Kinder der Nacht - Dan Simmons - E-Book

Kinder der Nacht E-Book

Dan Simmons

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Beschreibung

Graf Dracula lebt! Tief in den unzugänglichen Regionen Rumäniens regt sich eine Macht, die das Ende der Welt, wie wir sie kennen, bedeuten kann …

Mit Kinder der Nacht legt der Autor der Bestseller „Im Auge des Winters“ und „Sommer der Nacht“ den ultimativen Vampir-Roman vor: düster, packend, nervenzerreißend – „Kinder der Nacht“ ist einer der spannendsten Romane, die überhaupt je geschrieben wurden.

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Seitenzahl: 763

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DAN SIMMONS

Kinder der Nacht

Roman

Überarbeitete Neuausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Das Buch

Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes in Rumänien dürfen Wissenschaftler aus dem Westen erstmals wieder das Land bereisen. Unter ihnen ist auch Kate Neuman, eine Spezialistin für Blutkrankheiten, die entsetzt ist über die menschenunwürdigen Bedingungen in den rumänischen Kinderkliniken. Im Zuge ihrer Forschungen stößt sie auf den Waisenjungen Joshua, der eine überaus seltene Blutstruktur aufweist. Um den Jungen weiter untersuchen zu können – sie hofft, aus seinem Blut ein Heilmittel für Aids und Krebs zu gewinnen –, adoptiert sie ihn und nimmt ihn mit in die USA. Sie ahnt nicht, dass sie damit tief in den unzugänglichen Wäldern Rumäniens eine dunkle Macht weckt. Denn Joshua ist ein Vampir – und sein Vater niemand Geringerer als Graf Dracula.

»Mit Kinder der Nacht legt Kultautor Dan Simmons den ultimativen Vampir-Roman vor. Düster, schockierend und auf eigentümliche Art berührend – ein Meisterwerk der modernen Horrorliteratur!«

LIBRARY JOURNAL

Der Autor

Dan Simmons wurde 1948 in Illinois geboren. Er schrieb bereits als Kind Erzählungen, die er seinen Mitschülern vorlas. Nach einigen Jahren als Englischlehrer machte er sich 1987 als freier Schriftsteller selbstständig. Sein zuletzt erschienener Roman Terror über die legendäre Polarexpedition John Franklins stand monatelang auf den amerikanischen Bestseller-Listen. Simmons lebt und arbeitet in Colorado, am Rande der Rocky Mountains.

Titel der amerikanischen Originalausgabe CHILDREN OF THE NIGHT Deutsche Übersetzung von Joachim Körber

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Taschenbuchneuausgabe 9/07 Redaktion: Tamara Rapp Copyright © 1992 by Dan Simmons Copyright © 2007 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. www.heyne.deUmschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: Greiner & Reichel, Köln

eISBN: 978-3-641-20723-6V001

www.randomhouse.de

Den Kindern

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorCopyrightWidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6 Kapitel 7 Kapitel 8 Kapitel 9 Kapitel 10 Kapitel 11 Kapitel 12
Träume von Blut und Eisen
Kapitel 13 Kapitel 14 Kapitel 15 Kapitel 16 Kapitel 17 Kapitel 18
Träume von Blut und Eisen
Kapitel 19 Kapitel 20 Kapitel 21 Kapitel 22 Kapitel 23 Kapitel 24
Träume von Blut und Eisen
Kapitel 25 Kapitel 26 Kapitel 27 Kapitel 28 Kapitel 29 Kapitel 30
Träume von Blut und Eisen
Kapitel 31 Kapitel 32 Kapitel 33 Kapitel 34 Kapitel 35 Kapitel 36
Träume von Blut und Eisen
Kapitel 37 Kapitel 38 Kapitel 39 Kapitel 40 Kapitel 41 Kapitel 42 Epilog Danksagung

1

Kaum hatten die Schießereien aufgehört, machten wir uns auf den Weg nach Bukarest und landeten am 29. Dezember 1989 kurz nach Mitternacht auf dem Flughafen Otopeni. Als halboffizielle ›internationale Gutachtergruppe‹ wurden wir sechs an meinem Lear-Jet in Empfang genommen, durch das konfuse Durcheinander geschleust, das seit der Revolution in Rumänien als Zoll gilt, und dann für die knapp fünfzehn Kilometer lange Fahrt zur Stadt in einen VIP-Bus des Nationalen Tourismusbüros verfrachtet. Für mich hatten sie einen Rollstuhl zum Flugzeug mitgebracht, aber ich winkte dankend ab und ging zu Fuß zum Bus. Es fiel mir nicht leicht.

Donna Wexler, unsere Kontaktperson von der amerikanischen Botschaft, zeigte auf zwei Einschusslöcher an der Wand, wo der Bus geparkt hatte, aber Dr. Aimslea gab uns einen weit drastischeren Hinweis, indem er einfach zum Fenster hinausdeutete, als wir der beleuchteten Ringstraße folgten, die das Flughafengebäude mit der Hauptstraße verband.

Panzer sowjetischer Bauart, deren lange Geschützrohre auf die Zufahrt zum Flughafen gerichtet waren, standen an der Hauptstraße aufgereiht wie eine Schlange Taxis. Mit Sandsäcken verbarrikadierte Geschützstellungen säumten die Straße und die Dächer des Flughafens, und die Natriumdampflampen warfen ihren gelben Schein auf Helme und Gewehre der wachhabenden Soldaten, deren Gesichter tief im Schatten lagen. Andere Männer, manche in regulärer Armeeuniform, andere in der Lumpenkleidung der revolutionären Miliz, lagen schlafend neben den Panzern. Für einen kurzen Augenblick entstand der Eindruck, dass die Leichen von gefallenen Rumänen die Gehwege bedeckten, und ich hielt den Atem an, bis ich sah, wie sich eine der Gestalten regte und eine andere sich eine Zigarette anzündete.

»Letzte Woche haben sie mehrere Gegenangriffe von loyalen Militärs und Streitkräften der Securitate abgewehrt«, flüsterte Donna Wexler. Ihr Tonfall deutete an, dass das ein peinliches Thema war – wie Sex.

Radu Fortuna, der kleine Mann, der uns am Flughafen hastig als Führer und Kontaktmann zur Übergangsregierung vorgestellt worden war, drehte sich auf seinem Sitz um und grinste breit, als könnten ihn weder Sex noch Politik in Verlegenheit bringen. »Sie töten viele Securitate«, sagte er laut, und dabei wurde sein Grinsen noch breiter. »Dreimal versuchen Ceauşescus Leute, den Flughafen zu erobern … und dreimal alle tot.«

Donna Wexler nickte und lächelte, offensichtlich fühlte sie sich bei dem Gesprächsthema nicht besonders wohl, aber Dr. Aimslea beugte sich über den Mittelgang. Sekunden bevor wir ins Dunkel der verlassenen Straßen eintauchten, glänzte das Licht der letzten Natriumdampflampe auf seinem kahlen Kopf. »Also ist Ceauşescus Herrschaft wirklich vorbei?«, wandte er sich an Fortuna.

In der plötzlichen Dunkelheit war nur das kurze Aufblitzen eines Grinsens auf dem Gesicht des Rumänen zu sehen. »Ceauşescu ist vorbei, ja, ja«, sagte er. »Sie haben ihn und seine Mistkuh von Frau in Tîrgovişte festgenommen, wissen Sie … Haben, wie sagt man, Verhandlung geführt.« Radu Fortuna lachte wieder, und es klang gleichzeitig kindlich und grausam. Ich merkte, wie ich ein wenig erschauerte. Der Bus war nicht geheizt.

»Sie haben eine Verhandlung«, fuhr Fortuna fort, »und der Staatsanwalt sagt: ›Seid ihr beiden verrückt?‹ Weil, wenn Ceauşescu und Frau Ceauşescu einfach verrückt sind, dann kann die Armee sie vielleicht einfach nur ins Irrenhaus schicken und hundert Jahre einsperren, wie unsere russischen Freunde das machen. Sie verstehen? Aber Ceauşescu sagt: ›Was? Was? Verrückt … Wie können Sie es wagen! Das ist unverschämte Provokation!‹ Und seine Frau sagt: ›Wie können Sie so was zur Mutter der Nation sagen?‹ Also antwortet der Staatsanwalt: ›Okay, ihr seid beide nicht verrückt. Habt es selbst gesagt.‹ Dann ziehen die Soldaten Strohhalme, weil es so viele sind, die es machen wollen. Dann führen die Gewinner die Ceauşescus auf den Hof und schießen ihnen viele Kugeln in die Köpfe.« Fortuna kicherte belustigt wie in Erinnerung an eine Lieblingsanekdote. »Ja, Regime ist vorbei«, sagte er zu Dr. Aimslea. »Ein paar Tausend Securitate, die wissen vielleicht noch nicht und erschießen immer noch Leute, aber das hört bald auf. Größeres Problem ist, was sollen wir mit einem von drei Bürgern anfangen, die für alte Regierung gespitzelt haben, hm?«

Fortuna kicherte wieder, und ich konnte im grellen Scheinwerferlicht eines entgegenkommenden Armeelastwagens sehen, wie seine Silhouette die Achseln zuckte. An den Innenseiten der Fenster gefror eine dünne Kondensschicht allmählich zu Eis. Meine Finger waren steif vor Kälte, und ich konnte kaum noch meine Zehen in den absurden Bally-Schuhen spüren, die ich heute Morgen angezogen hatte. Ich kratzte am Eis meines Fensters herum, während wir die Stadtgrenze durchfuhren.

»Ich weiß, Sie sind alle sehr wichtige Persönlichkeiten aus dem Westen«, sagte Radu Fortuna, dessen Atem ein kleines Nebelwölkchen bildete, das zum Dach des Busses emporstieg wie eine entweichende Seele. »Ich weiß, Sie sind der berühmte westliche Milliardär Mr. Vernor Deacon Trent, der für diese Reise bezahlt«, sagte er und nickte mir zu, »aber ich fürchte, die Namen von anderen Herrschaften habe ich vergessen.«

Donna Wexler übernahm es, uns vorzustellen. »Doktor Aimslea arbeitet für die Weltgesundheitsorganisation … Pater Michael O’Rourke hier repräsentiert die Erzdiözese von Chicago wie auch die Stiftung Save the Children.«

»Ach, wie schön, hier einen Priester zu haben«, sagte Fortuna, doch ich glaubte eine Spur von Ironie aus seiner Stimme herauszuhören.

»Doktor Leonard Paxley, Professor emeritus der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Princeton«, fuhr Donna Wexler fort. »1978 Träger des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften.«

Fortuna verbeugte sich vor dem alten Gelehrten. Paxley hatte während des ganzen Fluges von Frankfurt hierher kein Wort gesprochen, und jetzt wirkte er ziemlich verloren in seinem zu großen Mantel und den Falten seines Schals: ein alter Mann auf der Suche nach einer Parkbank.

»Wir heißen Sie willkommen«, sagte Fortuna, »auch wenn unser Land im Moment keine Wirtschaft hat.«

»Verdammt, ist es hier immer so kalt?«, ertönte eine Stimme aus den Tiefen des Wollschals. Der Nobelpreisträger und Professor emeritus stampfte mit seinen kleinen Füßen auf. »Hier drinnen würden ja selbst einem Bronzestier die Eier abfrieren.«

»Und Mr. Carl Berry von der American Telegraph and Telephone«, fiel Donna Wexler hastig ein.

Der pummelige Geschäftsmann neben mir paffte an seiner Pfeife, nahm sie aus dem Mund, nickte in Fortunas Richtung und steckte sich das Ding dann so schnell wieder in den Mund, als wäre es eine unverzichtbare Wärmequelle. In einer wirren Vision sah ich uns alle zusammen einen Moment lang eng um die Glut in Berrys Pfeife kauern.

»Und Sie sagen, an unseren Sponsor, Mr. Trent, können Sie sich erinnern?«, kam Donna Wexler zum Ende.

»O ja«, sagte Radu Fortuna. Seine Augen funkelten, als er mich durch Berrys Pfeifenrauch und die Kondenswölkchen seines eigenen Atems hindurch anblickte. Fast konnte ich mich selbst in diesen glänzenden Spiegeln erkennen – ein sehr alter Mann mit tief in den Höhlen liegenden Augen, die nach den Anstrengungen der Reise noch tiefer versunken waren, ein schrumpeliger und runzliger Körper in teurem Anzug und Mantel. Ich war sicher, dass ich noch älter als Paxley aussah, älter als Methusalem … älter als Gott.

»Ich glaube, Sie waren schon einmal in Rumänien?«, fuhr Fortuna fort. Ich konnte sehen, wie die Augen unseres Führers heller strahlten, als wir in die besser beleuchteten Stadtviertel kamen. Ich hatte kurz nach dem Krieg eine Zeit in Deutschland verbracht. Die Szene draußen hinter Fortuna sah genauso aus. Auf dem Platz des Palastes standen weitere Panzer, schwarze Hüllen, die man für verlassene Haufen aus kaltem Metall hätte halten können, wäre einer von ihnen uns im Vorbeifahren nicht mit dem Geschützturm gefolgt. Wir betrachteten die rußigen Leichen ausgebrannter Autos und mindestens eines gepanzerten Truppentransporters, der nur noch ein Berg versengten Stahls war. Dann bogen wir nach links ab und fuhren an der Universitätsbibliothek vorbei, deren goldenes Kuppeldach zwischen geschwärzten, pockennarbigen Wänden eingestürzt war.

»Ja«, sagte ich. »Ich bin schon einmal hier gewesen.«

Fortuna beugte sich zu mir. »Und diesmal eine Ihrer Firmen wird möglicherweise ein Werk hier bauen, ja?«

»Vielleicht.«

Fortuna ließ mich nicht aus den Augen. »Wir hier arbeiten sehr billig«, flüsterte er so leise, dass ich mich fragte, ob ihn außer Carl Berry jemand verstehen konnte. »Sehr billig. Arbeitskraft ist sehr billig hier. Das Leben ist sehr billig hier.«

Wir waren links von der menschenleeren Calea Victoriei abgebogen, dann wieder rechts auf den Boulevardul Nicolae Bălcescu, und nun hielt der Bus mit quietschenden Reifen vor dem höchsten Gebäude der ganzen Stadt, dem zweiundzwanzigstöckigen Hotel Intercontinental.

»Morgen, meine Herren«, sagte Fortuna, der sich erhob und uns den Weg zu einer hell erleuchteten Halle wies, »wir werden das neue Rumänien anschauen. Ich wünsche Ihnen allen einen Schlaf ohne Träume.«

2

Der nächste Tag war für Begegnungen mit ›Offiziellen‹ der Übergangsregierung reserviert, überwiegend Mitglieder der erst jüngst zusammengeschusterten Nationalen Rettungsfront. Der Tag war so düster, dass die Straßenlaternen auf dem breiten Boulevardul N. Bălcescu und dem Boulevardul Republicii angingen. Die Gebäude selbst waren nicht geheizt – jedenfalls nicht wahrnehmbar –, und die Männer und Frauen, mit denen wir uns unterhielten, sahen fast identisch aus in ihren zu großen, grauen Wollmänteln. Am Ende des Tages hatten wir mit einem Giurescu gesprochen, mit zwei Tismaneanus, einem Borosoiu, der, wie sich herausstellte, überhaupt kein Sprecher der neuen Regierung war – vielmehr wurde er Augenblicke, nachdem wir uns verabschiedet hatten, festgenommen –, sowie mit mehreren Generälen, darunter Popascu, Lupoi und Diurgiu, und zuletzt mit den tatsächlichen Staatsoberhäuptern, zu denen Petre Roman gehörte, der Premierminister der Übergangsregierung, sowie Ion Iliescu und Dumitru Mazilu, der unter der Regierung Ceauşescu Präsident und Vizepräsident gewesen war.

Ihre Botschaft war einhellig: Wir hatten den Zuspruch der Nation, und jedwede Empfehlung für Hilfeleistungen, die wir an unsere verschiedenen Institutionen weitergeben konnten, würde man auf ewig zu schätzen wissen. Die Beamten behandelten mich ganz besonders zuvorkommend, weil sie meinen Namen kannten und ich eine unvorstellbare Menge Geld repräsentierte, aber selbst diese überaus höfliche Aufmerksamkeit hatte etwas Zerstreutes an sich. Sie waren wie Männer, die inmitten des Chaos schlafwandelten.

Als wir an diesem Abend zum Intercontinental zurückkehrten, wurden wir Zeugen, wie eine Menschenmenge – überwiegend Büroangestellte, die aus den Steinwaben der Innenstadt in ihren Feierabend strebten – drei Männer und eine Frau herumschubsten und verprügelten. Radu Fortuna lächelte und deutete auf die große Plaza vor dem Hotel, wo die Menschenmenge allmählich größer wurde. »Da … letzte Woche auf Universitätsplatz … als die Leute zum Demonstrieren und Singen kamen, ja? Panzer der Armee überfahren Menschen, erschießen noch mehr. Das da sind wahrscheinlich Spitzel von Securitate.«

Bevor der Bus vor dem Hotel anhielt, erhaschten wir noch einen flüchtigen Blick auf uniformierte Soldaten, die die mutmaßlichen Spitzel abführten, wobei sie sie mit Gewehrkolben antrieben, während die Menge sie weiterhin anspuckte und auf sie einschlug.

»Man kann kein Omelett backen, ohne ein paar Eier zu zerschlagen«, murmelte der Professor emeritus, worauf Pater O’Rourke ihn ungehalten musterte, während Radu Fortuna zustimmend kicherte.

»Man sollte meinen, Ceauşescu wäre besser auf eine Belagerung vorbereitet gewesen«, sagte Dr. Aimslea an diesem Abend nach dem Essen. Wir waren im Speisesaal geblieben, weil es dort wärmer schien als in unseren Zimmern. Kellner und ein paar Militärs streiften unablässig durch den großen Raum. Die Reporter hatten ihr Abendessen hastig und mit größtmöglichem Lärm hinuntergeschlungen und waren kurz danach aufgebrochen, um sich dort zu vergnügen, wo sie trinken und sich gegenseitige zynische Sprüche an den Kopf werfen konnten.

Radu Fortuna leistete uns beim Kaffee Gesellschaft und ließ jetzt wieder einmal sein patentiertes Zahnlückengrinsen aufblitzen. »Sie möchten sehen, wie vorbereitet Ceauşescu war?«

Ja, sagten Aimslea, Pater O’Rourke und ich, das würden wir gerne sehen. Carl Berry beschloss, auf sein Zimmer zu gehen, wo er versuchen wollte, ein Gespräch mit den Staaten zu bekommen, und Dr. Paxley folgte ihm und murmelte irgendwas von ›früh ins Bett‹.

Fortuna führte uns drei in die Kälte hinaus und durch dunkle Straßen bis zur rußgeschwärzten Fassade des Präsidentenpalastes. Ein Angehöriger der Miliz trat aus dem Schatten, hob ein AK-47 und bellte einen Befehl, aber Fortuna unterhielt sich leise mit ihm, und wir durften passieren.

Im Palast selbst brannte kein Licht, abgesehen von vereinzelten Feuern in Ölfässern, wo Angehörige der Miliz oder reguläre Soldaten schliefen oder sich zusammendrängten, um sich zu wärmen. Überall waren Möbelstücke verstreut, Vorhänge waren von sechs Meter hohen Fenstern heruntergerissen worden, Papiere lagen auf dem Boden verteilt, und die regelmäßigen Fliesen waren mit dunklen Schlieren verschmiert. Fortuna führte uns einen schmalen Flur entlang, durch eine Reihe privater Wohnräume, wie es schien, und blieb vor einer recht unauffälligen Wandschranktür stehen. In dem eineinhalb Meter breiten Schrank standen lediglich drei Laternen auf einem Fachboden. Fortuna zündete die Laternen an, gab eine Aimslea und eine mir und drückte dann auf eine Verzierung oben an der Rückwand. Eine Schiebetür glitt auf und gab den Blick auf eine Steintreppe frei.

»Mr. Trent«, begann Fortuna und betrachtete stirnrunzelnd meinen Gehstock und meine zitternden Greisenarme. Das Licht unserer Laternen warf rastlose Schatten an die Wände. Er streckte eine Hand nach der meinen aus. »Hier sind viele Stufen. Vielleicht …«

»Ich schaffe das schon«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen. Ich behielt die Laterne.

Radu Fortuna zuckte die Achseln und führte uns nach unten.

Die nächste halbe Stunde verbrachten wir wie in einem Traum, wie in einer Halluzination. Die Treppe stieg in hallende Kammern hinab, von denen ein Labyrinth weiterer Steintunnel und Treppen abzweigte. Fortuna führte uns tief in dieses Gewirr hinein; unsere Laternen spiegelten sich auf halbrunden Decken und glatten Steinen.

»Mein Gott«, murmelte Dr. Aimslea nach zehn Minuten, »die erstrecken sich ja kilometerweit.«

»Ja, ja«, lächelte Radu Fortuna. »Viele Kilometer.«

Es gab Lagerräume mit Regalen voller automatischer Waffen und Gasmasken, die an Haken hingen; es gab Kommandozentralen mit Rundfunkgeräten und Fernsehmonitoren, die stumm im Dunkeln standen, manche zerstört, als hätten Wahnsinnige mit Äxten ihre Wut daran ausgelassen, andere waren mit Plastikfolie zugedeckt und schienen nur darauf zu warten, dass man sie einschaltete; es gab Baracken mit Feldbetten und Öfen und Petroleumheizungen, die wir neidisch betrachteten. Einige der Baracken machten einen unberührten Eindruck, andere waren eindeutig Schauplatz panischer Evakuierungen oder gleichermaßen panischer Feuergefechte gewesen.

In einer dieser Kammern war überall Blut auf Wänden und Boden, doch die Schlieren wirkten im Licht unserer zischenden Laternen mehr schwarz als rot.

In den entlegeneren Ausläufern der Tunnel fanden wir Leichen, manche in Pfützen, die sich aus dem Wasser gebildet hatten, das durch Luken an der Decke heruntergetropft war, andere hinter hastig errichteten Barrikaden an den Kreuzungen der unterirdischen Gänge. In den Steinkorridoren roch es wie in einem Schlachthaus.

»Securitate«, sagte Fortuna und spie auf einen Mann im braunen Hemd, der mit dem Gesicht nach unten in einer Pfütze festgefroren war. »Sind wie Ratten hier heruntergeflohen, und wir haben sie wie Ratten erledigt. Sie verstehen?«

Pater O’Rourke kauerte eine Weile mit gesenktem Kopf neben einer der Leichen. Dann bekreuzigte er sich und stand auf. Sein Gesicht drückte weder Betroffenheit noch Ekel aus. Ich erinnerte mich, dass jemand gesagt hatte, der bärtige Priester sei in Vietnam gewesen.

Dr. Aimslea sagte: »Aber Ceauşescu ist nicht in diese … Festung hier geflohen?«

»Nein.« Fortuna lächelte.

Der Doktor sah sich im zischenden Licht der Laternen um. »Aber warum denn nicht, um Himmels willen? Wenn er hier unten einen organisierten Widerstand aufgebaut hätte, hätte er monatelang durchhalten können.«

Fortuna zuckte mit den Achseln. »Stattdessen flüchtet das Monster per Hubschrauber. Er fliegte … nein … flog … er flog nach Tîrgovişte, siebzig Kilometer von hier entfernt, ja? Dort sehen andere ihn und seine Mistkuh von Frau in Auto einsteigen. Sie haben sie gefangen.«

Dr. Aimslea hielt die Laterne an den Eingang eines anderen Tunnels, aus dem jetzt ein grässlicher Gestank wehte. Der Doktor zog das Licht rasch wieder zurück. »Aber ich frage mich, warum …«

Fortuna kam näher, und der grelle Schein offenbarte eine alte Narbe an seinem Hals, die mir bis jetzt nicht aufgefallen war. »Sie sagen, sein … Berater … der Dunkle Ratgeber … hat ihm empfohlen, nicht hierherzukommen.« Er lächelte.

Pater O’Rourke sah den Rumänen an. »Der Dunkle Ratgeber? Hört sich an, als wäre der Teufel persönlich sein Berater gewesen.«

Radu Fortuna nickte.

Dr. Aimslea grunzte. »Und, ist dieser Teufel entkommen? Oder war es einer von den armen Kerlen, die wir da hinten gesehen haben?«

Unser Führer antwortete nicht, sondern betrat einen der vier Tunnel, die an dieser Stelle abzweigten. Eine Steintreppe führte nach oben. »Zum Nationaltheater«, sagte er leise und bedeutete uns, vorauszugehen. »Es ist beschädigt, aber nicht zerstört. Ihr Hotel liegt nebenan.«

Der Priester, der Doktor und ich begannen den Aufstieg, während das Licht der Laternen unsere Schatten zehn Meter hoch auf die gekrümmten Steinmauern über uns warf. Pater O’Rourke blieb stehen und sah auf Fortuna hinab. »Kommen Sie nicht mit?«

Der kleine Führer schüttelte lächelnd den Kopf. »Morgen wir bringen Sie dorthin, wo alles angefangen hat. Morgen wir gehen nach Transsilvanien.«

Dr. Aimslea lächelte dem Priester und mir zu. »Transsilvanien«, wiederholte er. »Der Schatten von Bela Lugosi.« Er drehte sich um und wollte etwas zu Fortuna sagen, aber der kleine Mann war nicht mehr da. Nicht einmal das Echo von Schritten oder der sich entfernende Schimmer einer Laterne verriet, welchen Tunnel er genommen hatte.

3

Wir flogen nach Timişoara – Temesvár –, einer Stadt mit rund dreihunderttausend Einwohnern im westlichen Transsilvanien, und mussten den Flug in einer alten, zusammengeflickten Tupolev-Turbopropmaschine über uns ergehen lassen, die jetzt der staatlichen Fluggesellschaft Tarom gehörte. Die Behörden gestatteten nicht, dass ich innerhalb des Landes mit meinem Lear-Jet von Stadt zu Stadt flog. Wir hatten Glück; der tägliche Flug hatte nur eineinhalb Stunden Verspätung. Wir bewegten uns fast den ganzen Flug über durch Wolken, und eine Innenbeleuchtung gab es nicht, was andererseits keine Rolle spielte, da ohnehin weder Stewardessen an Bord waren noch eine Mahlzeit oder ein Imbiss gereicht wurden. Dr. Paxley schimpfte beinahe die gesamte Strecke vor sich hin, aber das Heulen der Propellerturbinen und das Ächzen von Metall, während wir durch Aufwinde und Sturmwolken schlingerten und schwankten, übertönte den größten Teil seiner Tirade.

Als wir gerade gestartet waren, Sekunden bevor wir in die Wolkendecke eintauchten, beugte sich Fortuna über den Mittelgang und deutete zum Fenster hinaus auf eine schneebedeckte Insel in einem See, der über dreißig Kilometer nördlich von Bukarest liegen musste. »Şnagov«, sagte er und beobachtete dabei mein Gesicht.

Ich spähte nach unten und erkannte kurz eine dunkle Kirche auf der Insel, bevor die Wolken alles verhüllten; dann sah ich Fortuna wieder an. »Und?«

»Vlad Ţepeş ist dort begraben«, sagte Fortuna, der mich immer noch ansah. Er sprach den Namen wie ›Tsepesch‹ aus.

Ich nickte. Fortuna widmete sich wieder der Lektüre eines unserer Time-Hefte im düsteren Halbdunkel, obschon mir unbegreiflich war, wie jemand während des turbulenten Flugs lesen oder sich überhaupt konzentrieren konnte. Eine Minute später neigte sich Carl Berry auf dem Sitz hinter mir nach vorn und flüsterte: »Wer zum Teufel ist denn Vlad Ţepeş? Jemand, der bei den Kampfhandlungen ums Leben gekommen ist?«

In der Kabine war es inzwischen so dunkel, dass ich kaum Berrys Gesicht erkennen konnte, obwohl es nur Zentimeter von meinem entfernt war.

»Dracula«, sagte ich zu dem leitenden Angestellten von AT & T.

Berry stieß einen enttäuschten Seufzer aus, lehnte sich in seinem Sitz zurück und zog den Gurt enger, als das Flugzeug noch heftiger zu schaukeln anfing.

»Vlad der Pfähler«, flüsterte ich vor mich hin.

Der Strom war ausgefallen, daher wurde die Leichenhalle einfach dadurch gekühlt, dass sämtliche Fenster offen standen. Das Licht war immer noch ausgesprochen spärlich, als würde es von den dunkelgrünen Wänden, den rußigen Fensterscheiben und tiefhängenden Gewitterwolken verschluckt, reichte aber gerade aus, um die Leichen sichtbar zu machen, die auf Tischen lagen und fast den gesamten gekachelten Bereich für sich beanspruchten. Wir bewegten uns auf einem verschlungenen Pfad und mussten ständig über bloße Beine und weiße Gesichter und aufgedunsene Bäuche steigen, damit wir zu Fortuna und dem rumänischen Arzt in der Mitte des Raumes gelangen konnten. In dem langen Saal befanden sich immerhin drei- bis vierhundert Menschen – uns selbst nicht mitgerechnet.

»Warum sind diese Menschen nicht begraben worden?«, fragte Pater O’Rourke, der sich den Schal vors Gesicht gelegt hatte. Seine Stimme klang wütend. »Die Morde sind doch schon über eine Woche her, oder?«

Fortuna übersetzte für den Arzt aus Timişoara, der mit den Achseln zuckte. »Elf Tage, seit die Securitate das gemacht hat«, sagte er. »Beerdigung bald. Die … wie sagt man … die Behörden hier, die wollen das den westlichen Reportern und wichtigen Persönlichkeiten wie Ihnen zeigen. Sehen Sie, sehen Sie!« Fortuna breitete die Arme aus und wies beinahe stolz durch den Raum – ein Koch, der das Bankett präsentierte, das er vorbereitet hatte.

Auf dem Tisch vor uns lag der Leichnam eines alten Mannes. Hände und Füße waren ihm mit einem nicht besonders scharfen Gegenstand amputiert worden. Er hatte Verbrennungen an Unterleib und Genitalien, und die Brust ließ offene Wunden erkennen, die mich an Fotos von Flüssen und Kratern auf dem Mars erinnerten, wie die Viking-Sonde sie übermittelt hatte. Der rumänische Arzt sagte etwas. Fortuna übersetzte. »Er sagt, die Securitate haben mit Säure herumgespielt. Ja? Und hier …«

Die junge Frau lag auf dem Boden, vollständig bekleidet, abgesehen von einem Riss in der Kleidung, der von den Brüsten bis zum Schambein reichte. Was ich zuerst für eine zweite Schicht aufgeschnittener roter Fetzen gehalten hatte, entpuppte sich bei näherem Hinsehen als die rote Wandung ihres aufgeschnittenen Bauchs und Unterleibs. Ein sieben Monate alter Fötus lag in ihrem Schoß wie eine achtlos weggeworfene Puppe. Es wäre ein Junge geworden.

»Hier«, befahl Fortuna, der gestikulierend durch ein Dickicht von Knöcheln stieg.

Dieser Junge musste etwa zehn gewesen sein. Der Tod und eine Woche oder mehr in dieser Eiseskälte hatten die Haut aufgebläht und ihr die Beschaffenheit von fleckigem, marmoriertem Pergament verliehen, aber der Stacheldraht um seine Knöchel und Handgelenke war noch deutlich zu sehen. Man hatte ihm die Arme derart brutal auf den Rücken gebunden, dass die Schultergelenke völlig aus den Pfannen gedreht worden waren. Fliegen hatten sich in seinen Augen niedergelassen, und ihre Eier vermittelten den Eindruck, als trüge das Kind weiße Kontaktlinsen.

Professor emeritus Paxley stieß einen unverständlichen Laut aus, taumelte aus dem Raum und stolperte dabei fast über die aufgereihten Leichen. Die knotige Hand eines alten Mannes verfing sich im Hosenbein des fliehenden Professors, wie um ihn zurückzuhalten.

Pater O’Rourke packte Fortuna am Mantelkragen und hob den kleinen Mann fast vom Boden. »Warum, um alles in der Welt, zeigen Sie uns das?«

Fortuna grinste. »Da ist noch mehr, Pater. Kommen Sie.«

»Sie haben Ceauşescu den ›Vampir‹ genannt«, sagte Donna Wexler, die später losgeflogen war und sich erst jetzt zu uns gesellt hatte.

»Und hier, in Timişoara, hat alles angefangen«, sagte Carl Berry, der an seiner Pfeife paffte und dabei den grauen Himmel, die grauen Gebäude, den grauen Schneematsch auf der Straße und die grauen Menschen betrachtete, die durch das trübe Licht huschten.

»Hier, in Timişoara, wurde der endgültige Zusammenbruch eingeleitet«, sagte Donna Wexler. »Die jüngere Generation wurde schon seit geraumer Zeit immer unruhiger. In gewissem Sinne hat Ceauşescu sein eigenes Todesurteil unterschrieben, indem er diese Generation geschaffen hat.«

»Diese Generation geschaffen hat?«, wiederholte Pater O’Rourke stirnrunzelnd. »Das müssen Sie mir erklären.«

Und Donna Wexler erklärte es ihm. Mitte der Sechzigerjahre hatte Ceauşescu die Abtreibung verboten, die Einfuhr von Verhütungsmitteln unterbunden und verkündet, es sei die Pflicht jeder Frau dem Staat gegenüber, möglichst viele Kinder zu gebären. Des Weiteren hatte seine Regierung Geburtenprämien eingeführt und Steuersenkungen für alle Familien beschlossen, die dem Aufruf nach mehr Geburten folgten. Paare, die weniger als fünf Kinder hatten, wurden nicht nur höher besteuert, sondern darüber hinaus mit Bußgeldern belegt. Zwischen 1966 und 1976, so Donna Wexler, nahm die Geburtenrate um vierzig Prozent zu, begleitet von einem sprunghaften Anstieg der Kindersterblichkeit.

»Und die Masse dieser jungen Menschen um die zwanzig bildete Ende der achtziger Jahre den Kern der Revolution«, sagte Donna Wexler. »Sie hatten keine Arbeit, keine Chancen auf eine Universitätsausbildung … nicht einmal angemessene Wohnunterkünfte. Sie haben die Proteste in Timişoara und anderswo angefangen.«

Pater O’Rourke nickte. »Ironie des Schicksals … aber angemessen.«

»Natürlich«, sagte Donna Wexler und blieb nahe des Bahnhofs stehen, »konnten es sich die meisten Bauernfamilien nicht leisten, die zusätzlichen Kinder großzuziehen …« Sie verstummte mit dem Diplomaten eigenen Verlegenheitszucken.

»Und was ist mit diesen Kindern passiert?«, fragte ich. Es war erst früher Nachmittag, doch das Licht war schon zu winterlicher Dämmerung verblasst. An diesem Abschnitt der Hauptstraße von Timişoara gab es keine Straßenlaternen. Irgendwo in weiter Entfernung pfiff eine Lokomotive.

Die Frau von der Botschaft schüttelte den Kopf, aber Radu Fortuna trat näher. »Heute Nacht fahren wir mit dem Zug nach Sebeş, Sibiu, Copşa Mică und Sighişoara«, sagte der lächelnde Rumäne. »Dann sehen Sie, wohin Babys gekommen sind.«

Vor den Fenstern unseres Zuges wurde der Winterabend zur Winternacht. Der Zug fuhr durch Berge, so zerklüftet wie verfaulte Zähne – ich konnte mich damals nicht erinnern, ob es sich um die Făgăraş-Berge oder die Ausläufer der Bucegi-Karpaten handelte –, und der erbärmliche Anblick zusammengedrängter Dörfer und verfallener Bauernhöfe wich einer Schwärze, die nur gelegentlich vom Schein einer Öllampe in einem fernen Fenster unterbrochen wurde. Einen Augenblick war die Illusion vollkommen, und ich konnte mir einbilden, ich würde im fünfzehnten Jahrhundert durch diese Berge reisen, mit der Kutsche zur Burg auf dem Argeş, in einem Wettlauf gegen die Feinde durch diese Berge preschen, die …

Ich stellte erschrocken fest, dass ich beinahe eingedöst wäre. Es war Silvester, der letzte Abend des Jahres 1989, und die Nacht würde bringen, was gemeinhin als das letzte Jahrzehnt des Jahrtausends angesehen wurde. Doch die Landschaft blieb ein Panorama des fünfzehnten Jahrhunderts. Die einzigen Eindringlinge moderner Zeiten bei unserer Abreise aus Timişoara am Abend waren vereinzelte Militärfahrzeuge auf den verschneiten Straßen gewesen und einige wenige Stromleitungen, die man zwischen den Bäumen erspähen konnte. Dann waren auch diese armseligen Fetische verschwunden, und es blieben nur die Dörfer, die Öllampen, die Kälte und ab und zu ein gummibereifter Karren, der von Pferden gezogen wurde, die nur aus Haut und Knochen zu bestehen schienen, und dessen Kutscher sich unter dunklen Wollumhängen verbarg. Dann war selbst in den Straßen der Dörfer nichts mehr zu erkennen, durch die der Zug brauste, ohne anzuhalten.

Mir fiel auf, dass manche Dörfer vollkommen dunkel waren, obwohl es noch nicht einmal zehn Uhr war, und als ich mich einmal vorbeugte und den Reif von der Scheibe wischte, stellte ich fest, dass das Dorf, durch das wir gerade fuhren, völlig ausgestorben war – die Gebäude niedergewalzt, die Steinmauern abgerissen, die Bauernhäuser in Trümmer gelegt.

»Systematisierung«, flüsterte Radu Fortuna, der lautlos neben mir im Mittelgang aufgetaucht war. Er kaute an einer Zwiebel.

Ich bat ihn nicht um eine Erklärung, unser lächelnder Reiseführer versorgte mich freiwillig damit. »Ceauşescu wollte alles Alte ausrotten. Er ließ Dörfer vernichten und Tausende Menschen in städtische Siedlungen wie den Boulevard ›Sieg des Sozialismus‹ in Bukarest schaffen … nur Mietskasernen auf lange Kilometer. Bloß sind Gebäude nicht fertig, als sie Dörfer kaputtmachen und Menschen deportieren. Keine Heizung. Kein Wasser. Kein Strom … weil er verkauft Elektrizität an andere Länder. Sie verstehen. Dorfbewohner haben kleine Häuser hier, sind drei-, vielleicht vierhundert Jahre im Familienbesitz, wohnen jetzt aber im neunten Stock von einem schlechten Backsteinhaus in einer fremden Stadt … keine Fenster, kalter Wind weht rein. Müssen Wasser kilometerweit tragen, dann neun Treppen hoch.«

Er riss einen großen Bissen von der Zwiebel ab und nickte zufrieden. »Systematisierung.« Er schlenderte den verrauchten Mittelgang hinunter.

Die Berge zogen an uns vorbei. Ich döste wieder ein – in der letzten Nacht hatte ich kaum geschlafen, weder traumlos noch sonst wie, und in der Nacht zuvor im Flugzeug auch nicht –, erwachte nun aber mit einem Zucken und stellte fest, dass der Professor emeritus den Platz neben mir belegt hatte.

»Verdammt, nirgendwo Heizung«, flüsterte er und zog den Schal enger um sich. »Man sollte meinen, dass die ganzen Bauernweiber und Ziegen und Hühner und was sie sonst noch alles in ihren sogenannten Erste-Klasse-Wagen befördern, zumindest ein bisschen Körperwärme hier drinnen erzeugen, aber es ist so kalt wie die toten Titten von Madame Ceauşescu.«

Ich blinzelte ob dieses Vergleichs.

»Aber eigentlich«, sagte Dr. Paxley, »ist es gar nicht so schlimm, wie sie behaupten.«

»Die Kälte?«, sagte ich.

»Nein, nein. Die Wirtschaft. Ceauşescu ist möglicherweise das einzige Staatsoberhaupt in diesem Jahrhundert, dem es tatsächlich gelungen ist, die Staatsschulden seines Landes zurückzuzahlen. Selbstverständlich musste er, um das zu bewerkstelligen, Lebensmittel, Elektrizität und Konsumgüter an andere Länder verkaufen, aber Rumänien hat keine Auslandsschulden. Überhaupt keine.«

»Mmm«, brummte ich und versuchte, mich an die Bruchstücke meines Traums während der wenigen Augenblicke Schlaf zu erinnern. Irgendwas von Blut und Eisen.

»Ein Handelsüberschuss von eins Komma sieben Milliarden Dollar«, flüsterte Paxley und beugte sich so nahe zu mir, dass ich riechen konnte, was er zu Abend gegessen hatte – ebenfalls eine Zwiebel. »Und sie schulden weder dem Westen noch den Russen etwas. Unglaublich.«

»Aber das Volk hungert«, sagte ich leise. Donna Wexler und Pater O’Rourke schliefen auf der Bank vor uns. Der bärtige Priester murmelte leise vor sich hin, als kämpfte er gegen einen Alptraum.

Paxley tat meinen Einwand mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Wenn es zur deutschen Wiedervereinigung kommt, wissen Sie, wie viel die Westdeutschen investieren müssen, nur um die Infrastruktur im Osten neu aufzubauen?« Ohne auf meine Antwort zu warten, fuhr er fort: »Hundert Milliarden deutsche Mark – und das nur um den Stein ins Rollen zu bringen. In Rumänien ist die Infrastruktur so erbärmlich, dass man kaum was aus dem Weg räumen müsste. Hier könnte man einfach den Industriewahnsinn einstampfen, auf den Ceauşescu so stolz war, sich die billige Arbeitskraft zunutze machen – mein Gott, sie sind ja beinahe Leibeigene – und jedwede Infrastruktur aufbauen, die man haben will. Das Modell Südkorea, Mexiko … Sie sind alle bereit für sämtliche westlichen Firmen, die das Risiko eingehen wollen.«

Ich tat so, als schliefe ich wieder ein, und schließlich wanderte der Professor emeritus den Mittelgang entlang auf der Suche nach jemand anderem, dem er die wirtschaftlichen Gegebenheiten erklären konnte. Die Dörfer blieben in der Dunkelheit zurück, während wir weiter in die Berge von Transsilvanien vordrangen.

Wir trafen vor Einbruch der Dämmerung in Sebeş ein, wo uns ein unbedeutender Amtmann empfing und uns zum Waisenhaus führte.

Nein, Waisenhaus ist ein zu beschönigendes Wort. Es handelte sich um ein Lagerhaus, das nicht besser geheizt war als die anderen Schlachthäuser, in denen wir bisher gewesen waren, und es war vollkommen schmucklos, abgesehen von schmutzigen Bodenfliesen und abblätternder Wandfarbe, die etwa bis auf Augenhöhe von einem übelkeiterregenden Grün und darüber lepragrau war. Der Hauptsaal hatte einen Durchmesser von mindestens hundert Metern.

Und er stand voller Kinderbetten.

Wieder ein zu beschönigendes Wort. Das waren keine Kinderbetten, sondern flache, nach oben hin offene Metallkäfige. In diese Käfige waren Kinder gesperrt. Kinder, die im Alter vom Neugeborenen bis zum Zehnjährigen reichten. Keines schien gehen zu können. Alle waren nackt oder in schmutzverkrustete Fetzen gehüllt. Viele schrien oder weinten stumm, die Wölkchen ihres Atems stiegen in der kalten Luft empor. Frauen mit steinernen Gesichtern und komplizierten Schwesternhauben standen zigarettenrauchend an der Peripherie dieses Menschenlagerhauses und schritten gelegentlich einen Gang hinunter, um einem Kind unwirsch ein Fläschchen zu geben – darunter auch sieben- oder achtjährigen Kindern –, häufiger aber, um sie mit gezielten Schlägen zum Schweigen zu bringen.

Der Abgeordnete und der kettenrauchende Direktor dieses ›Waisenhauses‹ keiften uns eine Tirade entgegen, aber Fortuna ließ sich nicht dazu herab, sie für uns zu übersetzen. Dann führten sie uns quer durch den Saal und stießen hohe Türen auf.

Ein weiterer Saal, der noch größer war und sich bis in kälteverhangene Fernen erstreckte. Strahlen kargen Morgenlichts fielen auf Käfige und die Gesichter darin. Mindestens tausend Kinder mussten sich hier befinden, kein Einziges älter als zwei Jahre. Einige weinten, und ihr flehentliches Wimmern hallte durch den gekachelten Raum, aber die meisten schienen zu geschwächt und lethargisch zum Weinen und lagen teilnahmslos auf ihren dünnen, exkrementverschmierten Laken. Einige hatten sich zur Embryonalhaltung des bevorstehenden Hungertodes zusammengerollt. Einige schienen tot zu sein.

Radu Fortuna drehte sich um und verschränkte die Arme. Er lächelte. »Sehen Sie jetzt, wohin Babys kommen, ja?«

4

In Sibiu fanden wir die versteckten Kinder. In dieser zentralen transsilvanischen Stadt mit hundertsiebzigtausend Einwohnern gab es vier Waisenhäuser, und jedes einzelne war größer und trauriger als das in Sebeş. Dr. Aimslea verlangte über Fortuna, dass man uns die AIDS-Kinder zeigen sollte.

Der Direktor des staatlichen Waisenhauses Strada Cetatii 319, eines alten Bauwerks ohne Fenster im Schatten der Stadtmauer aus dem sechzehnten Jahrhundert, weigerte sich hartnäckig zuzugeben, dass es überhaupt Babys mit AIDS gab. Er sprach uns das Recht ab, sein Waisenhaus zu betreten. Einmal bestritt er sogar, trotz der Inschrift an der Tür seines Büros und des Schildes auf seinem Schreibtisch, dass er der Direktor des staatlichen Waisenhauses Strada Cetatii 319 war.

Fortuna zeigte ihm unsere Reisepapiere und Vollmachten, die mit einer persönlichen Bitte um Zusammenarbeit von Roman, dem Premierminister der Übergangsregierung, Präsident Iliescu und Vizepräsident Mazilu unterschrieben waren.

Der Direktor schnaubte, zog an seiner kurzen Zigarette, schüttelte den Kopf und murmelte etwas in verächtlichem Ton. »Ich bekomme meine Befehle vom Gesundheitsministerium«, übersetzte Radu Fortuna.

Es dauerte fast eine Stunde, bis wir eine Verbindung mit der Hauptstadt bekamen, aber Fortuna wurde schließlich zum Premierminister durchgestellt, der den Gesundheitsminister anrief, der seinerseits versprach, sofort im staatlichen Waisenhaus Strada Cetatii 319 anzurufen. Etwas mehr als zwei Stunden später kam der Anruf durch, der Direktor fauchte Fortuna etwas zu, warf seine Zigarettenkippe auf die schmutzigen Fliesen, wo es bereits von Kippen wimmelte, herrschte einen herbeizitierten Pfleger an und reichte Fortuna einen riesigen Schlüsselring.

Die AIDS-Station lag hinter vier verschlossenen Türen. Wir trafen keine Schwestern an, keine Ärzte … überhaupt keine Erwachsenen. Auch keine Kinderbetten; die Säuglinge und Kleinkinder saßen einfach auf dem Fliesenboden oder buhlten um Plätze auf einer von dem halben Dutzend nackter und exkrementverschmierter Matratzen, die man ihnen an der gegenüberliegenden Wand hingeworfen hatte. Sie waren nackt, und man hatte ihnen die Köpfe rasiert. Der fensterlose Raum wurde von einigen kahlen Vierzig-Watt-Birnen erhellt, die acht bis zehn Meter auseinanderhingen. Einige Kinder hatten sich um die trübe beleuchteten Stellen versammelt und spähten mit verquollenen Augen zu den Glühbirnen hinauf wie zur Sonne, aber die meisten hatten sich in die Schatten verkrochen. Als wir die Stahltüren aufmachten, krabbelten ältere Kinder auf allen vieren davon, um dem Licht zu entfliehen.

Es war offensichtlich, dass die Böden alle paar Tage mit dem Schlauch abgespritzt wurden – die rissigen Fliesen wiesen Wasserspuren und Rinnen auf –, aber es war auch klar, dass ansonsten keinerlei hygienische Anstrengungen unternommen wurden. Donna Wexler, Dr. Paxley und Mr. Berry drehten sich um und flüchteten vor dem Gestank. Dr. Aimslea fluchte und schlug mit der Faust gegen die Steinmauer. Pater O’Rourke ließ einen fassungslosen Blick durch den Raum schweifen, während auf seinem irischen Gesicht vor Zorn rote Flecken erschienen, dann schritt er langsam von Kind zu Kind, strich ihnen über den Kopf, flüsterte leise in einer Sprache zu ihnen, die sie nicht verstanden, und hob sie hoch. Ich sah zu in dem deutlichen Gefühl, dass die meisten dieser Kinder noch nie in die Arme genommen, möglicherweise sogar noch nie berührt worden waren.

Radu Fortuna war uns in den Saal gefolgt. Diesmal lächelte er nicht. »Genosse Ceauşescu hat uns gesagt, dass AIDS eine kapitalistische Krankheit ist«, flüsterte er. »In Rumänien gibt es offiziell keine Fälle von AIDS. Keine.«

»Mein Gott, mein Gott«, murmelte Dr. Aimslea, der ebenfalls von Kind zu Kind ging. »Die meisten hier sind im fortgeschrittenen Stadium AIDS-bedingter Komplexe. Und leiden an Unterernährung und Vitaminmangel.« Als er aufblickte, glitzerten Tränen hinter seiner Brille. »Wie lange sind sie schon hier?«

Fortuna zuckte die Achseln. »Die meisten wahrscheinlich, seit sie kleine Babys waren. Eltern bringen sie her. Babys verlassen diesen Raum niemals, darum können so wenige laufen. Niemand hält sie hoch, wenn sie es versuchen.«

Dr. Aimslea stieß eine Reihe Flüche aus, die in der kalten Luft förmlich zu rauchen schienen. Fortuna nickte.

»Aber hat denn niemand diese … diese … Tragödie dokumentiert?«, fragte Dr. Aimslea mit erstickter Stimme.

Jetzt lächelte Fortuna. »O ja, ja. Dr. Patrascu vom Stefan-S.-Nicolau-Institut für Virologie, er sagt, es ist vor drei … vielleicht vier Jahren passiert. Das erste Kind, das er testet, war infiziert. Ich glaube, sechs von nächsten vierzehn waren auch krank mit AIDS. Alle Städte, alle staatliche Heime, er hat viele, viele kranke Kinder gefunden.«

Dr. Aimslea, der einem komatösen Kind mit der Stablampe in die Pupillen geleuchtet hatte, erhob sich. Aimslea packte Fortuna am Mantel, und für einen Augenblick war ich überzeugt, dass er dem kleinen Führer ins Gesicht schlagen würde. »Um Himmels willen, Mann, hat er denn niemand darüber informiert?«

Fortuna starrte den Arzt gleichgültig an. »O doch. Dr. Patrascu informiert Gesundheitsministerium. Sie sagen ihm, er soll sofort aufhören. Sie verbieten AIDS-Seminar, das der Doktor plant … dann verbrennen sie seine Aufzeichnungen und … wie sagt man? Kleine Anleitung für Versammlung … Programme. Sie beschlagnahmen gedruckte Programme und verbrennen sie.«

Pater O’Rourke legte behutsam ein Kind zurück auf den Boden. Doch die Zweijährige streckte dem Priester die dünnen Ärmchen entgegen und gab vage flehende Laute von sich – eine Bitte, wieder hochgehoben zu werden. Er nahm sie wieder auf und drückte ihren kahlen, schorfigen Kopf fest an seine Wange. »Der Teufel soll sie holen«, sagte er in einem Tonfall, als spräche er den Segen. »Der Teufel soll das Ministerium holen. Der Teufel soll dieses Arschloch von Direktor holen. Der Teufel soll Ceauşescu holen. Hoffentlich schmoren sie für alle Zeiten in der Hölle.«

Dr. Aimslea hatte bei einem Säugling gekauert, der nur aus Rippen und aufgeblähtem Bauch zu bestehen schien. »Dieses Kind ist tot.« Er drehte sich wieder zu Fortuna um. »Wie konnte das nur geschehen? Es kann doch unmöglich so viele Fälle von AIDS in der hiesigen Bevölkerung geben. Oder sind das hier etwa Kinder von Drogensüchtigen?«

Ich konnte die unausgesprochene Frage in den Augen des Arztes sehen: In einer Nation, wo die Durchschnittsfamilie nicht genügend zu essen kaufen und der Besitz von Narkotika mit der Todesstrafe geahndet werden konnte, wie sollte es da so viele Kinder von Drogenabhängigen geben?

»Kommen Sie«, sagte Fortuna und verließ, den Arzt und mich im Schlepptau, diese Stätte des Todes. Pater O’Rourke blieb, um die Kinder eines nach dem anderen an sich zu drücken und sanft zu streicheln.

Ein Stockwerk tiefer, in der ›gesunden Station‹, die sich lediglich in der Größe vom Waisenhaus in Sebeş unterschied – tausend Kinder oder mehr mussten in dem endlosen Meer von Stahlkrippen liegen –, schritten gleichgültige Schwestern von Kind zu Kind, gaben ihnen Glasflaschen, in denen sich Milchsurrogat zu befinden schien, und wenn die Kinder dann lautstark saugten, verpassten sie ihnen eine Injektion mit der Spritze. Danach wischten die Schwestern ihre Spritzen an Lappen ab, die sie am Gürtel trugen, tauchten sie in eine große Phiole auf dem Tablett und gingen damit zum nächsten Kind. »Mutter Gottes«, flüsterte Dr. Aimslea. »Haben Sie denn keine Einwegnadeln?«

Fortuna machte eine Geste mit den Händen. »Ein kapitalistischer Luxus.«

Aimsleas Gesicht war so rot, dass man den Eindruck haben konnte, ihm würden gleich ein paar Äderchen platzen. »Und was ist verdammt noch mal mit einem Autoklaven?«

Fortuna zuckte mit den Achseln und wandte sich an eine Schwester in unserer Nähe. Diese schnappte eine Antwort und fuhr mit ihren Injektionen fort. »Sie sagt, der Autoklav zum Sterilisieren ist kaputt. Wurde kaputtgemacht. Zur Reparatur ins Gesundheitsministerium geschickt«, übersetzte Fortuna.

»Und wann?«, fauchte Aimslea.

»Ist vor vier Jahren kaputtgegangen«, sagte Fortuna, nachdem er der Frau die Frage zugerufen hatte. Sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich für die Antwort umzudrehen. »Sie sagt, vier Jahre, bevor er letztes Jahr zum Ministerium zur Reparatur geschickt wurde.«

Dr. Aimslea trat zu einem sechs- oder siebenjährigen Kind, das im Bett lag und an seinem Fläschchen saugte. Der Inhalt sah aus wie graues Wasser. »Und was sie da spritzen, sind Vitamine?«

»O nein«, sagte Fortuna. »Blut.«

Dr. Aimslea schien zu Eis zu erstarren, dann drehte er sich langsam um. »Blut?«

»Ja, ja. Erwachsenenblut. Macht kleine Babys kräftig. Mit Zustimmung von Gesundheitsministerium … sie sagen, ist sehr … wie man sagt … fortschrittliche Medizin.«

Aimslea machte einen Schritt auf die Schwester zu, dann einen Schritt auf Fortuna, dann wirbelte er zu mir herum, als müsste er die beiden anderen umbringen, wenn er ihnen zu nahe käme. »Erwachsenenblut, Trent. Jesus Christus! Das war eine Theorie, die schon mit Gaslicht und Gamaschen aus der Mode kam. Mein Gott, denen ist überhaupt nicht bewusst …« Plötzlich wandte er sich wieder zu unserem Führer um. »Fortuna, woher bekommen sie dieses … Erwachsenenblut?«

»Wird gespendet … nein, falsches Wort. Nicht gespendet, gekauft. Leute in Großstädten, die überhaupt kein Geld haben, die verkaufen Blut für Babys. Jedesmal fünfzehn Lei.«

Dr. Aimslea gab einen heiseren, kehligen Laut von sich, der kurz darauf in ein Kichern überging. Er bedeckte das Gesicht mit den Händen, stolperte rückwärts und lehnte sich an ein Tablett voller Flaschen mit dunkelroter Flüssigkeit. »Bezahlte Blutspender«, flüsterte er vor sich hin. »Leute von der Straße … Drogensüchtige … Prostituierte … und das verabreichen sie den Säuglingen in staatlichen Waisenhäusern mit wiederverwendbaren, nicht sterilisierten Nadeln.«

Er kicherte weiter und wurde immer lauter. Dr. Aimslea ging auf den schmutzigen Handtüchern in die Hocke, die Hände immer noch vor dem Gesicht, und das Kichern stieg von tief aus seiner Kehle auf. »Wie viele …«, wandte er sich an Fortuna. Dann räusperte er sich und versuchte es noch einmal. »Wie viele Kinder waren nach Schätzung dieses Dr. Patrascu mit AIDS infiziert?«

Fortuna runzelte die Stirn und versuchte sich zu erinnern. »Ich glaube, er hat vielleicht achthundert unter den ersten zweitausend gefunden. Danach mehr.«

Unter dem Schutz seiner Hände hervor sagte Dr. Aimslea: »Vierzig Prozent. Und wie viele … Waisenkinder … sind hier untergebracht?«

Unser Führer zuckte die Achseln. »Gesundheitsministerium sagt, ungefähr zweihunderttausend. Aber ich denke mehr … vielleicht eine Million. Vielleicht noch mehr.«

Dr. Aimslea sagte nichts. Sein kehliges Kichern wurde immer lauter, bis mir schließlich klar wurde, dass er überhaupt nicht lachte, sondern weinte.

5

Zu sechst fuhren wir mit dem Zug durch das Licht des Spätnachmittags nach Norden, Richtung Sighişoara. Pater O’Rourke war im Waisenhaus von Sibiu geblieben. Fortuna hatte einen Halt in einer Kleinstadt unterwegs vorgeschlagen. »Mr. Trent, Copşa Mică gefällt Ihnen bestimmt«, sagte er. »Wir besichtigen das nur Ihretwegen.«

Ich drehte mich nicht zu ihm um, sondern ließ den Blick über die niedergewalzten Dörfer gleiten, durch die wir kamen. »Noch mehr Waisenhäuser?«, fragte ich.

»Nein, nein. Ich meine, ja … es gibt ein Waisenhaus in Copşa Mică, aber dort wir gehen nicht hin. Es ist ein kleines Dorf … sechstausend Einwohner. Aber dort ist der Grund, warum Sie in unser Land gekommen sind, ja?«

Jetzt wandte ich mich doch zu ihm um. »Industrie?«

Fortuna lachte. »O ja … Copşa Mică ist sehr industrialisiert. Wie viele von unseren Dörfern. Und dieses ist so nahe bei Sighişoara, wo der Dunkle Ratgeber vom Genossen Ceauşescu geboren wurde.«

»Dunkler Ratgeber«, schnappte ich. »Was wollen Sie damit sagen? Dass Ceauşescus Ratgeber Vlad Ţepeş persönlich war?« Unser Führer antwortete nicht.

Sighişoara ist eine vollständig erhaltene mittelalterliche Stadt, wo selbst die wenigen Autos auf dem Kopfsteinpflaster einen Anachronismus bilden. Die Berge rings um Sighişoara sind übersät mit verfallenen Türmen und Festungen, die aber alle keinesfalls so kino gerecht wirken wie das halbe Dutzend unversehrte Burgen in Transsilvanien, die gegenüber leichtgläubigen Reisenden mit harten Devisen als Draculas Schloss ausgegeben werden. Dabei war das alte Haus in der Piata Muzeului tatsächlich Vlad Draculs Geburtsstätte und zwischen 1431 und 1435 sein Zuhause. Als ich es vor vielen Jahren zum letzten Mal sah, befand sich oben im Haus ein Restaurant und im Souterrain ein Weinkeller.

Fortuna streckte sich und machte sich auf die Suche nach etwas zu essen. Dr. Aimslea hatte die Unterhaltung mit angehört und ließ sich neben mir auf den Sitz fallen. »Dieser Mann ist unmöglich«, flüsterte er. »Jetzt erzählt er uns schon Gruselgeschichten von Dracula. Allmächtiger!«

Ich nickte und betrachtete die Berge und Täler, die in grauer Einförmigkeit vorüberzogen. Wir durchfuhren eine Wildnis, wie ich sie noch nirgendwo anders auf der Welt gesehen hatte, und ich habe mehr Nationen bereist, als Mitglieder in der UN sind. Die Berghänge, die Schluchten und Bäume wirkten missgestaltet, knorrig, wie etwas, das sich mühte, aus einem Gemälde von Hieronymus Bosch zu entkommen.

»Mir wäre es tausendmal lieber, wir hätten es hier mit Dracula zu tun«, fuhr der gute Doktor fort. »Überlegen Sie nur, Trent … wenn unsere Abordnung melden würde, dass Vlad der Pfähler am Leben und in Transsilvanien auf Menschenjagd ist … verdammt … dann würden sich hier die Reporter nur so auf die Füße treten. Satellitentrucks auf dem Marktplatz von Sibiu, die Sofortberichte in jede Sendezentrale von Kanal 7 und Kanal 4 in Amerika übertragen. Ein Ungeheuer beißt ein paar Dutzend Menschen, und die Welt fiebert vor Interesse … aber so geht es nur um einige Zehntausend tote Männer und Frauen und Hunderttausende von Kindern in Lagerhäusern, die dort vor sich hinsterben … verdammt.«

Ich nickte, ohne mich umzudrehen. »Die Banalität des Bösen«, flüsterte ich.

»Was?«

»Die Banalität des Bösen.« Ich wandte mich um und lächelte den Arzt grimmig an. »Dracula wäre eine Schlagzeile. Das Elend Hunderttausender Opfer von politischem Wahnsinn, Bürokratie, Dummheit ist einfach nur … lästig.«

Kurz vor Einbruch der Nacht trafen wir in Copşa Mică ein, und mir wurde auf der Stelle klar, warum das ›meine Stadt‹ war. Donna Wexler, Aimslea und Paxley blieben während des halbstündigen Aufenthalts sitzen, und nur Carl Berry und ich folgten Fortuna aus dem Zug.

Das Dorf – es war zu klein, um von einer Stadt zu sprechen – lag in einem breiten Tal zwischen uralten Bergen. Auf den Hängen lag Schnee, aber der Schnee war schwarz. Die Eiszapfen, die von den dunklen Dächern der Häuser hingen, waren schwarz. Der Schneematsch auf den ungeteerten Straßen war ein gräulicher Mischmasch, und über allem hing eine sichtbare Glocke rußiger Luft, als würden Millionen mikroskopischer Falter durch das erlöschende Licht flattern. Männer und Frauen in schwarzen Mänteln und Schals zogen an uns vorbei, schwere Handkarren hinter sich oder Kinder an der Hand, und auch ihre Gesichter waren geschwärzt. Als wir uns schließlich der Mitte des Dorfes näherten, stellte ich fest, dass wir drei durch eine Schicht von Asche und Ruß wateten, die mindestens acht Zentimeter tief war. Ich habe aktive Vulkane in Südamerika und anderswo besucht; dort sah es genauso aus wie hier.

»Es ist eine … wie man sagt … Autoreifenfabrik«, sagte Radu Fortuna und deutete auf den schwarzen Industriekomplex, der das Ende des Tals beherrschte wie ein vom Himmel gefallener Drache. »Sie stellen schwarzen Puder für Gummiprodukte her … arbeiten rund um die Uhr. Der Himmel sieht immer so aus …« Stolz deutete er auf die schwarze Kuppel, die sich ständig tiefer zu senken schien.

Carl Berry hustete. »Großer Gott, wie können die Menschen nur so leben?«

»Sie leben nicht lange«, sagte Fortuna. »Die meisten Menschen, wenn so alt wie Sie und ich, leiden an Bleivergiftung. Kleine Kinder haben … wie heißt das Wort … immerzu Husten.«

»Asthma«, sagte Berry.

»Ja, kleine Kinder haben Asthma. Babys werden mit Herzen geboren, die … wie sagen Sie, falschgebildet sind?«

»Missgebildet«, sagte Berry.

Hundert Meter von den schwarzen Zäunen und schwarzen Mauern der Fabrik entfernt blieb ich stehen. Das Dorf hinter uns war ein Scherenschnitt vor grauem Hintergrund. Nicht einmal das Licht der Lampen konnte richtig durch die bestäubten Fensterscheiben dringen. »Warum ist das ›meine Stadt‹, Fortuna?«, fragte ich.

Er streckte die Hand zur Fabrik aus. Seine Handlinien waren schon schwarz vom Ruß, die Manschetten seines weißen Hemdes dunkelgrau. »Ceauşescu ist fort. Die Fabrik muss keine Gummiartikel für Ostdeutschland, Polen, die UdSSR mehr herstellen … Möchten Sie? Sachen herstellen, die Ihre Firmen brauchen? Keine … wie sagt man … keine Umweltschutzbestimmungen, keine Vorschriften dagegen, Artikel so herzustellen, wie man will, und Abfälle wegzuwerfen, wo man will. Also, möchten Sie?«

Ich stand lange Zeit im schwarzen Schnee und wäre vielleicht noch länger stehen geblieben, hätte der Zug nicht das Signal gegeben, dass er in zwei Minuten abfahren würde.

»Vielleicht«, sagte ich. »Aber nur vielleicht.«

Wir stapften durch die Asche zurück.

6

Donna Wexler, Dr. Aimslea, Carl Berry und unser Professor emeritus, Dr. Leonard Paxley, fuhren mit dem wartenden VIP-Bus von Sighişoara nach Bukarest zurück. Ich begleitete sie nicht. Der Morgen war dunkel, finstere Wolken zogen über das Tal und hüllten die umliegenden Berghänge in ein Leichentuch wabernden Nebels. Das graue Gestein der Stadtmauer mit ihren elf Türmen schien mit dem grauen Himmel zu verschmelzen und das mittelalterliche Städtchen unter einer soliden Glocke aus Finsternis zu begraben. Nach einem späten Frühstück füllte ich meine Thermosflasche, ließ den Dorfplatz hinter mir und erklomm die alten Stufen zum Haus in der Piata Muzeului. Die schmiedeeisernen Pforten zum Weinkeller waren abgeschlossen, die schmalen Türen zum Erdgeschoss mit eisenbeschlagenen Läden versperrt. Ein alter Mann, der auf der anderen Straßenseite auf einer Bank saß, erklärte mir, dass das Restaurant schon seit mehreren Jahren geschlossen war und der Staat überlegt hatte, ob man es in ein Museum umwandeln sollte. Dann war man allerdings zu dem Ergebnis gekommen, dass ausländische Touristen keine harten Devisen bezahlen würden, um ein verfallenes Haus zu besichtigen – nicht einmal wenn Vlad Dracula vor fünfhundert Jahren darin gewohnt hatte. Die Touristen gaben den großen Burgen den Vorzug, die einige hundert Kilometer näher bei Bukarest lagen; Burgen, die Jahrhunderte nach Vlad Ţepeş’ Abdankung erbaut worden waren.

Ich ging über die Straße zurück zum Haus, wartete ab, bis der alte Mann seine Tauben gefüttert hatte und gegangen war, und dann zog ich den schweren Balken weg, der die Holztüren geschlossen hielt. Die Scheiben der Türen waren so schwarz wie die Seele von Copşa Mica. Die Türen waren verriegelt, also kratzte ich an dem jahrhundertealten Glas.

Fortuna öffnete die Tür und ließ mich ein. Die meisten Tische und Stühle waren neben einer rustikalen Bar aufgestapelt worden, Spinnweben spannten sich von ihnen zu den rauchgeschwärzten Deckenbalken, aber Fortuna hatte einen Tisch heruntergezogen und mitten auf den Steinfußboden gestellt. Er wischte zwei Stühle ab, und wir setzten uns.

»Hat Ihnen die Rundreise gefallen?«, fragte er auf Rumänisch.

»Da«, sagte ich und fuhr in derselben Sprache fort, »aber ich hatte den Eindruck, Sie tragen ein bisschen zu dick auf.«

Fortuna zuckte mit den Achseln. Er ging hinter die Bar, staubte zwei Zinnbecher ab und brachte sie zum Tisch.

Ich räusperte mich. »Hätten Sie mich am Flughafen als Mitglied der Familie identifiziert, auch wenn Sie mich nicht gekannt hätten?«, fragte ich.

Mein einstiger Führer ließ sein Grinsen aufblitzen. »Selbstverständlich.«

Ich runzelte die Stirn. »Wie denn? Ich habe keinen Akzent und lebe schon seit vielen Jahren als Amerikaner.«

»Ihr Benehmen«, sagte Fortuna und ließ das rumänische Wort von der Zunge rollen. »Ihr Benehmen ist viel zu gut für einen Amerikaner.«

Ich seufzte. Fortuna griff unter den Tisch und holte einen Weinschlauch hervor, aber ich winkte ab und zog die Thermosflasche aus dem Mantel. Ich schenkte für uns beide ein, worauf Fortuna nickte, so ernst, wie ich ihn in den vergangenen drei Tagen nicht gesehen hatte. Wir stießen an.

»Skoal«, sagte ich. Es schmeckte ausgezeichnet, frisch, war immer noch auf Körpertemperatur und noch weit vom Gerinnen entfernt, mit dem stets eine gewisse Bitterkeit einhergeht.