Kim Jiyoung, geboren 1982 - Cho Nam-Joo - E-Book
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Kim Jiyoung, geboren 1982 E-Book

Cho Nam-Joo

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Beschreibung

Der Weltbestseller aus Korea – über 2 Millionen verkaufte Exemplare weltweit. Cho Nam-Joo hat mit ihrem Roman einen internationalen Bestseller geschrieben. Ihre minimalistische und doch messerscharfe Prosa hat nicht nur viele Leserinnen weltweit begeistert, sondern auch Massenproteste in Korea ausgelöst. In einer kleinen Wohnung am Rande der Metropole Seoul lebt Kim Jiyoung. Die Mittdreißigerin hat erst kürzlich ihren Job aufgegeben, um sich um ihr Baby zu kümmern – wie es von koreanischen Frauen erwartet wird. Doch schon bald zeigt sie seltsame Symptome: Jiyoungs Persönlichkeit scheint sich aufzuspalten, denn die schlüpft in die Rollen ihr bekannter Frauen. Als die Psychose sich verschlimmert, schickt sie ihr unglücklicher Ehemann zu einem Psychiater. Nüchtern erzählt eben dieser Psychiater Jiyoungs Leben nach, ein Leben bestimmt von Frustration und Unterwerfung. Ihr Verhalten wird stets von den männlichen Figuren um sie herum überwacht – von Grundschullehrern, die strenge Uniformen für Mädchen durchsetzen; von Arbeitskollegen, die eine versteckte Kamera in der Damentoilette installieren und die Fotos ins Internet stellen. In den Augen ihres Vaters ist es Jiyoung's Schuld, dass Männer sie spät in der Nacht belästigen; in den Augen ihres Mannes ist es Jiyoung's Pflicht, ihre Karriere aufzugeben, um sich um ihn und ihr Kind zu kümmern. »Kim Jiyoung, geboren 1982« zeigt das schmerzhaft gewöhnliche Leben einer Frau in Korea und gleichzeitig deckt es eine Alltagsmisogynie auf, die jeder Frau – egal, wo auf der Welt – nur allzu bekannt vorkommt.

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Seitenzahl: 206

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Nam-Joo Cho

Kim Jiyoung, geboren 1982

Roman

Aus dem Koreanischenvon Ki-Hyang Lee

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Nam-Joo Cho

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Herbst 2015

1982–1994

1995–2000

2001–2011

2012–2015

2016

Nachwort der Autorin

Inhaltsverzeichnis

Herbst 2015

Kim Jiyoung ist 33 Jahre alt, 34 nach koreanischer Zählung, denn in Korea gilt ein Kind in seinem Geburtsjahr bereits als einjährig und wird am darauffolgenden Neujahrstag zwei. Sie hat vor drei Jahren geheiratet und letztes Jahr eine Tochter geboren. Mit ihrem Mann Chong Daehyon und der Tochter Chong Ziwon lebt sie in einer achtzig Quadratmeter großen Mietwohnung am Stadtrand von Seoul, die Teil einer riesigen Wohnanlage ist. Jiyoung war bis zur Geburt des Kindes bei einer Marketingfirma angestellt. Daehyon arbeitet in einem mittelständischen IT-Unternehmen. Er kommt meist kurz vor Mitternacht von der Arbeit nach Hause und geht auch am Wochenende mindestens einmal ins Büro. Jiyoungs Schwiegereltern leben in Busan, im Süden des Landes, ihre eigenen Eltern betreiben ein Restaurant, weshalb Jiyoung bei der Betreuung ihres Kindes auf sich allein gestellt ist. Zumindest vormittags geht die kleine Ziwon in eine private Kinderkrippe im Erdgeschoss des Wohnkomplexes, und das schon seit ihrem ersten Geburtstag im letzten Sommer.

Am 8. September fiel Jiyoung zum ersten Mal durch sonderbares Verhalten auf. Daehyon erinnert sich ganz genau, weil es an Baegno war, dem Tag des ersten Morgentaus. Während er Toastbrot und Milch frühstückte, ging seine Frau plötzlich zum Balkon und öffnete das Fenster. Die Sonnenstrahlen waren zwar so herrlich, dass er blinzeln musste, aber die kalte Luft zog bis zu seinem Platz am Tisch herüber. Mit hochgezogenen Schultern kam seine Frau zum Esstisch zurück und setzte sich. Dann sagte sie: »Ich fand den Wind schon in den letzten Tagen ziemlich frisch, und prompt ist heute Baegno. Bestimmt sind die reifen gelben Reisfelder mit einer weißen Tauschicht überzogen.«

Daehyon lachte, denn der Tonfall seiner Frau passte irgendwie nicht zu einer so jungen Person. »Was ist los mit dir? Du klingst schon wie deine Mutter.«

»Ab jetzt solltest du immer eine leichte Jacke dabeihaben, mein Schwie-ger-sohn. Früh und abends ist es nicht mehr warm.«

Bis dahin dachte Daehyon, dass seine Frau sich einen Spaß mit ihm erlaubte. Wie sie das rechte Auge leicht zukniff und die Silben von ›Schwiegersohn‹ in die Länge zog, entsprach haargenau der Art, mit der ihre Mutter ihn um einen Gefallen bat oder ihm einen Ratschlag erteilte. Bereits in den Tagen zuvor hatte seine Frau, wohl müde von der Betreuung des Kindes, des Öfteren geistesabwesend in die Luft gestarrt und beim Musikhören hin und wieder ein paar Tränen vergossen. Für gewöhnlich war sie heiter, lachte viel und liebte es, Sketche aus Comedy-Sendungen zum Besten zu geben, wodurch sie ihren Mann häufig zum Lachen brachte. Daehyon hielt ihr Verhalten folglich für nichts Besonderes, umarmte kurz seine Frau und ging zur Arbeit.

Als er in jener Nacht aus dem Büro zurückkam, fand er Frau und Tochter einträchtig nebeneinander schlafend vor. Beide nuckelten an ihrem Daumen. Die Szene war gleichermaßen rührend wie grotesk, und er betrachtete die beiden eine ganze Weile, bevor er am Arm seiner Frau zog, damit der Finger aus dem Mund glitt. Wie bei einem Baby stand nun ihre Zunge ein wenig zwischen den Lippen hervor, und sie schmatzte ein paarmal. Dann sank sie wieder in einen tiefen Schlaf.

 

Einige Tage später verkündete Jiyoung plötzlich, sie sei Cha Sungyon, eine ehemalige Studienkollegin ihres Mannes, die im Jahr zuvor gestorben war. Wie Daehyon war diese drei Jahre älter als sie selbst gewesen. Zwar hatten sich alle drei dem Wanderverein der Universität angeschlossen, jedoch waren sich Jiyoung und ihr späterer Mann während des Studiums nie begegnet. Ursprünglich hatte Daehyon vorgehabt, nach dem Bachelor ein Masterstudium anzuschließen, musste diesen Plan aber aus familiären Gründen aufgeben. Erst spät, nach dem sechsten Semester, war er zum Militärdienst eingezogen worden und hatte nach dessen Beendigung etwa ein Jahr pausiert, um bei seinen Eltern in Busan zu wohnen und Geld zu verdienen. Gerade in der Zeit war Jiyoung in den Verein eingetreten und dort aktiv geworden.

Sungyon kümmerte sich gern um die jüngeren Kommilitoninnen im Verein. Sie und Jiyoung stellten fest, dass sich ihre Begeisterung fürs Wandern tatsächlich sehr in Grenzen hielt, weshalb sie sich schnell näherkamen. Nach dem Studienabschluss blieben sie in Kontakt und trafen sich weiterhin häufig. Jiyoung und Daehyon lernten sich dann auf Sungyons Hochzeit kennen. Bei der Geburt ihres zweiten Sohnes starb die Freundin an einer Fruchtwasserembolie. Diese Nachricht traf Jiyoung, die sowieso schon unter Wochenbettdepressionen litt, so hart, dass sie kaum in der Lage war, ihren Alltag zu meistern.

Nachdem sie die Tochter ins Bett gebracht hatten, saßen die beiden Eheleute seit Langem einmal wieder zusammen und gönnten sich ein Bier. Als ihre Dose beinah leer war, tippte Jiyoung ihrem Mann urplötzlich auf die Schulter und sagte: »Daehyon, weißt du, Jiyoung macht gerade eine schwere Zeit durch. Ihr Körper erholt sich zwar allmählich, aber ein Baby zu betreuen ist mental dafür umso anstrengender. Du solltest ihr öfter einmal sagen, dass sie ihre Sache gut macht. Sag ihr, du seist dankbar für die Mühe, die sie sich gibt.«

»Was ist denn auf einmal in dich gefahren? Machst du gerade eine außerkörperliche Erfahrung? Wer hat dir diese Worte in den Mund gelegt? Also schön, du machst das ganz hervorragend, Jiyoung. Ich weiß, wie aufreibend das ist. Ich danke dir. Ich liebe dich.« Daehyon kniff seine Frau zärtlich in die Wange. Da wurde sie ernst und stieß seine Hand zur Seite.

»Siehst du in mir immer noch die zwanzigjährige Cha Sungyon, die dir an einem heißen Sommertag am ganzen Körper zitternd ihre Liebe gestanden hat?«

Daehyon war starr vor Schreck. Das Ganze war zwanzig Jahre her. An jenem Sommertag hatten er und Sungyon mitten auf einem Sportplatz gestanden, nirgendwo Schatten, nirgendwo Schutz vor der sengenden Sonne. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie es dazu gekommen war, dass sie sich ausgerechnet dort über den Weg gelaufen waren und sie sich ihm offenbart hatte. Schwitzend, stotternd und am ganzen Leib bebend, hatte sie ihm gesagt, dass sie ihn sehr möge. Seine entgeisterte Miene brachte Sungyon umgehend zur Besinnung.

»Ah, ich seh schon, das beruht nicht auf Gegenseitigkeit. Macht doch nichts. Vergiss, was ich gesagt habe. Wir tun einfach so, als sei nichts passiert. Ich werde dich genauso behandeln wie vorher.«

Dann überquerte sie den Platz, sich so aufrecht wie irgend möglich haltend. Von da an gab sie sich ihm gegenüber immer gelassen, als sei nichts vorgefallen, und Daehyon begann sich zu fragen, ob er womöglich aufgrund der Hitze halluziniert habe. Er hatte die Begebenheit über die Jahre völlig vergessen. Wie konnte es sein, dass seine Frau plötzlich von dieser alten Geschichte anfing, die sich an diesem heißen Sommernachmittag vor zwanzig Jahren zugetragen hatte und von der nur er und Sungyon wussten.

»Jiyoung.« Mehr brachte er nicht heraus. Bestimmt dreimal rief er den Namen seiner Frau.

»Und jetzt hör bitte auf, ständig nach Jiyoung zu rufen. Ich weiß, du bist der perfekte Mann für sie. Mensch, Alter.«

›Mensch, Alter‹ war eine Floskel, die Sungyon ständig benutzt hatte, wenn sie betrunken war. Daehyon spürte, wie seine Kopfhaut prickelte und sich seine Haare aufstellten. Äußerlich ließ er sich nichts anmerken, forderte jedoch seine Frau mehrfach auf, sich nicht über ihn lustig zu machen. Als Reaktion stellte sie einfach die leere Bierdose auf den Esstisch, ging ins Schlafzimmer und legte sich neben ihr Kind, ohne die Zähne geputzt zu haben. Innerhalb kürzester Zeit war sie tief eingeschlafen, während Daehyon noch eine Dose Bier aus dem Kühlschrank nahm und sie in einem Zug austrank. War das Spaß gewesen? War sie betrunken? Handelte es sich um eine Art Seelenwanderung oder etwas Übersinnliches, wie man es im Fernsehen sah?

Als Jiyoung am nächsten Morgen aufstand, schien sie sich nicht mehr an die vorige Nacht zu erinnern, doch sie massierte unablässig ihre Schläfen. Einerseits fiel ihm ein Stein vom Herzen, zugleich ließ ihn aber die Vorstellung schaudern, dass der Alkohol seine Frau zu einer Irren gemacht hatte. Er mochte nicht recht glauben, dass diese eine Dose Bier ihr einen Filmriss beschert hatte.

Von da an hatte Jiyoung immer häufiger eigenartige Anwandlungen. Sie schickte ihrem Mann Nachrichten mit vielen niedlichen Emoticons, die sie normalerweise nicht verwendete, kochte Suppe aus Markknochen oder versuchte sich an Glasnudelsalat, was sie zuvor weder gemocht noch zubereitet hatte. Daehyon wurde seine Frau zunehmend fremd. Die ersten zwei Jahre ihrer Beziehung waren sehr leidenschaftlich gewesen, und auch während ihrer Ehe, die nun seit drei Jahren andauerte, waren ihre Zärtlichkeiten sanft wie Schneeflocken gewesen. Sie hatten einander Geschichten erzählt, zahlreich wie Regentropfen, doch erkannte er die Frau, die ihm eine Tochter geboren hatte, die ihnen beiden gleichermaßen ähnelte, nicht mehr wieder.

 

Es kam zum Eklat, als sie anlässlich des Erntedankfests alle zusammen Jiyoungs Schwiegereltern besuchten. Ihr Mann hatte bereits am Freitag Urlaub genommen, und die dreiköpfige Familie fuhr gegen sieben Uhr früh los. Nach fünfstündiger Fahrt erreichten sie Busan, wo sie von seinen Eltern schon zum Mittagessen erwartet wurden. Daehyon war wegen der langen Fahrt erschöpft, weswegen er sich danach erst einmal hinlegte. Früher hatten sich seine Frau und er auf langen Strecken beim Fahren abgewechselt, aber seit der Geburt der Tochter übernahm er das Steuer allein. Beim Autofahren quengelte das Baby und zappelte ungeduldig, da es sich offensichtlich im Maxi-Cosi nicht wohlfühlte. Seine Frau war von Haus aus viel geschickter darin, die Kleine zu besänftigen, indem sie sie streichelte, fütterte oder mit ihr spielte.

Nach dem Abwasch erholte sich Jiyoung kurz bei einer Tasse Kaffee. Dann ging sie mit ihrer Schwiegermutter auf den Markt, um für das geplante Festessen einzukaufen. Noch am Abend begannen sie mit den Vorbereitungen für den nächsten Tag. Sie kochten Brühe aus Rinderknochen, marinierten Rippchen, putzten und blanchierten Gemüse, wovon ein Teil eingelegt, ein anderer eingefroren wurde. Außerdem wuschen und panierten sie Meeresfrüchte und Gemüse, um sie später frittieren zu können. Anschließend deckten sie den Tisch für das Abendessen und kümmerten sich danach noch um den Abwasch.

Am nächsten Tag stand Jiyoung von morgens bis abends mit ihrer Schwiegermutter in der Küche, wo sie briet, frittierte, Rippchen schmorte und Reiskuchenteig zu halbmondförmigen Klößen formte. Wieder musste zu den Mahlzeiten der Tisch gedeckt werden. Während sie die frisch zubereiteten Köstlichkeiten genossen, hatten sie alle zusammen eine unbeschwerte Zeit. Die kleine Ziwon ließ sich, ohne zu fremdeln, von den Großeltern hochnehmen und wurde mit Liebe überschüttet.

Am darauffolgenden Tag war Chuseok, Tag des Erntedankfests. Da es Daehyons älterem Cousin oblag, die Feierlichkeiten zu Ehren der Ahnen auszurichten, hatte seine eigene Familie nicht viel zu tun. Zunächst hatten alle lange geschlafen und einfach die Reste des Vortages gefrühstückt. Gerade als Jiyoung mit dem Abwasch fertig war, traf ihre Schwägerin Chong Suhyon mit ihrer Familie ein. Sie ist zwei Jahre jünger als ihr Bruder und somit ein Jahr älter als Jiyoung. Zusammen mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen lebt sie in der Nähe ihrer Schwiegereltern in Busan. Ihr Schwiegervater muss als Ältester seiner Familie bei traditionellen Festen die Ahnentafel herrichten und viele Gäste empfangen. Dies bedeutet, dass auch Suhyon unter Stress steht. Kaum im Haus ihrer Eltern angekommen, legte sie sich erschöpft hin und dehnte ihre ermatteten Glieder, während Jiyoung und ihre Schwiegermutter wieder einmal in der Küche standen, aus der Rinderbrühe eine Tarosprossensuppe zauberten, frischen Reis kochten und Fisch mit Gemüse anbrieten. Der Mittagstisch war somit wieder reich gefüllt.

Nachdem das Geschirr abgeräumt war, breitete die Schwägerin allerlei Geschenke für Ziwon aus: ein buntes Kleid, ein Tutu, Haarspangen und Socken mit Schleifchen. Während sie ihrer Nichte die Spangen in die Haare steckte und die Söckchen anzog, erklärte sie, wie gerne auch sie eine Tochter hätte, das schönste Geschenk auf Erden. Sie konnte ihre Begeisterung für Ziwon nicht verbergen. Unterdessen schälte Jiyoung Äpfel und Birnen, aber nahezu jeder lehnte mit dem Hinweis ab, pappsatt zu sein. Als im Anschluss auch noch Reiskuchen serviert wurden, nahm lediglich ihre Schwägerin ein Stück und kaute versonnen darauf herum.

»Mama, hast du den Reiskuchen selbst gemacht?«

»Selbstverständlich, wer sonst?«

»Meine Güte, habe ich dir nicht gesagt, du sollst nicht alles selber machen. Ich wollte schon vorhin loswerden, dass man Fleischbrühe auch einfach fertig auf dem Markt kaufen kann, und Reiskuchen bekommst du in der Bäckerei. Außerdem, muss es denn so viel zu essen sein? Ihr richtet nicht einmal eine Ahnentafel her, wozu kochst du das alles? Die Zubereitung kostet dich in deinem Alter solche Mühe, und Jiyoung spannst du auch noch dafür ein.«

Ein enttäuschter Ausdruck huschte über das Gesicht ihrer Mutter. »Warum sollte das Kochen für die Familie eine Mühe sein? Es macht mir Freude, wenn an Feiertagen alle zusammenkommen, um gemeinsam zu kochen und zu essen.« Dann wandte sie sich plötzlich Jiyoung zu. »War es anstrengend für dich?«

Die Angesprochene wurde rot, ein sanftes Lächeln glitt über ihr Gesicht, und in ihrem Blick lag eine vorher nicht da gewesene Wärme. Daehyon wurde unruhig, doch seine Frau antwortete, bevor er das Thema wechseln oder seine Frau aus dem Raum schieben konnte. »Ach, meine Liebe, in der Tat ist meine Tochter nach jedem Festtag so erschöpft, dass sie einige Tage Bettruhe braucht.«

Für einen Moment hielt jeder die Luft an. Die ganze Familie schien auf einem riesigen Gletscher festgefroren zu sein. Bis schließlich Suhyon einen lang gezogenen Seufzer ausstieß, dessen kalter Hauch sich weißlich in Luft auflöste.

»Soll… sollten wir nicht Ziwon die Windeln wechseln?«, hastig griff Daehyon nach der Hand seiner Frau, aber diese tätschelte daraufhin nur die seine und verkündete:

»Liebster Schwie-ger-sohn! Du bist auch nicht besser. All die Feiertage verbringst du nur in Busan. Aber kaum setzt du einen Fuß in die Wohnung deiner Schwiegereltern, hast du es eilig, wieder nach Hause zu gehen. Komm diesmal bitte etwas früher und nimm dir mehr Zeit!« Dann zwinkerte sie ihm mit dem rechten Auge zu und löste sich aus seinem Griff. Fassungslos starrten die Umsitzenden die beiden mit offenen Mündern an.

In diesem Moment fiel der fünfjährige Sohn der Schwägerin, der auf dem Sofa mit seinem jüngeren Bruder gespielt hatte, auf den Boden und begann sofort zu plärren, aber niemand nahm Notiz von ihm. Das Kind linste verstohlen zu den Erwachsenen hinüber, hörte aber sofort auf zu weinen, als es merkte, dass ihm niemand Aufmerksamkeit schenkte.

Jetzt explodierte Daehyons Vater: »Jiyoung, was muss ich da hören? Was ist das für ein Benehmen den Älteren gegenüber? Wie oft im Jahr haben wir die Gelegenheit, alle beisammen zu sein? Wie kannst du dich darüber beklagen, dass du die Feiertage mit uns verbringen musst? Ist das so schlimm?«

»Vater, du verstehst das falsch«, mischte sich Daehyon ein, aber er wusste selbst nicht, wie er es erklären sollte. Da schob ihn seine Frau beiseite und sagte ruhig: »Weißt du, ich möchte dir nicht zu nahetreten, aber ich muss dir etwas sagen. Ist eure Familie etwa die einzige? Wir sehen unsere drei Kinder nur an Feiertagen, denn sonst haben sie keine Zeit, uns zu besuchen. Die jungen Menschen sind heutzutage eben immer beschäftigt. Wenn eure Tochter zu euch kommt, solltet ihr dafür meine Tochter zu uns schicken.«

Schließlich hielt Daehyon seiner Frau den Mund zu und zog sie mit sich nach draußen. »Es geht ihr nicht gut. Vater, Mutter, Suhyon, ihr müsst mir glauben. Es geht ihr wirklich zurzeit nicht gut. Ich werde es euch später erklären.«

Auf direktem Wege brachte Daehyon Frau und Kind zum Wagen, ungeachtet dessen, was sie gerade anhatten. Während er vor Verzweiflung das Gesicht im Lenkrad vergrub, sang seine Frau ihrer Tochter ein Wiegenlied vor, als sei nichts geschehen. Seine Eltern kamen nicht, um sie zu verabschieden, lediglich Suhyon, die das Gepäck zusammengerafft hatte und in den Kofferraum warf. Dabei redete sie ihrem Bruder ins Gewissen.

»Jiyoung hat recht. Wir waren einfach gedankenlos. Brich also keinen Streit vom Zaun und sei nicht wütend. Bedanke dich einfach bei ihr und bitte sie um Entschuldigung. Hast du verstanden?«

»Ich fahre jetzt los. Kannst du bitte Vater mit ein paar guten Worten besänftigen.« Daehyon war nicht wütend. Eher war er bedrückt, durcheinander und verängstigt.

 

Zuerst suchte Daehyon allein einen Psychiater auf, erzählte von dem Zustand seiner Frau und fragte ihn um Rat, was zu tun sei. Seiner Frau, die ihre Krankheitssymptome nicht selbst wahrnahm, erzählte er daraufhin, der Psychiater empfehle wegen ihrer Schlafstörungen und ihrer Erschöpfungszustände eine Behandlung. Jiyoung entgegnete ihm, sie sei derzeit niedergeschlagen und lustlos und frage sich, ob sie womöglich unter einer Wochenbettdepression leide. Dann bedankte sie sich bei ihrem Mann für seine Fürsorge.

Inhaltsverzeichnis

1982–1994

Jiyoung wurde am 1. April 1982 in einer Klinik in Seoul geboren. Sie war 50 Zentimeter groß und 2,9 Kilo schwer. Ihr Vater war Beamter und ihre Mutter Hausfrau. Sie hatte schon eine zwei Jahre ältere Schwester, und fünf Jahre nach ihr kam noch ein Bruder zur Welt. Die sechsköpfige Familie – Großmutter, Eltern und drei Kinder – lebte in einem frei stehenden Häuschen, das etwa 40 Quadratmeter groß war. Es hatte zwei Schlafzimmer, eine offene Küche mit Diele, die als Wohnzimmer diente, und ein Bad.

 

In Jiyoungs frühester Erinnerung naschte sie von dem Milchpulver für ihren Bruder. In Anbetracht des Altersunterschieds musste sie zwischen fünf und sechs Jahre alt gewesen sein. Das Pulver war nichts Besonderes, aber es schmeckte einfach so gut. Wenn ihre Mutter für das Baby das Fläschchen zubereitete, stand Jiyoung daneben und wartete darauf, dass von dem Pulver etwas zu Boden fiel, das sie dann mit ihren Fingern aufnehmen und ablecken konnte. Manchmal ließ die Mutter sie auch den Kopf in den Nacken legen und den Mund aufsperren. Dann gab sie einen ganzen Löffel des dicken, süßen, nach Nuss schmeckenden Pulvers hinein. Die Substanz vermischte sich mit dem Speichel zu einem klebrig weichen, karamellartigen Klumpen, der langsam auf der Zunge zerging. Zurück blieb nur ein eigenartiger Geschmack, weder trocken noch herb.

Jiyoungs Großmutter Ko Sunbun konnte es auf den Tod nicht leiden, wenn ihre Enkeltochter das Milchpulver ihres Bruders naschte. Ertappte sie das Kind dabei, schlug sie ihrer Enkeltochter so lange auf den Rücken, bis ihr das Pulver wieder aus Mund und Nase herauskam. Bei Jiyoungs älterer Schwester hatte die Erziehungsmaßnahme ihrer Großmutter offensichtlich gefruchtet.

»Schwester, schmeckt dir das Milchpulver nicht?«

»Doch.«

»Warum isst du es dann nicht?«

»Weil sie missgünstig ist.«

»Was meinst du?«

»Na, sie missgönnt es einem. Deswegen esse ich nichts davon. Nie wieder.«

Jiyoung verstand das Wort missgünstig nicht genau, aber sie konnte sich in etwa vorstellen, wie ihre Schwester sich fühlte. Der Zorn der Großmutter begründete sich nicht allein damit, dass Jiyoung zu groß für Babynahrung geworden war oder dass es sonst für ihren kleinen Bruder nicht mehr gereicht hätte. Die Art und Weise, in der die Großmutter sprach und dreinblickte, die Neigung des Kopfes, die hochgezogenen Schultern, das bedeutungsvolle Schnaufen, transportierte eine schwer in Worte zu fassende Botschaft. Sie brachte den Frevel zum Ausdruck, dass man es gewagt hatte, die Finger nach etwas auszustrecken, das ihrem wertvollen Enkelsohn zustand. Der Bruder und sein Eigentum schienen wichtig zu sein, weshalb nicht jeder Dahergelaufene es ohne Erlaubnis berühren durfte. Jiyoung hatte fast den Eindruck, dass die Gruppe der Dahergelaufenen im Vergleich zu ihr selbst noch als privilegiert anzusehen war. Wahrscheinlich ging es ihrer Schwester nicht anders.

Bei den Mahlzeiten wurde der frisch gekochte Reis ganz selbstverständlich so auf die Schüsseln verteilt, dass zuerst der Vater, dann der Bruder und danach die Großmutter etwas erhielten. Während die wohlgeformten Maultaschen, Fleischbällchen und Tofu-Stücke dem Jungen in den Mund geschoben wurden, erhielten die Schwestern kommentarlos nur die zerfallenen Brocken. Für den Jungen wurden Dinge wie Stäbchen, Socken, Unterwäsche, Schul- und Sporttasche stets passend zueinander ausgesucht, wohingegen die Mädchen mit ungleichen Paaren vorliebnehmen mussten. Wenn es zwei Regenschirme gab, nahm der Bruder den einen und Jiyoung und ihre Schwester drängten sich unter dem anderen zusammen. Wenn es zwei Decken gab, gehörte eine dem Jüngsten und seine beiden Schwestern mussten mit der zweiten auskommen. Von zwei Snacks war einer für den Bruder, Jiyoung und ihre Schwester teilten sich den anderen. Tatsächlich hatte Jiyoung als Mädchen gar nicht wahrgenommen, dass ihr Bruder eine Sonderbehandlung bekam, und war daher nie neidisch auf ihn gewesen. Einfach weil es immer so gewesen war. Nur manchmal fühlte sie Verärgerung in sich aufsteigen, aber sie war gewohnt, diese im Keim zu ersticken, indem sie sich sagte, dass ältere Geschwister eben manchmal zurückstecken müssen und Schwestern von Natur aus alles miteinander teilen. Die Mutter lobte ihre Töchter immer wieder dafür, dass sie nicht neidisch auf den jüngeren Bruder waren und sich liebevoll um ihn kümmerten. Sie schrieb das dem großen Altersunterschied zu. Tatsächlich führte das Lob der Mutter dazu, dass Jiyoung nicht protestieren konnte.

 

Jiyoungs Vater war das dritte von vier Geschwistern. Sein ältester Bruder war vor der Heirat bei einem Autounfall gestorben. Der zweite wanderte mit seiner Familie sehr früh nach Amerika aus, und mit dem jüngeren Bruder hatte er sich in der Frage überworfen, wer die Betreuung der Eltern übernehmen sollte. Seitdem hatten sie keinen Kontakt mehr.

Die Zeiten, in die er und seine Brüder hineingeboren worden waren, waren dermaßen hart gewesen, dass es keine Selbstverständlichkeit war, überlebt zu haben. Menschen jeden Alters sahen sich durch den Koreakrieg, Krankheiten und Hunger beständig mit dem Tod konfrontiert. Sunbun hatte sich und ihre vier Söhne mit zäher Beharrlichkeit durchgebracht, indem sie für andere Leute auf dem Feld arbeitete, Waren verkaufte oder deren Haushalt besorgte, ohne dabei ihren eigenen zu vernachlässigen. Der Großvater von Jiyoung hingegen hatte einen blassen Teint und feine Hände, die in seinem ganzen Leben nie einen Krümel Erde berührt hatten. Er war unfähig, eine Familie zu ernähren. Doch seine Frau nahm ihm das nicht übel. In ihren Augen war er sogar ein guter Ehemann, denn er betrog sie nicht und erhob auch die Hand nicht gegen sie. Von all den Söhnen, die sie unter diesen harten Bedingungen großgezogen hatte, war Jiyoungs Vater der einzige, der sich ihr verpflichtet fühlte. Die alte Frau tröstete sich über ihr entbehrungsreiches und trostloses Leben mit einer eigentümlichen Logik hinweg.

»Mein Sohn versorgt mich mit einer heißen Mahlzeit, und er bereitet mir ein Lager an der wärmsten Stelle des Zimmers. Dies habe ich alles nur, weil ich vier Söhne geboren habe. Jeder sollte mindestens vier Söhne haben.« Das waren stets ihre Worte, obwohl die Person, die sich um das warme Essen und den Schlafplatz kümmerte, nicht ihr Sohn, sondern dessen Frau Oh Misuk war. Erstaunlicherweise war die Großmutter trotz ihres beschwerlichen Lebens sehr umgänglich, und im Gegensatz zu anderen Schwiegermüttern ihrer Generation hatte sie ihre Schwiegertochter sehr ins Herz geschlossen, sodass sie Misuk häufig ermahnte, sie solle Söhne bekommen. Unbedingt. Mindestens zwei.

Als die älteste Tochter Kim Unyoung geboren wurde, ließ Misuk den Kopf hängen und entschuldigte sich tränenreich bei ihrer Schwiegermutter, das Neugeborene an die Brust gedrückt: »Es tut mir leid, Mutter.« Diese beschwichtigte jedoch ihre Schwiegertochter: »Ist doch nicht so schlimm. Das zweite Kind wird bestimmt ein Sohn.«

 

Bei Jiyoungs Geburt senkte die Mutter ihren Kopf noch tiefer und schluchzte, ihrem Baby zugewandt: »Es tut mir leid, mein Schatz.« Wieder tröstete Sunbun ihre Schwiegertochter: »Ist doch nicht so schlimm. Das nächste Kind wird bestimmt ein Sohn.«

Nicht ganz ein Jahr danach wurde Misuk wieder schwanger. Eines Nachts träumte sie von einem riesigen Tiger, der die Haustür aufstieß und unter ihren Rock sprang. Jiyoungs Mutter war überzeugt, dass es diesmal ein Sohn werden würde. Doch die alte Frauenärztin, von der Misuk schon während ihrer ersten beiden Schwangerschaften betreut worden war, ließ den Kopf des Ultraschallgeräts wieder und wieder über den Bauch der Schwangeren gleiten, bevor sie mit undurchschaubarer Miene bedächtig sagte: »Das Baby ist ja wirklich, wirklich hübsch … wie ihre Schwestern …«

Zu Hause angekommen, bekam Jiyoungs Mutter einen nicht enden wollenden Weinkrampf, bis sie schließlich alles, was sie gegessen hatte, erbrach. Während sie drinnen würgte, sprach die Schwiegermutter von der anderen Seite der Badezimmertür ermunternd auf sie ein.

»Bei Unyoung und Jiyoung war dir gar nicht schlecht. Aber diesmal hat dich die Übelkeit wirklich besonders stark gepackt. Anscheinend ist das Kind in deinem Bauch ganz anders als die Mädchen.«

Unfähig, sich von der Stelle zu rühren, blieb Misuk eine lange Weile heulend im Bad und übergab sich wieder und wieder. Spät in der Nacht, als ihre Töchter fest schliefen, fragte sie ihren Mann, der wohl keinen Schlaf finden konnte:

»Wenn, nur mal rein hypothetisch, das Baby wieder ein Mädchen wird, was wirst du dann tun?« Sie hatte gehofft, dass er antworten würde, das sei eine dumme Frage und für ihn sei es völlig unerheblich, ob es ein Sohn oder eine Tochter würde. Er würde sich für das Kind verantwortlich fühlen und es aufziehen. Aber ihr Mann schwieg. »Also, was wirst du dann tun?«

Der Vater drehte sich zur Wand und antwortete: »Man kann die Dinge auch herbeireden. Erzähl nicht so Unheil bringendes Zeug und schlaf ein!«