Killer Koks - P. J. Mulder - E-Book

Killer Koks E-Book

P. J. Mulder

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Beschreibung

Wolf Unger ist Ex-Anwalt, jetzt Privatermittler, manchmal Vollstrecker. Immer dann im Einsatz, wenn der Rechtsstaat am Ende ist. Unger ist ein dunkler Charakter, promisk, zynisch und gewaltaffin, mit einem eigenen moralischen Kompass. Nach einem Job in Nizza möchte er in einem exklusiven Resort an der Côte d'Azur relaxen und das Leben genießen. Besitzerin ist Léa Robicheaux, die zusätzlich einen Limousinenservice besitzt. Als sie Ungers Hintergrund erfährt, bittet sie ihn um Hilfe. Auf ihre Flotte mit Luxusschlitten werden Anschläge verübt. Als Drahtzieher vermutet sie ihren Ex. Demütigungen und Gewalt gegen Frauen sind Unger zuwider. Er stimmt zu. Hinter Léas Ex verbirgt sich Trocadéro, ein Konkurrenzunternehmen aus Monaco. Trocadéro wird von Nachkommen der korsischen French Connection gesteuert und transportiert nicht nur High Roller und Celebrities, sondern auch Drogen von Genua bis Marseille. Ungers Auftrag: Die Hintermänner zur Rechenschaft ziehen. Wie, ist seine Sache. Seine Auftraggeberin: Eine schöne Frau, die Unger für ihre Zwecke einzuspannen weiß. Unger legt sich mit Auftragsmördern der korsischen Mafia Brise de mer, und der 'Ndrangheta in Genua an. Er muss um sein eigenes und das Leben seiner Klientin kämpfen.

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Seitenzahl: 287

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Für Susanne und Nina.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: LÈA ROBICHEAUX

Kapitel 2

Kapitel 3: LE SUQUET, CANNES

Kapitel 4: CLAUDE LÉOTARD

Kapitel 5: CLAIRE MASSÉNA

Kapitel 6: MARC-ANTOINE FIORELLA

Kapitel 7: JOLIE FIORELLA

Kapitel 8: PLAGE DE LA MALA, CAP-D’AIL

Kapitel 9: VICTOR LANOUX

Kapitel 10: LÉA

Kapitel 11: FIORELLA & AVILA

Kapitel 12

Kapitel 13: SALMAN AL-BALUSHI

Kapitel 14: LÉA

Kapitel 15: EMMA McKENZIE & FAY LIU

Kapitel 16: FIORELLA

Kapitel 17: AYMEE GAUVIN

Kapitel 18

Kapitel 19: AL-BALUSHI

Kapitel 20: AVILA

Kapitel 21: LÉA & CLAIRE

Kapitel 22: LÉA, CLAIRE & JULES LE STÉPHANOIS

Kapitel 23: FIORELLA & AVILA

Kapitel 24

Kapitel 25: LÉA & CLAIRE

Kapitel 26: DELPHINE CUNO

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29: LÉA

Kapitel 30: JOLIE & AVILA

Kapitel 31: CLAIRE & LÉA

Kapitel 32: FIORELLA

Kapitel 33

Kapitel 34: LANOUX, COSTA & MARCANGELI

Kapitel 35

Kapitel 36: LÉA, CLAIRE & JOLIE

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40: BEACH CLUB MARTINEZ, CANNES

Kapitel 41

Kapitel 42: SAINT-MARTIN-DE-PEILLE

Kapitel 43: NADIA PARANO

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47: FRANK HANNA

Kapitel 48: COSTA & MARCANGELI

Kapitel 49: DIE GEFÜRCHTETEN VIER

Kapitel 50: EPILOG

1

LÈA ROBICHEAUX

„Ich bin Mr. Wolf. Ich löse Probleme.“ Harvey Keitel als Winston Wolf in „Pulp Fiction.“

Wenn der Mistral über die Landschaft fegt, ist der Süden Frankreichs, die Provence und ein Großteil der Côte d'Azur, im Ausnahmezustand. Himmel und Meer färben sich tief dunkelblau. Gras verdorrt. Olivenhaine, Pinien, Zypressen, das gesamte Gehölz verneigt sich, duckt sich vor dem Wind, den die Einheimischen auch Maestrale oder vent du fada – Meister und verrückt machender Wind nennen. Nachts funkeln und glitzern die Sterne wie Diamanten auf schwarzem Samt, wo sonst Dunstschleier und Nebelschwaden alles dimmen und trüben. Im Hochsommer entfacht er Brände und treibt gefürchtete Feuerwalzen durch die ausgedörrten Wälder. Man sagt, dass der Mistral, der Herr aller mediterranen Winde, das Böse im Menschen weckt. Zu Napoleons Zeiten gestand die Justiz einem Mörder mildernde Umstände zu und bewahrte ihn vor der Guillotine, wenn der Mistral während der Tat geweht hatte. Aber noch hängt er im Rhonetal fest. Die Fensterläden klappern nicht, Blätter, Halme und kleinere Äste sirren nicht durch die Luft und den Gästen am Pool werden die Drinks nicht aus den Händen gepustet.

Wolf Unger hält sein Gesicht in die Sonne. Eine frische Brise vom Meer umfächelt Stirn und Wangen. Kurz schließt er die Augen. Er glaubt, dass der sanfte Vorbote des Mistrals den Geruch des Meeres zu ihm trägt. Es riecht nach Jod und Algen. Oder Muscheln. Auch glaubt er, einen Hauch Lavendel wahrzunehmen. Fantasie intensiviert die Geruchswahrnehmung, sagt er sich. Ich stelle mir Algen und Muscheln sowie blauvioletten Lavendel vor und schon habe ich ihren Duft in der Nase.

Die Stimme, die seinen Namen ruft, ist allerdings real.

Seufzend öffnet er die Augen und wendet sich um. Von der kleinen Poolbar winkt ihm Léa zu. Léa Robicheaux aus Nizza. Er hatte sie bereits am Abend zuvor kennengelernt. In der Hotelbar, ein Trinkerparadies mit mediterranem Flair, hatte sie von ihrem Drink aufgeblickt, ihn von oben bis unten gecheckt und – offensichtlich zufrieden mit dem Ergebnis – gelächelt. Etwas über eins neunzig groß, fünfundneunzig Kilo. Anfang August war Unger vierzig geworden. Durch regelmäßige Besuche in einem Gym, er trainiert ein speziell für die Emergency Service Unit – die multifunktionale Eliteeinheit des NYPD – entwickeltes Workout-Programm, hat er sich Fitness und seine athletisch-schlanke Figur bewahrt. Jüngeren Fitness-Freaks, die Bizeps und Waschbrettbauch drillen, ist er haushoch überlegen. Aber jetzt, mit vierzig, muss er gegen das Nachlassen seiner Körperlichkeit härter ankämpfen und sich mehr auf seine Erfahrung verlassen. Die Schläfen seines kurzgeschnittenen Haares ergrauen, die Lachfältchen stammen aus besseren Tagen. Seinen Vornamen hatte er nie gemocht. Die französische Schreibweise – Loup – gibt seinem Namen jedoch eine neue Geltung, einen gefährlichen Sinn. Bei seiner Nennung denkt er nun nicht mehr an Mozartkugeln, sondern an Canis lupus.

Die Frau, Mitte dreißig, schön, rassig, die so aussah, als würde sie sich für Politik und Literatur interessieren und die neuesten Filme kennen, sagte in fließendem Englisch mit französischem Akzent: „Würden Sie mir bitte Gesellschaft leisten und so tun, als würden wir zusammengehören.“ Über Ungers verblüffte Miene musste sie kichern. „Nein, ich will Sie nicht anbaggern. Ich bin auch keine Nutte auf der Suche nach Kundschaft.“

Unger hob die Hand, um ihren Redefluss zu unterbrechen und bestellte ein Kronenbourg. Sie wartete, bis ihm der Barmann das gefrostete Bierglas hingeschoben hatte und sagte: „Santé.“ Er nickte und trank durstig. Dann stellte er das Glas ab und blickte sie fragend an.

„Ich habe Sie beim Einchecken beobachtet,“ gab sie zu. Und ohne den Kopf zu wenden zeigte sie mit dem Daumen über die Schulter. „Haben Sie den Hollywood-Fuzzi in der Ecke bemerkt? Der schmierige Typ mit den fettigen Haaren? Derjenige, der seine Nochfrau verprügelte und über den in allen Medien berichtet wurde? Der Wichser hat versucht, mich aufzureißen. Ich habe ihm einen Korb gegeben und gesagt, dass ich auf meinen Freund warte. Jetzt säuft er einen Pastis nach dem anderen und schmollt. “

„Aha“, sagte Unger spöttisch. „Und ich spiele den Freund?“

„Ja.“ Ihr Lächeln wurde intensiver. Sie erhob sich vom Barhocker, reichte ihm die Hand. „Léa.“

„Wolf“, sagte Unger. „Auf französisch Loup“, setzte er lächelnd hinzu.

Léa nahm es zur Kenntnis. Sie war groß. Mediterraner Typ, mit einem von Natur aus leicht gebräunten Hautton. Lange Modelbeine in Khakishorts, die breiten Schultern einer Schwimmerin. Dunkles Haar und leuchtende Augen, von denen das linke blau ist und das rechte einen großen zimtbraunen Sprenkel aufweist, eine unverwechselbare Kombination. Ein sportlicher Pagenschnitt unterstrich ihre Weiblichkeit und Eleganz. Gegen den Stoff des flaschengrünen Polohemdes stemmten sich die Nippel ihrer festen Brüste. Etwas zu breiter, aber sinnlicher Mund, schneeweise Zähne, aufgereiht wie Perlen. Eine attraktive Frau mit positiver Ausstrahlung

„Spielen Sie mit?“

Unger überlegte nicht lang.

„Nichts lieber als das.“ Er hielt kurz inne. „Aber nur, wenn sie nachher mit mir essen.“

„Nichts lieber als das“, sagte sie und atmete auf. Von dem Pastis-Säufer mit trauerumflorten Filmblick beäugt, beugte sie sich vor und küsste Unger dreimal – links, rechts, links – auf die Wangen.

Nach einem Job in Nizza hatte Unger erwähnt, ein paar Tage an der Côte d'Azur ausspannen zu wollen. Tagsüber im Meer schwimmen und in der Sonne liegen, abends in romantischen Restaurants provenzalische Küche mit legendären Roséweinen genießen – das wäre genau sein Ding, hatte er seinem Auftraggeber gegenüber erwähnt. Der hatte L'Horizon empfohlen, ein kleines Resort in kurzer Distanz zum Meer, zwischen Beaulieu-sur-Mer und Cap-d’Ail.

Von der Route Départementale, die direkt am Meer entlangführt, über einen schmalen, für den landwirtschaftlichen Verkehr vorgesehenen Weg, erreicht man L'Horizon, versteckt in einem kunstvoll verwilderten Park mit typischen Garrigue-Pflanzen – kugelförmige Büsche mit Lavendel, Zistrosen, Rosmarin, Thymian und Zwergpalmen. Korkeichen mit verzweigtem Geäst, uralte Pinien mit Baumkronen in Schirmform, Platanen und duftende Zedern spenden Schatten. Gebaut von einem inzwischen insolventen Industriellen aus der Métropole de Lyon, besteht es aus sieben Bungalows sowie einem Mas, ein provenzalisches Landhaus, traditionell nach Südosten ausgerichtet, mit dem Rücken zum Mistral. Im Mas befinden sich Rezeption und Wellnessbereich, ein intimes Restaurant und die Hotelbar.

Von Ostern bis Anfang November sei das Resort permanent belegt, hatte ihm sein Kontakt in Nizza mitgeteilt, was sich durch die überstandene Pandemie aber geändert habe. Es habe Absagen gehagelt und einer der Stammgäste war der verdammten Seuche zum Opfer gefallen. Zum ersten Mal seit seiner Gründung sei das Resort nicht ausgebucht. Nur eine Handvoll Urlauber würden sich im Hotel aufhalten, hatte man ihm versichert. Auch gehörten diese Gäste nicht zur peinlichen Kategorie derjenigen, die den ganzen Tag Rosé schlürfend am Pool rumhängen würden. Unger war mit dem Vorschlag einverstanden. Er konnte einen der Bungalows für zwei Wochen mieten. Sein Domizil ist mit rustikal-eleganten Möbeln im provenzalischen Landhausstil eigerichtet, das luxuriöse Marmorbad hat die Größe eines Einzimmerapartments. Das Hotel ist ein Refugium, das die Seele durch seinen sanften Charme beruhigt. Unger fühlte sich, als würde er in eine Welt von Frieden und Gelassenheit eintauchen. Er verstaute seine Klamotten – dunkelblauer Leinenblazer, Khakihosen- und Shorts, Polos und ein paar zigmal gewaschene Button-Down-Hemden von Brooks Brothers – in duftenden, mit Lavendelsäckchen ausgelegten Schränken. Frisch geduscht, in einem pinkfarbenen Hemd und blauen Leinenshorts, die Füße sockenlos in dunkelbraunen Tassel Loafers aus Pferdeleder, erschien er in der Hotelbar.

2

Von der Terrasse des Hotelrestaurants Chez le Pêcheur, an den Innenwänden Werke von Künstlern, die sich von Südfrankreich inspirieren ließen – Paul Signac und Pierre Bonnard, ein weiteres Werk glaubte er Henri Matisse zuordnen zu können – schaute man durch große Steinbögen auf den botanischen Garten. Es duftete intensiv nach dem Sud einer kräftigen Bouillabaisse, der Spezialität des Hauses. Nach einem Blick in die Weinkarte bestellte Unger eine Flasche Etoile Rosé der Domaines Ott aus der Provence, dazu Badoit, das französische Mineralwasser der Haute Cuisine, was Léa – kein Make-up, bis auf eine Reverso in Edelstahl kein Schmuck, raffiniertschlichtes Bodycon-Kleid aus taubenblauem Leinen mit Gehschlitz – mit einem anerkennenden Nicken zur Kenntnis nahm.

Vom Rosé nahm er einen kräftigen Probierschluck. „Exzellent.“ Kein Getue, kein leidenschaftlich-bewegter Gefühlsausdruck, kein versnobtes Kennergehabe, kein feierliches Ergriffensein.

Sie prostete ihm zu. „Wer bist du?“, duzte sie ihn und blickte ihm offen ins Gesicht.

Unger verzog den Mund zu einem Lächeln. „Kein Smalltalk? Gleich zur Sache? Lass uns zuerst bestellen.“

„Bouillabaisse?“

Unger nickte. „Bouillabaisse.“ Dann: „Ich bin Ex-Anwalt aus Frankfurt und arbeite für eine internationale Agentur in New York als Erlediger.“

„Erlediger?“

„Ich beseitige Probleme.“ Auf ihren fragenden Blick fügte er hinzu: „In Nizza habe ich mit Hilfe einer ortsansässigen Kanzlei einem Klienten aus der Bredouille geholfen.“

„Cherchez la femme?“

„Ja.“

„Du hast es geregelt?“

„Ich hab’s erledigt.“ Er blickte auf die Uhr an seinem Handgelenk. „Vor zwei Stunden hat mein Mandant den Flieger nach New York genommen.“

Die Bouillabaisse wurde in zwei Gängen serviert. Zunächst der Fond mit gerösteten Baguette-Scheiben, die in Rouille getunkt werden, eine sämige rostfarbene Soße aus fein zerstoßenem Knoblauch und kleinen roten, scharfen Pfefferschoten. Zum zweiten Gang werden dann Edelfische und Meeresfrüchte in der Suppe aufgetragen.

Léa verdrehte verzückt die Augen. „Wusstest du, dass die Bouillabaisse als wirksames Aphrodisiakum gilt? Und dass der vom Druiden Miraculix gebraute Zaubertrank unter anderem auch Fische, Hummer und Muscheln enthält? Asterixologen glauben, dass es sich bei dem Elixier um Bouillabaisse handelt.“

Unger grinste. „Allerdings hat der Trank nicht zu übermenschlicher Kraft in den Fäusten, sondern für mehr Power im Unterleib gesorgt.“

„Aha“, hatte ihr Kommentar gelautet.

Während des Essens wurde nicht viel geredet. Außer gelegentlich reich mir doch mal dies oder jenes oder füll doch mal die Gläser, genossen beide die beste Bouillabaisse, die Unger je gegessen hatte.

Danach schob er seinen Teller zurück und stöhnte vor Behagen. „Ich vermisse die Zeiten, als man eine anständige Zigarre oder zumindest eine Zigarette nach einem solchen Essen rauchen konnte.“

„Ich nicht“, sagte sie. „Obwohl ich Genussraucherin bin.“ Und: „Möchtest du Dessert? Nein? Ich kann auch nicht mehr.“

„Kaffee und Digestif wären prima“, sagte Unger.

Sie machte dem Kellner ein Zeichen. „Typisch für die Region ist ein Farigoule de Forcalquier, ein Thymianlikör.“

„Ich trinke, was du trinkst.“

Léa bestellte. Dann trank sie ein Schlückchen, stellte das Glas ab und sagte: „Könnte ich deine Dienste in Anspruch nehmen?“

Unger hatte mit dieser Frage gerechnet. „Warum.“

„Man will mich ruinieren.“

Mit einer Handbewegung forderte er sie zum Reden auf.

Sie lehnte sich zurück. „Meine Vorfahren lebten über hundert Jahre in Oran, bevor meine Großeltern Ende der Fünfziger während des Algerienkrieges fliehen mussten. Mein Opa besaß ein gutgehendes Taxiunternehmen, erst mit Pferdekutschen, später transportierte er mit dem ersten Citroën Traction Avant europäische Touristen, die Zeit und Geld hatten, zu den Stränden oder zum Aussichtspunkt Belvédère. Meine Großeltern verloren alles, flüchteten nach Frankreich und bauten sich in Nizza eine neue Existenz auf. Ihre Taxis fuhren reiche Engländer über die Promenade des Anglais oder in Städtchen der Umgebung, nach Saint-Paul-de-Vence, Antibes oder Èze.“ Sie schenkte sich Badoit nach und trank. „So fing es an. Dann übernahm mein Vater die Firma und führte sie erfolgreich weiter. Heute befindet sich das Unternehmen zu hundert Prozent in meinem Besitz. Meine Firma, LR Chauffeur Privé et Conciergerie de Luxe, verfügt über eine exklusive Fahrzeugflotte: Porsche und S-Klasse Mercedes, Jaguar, Range Rover, Rolls Royce und Bentleys sowie noch einen Maybach – ich hatte mal zwei – dazu später mehr. Wir fahren nach Cannes, Grasse, Monaco oder Saint-Tropez. Und während des Filmfestivals in Cannes auch zu Airports in Genua, Genf, Mailand oder Rom.“ Sie hielt den Zeigefinger hoch. „Gerade habe ich einen Helikopter bestellt, der meinen Fuhrpark ergänzen wird.“

Unger war beeindruckt.

„Ich habe mich hierher zurückgezogen, um über mein zukünftiges Leben nachzudenken, liege auf der faulen Haut, lass mir die Sonne auf den Bauch scheinen und mich im Spa-Bereich verwöhnen.“

„Allein?“

„Allein“, nickte sie. „Deshalb habe ich um deine – ähm – Gesellschaft gebeten.“ Sie kümmerte sich jetzt nicht mehr um etwaige Rauchverbote und steckte sich eine Gitanes zwischen die Lippen. Unger ließ sein Zippo aufflammen und reichte ihr Feuer. Sie inhalierte, stieß den Rauch aus und fuhr fort: „Vor ein paar Monaten habe ich mich aus einer toxischen Beziehung gerettet und mich von meinem Freund getrennt. Viel zu spät, aber immer noch rechtzeitig genug.“ Und: „Ich habe die Gästeliste des Hotels gecheckt. Was mich stutzig machte, war deine Reservierung, die von einer Kanzlei in Nizza vorgenommen wurde. Ich kenne Maître Fortès …“

Unger unterbrach: „Wie kommst du an die Gästeliste?“

Sie machte eine ausladende Armbewegung. „Der Laden gehört mir.“

„Und Maître Fortès ist dein Anwalt.“

Sie nickte. „Persönlich und auch Avocat de sociétés. Ich habe mich nach dir erkundigt. Ich muss über meine Gäste Bescheid wissen. Oft werden meine Bungalows von Celebrities gebucht, die sich nach einer Schönheitsoperation, einem sogenannten Human Upgrade, nach überstandener Suchttherapie in einem der Rehab Center in Monaco oder nach einer Trennung hier verstecken. Auf ihre Empfindlichkeiten und Macken muss Rücksicht genommen werden.“ Sie hob die Hände. „Keine Angst, in deinem Fall verwies der Maître auf seine Schweigepflicht.“ Mit Zeigefinger und Daumen macht sie die Lippen-Reißverschluss-Geste. „Er äußerte nur, dass du von einer international operierenden Agentur in New York bei schwierigen Aufgaben eingesetzt wirst, als eine Art Ausputzer.“ Sie lächelt. „So wie George Clooney in Michael Clayton, der für jedes Malheur seiner Mandanten die passende Lösung findet.“ Sie hält kurz inne. „Ich gebe zu, deinen Namen gegoogelt zu haben.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe nichts gefunden. Es existieren keine Eintragungen im Internet, du bist nicht bei einschlägigen sozialen Netzwerken gelistet, keine Mitgliedschaften in Clubs oder Berufsvereinigungen. Überhaupt keine Lebenszeichen. Nothing, nada, cero, niente. Du existierst nicht.“ Léa seufzte. „Bist du ein Geist? Ein Phantom? Ein Alien?“

„Das war kein Zufall, vorhin in der Hotelbar. Du hast mich gezielt angesprochen und die Story der angeblichen Belästigung war erfunden. Du hast mich getestet.“ Und sarkastisch: „Habe ich bestanden?“

„Summa cum laude!“

Unger fühlte sich entwaffnet. Während er noch nach einer geistreichen Antwort suchte, gähnte sie ausgiebig und verkündete, todmüde zu sein.

„Über mein Problem reden wir morgen“, sagte sie.

Vor ihrem Bungalow küsste sie ihn keusch auf die Wange. Fast berührten sich ihre Körper. Er spürte die Hitze die sie verströmte und blickte in die unterschiedlichen Regenbogenhäute ihrer Augen. Auf Stirn und Oberlippe schimmerte ein Schweißfilm. Sie hielt seinem Blick stand. Ihre sinnlichen Antennen nahmen sofort seine animalische Ausstrahlung wahr. Das reizte sie. Das machte sie scharf. Sie fragte sich, ob er sie packen, auf das Bett knallen und vögeln würde. Ihre Knie wurden weich. Er war ihrem Gesicht so nahegekommen, dass er mit der Zungenspitze den Schweiß von ihrer Lippe lecken könnte. Er nahm einen Hauch ihres Parfüms war. Ein sinnlicher Duft nach Kardamom und Oud-Extrakten. Sie überlegte, ob sie sich an seine Brust sinken lassen sollte, entschied aber, das sei nicht der richtige Moment. Der Augenblick verging. Sie drehte sich um, murmelte etwas, das wie bonne nuit klang, machte zwei Schritte zur Tür und stolperte kurz. Sie fing sich wieder und ohne sich noch einmal umzudrehen, verschwand sie in ihrem Bungalow.

Bam!

Tür zu.

Unger starrte ihr nach. Er ist vierzig, lässt sich für scheißgefährliche Jobs bezahlen, kann jederzeit den Löffel abgeben und hat schon bessere Tage gesehen. Wer würde da nicht von einer versauten Nacht mit einer Frau wie Léa Robicheaux träumen, um am Morgen danach halbtot gefickt, aber glücklich aufzuwachen?

Léas Ruf holt ihn in die Gegenwart zurück. Er bewegt sich zur Restaurantterrasse, wo sich um diese Zeit wunderbarer Kaffeeduft verbreitet und frische Croissants serviert werden. In einem tintenblauen T-Shirt und weißen Shorts, die ihre langen, gebräunten Beine betonen, wirkt sie auf Unger natürlich, entspannt und selbstbewusst. Und sehr sexy. Er lässt den gestrigen Abend Revue passieren. Léa bat um seine Hilfe. Er wird sich anhören, was sie zu sagen hat. Auch wenn sie ihm letzte Nacht die Tür vor der Nase zugeknallt hatte.

„Très chic“, sagt er zu Léa. Und zur Bedienung: „Un café et un croissant, s'il vous plaît.“

Er bekommt einen brühendheißen Espresso und dieses leckere Plunderteilchen über den Tresen geschoben. Nachdem er die letzten Krümel von den Fingerspitzen geleckt hat, packt Léa seinen Arm und führt ihn in das Dickicht der tropischen Oase.

„Ich muss mit dir reden,“ sagt sie. „Du hast mein Ego angeknackst.“ „Warum?“

„Dein Interesse an mir war professioneller Natur.“

Sie kichert und drückt seinen Arm.

Unger fasst das als nonverbales Kompliment auf.

Sie überqueren eine kleine Steinbrücke, die sich über einen Teich mit quakenden Fröschen spannt. Überwucherte Pflasterwege führen durch einen üppigen Dschungel aus Pflanzen, Blüten und Bäumen. Darunter eine zweihundertjährige Korkeiche, Baumfarne, Platanen und Palmen sowie Bougainvillea und wilde Reben. Um Bäume und Sträucher mit Pfirsichen, Zitronen, Orangen und Aprikosen schwirren Insekten. Überall sind rieselnde Steinbrunnen versteckt und der ovale Swimmingpool, umringt von bequemen Liegen, gleicht Tarzans im Dschungeldickicht verborgenem Privatteich. Über einen Trampelpfad, ein paar Schritte entfernt, erreicht man eine Cabaña mit Umkleide und Dusche. Jetzt, in der Hitze des Vormittags, versteckt in Büschen und Bäumen, zirpen die Zikaden am lautesten. Das Konzert ist ohrenbetäubend, so laut wie ein Rasenmäher.

Unger hält sich die Ohren zu.

„Die Musik des Südens“, sagt Léa und versucht den Radau zu übertönen.

In der Nähe der Cabaña, an einer schmiedeeisernen Bank mit weißen Polstern, macht sie halt und setzt sich. Hier ist das Gezirpe einigermaßen erträglich. Sie fingert eine Zigarette aus der Packung, bietet Unger eine an und lässt ein verschrammtes Cartier aufflammen. Beide inhalieren. Sie stößt Rauch aus und sucht seinen Blick. „Die letzten zwei Jahre mit meinem Ex rauschten einfach an mir vorbei“, beginnt sie. „Wir hatten fast keinen Kontakt mehr. Ich habe die Firma ausgebaut, Kunden akquiriert, täglich zehn, zwölf Stunden gearbeitet und wohnte in meinem Apartment in Nizza. Er hauste in seiner Bude in Cannes, schaltete in den Partymodus, vögelte High Society-Tussen, spielte Golf und fuhr Speedboot Rennen von Monaco bis Saint-Tropez.“ Sie wirft die Kippe auf den Boden und tritt sie mit dem Absatz aus. Nach kurzem Zögern klaubt sie den Stummel wieder auf und hält ihn ratlos in der Hand. Unger reicht ihr ein Kleenex. Dankbar nickt sie und nimmt den Faden wieder auf: „Was glaubst du, wer ihm das süße Leben finanziert hat?“ Sie erwartet keine Antwort. „Ich warf ihn aus meinem Bett und meinem Leben.“

„Das fand er scheiße“, stellt Unger fest.

„Allerdings. Eine Zeit lang war er verschwunden. Dann kam das Schreiben eines Anwalts aus Monaco in Sachen Claude Léotard versus Léa Robicheaux – ich hatte fast schon den Namen dieses Arschlochs vergessen. Um es kurz zu machen – er verlangt eine Abfindung.“

„Wie viel?“

„Wir waren drei Jahre zusammen. Pro Jahr verlangt er eine Million Euro, also drei.“

„Schlau ausgedacht. Es gibt natürlich keine Rechtsgrundlage für seine Forderung. Aber vielleicht schlägt ein windiger Advokat trotzdem eine ordentliche Summe für ihn raus.“

„Was folgte, war das Geplänkel der Anwälte“, fährt sie fort. „Mein Anwalt gegen seinen, seiner gegen meinen. Claude rief mich schließlich an und teilte mir mit, dass er die Schnauze voll hätte. Ich würgte das Gespräch ab. Kurz danach ging einer von zwei Mercedes Maybach in Flammen auf. Eine Woche später ein Bentley Continental, beide zusammen im Wert von circa fünfhunderttausend Euro. Die Ermittlungen verliefen im Sand. Gegen Léotard wurde nicht ermittelt. Warum auch? Es gab nicht den allergeringsten Verdacht gegen ihn.“

„Du glaubst, er steckt hinter den Anschlägen? Gibt es Hinweise, die deinen Verdacht rechtfertigen?“

„Nicht wirklich. Es ist mehr ein Gefühl. Das Vorgehen entspricht seinem rachsüchtigen, hinterhältigen Charakter.“

„Und nun befürchtest du weitere Anschläge?“

„Ja. Mein gesamtes Geld steckt in der Flotte. Einen weiteren Verlust kann ich mir nicht leisten.“ Sie erhebt sich und blickt auf Unger runter. „Ob und wann die Versicherung zahlt – wer weiß. Ich kann nicht so lange warten. Und um Léotard abzufinden oder ein weiteres Fiasko zu verkraften, müsste ich Fahrzeuge verkaufen. Das kann ich nicht. Die gehören der Bank. Mein Kreditrahmen ist ausgereizt. Und wenn die Bank den Geldhahn zudreht, bin ich am Ende. Meine Firma unterscheidet sich von einem normalen Taxibetrieb durch Exklusivität, Service und Angebot. Und natürlich durch exzellentes Personal. Alles, was in drei Generationen aufgebaut wurde, wäre perdu. Ich wäre pleite, eine leichte Beute für meine Konkurrenz.“ Ruckartig steht sie auf und wedelt ein Insekt fort. Leise sagt sie: „Ich bin völlig überfordert.“

„Setz dich wieder“, sagt Unger und rückt ein Stückchen zur Seite. „Erzähl mir mehr von Léotard.“

„Monegasse, Mitte dreißig, Typ charmanter Womanizer. Etwas kleiner als ich, was er mit höheren Absätzen zu kompensieren versuchte, smart und skrupellos. Ein gutaussehender Aufreißertyp.“ Sie zückt ihr Smartphone und zeigt ein Foto. Ein nicht unsympathischer Typ – olivfarbene Haut, dunkle Augen, dunkle Haare, dunkler Dreitagebart – grinst unbekümmert in die Kamera.

Kein Wunder, dass Frauen auf solche Typen reinfallen, denkt Unger.

„Hat manchmal als Croupier im Spielcasino Monte-Carlo oder während der Filmfestspiele als Chauffeur sowohl für mich als auch für meine Konkurrenz gearbeitet und Film-Fuzzis durch die Gegend kutschiert. Als wir uns damals kennenlernten, hat er die Bar in einem angesagten Club in Nizza gemanagt.“

„Was macht er ohne deine Absicherung seines Lebensstils?“

„Vielleicht arbeitet er wieder als Chauffeur, Croupier oder Barmann, vielleicht macht er einen auf Gigolo, vielleicht dealt er ein bisschen … keine Ahnung.“ Sie setzt eine Sonnenbrille auf und versteckt sich dahinter.

Jetzt kommt’s, denkt Unger.

„Ich möchte dich beauftragen.“ Sie zögert kurz. „Kann ich mir deine Hilfe leisten?“

„Nein.“

Léa starrt ihn an. Sie ist fassungslos. Sie ist wie vor den Kopf geschlagen. Sie ringt nach Worten.

Unger kommt ihr zuvor. „Ich werde pro bono für dich arbeiten.“

Sie stößt den Atem aus. „Das heißt …“

„Umsonst.“ Dann fügt er hinzu: „Männer, die Frauen ausnutzen, erpressen, demütigen, ruinieren und so behandeln, wie dein Ex es tut, kotzen mich an. Ich würde dir gerne helfen und bitte dich, mein Angebot anzunehmen.“

Sie denkt einen Moment nach. Aber nicht lange. „Unter einer Bedingung.“

„Die da wäre?“

„Sei mein Gast im Hotel.“

Unger nickt. „Einverstanden.“

Léa seufzt erleichtert und atmet tief durch. „Mir fällt das gesamte Mont-Blanc-Massiv vom Herzen.“ Sie beugt sich zu ihm runter und haucht ihm einen Kuss auf die Lippen, fächelt sich mit einer Hand Kühlung zu, mit der anderen deutet sie auf den Pool. „Lust zu schwimmen?“

Unger schüttelt den Kopf. „Keine Badesachen.“

„Ich auch nicht.“ Sie setzt die Sonnenbrille ab, streift die Flip-Flops von den Füßen, geht zum Pool und prüft die Wassertemperatur mit den Zehen. „Wunderbar kühl“, ruft sie, zieht das T-Shirt über den Kopf und steigt aus Shorts und Slip. Mit einem eleganten Hechtsprung taucht sie nackt ins Wasser, kommt prustend wieder hoch, kreuzt ein paarmal die Poolbreite und krault zum Beckenrand. Das Kinn auf verschränkten Armen blinzelt sie Wasser aus den Augen. „Das Wasser ist frisch und sauber, dafür sorgt eine unterirdische Quelle “ Sie deutet irgendwohin. „Da drüben ist der Zulauf.“

Plötzlich stützt sie sich mit einer Hand auf den Beckenrand und schnellt hoch. Mit der freien Hand schnappt sie nach Unger, will ihn ins Wasser reißen. Der zuckt blitzschnell zurück. Sie greift ins Leere. „Feigling“, faucht sie, klettert aus dem Pool, sammelt ihre Sachen auf und verschwindet in der Cabaña.

3

LE SUQUET, CANNES

Fred Kappler: „Sie haben hier keinen Zutritt." Nathan D. Muir: „Keine Sorge, Kappler, wenn ich keinen Zutritt hätte, wär ich nicht reingekommen." Bill Buell als Fred Kappler und Robert Redford als Nathan D. Muir in „Spy Game – Der finale Countdown.“

Durch die verwinkelten Kopfsteinpflastergassen von Le Suquet, dem historischen Viertel von Cannes, jagt unter schrillem Jaulen der Wind, lässt die hölzernen Fensterläden klappern und treibt Unrat und Papierfetzen vor sich her. Unger keucht ein enges Sträßchen hoch und sucht nach der Rue de la Castre, wo sich Claude Léotards Zweizimmerwohnung auf der dritten Etage eines Hauses aus dem neunzehnten Jahrhundert befinden soll.

Wohnungen in der Altstadt sind für Normalverdiener längst nicht mehr bezahlbar. Sie werden zu Phantasiebeträgen an Spekulanten und reiche Rentner aus England oder den USA verkauft. Heute gibt es mehr Maklerbüros als Bäcker in der Stadt. Viele Häuser sind entkernt und aufwendig renoviert, Lifte, Klimaanlagen und Fußbodenheizungen wurden installiert, Bäder und Duschen eingebaut. Technisch hochgerüstet, ausgestattet mit Hochgeschwindigkeits-WLAN und Smart-TV mit Anbindung an Mobilgeräte. Nur Originalfassaden und vereinzelte Stilelemente blieben erhalten.

Laut Smartphone-Navi steht er direkt vor der eingegebenen Adresse. An einen Mauervorsprung gelehnt verharrt er einen Moment und verschnauft. Von Vorteil ist, dass sich die Gasse komplett im Schatten befindet und ihm nicht auch noch die Sonne auf den Kopf knallt. Seine Sonnenbrille schützt ihn auch vor den Sandkörnern, die der Mistral von den Stränden der Côte d'Azur bis an die Hänge der Seealpen wirbelt. Einen Plan hat er nicht. Er wird spontan entscheiden. Ob er Léotard persönlich antrifft, spielt keine Rolle. Sollte sich der Motherfucker in seiner Bude aufhalten, wird er ihm unmissverständlich klarmachen, dass sich Léa ab sofort nicht nur juristisch wehrt. Dass sich ein neuer, gefährlicher Mitspieler um ihre Belange kümmert. Das alte Spiel von Einschüchtern und Gewalt. Damit hat Unger Erfahrung. Funktioniert meistens. Sollte Léotard ausgeflogen sein, hofft er irgendetwas zu entdecken, was ihm weiterhilft. Was auch immer.

Von seiner Seite aus sei die Sache erledigt, hatte Léas Anwalt, Maître Henri Fortès, am Vormittag mitgeteilt, jetzt müsste Léotards nächster Schachzug abgewartet werden. Die letzten beiden Züge bestanden vermutlich aus Brandstiftungen. Ein Wunder, dass bisher niemand verletzt oder getötet wurde.

Endlich entdeckt Unger an der Hauswand eine halbverblichene Kachel, auf der er den Straßennamen zu entziffern glaubt. Ein ockerfarbenes schmales Haus, jedes Stockwerk nur eine Wohnung, zweite und dritte Etage mit Balkonen. Die Eingangstür hängt schief in den Angeln und schließt nicht mehr. Über eine Treppe mit ausgetretenen Steinstufen, entlang an Wänden mit abplatzender Farbe und Graffiti-Schmierereien, quält er sich in den dritten Stock hoch. Durch das Treppenhaus wabert ein Knoblauch-Urin-Geruchsinferno. Hier wurde noch nicht renoviert. Hier hat noch kein windiger Investor Geld seiner Anleger versenkt. Léotard muss die Wohnung erworben haben, als sie noch bezahlbar war. Das nennt man sozialen Absturz, sagt er sich und steht vor einer neuen, stabilen Holztür. Auf sein wiederholtes Klopfen meldet sich niemand. Aus seiner Hosentasche fingert er ein Lederetui, geht auf die Knie und breitet eine Werkzeugsammlung aus. Mit Geschick, Geduld und einem ruhigen sensiblen Händchen kann man jedes Schloss knacken, hatte ihm der Einbrecher mitgeteilt, der ihm das Werkzeug-Set vermacht hatte und den er in seinen glorreichen Tagen als Anwalt vor einer längeren Haftstrafe bewahrt hatte. Er setzt den Spanner an. Mit dem Pick, der an ein Zahnarztinstrument erinnert, stochert er im Schlüsselloch, um die Stifte, die sonst der Schlüssel in die richtige Position bringt, so anzuordnen, dass das Schloss aufspringt. Nach sechzehn Sekunden hat er den Verschluss geknackt. Die Tür ist offen. Ihm ist mulmig zumute. Wie um sich Mut und Zuversicht zu verschaffen, fühlt er durch den Stoff seines Blousons den Umriss des Schlagstocks in der eingearbeiteten Spezialtasche. Ein schwarzer, röhrenartiger Gegenstand. Ein maßgefertigtes Unikat von einem Waffenspezialisten der Firma RSA Technologies Inc. in Essex, England. Ausgefahren fünfundfünfzig Zentimeter Edelstahl. Drei Segmente mit Friktionsarretierung in einer formbeständigen, gehärteten Ausführung mit ergonomischem Gummigriffstück als Aufnahme für die Innensegmente und einer kleinen Stahlkugel am Ende der Rute. Eingefahren nicht länger als fünfundzwanzig Zentimeter. Eine furchtbare Waffe für denjenigen, der sie zu handhaben weiß. Und im Gebrauch des Schlagstocks ist Unger ein Meister.

Er öffnet die Tür und huscht in das Apartment. Verblüfft verharrt er. Er hatte ein verdrecktes Loch erwartet. Im Gegensatz zum Rest des Hauses ist die Wohnung komplett renoviert. Wohnzimmer mit Glasfront und Kitchenette sind peinlichst sauber. Ebenso das Schafzimmer mit Marmorduschbad en Suite. Eine Schiebetür führt auf den schmalen Balkon mit einem atemberaubenden Blick über das Dächermeer der Altstadt und die Bucht von Cannes bis zur Riviera. Léotards Bude wirkt seltsam unbewohnt. Keine gerahmten Fotos mit Léa aus glücklichen Tagen, keine Bilder oder Poster an den Wänden. Italienische Designmöbel, Leuchten und Lampen von Artemide und Luceplan, Soundsystem und TV-Gerät von Bang & Olufsen. Auf dem Couchtisch Life Style-Magazine – Marie Claire, Elle, Vogue, GQ, Vanity Fair und eine ältere Ausgabe der Zeitung Nice-Matin. Unger zieht Chirurgenhandschuhe über, durchsucht Schubladen und Einbauschränke in Wohn- und Schlafzimmer. Zwei Smokings, Uniformen für Croupiers oder Servicekräfte in der Gastronomie, hängen auf Bügel. In Schubladen findet er dazu passende Hemden und Schleifen. Auf dem Schrankboden ein Paar glänzende Lackschuhe. Stapel frischer Bettwäsche, Hand- und Badetücher sowie zwei seidene Kimonos findet er im Schlafzimmer. Im Kühlschrank Mineralwasser und zwei Flaschen Weißwein. Neben der Spüle eine noch nicht geöffnete Flasche Pastis von Henri Bardouin und eine halbe Flasche Armagnac. Im Badeschränkchen eine Packung mit Kondomen, Rasierutensilien und Kosmetikartikel. Keine Freizeitkleidung. Kein Computer. Keine Akten. Keine Hinweise auf die Person Claude Léotard.

Eine Fickbude, sagt sich Unger frustriert, der Wichser lebt hier nicht permanent. Er nimmt an, dass die Wohnung mit Leas Geld finanziert wurde. Auf ihre Frage, wie er vorzugehen gedenke, hatte er mit dem Vito Corleone-Zitat geantwortet: „Ich werde ihm ein Angebot machen, das er nicht ablehnen kann.“

Sie giggelte. „Und welches.“

„Ich werde ihm die Scheiße aus dem Leib prügeln und ihm klarmachen, dass er Monaco nur noch verlassen darf, wenn er sich in deinem Umfeld nicht mehr blicken lässt. Sollte er sich nicht daranhalten, werde ich ihm eine Kugel in den Bauch schießen und ihn verbluten lassen.“ Mit einem Grinsen entschärfte er seine Worte und fügte hinzu: „Außerdem habe ich noch ein paar Dinge auf Lager, von denen du nichts wissen willst.“ Unger beherrscht mehrere Kampfkunstarten einschließlich Messerkampf, schießt links- und rechtshändig und ist an allen bekannten Waffen ausgebildet.

Gequältes Lächeln. „Ziemlich drastisch, findest du nicht?“

„In meinem Job muss ich unmissverständlich handeln“, hatte Unger gesagt. „Friss oder stirb ist die Devise.“

Léa hatte sich geschüttelt.

Er lässt noch einmal einen Blick durch die Wohnung schweifen, verharrt kurz und nimmt die Zeitung vom Tisch. Zwischen den Seiten ragt die gelbe Ecke eines Zettels hervor. Eine Haftnotiz. Notiert ist eine Telefonnummer mit der Ländervorwahl von Monaco. Der Zettel klebt auf dem Inserat einer Agentur für Personalvermittlung, die einen Barmann sucht. In Zeiten von grassierendem Mitarbeitermangel, muss man, um potenzielle Bewerber anzusprechen, auf bewährte Recruiting-Kanäle wie Zeitungsinserate zurückgreifen. Léotard scheint sich beworben zu haben. Unger speichert die Nummer in seinem Smartphone und klebt den Zettel wieder zwischen die Zeitungsseiten.

Dann verlässt er die Wohnung.

4

CLAUDE LÉOTARD

„Auch wenn man den Schlagstock anstelle eines Gespräches einsetzen kann, werden Worte immer ihre Macht behalten.“ Hugo Weaving in „V wie Vendetta.“

Unter der Nummer meldet sich der Anrufbeantworter eines Clubs mit dem schönen Namen La Nuit Obscure im Stadtbezirk La Condamine in Monaco. Eine Stimme teilt in drei Sprachen die Öffnungszeiten mit und dass man sich freuen würde, den Anrufer als Gast begrüßen zu dürfen. Laut Google Maps liegt der Bezirk rund um Port Hercule, dem Hafen von Monaco.

Der Club, so teilt ihm Léa mit, sei an der Cote d’Azur bekannt als Place to be, Tummelplatz für Reich und Reicher, Schöne und Wannabes, Demimonde, Politik und Wirtschaft.

Kurz vor Mitternacht.

Einer von Léas Chauffeuren bringt ihn mit einer schwarzen Jaguar-Limousine direkt vor den Eingang des Clubs. Der Fahrer eilt um den Wagen, nimmt die Mütze ab und reißt die Tür auf. Unger steigt aus, nickt huldvoll und bewegt sich auf den Eingang zu, während sich der Jaguar in die Phalanx der Luxusschlitten reiht, die vor dem Club zur Schau gestellt sind. Ein Schein wechselt den Besitzer, der Türsteher mit der Figur eines Wrestlers öffnet das Eingangsportal und wünscht Unger einen angenehmen Aufenthalt.

Als sich seine Augen an das schummrige Licht gewöhnt haben, heißt ihn eine Empfangsdame im dunklen Kostüm mit weißer Bluse willkommen.

„Einen Platz an der Bar, bitte“, sagt Unger.

Sie nickt. „Bien sûr monsieur, j'adorerais.“ Sie weist auf die Barhocker. Auf Englisch sagt sie: „Sie haben freie Wahl.“

Langer Bartresen, Rundtische mit bequemen Sesseln, im Hintergrund ein niedriges Podium, auf dem eine Jazz-Combo – Klavier, Gitarre, Schlagzeug und Bass – agiert. Am Mikrofon eine Rothaarige mit blasser Nachtclubhaut im Kleinen Schwarzen. Mit samtiger Stimme interpretiert sie eine jazzige Version des Chanson-Klassikers C’est si bon. Fast alle Tische sind besetzt. Zwei Frauen und ein Mann wirbeln hinter der Theke mit Flaschen und Cocktailutensilien, servieren Drinks an der Bar und füllen Tabletts mit Getränken, die von Kellnerinnen in sexy Bodysuits durchs Lokal balanciert werden. Den Barmann erkennt er sofort: Claude Léotard. Er trägt eine Garçon-Schürze über einem weißen Hemd und dunkler Hose, um den Hals eine schwarze Fliege. Unger bestellt ein Bier von einer lokalen Brauerei in Nizza und checkt die Gäste: Wheeler-Dealer in Gesellschaft ihrer Zweitmuschis, Anwälte, Immobilienhaie Lokalpolitiker und ein paar Asiaten, 'Ndrangheta-Typen, die über die nahe Grenze aus Italien eingefallen sind. Versprengte Reste der Russenmafia mit gebotoxten Trophäenfrauen sowie Yachtbesitzer und Spielsüchtige, die ihr Geld bereits im Casino gelassen haben oder noch vorhaben, sich später in der Nacht zu ruinieren. Und elegante Edelnutten. Keine Touristen. Von links wird er von einer dunkelhäutigen, von rechts von einer mediterranen Schönheit taxiert.

Er ignoriert die Frauen, winkt Léotard zu sich und beugt sich über den Tresen. Gefährlich leise, aber deutlich sagt er: „Mein Name ist Wolf Unger. Sollte ein weiteres Auto von Léas Flotte auch nur einen Kratzer abbekommen, sind Sie geliefert.“

Léotard stutzt. Aber nur kurz. Dann, höhnisch: „Geliefert?“

„Tot“, sagt Unger kalt.

Mit den Ellbogen auf dem Tresen entpuppt sich Léotard als das Arschloch, für das Unger ihn hält. „Die Nutte schickt dich?“, faucht er. „Du wagst es, mir in meiner Bar zu drohen? Verpiss dich!“