Kind des Windes - Elke Weiler - E-Book

Kind des Windes E-Book

Elke Weiler

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Beschreibung

Julchen ermittelt in Südjütland. Hoch oben in Nordfriesland wird eine Frauenleiche unter einem Windrad gefunden, das letzte vor der dänischen Grenze. Handelt es sich um ein Sturmopfer, oder waren fanatische Windkraftgegner am Werk? Das fragen sich Bearded Collie Julchen und ihre zweibeinige Assistentin. Man folgt den Spuren nach Dänemark, wo ausgerechnet ein fliegender Weihnachtsmann weiterhelfen soll. War er verliebt in das Opfer? Und welche Rolle spielen die beiden Ex-Männer? Je tiefer die Privatermittlerinnen in das soziale Umfeld der Toten eintauchen, desto geringer wird der emotionale Abstand. Man feiert Weihnachten und Silvester nach dänischer Sitte zusammen. Am Ende bleibt nichts mehr, wie es ist, auch für die beiden Schnüfflerinnen.

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Julchen ermittelt in Südjütland

Hoch im Norden Nordfrieslands wird eine Frauenleiche unter einem starren Giganten gefunden. Handelt es sich um ein Sturmopfer, oder waren fanatische Windkraftgegner am Werk, fragt sich Julchen. Gemeinsam mit Madame folgt der pfiffige Bearded Collie den Spuren nach Dänemark, wo ausgerechnet ein fliegender Weihnachtsmann weiterhelfen soll. War er verliebt in das Opfer? Und welche Rolle spielen die beiden Ex-Männer? Julchen muss auf beiden Seiten dieses komischen Wildschweinzauns nachforschen. Und es ist mal wieder klar wie Kloßbrühe, dass Grenzen nur in den Köpfen der Zweibeiner existieren.

Elke Weiler

Die Reisejournalistin und Buchautorin zog 2010 vom Rheinland an die Küste. Auf ihrem mehrfach ausgezeichneten »Meerblog« berichtet sie über das Leben an der Nordsee und schreibt Geschichten vom langsamen Reisen in der Welt. In Nordfriesland entstanden ihre ersten Romane.

Als Kind des Windes avancierst du zur Göttin der Deiche.

Julchen

*

Tanze, belle, flitze im Sturm! Oder du bist verloren.

Mademoiselle Julie

Inhaltsverzeichnis

Glossar: Julchens Welt

Prolog

1. Der starre Gigant

2. Zaun ohne Schweine

3. Warten auf den Weihnachtsmann

4. Zufälle

5. Ho ho ho!

6. Schneeverwehungen

7. Der Kapuzenmann

8. Allein im Park

9. Der abgebrochene Ast

10. Auf der anderen Seite

11. Mittendrin

12. Verschwunden

13. Vogelperspektive

14. Die Wohnung

15. Das Monster

16. Das Fest der Liebe

17. Westwind

18. Alles steht Kopf

19. Das Erdbeben

20. Ausnahmezustand

21. Free Madame!

22. Enthüllungen

23. Sabotage

24. Erben oder nicht erben

25. Dissonanzen

26. Höhenangst

27. Zeit zu knurren

28. Sturm zieht auf

29. Showdown

30. Aufbruch

Epilog

Nachwort von Janni

Nachwort von Monsieur

Nachwort von Grandmadame

Nachwort von Hafrún

Glossar: Julchens Welt

Madame: die Chefin in Julchens Zuhause. In anderen Haushalten sagen sie oft Frauchen.

Monsieur: der Mann von der Chefin, Herrchen sagen sie in anderen Rudeln. Julchens frühe französischsprachige Prägung hat sie vor der Übernahme derartiger Begriffe bewahrt. Wo das Französische herrührt, weiß keiner so genau. Als Welpe hat sie eher auf Julie gehört als auf Julchen.

Jannimann: von der Verwandtschaft so getaufter Mitbewohner namens Janni, auch die Schlumpfbacke genannt. Er stammt zwar aus derselben Geburtshütte wie Julchen, tickt aber ganz anders.

Mademoiselle Julie: Julchens Alter Ego ist auf Psychotherapie spezialisiert. Ihr Geheimrezept: Buddeln hilft! Immer.

Grandmadame: Mutter von Madame und Partyhase. Erscheint stets pünktlich zu Feierlichkeiten auf der Bühne.

Gackervieh: unter Lutschern als Hühner bekannt, die nach Julchens Erfahrung ziemlich leckere Eier produzieren. Im Sommer hat sie nämlich mal ein Versteck im Schilf entdeckt und konnte ein bisschen probieren, bevor Madame ihr Naschen entdeckte.

Lutscher: So nennt man reizende, abschleckwillige Zweibeiner. Also fast alle. Trifft es nicht zu, spricht man unter Hunden von Nichtlutschern.

Chachaputi: Ein ausgefallener Kosename für Julchen, der angeblich aus einem verschollenen Inka-Dialekt stammt und so etwas wie »Sonne im Herzen und Hummeln im Hintern« bedeutet. Sagt Madame nur »Chacha«, weiß man nicht so recht, ob von Herz oder Hintern die Rede ist.

Löffelgesicht: in Lutscherkreisen auch Katze genannt.

Rennplüsch/Fellkartoffel: auch als Meerschweinchen bekannt. Als diese noch zahlreich in Julchens Rudel lebten, produzierten »Rennplüsch Media« ihre Filme. Aber das nur am Rande.

Wollknäuel: Die Schafe sehen unserer Protagonistin zwar ähnlich, wie diverse Lutscher meinen, doch handelt es sich um eine andere Spezies. Nichtsdestotrotz verwechselt so manches Lamm Julchen mit seiner Frau Mama.

Löffelträger/Feldflitzer: unter Lutschern als Hasen bekannt. In Julchens Augen überschreiten sie oft die auf den Fennen vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit und entziehen sich durch ihre brillante Fluchttechnik einem Verweis.

Superpiepmätze: Zugvögel, die im Frühjahr und Herbst in riesigen Scharen durch die nordfriesischen Lüfte ziehen und sich gerne an der Theke bedienen, sprich auf den Fennen der Bauern. Was zu Interessenskonflikten führt. Doch der Weg in den Süden oder Norden ist nun mal lang, und irgendwie muss man sich den Bauch vollschlagen.

Plüschomat: Lebewesen mit enorm viel Fell, egal ob Hund, Schaf oder Moschusochse.

Himmelschafundmeer: typischer Fluch unter Hunden an der Nordseeküste.

Heilige Ackergülle: siehe oben.

Zum Pferdeäpfelpürieren: wenn etwas absoluter Mist ist.

Fenne: heißt eine Weide in Nordfriesland ganz offiziell.

Multifunktionaler Schnackapparat: Smartphone pflegen die Lutscher auf Neudeutsch zu sagen. Quasi die Verlängerung eines Lutscherarms. Neben der Blechhöhle und dem Wunderkasten gehört er zu den drei wichtigsten Dingen im Lutscherleben.

Statischer Schnackapparat: seltenes Teil, das in manchen Haushalten überlebt hat. Einst als Festnetztelefon bekannt.

Wunderkasten: Jeder hat sein Heiligtum. Was dem Gackervieh der Kompostierer, ist dem Lutscher der sogenannte Fernseher. In Wirklichkeit ein Nahseher. Die Welt in Klein. Für den Vierbeiner gilt der ritualisierte Abend vor der Glotze als Glücksfall. Zumindest dann, wenn er einen Platz neben seinem bevorzugten Lutscher ergattern und auf ein zünftiges Krauli hoffen kann.

Blechhöhle: ein beliebtes Fortbewegungsmittel, in Lutscherkreisen auch Auto genannt. Julchens sichere Burg für lautstarke Verweise an Kühe, Pferde, Hindernisse auf der Fahrbahn und vor allem: Höllenmaschinen.

Höllenmaschinen: das Schlimmste, was sich auf Nordfrieslands Straßen herumtreibt. Der Wahnsinn auf zwei Rädern. Höllisch laut, aufreizend schnell und mit vermummten Lutschern bestückt.

Rüdenkram: Damit sind männliche Hunde meist über die Maße beschäftigt, wie Julchen findet. Der Gemeine Rüde sucht die Konfrontation mit seinesgleichen und verteidigt »sein« Territorium bis aufs Messer, oder sagen wir: bis auf den Fangzahn.

Vorderpfotentaps: spezieller Paartanz der Bearded-Collie-Tradition, den auch andere Hunde beherrschen. Die Tänzer stellen sich dazu auf die Hinterbeine, berühren sich mit den Vorderpfoten und lassen es krachen.

Oberjournalistisch und schafsköddelkorrekt: Julchens Devise. Als Ermittlerin ist sie nun mal der Wahrheit und nichts als der Wahrheit verpflichtet.

Tüdelig sein: offizieller plattdeutscher Begriff im Norden für »durch den Wind sein«. Also der Normalzustand, wenn du ein Jannimännchen bist.

Prolog

Ein Schwarm von Superpiepmätzen donnerte über meinen Kopf hinweg. Konnten sie sich nicht entscheiden, wohin es nun ging, diese Durchreisenden? Mal kam man von Süden und flog gen Norden, dann wieder umgekehrt. Die Anzahl der Teilnehmerinnen blieb übersichtlich, ich hatte den Eindruck, dass es in diesem Jahr weniger Gänse waren. Dass sie kürzer blieben. Und dass sie auf den Fennen nicht willkommen waren. Wieder mal knallte eine von diesen ominösen Schussanlagen durch die Gegend und versetzte die Welt für irre Momente in Panik. Die Gruppe der Kälber hinterm Haus stürmte los, eines stolperte und fiel hin. Monsieur fluchte laut, und Jannimann stürmte auf mich zu, stets bereit, meinen Schreck durch gezieltes Hacken in Wut zu verwandeln. Wie sehr mir diese miese Nummer auf die Nugatnase ging! Sämtliche Zurechtweisungen seitens Madame und Monsieur liefen ins Leere. Es war wie mit dem Postlutscher: Der Schlumpf blieb bei seinem Fehlverhalten. Komplett beratungsresistent.

Mein Mitbewohner vergriff sich nicht nur mir gegenüber im Umgangston. Wir waren zusammen im Garten, als es Gudny erwischte. Eigentlich wollte Frau Huhn nur ein bisschen vom Leckerli der Schlumpfbacke kosten, das teilweise auf den Boden gebröselt war. Sogleich verlor Janni die Contenance, und Gudny ergriff die Flucht. Ich schalt den Schlumpf ob fehlender Brüderlichkeit. Liberté, egalité, fraternité! Doch Janni verstand nur Ackergülle und entgegnete, er habe ein Recht auf Verteidigung seines Futters. Konservativ vom Schleifchen bis zum Sohlenballen. Da half es wenig, ihn auf gewisse kulturelle Unterschiede hinzuweisen: Hühner pickten und fraßen gern gemeinsam. Zudem zählte Gudny zum Rudel, und der Schlumpf wurde nie müde zu betonen, das Rudel sei heilig. Dieses Mal konterte er mit einer Dreistigkeit, die ihresgleichen suchte, dass ich schließlich diejenige wäre, die das Gackervieh manchmal jagte. Ja, Himmelhuhnundmeer! Es ging um Training! Ich war Hüterin, nie Jägerin! Hatte er den Schuss nicht gehört? Oder wollte Janni etwa hochgeschätzte Eierproduzentinnen an gierige Greifvögel verlieren? Als freilebende Henne musstest du auf der Hut sein. Und rasend schnell. Dafür hatte das Gackervieh mich, die weltbeste Trainerin und Titelverteidigerin der noch nicht existierenden olympischen Disziplin Hundekurzstrecken.

Unser Disput wurde unterbrochen, als eine mir unbekannte Blechhöhle auf der anderen Straßenseite hielt. Madame lief zum Zaun, Janni und ich folgten stante pede. Ich hörte meine Beste vor sich hin murmeln: »Ein dänisches Kennzeichen.« Sie zögerte keine Sekunde, öffnete das Tor und ging dem Lutscherpaar entgegen, das sich aus dem Gefährt erhob. Natürlich ließ Jannimann, wie es sich für einen territorial eingestellten Rüden gehörte, eine Schimpftirade vom Stapel, die sich gewaschen hatte. Ich motzte ihn an, das Maul zu halten. Schließlich wollte ich lieber der Lutscherkonversation folgen, als mir von seinem Gebrüll die Ohren stopfen zu lassen. Endlich verstummte mein Mitbewohner. Da konnte man nur hoffen, dass es von Dauer war. Monsieur hatte ihm wohl verklickert, dass das Dinner ausfiel, wenn er so weitermachte. Natürlich alles leere Drohungen, doch Janni wirkte tendenziell schockiert. Das Beste und das Schlimmste am Schlumpf war seine Gier.

Madame und die Gastlutscher unterhielten sich über unsere Reetbude, soviel hatte ich schon mitgekriegt. Meist richtete meine Beste das Wort an den Deutsch schnackenden Mann. Madame war zwar von Auswanderungsplänen in unser schönes Nachbarland geprägt, sprach jedoch kein Dänisch. Manchmal hörte ich sie ein paar Brocken lernen, dann hockte sie vor dem kleinen Flimmerschirm, paukte Aussprache und Vokabel. Richtig voran ging es nicht, so mein Eindruck. Die Phrasen wiederholten sich. Der Typ erzählte Madame, dass er als Kind oft bei seinen Urgroßeltern hier im Haus gewesen war. Ja, Himmelschafundmeer! Hatte ich es nicht gerochen? Als wir die Bude damals bezogen, ventilierte ich erst einmal sämtliche Ecken des Holzbodens. Was da alles zutage kam! Sandboden unter dem Holz, Meerduft, Spinnenleichen, Mäusespuren, Geschichten über Geschichten und Lutscherstoff en masse! Nun bekam Madame so einiges aus der Vorgeschichte der Hütte auf dem Silbertablett serviert. Der Mann lebte schon seit über 30 Jahren in Dänemark. Als Kind hatte er die dänische Schule auf Eiderstedt besucht. In Nordfriesland gab es nämlich alles, vom dänischen Kindergarten bis zum Kulturverein. Madame hatte mir mal klar gemacht, dass die Gegend lange Zeit dem dänischen Kronenlutscher unterstanden hatte, dabei aber relativ eigenständig agierte. Die stolzen Bauern der Halbinsel waren derzeit nicht gerade arm gewesen. Wir lebten in einer Kate der Landarbeiter, welche meist für die Bauern der Reichen Reihe geschuftet hatten. Dabei handelte es sich um die großzügigen Häuser und Haubarge in Sichtweite. Ein paar Tiere hatten die Urgroßeltern des Mannes gehabt, gerade sprachen er und Madame über den nicht mehr existierenden Stall. Wir hatten ihn noch gekannt, bevor er abgebrannt war. Ein Wiederaufbau wurde Madame und Monsieur nicht erlaubt. Lutscherlicher Bürokratiekram vom Feinsten! Dafür war der Vorgarten jetzt größer und grüner. Den Stall hatte ich geliebt, genau wie mein Freund Mats, das verschwundene Katertier. Ihm galt er als Zufluchtsort, wenn es mal regnete und der Rest des Rudels unterwegs war. Und ich hatte noch die Rinnen im Boden beschnuppern können, aus denen die Rindviecher einst gefuttert hatten. Vor meinem geistigen Auge sah ich Kühe im Stall stehen und hörte ihr gleichmäßiges Schmatzen. Beruhigend irgendwie. Später fungierte der reetgedeckte Stall nurmehr als Abstellkammer.

Da standen die Lutscher zweier Länder nun, versunken in eine verbindende Geschichte. Die Story einer alten Hütte und des Lebens, das sie einst füllte. Hinter dem Gartentor bellte ich den Dänen hinterher, als sie abfuhren. Wieso waren sie nicht zum Kaffee geblieben? Und aus welcher Gegend kamen sie?

1. Der starre Gigant

Wir hielten uns gen Norden. Madame kam vom Weg ab und machte einen Schlenker nach links. Lüttmoorsiel? Ich erinnerte mich, und es waren schöne Gedanken. Der Damm, saftiges Gras, Rindviecher und Piepmätze. Als wir die Stelle erreichten, rauschte eine schwarze Wolke so nah über uns hinweg, dass wir uns wie in einer anderen Dimension fühlten. Eingekesselt von der beweglichen Form des Schwarms, fast wie ein Teil des Ganzen. Madame stoppte und schaute mit offenem Mund aus dem Fenster. Überall Gänse, eine einzige, enorme Energie. Ein Beben der Luft. Lauthals palavernd zog man weiter, so gut choreografiert, dass kein Vogel an den nächsten stieß. So nah hatte ich sie noch nie erlebt. Stumm hockte ich hinter Madame in meiner Box, unfähig auch nur ein winziges Bellen hervorzubringen. Für ein paar Momente unseres Lebens sahen wir die Welt wie mittendrin im Schwarm. Irgendwie fühlte ich mich beflügelt. War ich mal ein Vogel gewesen? Manchmal versuchte ich zu fliegen, jagte den Schatten der Piepmätze hinterher, erreichte sie jedoch nie. Einmal kam ich näher als üblich an sie heran, als ich den Deich hinaufstürmte. Die Freude ließ mir ein helles Glücksbellen entweichen. Doch der Moment war kurz, und ich wurde verfolgt von Jannimann, der versuchte mich einzuhüten, dieser Trottel! Etwas glühte weiter in mir. Es war jenes Gefühl von Freiheit, wenn alle vier Pfoten gleichzeitig abhoben, und man in der Luft schwebte. Unglaublich kurz, betörend schön.

Madame drehte sich zu mir, vermutlich wunderte sie sich über meine Schweigsamkeit. Dann lächelte sie. Diese Spezialfunktion schätzte ich an Lutschern, wenngleich sie nicht von jedem genutzt wurde. Immer noch unter dem Eindruck des famosen Spektakels blickten wir einander wie Reisende zwischen den Welten an.

Dann steuerte sie auf den Deich zu. Gerade war mir gar nicht nach einer Pause, dazu kribbelte es zu sehr unter den Pfoten. Neue Recherchen standen an! Doch ließ Madame nie die Tagesabläufe aus dem Blick, die Lutscher achteten im Allgemeinen derart penibel auf unsere Ausscheidungen, als hinge ihr Glück davon ab. Zum Pferdeäpfelpürieren!

Es war Ende November, ein grauer Tag. Überhaupt vermissten wir die Sonne seit einiger Zeit. Eine voluminöse Wolkendecke hing drückend über uns. Die Tage vergingen, keine Ahnung, wie viele. Zählen war Zweibeinerkram, genau wie Kalender, Uhren oder Taschenrechner. Hauptsache, der Gemeine Lutscher konnte mit Statistiken prahlen! Trotz schlauer Wissenschaften wie Mathematik und Physik war man auf dem besten Wege, den Planeten zu ruinieren. Die Gier war zu groß, ich musste an Jannimann denken. Doch bevor Superjulchen die Welt retten konnte, zog es uns in den tiefen Norden unserer Region. Ein neuer Fall. Mir war nach Jodeln zumute. Ich blickte über den Deich von Lüttmoorsiel, weit und breit kein einziges Wollknäuel. Es war an der Zeit, über das nasse Gras zu fliegen. Alle Probleme zu vergessen. Den Moment auszukosten. Zu leben. Außer Atem kam ich zurück zu Madame.

Als wir weiterfuhren, lag ich wohlig erschöpft in der Box. Fühlte mich wie neu geboren. Der Wind, der über den Deich fegte, gab frische Energie. Vor allem, wenn er vom Meer kam, und das war meistens der Fall. Exquisiter Westwind.

Madame blickte konzentriert geradeaus und hatte keinen Sinn für Gedanken über Windenergie, wie mir schien. Stattdessen schaltete sie dieses Krachdings von einem Radio an. Ich vermutete schon, sie wollte mitsingen und ölte meine Stimmbänder für ein gemeinsames Tralala und Wufftata. Stattdessen Nachrichten, wie die Lutscher die Zusammenfassung von ausgewähltem Tagesgeschehen nannten. Tiere kamen selten darin vor. Keinerlei Erwähnung der ganzen vierbeinigen und gefiederten Verkehrstoten auf Nordfrieslands Straßen. Stets galt das Prinzip »Blechhöhle first«! Ging einer von den lärmenden Raser-Untersätzen kaputt, schaffte es dieses Ereignis sehr wohl in die Nachrichten.

Jedenfalls erzählte die sonore Radiostimme gerade, dass die unter dem Windrad bei Döösbüll gefundene Frauenleiche nicht aus Nordfriesland stammte. Vielmehr war sie wohnhaft in Møgeltønder. Gewesen, musste man wohl sagen. Es handelte sich um unseren ersten grenzüberschreitenden Fall.

»Nein!«

Madame bezog sich auf Møgeltønder?

»Das ist die absolute Idylle dort.«

Idylle! Das war doch nichts als äußerer Schein. Ein bisschen Hygge hier, hübsche Hütten, Kaffee und Kuchen dort, und schon sahen die Lutscher alles durch die rosarote Brille. Sie gaben sich Sehnsüchten und Gelüsten hin. So wie Janni, wenn er sich zufällig in die Vorratskammer verirrte. Ich kannte Møgeltønder nicht, war mir aber sicher, dass wir dort bald aufschlagen würden. Nach Idylle sah mir der neue Fall jedenfalls nicht aus. Eine Leiche unter einem Windrad.

Keine Ahnung, wo wir uns gerade befanden. Ich stellte mich in der Box auf und stieß mit dem Kopf an die Decke. Diese Sicherheitsdinger für unsereins waren wirklich nur zum Liegen gemacht. Ich drückte meine Schnauze gegen das Netz und blickte auf eine Armee von Windrädern. Starre Giganten nannten wir Hunde sie. Derzeit die einzigen Fixpunkte in einem Meer aus Grau. Nebelschwaden verschleierten den Horizont. So als hätten sich die dicksten Wolken hingesetzt. Vermutlich, ohne dass ihnen jemand »Platz« bedeutet hatte. Den ganzen Kram konnten sich die Lutscher eh sparen. Wolken, Wind und Wundertiere wie ich waren freie Wesen. Falls es jemand noch nicht kapiert hatte, half ich gerne bei der Aufklärung. Prophylaktisch ließ ich ein zartes Wuff ertönen, das Madame aus irgendeinem Grund zum Schmunzeln brachte.

»Wir sind bald da.«

Wo? Im Nirwana? Die Straße vor uns wirkte glatt vor Nässe, Madame fuhr langsamer als gewohnt. Wie ein glitzernder Fluss schlängelte sich die Spur, um im Nichts zu verschwinden. Unbeweglich standen die Riesen in Reih und Glied, nur die steifen Arme kreisten. Alle bewegten sich im gleichen Rhythmus. Windräder, so viel hatte ich mitbekommen, fingen die Energie der bewegten Luft, die dann in Strom umgewandelt wurde. Ein raffiniertes Ding für stark Wärme abhängige Wesen wie Lutscher. Uns Vierbeinern waren die Giganten nicht ganz geheuer. Nicht mal ein Schlumpf wollte hier ein Zeichen setzen, obwohl er sonst kein aufrecht in der Landschaft stehendes Teil in seiner Markierungswut ausließ.

Wir hatten den Park der Riesen schon eine Weile hinter uns gelassen, als Madame anhielt. Mitten in der Prärie. Was war das jetzt, das letzte Windrad vor der Grenze? Wir stiegen aus, ich hielt mich nah bei Madame. Drohend zerschnitt das Ding hoch über unseren Köpfen die Luft. Ratsch, ratsch, ratsch. Ein unerbittlicher Rhythmus. Die Arme fielen doch nicht hinunter, während wir uns umsahen? Madame preschte vor, es half alles nichts. Ich also hinterher. Hier musste es sein, hier hatten sie die Leiche gefunden. Ein Absperrband flatterte und zuckte nervös, Madame steuerte darauf zu. Der Wind schien aus der Höhe hinab zu sausen, uns um die Ohren. Dazu dieses gruselige Geräusch. Es quietschte so ähnlich, als würde ein Zug bremsen. An Bahnhöfen kannte ich mich aus, zu oft hatten wir Madame dort abholen müssen. Aktuell vermied ich es, nach oben zu sehen.

»Stark ist, wer seine Ängste überwindet.«

Manchmal konnte meine Psychotante Mademoiselle Julie ganz schön nerven! Ich musste mich konzentrieren. Schnell schlüpfte ich unter dem schlackernden Band durch. Am liebsten hätte ich es abgerissen, wie sollte man denn arbeiten bei diesen nervenden Nebengeräuschen? Die Nase dicht am Boden prüfte ich Zentimeter für Zentimeter. Madame hüpfte vor dem Band ein bisschen herum, als machte sie Gymnastik im Freien. Ihr schien kalt zu sein. Konnte ich vielleicht etwas dafür, dass Lutschern das Fell fehlte? Mit einem kurzen, bestimmten Wuff gab ich Madame zu verstehen, mit dem Breakdance aufzuhören. Sonst hätten wir bald chaotische Schlumpfverhältnisse! Janni vollbrachte ähnliche Sprünge, wenn er Rindviechern am Graben gegenüberstand.

Ich schnüffelte weiter. Lutscherblut? Fehlanzeige! Nach ersten Einschätzungen war die Frau nicht vor Ort zu Tode gekommen. Weder war ihr ein vom Windrad getöteter Vogel auf den Kopf gefallen, noch war sie selbst von oben hinuntergestürzt. Der eingerahmte Fundort erschien mir merkwürdig sauber. Neben diversen leichteren Duftnoten vernahm ich Leichengeruch. Ich folgte ihm in rascher werdendem Tempo. Es waren Spuren am Boden auszumachen, nicht immer ganz gerade. Madame lief hinter mir her, sie schnaufte bereits. Wir hatten uns ein Stück vom Windrad entfernt, es war stiller geworden. Da hörte ich in der Ferne einen Zug rattern und blieb stehen. Madame war froh über die kurze Verschnaufpause. Sie zeigte auf den Bahndamm nach Sylt. Der Zug schlängelte sich wie eine übergroße Raupe durchs trockene Watt. Ebbe. Der Duft des Meeres, der mit dem Westwind hinüber wehte. Indes hatte sich der Nebel entfernt. Erneut neigte ich meine Nase der Spur entgegen. Was war das? Reste von Tierblut? War doch ein Vogel zu Schaden gekommen? Ich schnupperte genauer hin. Vermutlich einer dieser Superpiepmätze. Schon einige Male hatten Janni und ich Kadaver am Deich analysiert, bis wir ein scharfes »Pfui« von Lutscherseite vernahmen und unsere wissenschaftlichen Untersuchungen abbrechen mussten. Nun profitierte ich von meinen Erfahrungen, es könnte eine Nonnengans gewesen sein.

»Eine größere Gans gerät zwischen die Rotorblätter und fällt der Frau auf den Kopf«, mutmaßte Madame. Ich hob den Kopf und wandte mich dem Windrad zu, als würde ich die Entfernung abschätzen.

»Du hast recht«, verstand nun auch Madame. »So schräg könnte ein Vogel selbst bei Südwind nicht fallen, falls es ihn dort oben erwischt haben sollte.«

Eben. Pi mal Pfote geschätzt, ergab das keinen Sinn. Wir mussten nach anderen Zusammenhängen suchen. Noch etwas irritierte Superjulchen, die gewiefte Ermittlerin: Neben dem Todesgeruch nahm ich den Duft von Leckerlis wahr. Logische Schlussfolgerung: Die Verschiedene musste sie in der Tasche ihres äußeren Fellersatzes gehabt haben, auch Jacke genannt. Auf die Tat eines Greifvogels im Hinblick auf das Vogelblut fanden sich keine Hinweise. Ausgerupfte Federn waren nirgends zu entdecken. Nur diese Blutsprenkel, die den Boden markierten. Eine Art Muster. Mitten in den Druck- und Schleifspuren. Meine Assistentin kapierte es nun auch, zückte den multifunktionalen Schnackapparat und machte Fotos von der »Zeichnung« aus verschiedenen Blickwinkeln. Ich resümierte: In Verbindung mit der Lutscherleiche existierte vermutlich eine ebenfalls nicht mehr vorhandene Vogelleiche. Wer hatte letztere mitgenommen? Die Lutscher von der Spurensicherung, falls sie überhaupt vor Ort gewesen waren, hätten diese Stelle gewiss markiert.

Zwei Fragen kamen auf: War die Gegend ein Ort okkulter Handlungen? Und was hatte die tote Frau damit zu tun? Ich schüttelte mich, fixierte dann den kleinen Hügel, auf dem der Gigant stand. Als wäre er allein nicht groß genug, um die Bewegungen der Luft einfangen zu können! Eine kleine Treppe führte hinauf zu einer Tür. Was sie wohl verbarg? Madame folgte meinem Blick und machte auf Erklärlutscherin: »Dort gehen die Techniker ein und aus.« Das beruhigte mich ein wenig. Die Riesen wurden also gewartet. Dadurch verringerte sich das Risiko des plötzlichen Verlusts eines Gigantenarms. Trotzdem fühlte ich mich in der Entfernung wesentlich sicherer. Vor allem aber beschäftigte mich eine Sache: Wieso hatte man die Leiche getragen? Lutscher erledigten doch sonst alles mit der Blechhöhle.

2. Zaun ohne Schweine

Tatsächlich führte die Spur ein Stück weiter nördlich. Mit einem Mal standen wir vor einem Zaun, der links ins Wasser führte und rechts in die Unendlichkeit. Verblüfft blickte ich Madame an.

»Der umstrittene Wildschweinzaun!«

Himmelschafundmeer, mir schlackerten die Plüschohren! Seit wann baute das Borstenvieh Absperrungen? Ich lief zunächst in die eine, dann in die andere Richtung, immer an dem ominösen Stahlding entlang. Aufgebracht stand ich am Ende wieder vor Madame. Es war zum Pferdeäpfelpürieren. Wie sollte ich so recherchieren? Meine scheinbar wohl informierte Assistentin klärte mich auf. Wer standen an der Grenze zu den Nachbarn. Die Dänenlutscher hatten den Zaun gezogen, damit keine infizierten Wildschweine nach drüben gelangten. Sie machten sie wohl Sorgen um ihre Export-Schweine, ein wichtiger Wirtschaftsfaktor im Nachbarland. Dass es auf nordfriesischer Seite kaum Wildschweine gab, weil wir nicht genügend Waldflächen anbieten konnten, spielte keine Rolle. Ebenso die Tatsache, dass sich das Virus auf anderem Wege ausbreiten konnte, etwa durch Wurst oder Schuhsohlen. Und so wäre der Zweibeiner wesentlich geeigneter, die Schweinepest weiterzutragen, als nicht oder nur spärlich vorhandenes Borstenvieh. Wer hingegen durch den Zaun ausgebremst wurde, war aktuell eine scharfsinnige Ermittlerin mitsamt Assistentin. Die mich noch darauf hinwies, dass sich das Rotwild der Gegend durch die Sperre nicht vermischen konnte, und es möglicherweise zu Inzestfällen kam. Familiäre Probleme unter Rehen, eine wenig erstrebenswerte Situation. Und was war eigentlich mit den Wölfen? Hin und wieder hinterließ ein Solist auf dem Weg nach Norden eine blutige Spur in Nordfriesland. Zahlreiche Wollknäuel waren auf diese Weise umgekommen, und ich hatte nichts dagegen tun können. Manchmal tötete er die Schafe und Lämmer nur und ließ sie liegen. Ich stutzte. Gab es auch Wölfe unter den Lutschern?

Unsere Spur hatte sich aufgelöst wie der Nebel, immerhin hatte ich einige Erkenntnisse gewinnen können. Zum Glück hatte es nicht geschneit. Nur ein paar verheißungsvolle Flocken, mehr nicht. Normalerweise hätte ich mich über ein zünftiges Schneetreiben tierisch gefreut, aber das weiße Wunder hätte alle Spuren unter sich verborgen. Schnee veränderte alles, das hatte ich schon als Junghund kapiert.

Madame zog es in Richtung Wasser, ich also hinterher. Wir mussten ein ganzes Stück latschen, bis wir es plätschern hörten. Der Zaun endete vorm Meer. Kein Problem für mobile Wildschweine eigentlich. Sie mussten nur ein Stück weiter rennen.

»Vielleicht kam er mit dem Boot?«, überlegte meine Assistentin laut. Sie meinte kein Wildschwein, das war mir gleich klar.

»Es könnten auch mehrere Täter gewesen sein«, gab ich im Wuffton der Überzeugung von mir. Madame hörte mir gar nicht zu, ihr Blick verlor sich am unscharfen Horizont. Langsam senkte sich die Dunkelheit über das Meer, wir konnten hier nichts mehr tun und drehten um. Mit einem hohen Laut der Freude folgte ich einer Möwe am Himmel, doch schon bald wurde ich wieder vom Zaun gestoppt. Just in dem Moment erschnupperte ich etwas Interessantes.

»Pfui!«, meinte Madame, da es sich um ein Beinchen mit Kralle handelte, das für nähere Untersuchungen in meinem Maul gelandet war. Von einem Superpiepmatz? Etwa demselben, der in der Nähe des Leichenfunds Bluttropfen gelassen hatte? Ich warf Madame das mutmaßliche Beweisstück vor die Füße, damit sie es in eine Plastiktüte steckte. So machte man es in der Kriminalwelt mit Beweisstücken doch? Sie reagierte unangemessen und quittierte meinen Zufallsfund mit einem langgezogenen »Iiiiih«. Mit großen Augen schaute sie auf die Kralle, statt einen der beliebten Kotbeutel zu zücken, welche in Lutschertaschen stets und in rauen Mengen vorhanden waren. Immerhin fotografierte sie das mögliche Indiz. Lauthals folgte ich einer weiteren Möwe am Himmel. Manchmal war es wirklich zum Pferdeäpfelpürieren mit der Lutscherheit. Als ich schnaufend zurückkam, war der Beweisknochen verschwunden. Ich ging davon aus, dass Madame einen Geistesblitz gehabt und ihn noch eingesteckt hatte. So zog ich weiter am Zaun entlang. Mit Wildschweinen kannte ich mich nicht besonders gut aus, aber robust wirkten sie. Von der Sorte, denen du abends lieber aus dem Weg gehst. Ich war mir sicher: Diese Tiere fanden ihren Weg über sämtliche Hürden. Ein läppischer Zaun würde sie nicht aufhalten. Sie galten als gute Schwimmer, und am nächsten Grenzübergang gab es einen See. Überhaupt, was war mit den Übergängen, die von Blechhöhlen, Fuß- und Radlutschern frei frequentiert wurden? Eines war mal wieder klar wir Kloßbrühe: Grenzen existierten nur in den Köpfen der Zweibeiner. Für jedes andere Wesen bedeuteten sie lediglich einen Umweg.

»Hej, Rehe! Trefft euch doch am Grenzübergang zwecks Liebe und so! Vielleicht habt ihr von dieser rührenden Geschichte gehört, als sich ein binationales Seniorenlutscherpaar wochenlang an der geschlossenen Grenze traf und dort zusammen Kaffee trank. Alles ist möglich.«

Mademoiselle Julie konnte mir nur zustimmen.