampe, Gaskocher, Notizheft und Stifte, ein Bestimmungsbuch für Pflanzen und eins für Insekten und dann noch meine wichtigsten, persönlichen Dinge.
»Fürs Erste …? Drei Tage? Fürs Erste, schreibt er …«, murmelte Kiki.
Ich habe dir noch gar nicht von Herrn Nasowas erzählt. Wenn er etwas Interessantes entdeckt, springt er auf und ruft: »Na so was!«, deswegen hat er von uns den Namen bekommen. Er sagt, wenn ihn etwas so stutzen lässt und er es sich dann noch mal genau anschaut, erkennt er die Dinge erst richtig. Dann funkeln seine Augen so, dass sie mich sehr an Facettenaugen erinnern, auch wenn das aus meinem Mund vielleicht komisch klingt, wo ich doch selbst so eine Brille mit riesigen Gläsern trage. Inzwischen hat er uns alle damit angesteckt, sodass wir jetzt auch schon immer mit großen Augen »Na so was!« rufen, wenn wir etwas Interessantes sehen. Seine Begeisterung ist so ansteckend, dass ich selbst ganz aufgeregt werde, wenn er eine spannende Entdeckung unter die Lupe nimmt.
Der Parapluieberg war so etwas, das in mir dieses Gefühl von »Na so was!« ausgelöst hat. Man könnte sagen, der Berg lockt mich … oder mein Herz zieht mich dorthin. Auf jeden Fall habe ich das Gefühl, dass ich unbedingt dorthin muss. Der Gedanke, dass ich mir diesen Berg einmal genauer ansehen muss, lässt mich nicht mehr los.
Ich schicke dir eine Karte von Naruna mit, die ich für dich gezeichnet habe. Guck sie dir mal an. Meine Zeichnung ist zwar nicht allzu gut gelungen, aber immerhin bekommst du so einen Eindruck, wo ich nun lebe.
Von Tombo
Kiki legte den Brief auf den Tisch und betrachtete ihn für eine Weile stumm.
»Heißt das, wir verbringen die Sommerferien nicht zusammen? Will er mir das damit sagen? Das will ich nicht!«
Ihre Vorfreude auf Tombos Heimkehr, die sich seit dem Morgen ins Unermessliche gesteigert hatte, fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
»Da will ich auch ›Na so was‹ rufen …«
Stirnrunzelnd zog Kiki eine Schnute.
»Wie kann er nur so unbekümmert schreiben, dass er nicht nach Hause kommt …«
Sie konnte Tombo beim besten Willen nicht verstehen. Ihr war zum Weinen zumute.
Er hatte sich selbst dazu entschieden, war voller Vorfreude und stellte Kiki nun vor vollendete Tatsachen. Damit Jiji ihre Niedergeschlagenheit nicht bemerkte, ließ sie ihren Blick über die detaillierte Karte wandern.
Hier gehe ich gern Eis essen.
In dem Park lege ich mich gern
auf die Wiese und lese ein Buch.
Koriko liegt in dieser Richtung.
Sogar die einzelnen Bäume an den Kreuzungen waren sorgfältig eingezeichnet, ebenso der Bahnhof, der Marktplatz, die Post, das Krankenhaus und der Parapluieberg in einiger Entfernung zur Stadt.
»Die hat er toll gezeichnet. Es ist, als würde ich die Stadt aus der Luft betrachten …«
Immer noch verstimmt presste Kiki die Lippen zusammen. Jiji, der neben ihr auch die Karte gemustert hatte, sah flüchtig zu ihr hoch.
»Bestimmt wollte Tombo dir das alles zeigen.«
»Meine Pläne für die Sommerferien sind in dieser Karte untergegangen«, erwiderte sie wie zur Rechtfertigung. »Er hat sich einfach allein aufgemacht. Dabei dachte ich, er würde mir beim Unkrautjäten helfen …«
»Es ist eben, wie es ist«, murmelte Jiji knapp.
»Mag sein, aber ich wollte doch über so vieles mit ihm sprechen.«
»Mit ihm? Kannst du das nicht mit mir bereden?«, fragte Jiji beleidigt.
»Nein, kann ich nicht, tut mir leid.«
»Sind es denn so wichtige Dinge?«
»Aber natürlich sind sie das! Zunächst einmal wollte ich ihn fragen, ob ich mir lieber rote oder grüne Pantoffeln kaufen soll. Diese hier sind schon alt, ich brauche neue«, erklärte Kiki und hob ein Bein, um Jiji ihre abgetretenen Pantoffeln zu zeigen. »Tombo würden grüne bestimmt besser gefallen.«
»Wer weiß, vielleicht auch pinke«, entgegnete Jiji schroff und warf ihr einen mürrischen Seitenblick zu.
»Außerdem wollte ich ihn fragen, ob ich mir die Haare kurz schneiden lassen soll.«
»Du meinst deine Haare?«
»Ja, genau.«
»Das kannst du doch selbst entscheiden«, sagte Jiji nun deutlich genervt.
»Ich möchte aber das tun, was Tombo gefällt! Ist das nicht verständlich? Ich will von jetzt an alles mit ihm gemeinsam entscheiden.«
»Puh, wie mühselig. Hast du dir das zusammen mit Tombo überlegt?«
»Wie …? Aber das ist doch nur natürlich. So machen es alle.«
»Wirklich alle? Alle machen es so?«
»Aber ja! Wer sich nahesteht, macht es so. Hast du daran etwas auszusetzen, Jiji?«
Der Kater zuckte nur mit einer Schulter und antwortete: »In letzter Zeit redest du hundertmal am Tag von Tombo.«
»Von wegen hundertmal!«
Kiki bückte sich zu Jiji hinab und schüttelte heftig den Kopf.
»Na gut, dann dreiundneunzigmal oder von mir aus auch vierundachtzigmal. Warum sind Mädchen so? Wenn sie sich verlieben, werden sie so anders. Und das scheint sie auch noch zu freuen. Jetzt nimmst du sogar Umwege, wenn es um Entscheidungen für dich selbst geht … Und dein Umweg heißt Tombo.«
Jiji verzog das Gesicht und marschierte leise murrend hinaus.
»Was redest du denn so neunmalklug daher?«
Kiki sah ihm finster nach.
Rrring, rrring.
Das Telefon klingelte.
Rrring, rrring.
Kiki fasste sich und nahm den Hörer ab.
»Hier Kikis kleiner Lieferservice!«
»Kiki, wie schön, deine Stimme mal wieder zu hören!«, schallte ihr Mollis muntere Stimme vom anderen Ende der Leitung entgegen. Molli lebte mit ihrem kleinen Bruder Yah mitten im Wald. Ihre Eltern arbeiteten weit weg, wie sie Kiki einmal erzählt hatte. Doch sie waren schon seit Jahren nicht mehr nach Hause gekommen. In der Stadt ging das Gerücht um, dass ihre Mutter kurz nach Yahs Geburt verstorben war und ihr Vater vor lauter Kummer über ihren Tod irgendwann verschwunden war. Ob das der Wahrheit entsprach, wusste Kiki jedoch nicht. Die Großmutter der beiden, die ihre Enkel noch dann und wann besucht hatte, war vor zwei Jahren gestorben. Trotzdem war Molli immer voller Lebensfreude. Kiki hatte sie noch nie über ihre Situation klagen gehört.
»Du hast bestimmt schon viele Pläne für den Sommer, nicht wahr?«, fragte Molli.
»Überhaupt nicht. Ich habe ganz und gar keine Pläne. Ich bin eine ganz arme Kiki«, sagte Kiki und streckte am Telefon die Zunge heraus.
»Wirklich? Weißt du, ich wollte nämlich diesen Sommer kochen lernen, und zwar zwei Städte weiter. Dort hat eine junge Frau wie ich ein kleines Restaurant eröffnet, das einen ausgezeichneten Ruf hat. Also habe ich sie einfach kurz entschlossen gefragt und sie hat mir angeboten, mir das Kochen beizubringen, wenn ich dafür mindestens einen Monat dortbleibe und aushelfe. Da im Sommer immer viel zu tun ist, käme das auch ihr zugute. Und deswegen hätte ich eine Bitte an dich …«
»Du klingst auf einmal so förmlich«, warf Kiki ein.
»Nun ja, es fällt mir schwer, dich darum zu bitten, aber könntest du während der Sommerferien Yah bei dir aufnehmen?«
»Was, Yah …?!« Kiki zuckte zusammen und ihre Stimme stockte vor Schreck.
Jiji, der von ihr unbemerkt zurückgekommen war und soeben eine Vorderpfote auf die Türschwelle setzen wollte, erstarrte mitten in der Bewegung, als er diesen Namen hörte. Er konnte noch immer nicht vergessen, dass Yah sie